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Dreizehntes Kapitel.
Ein Kanonenschuß

Benito war also in die Tiefe gestiegen, die ihm noch den Leichnam des Abenteurers verbarg. Ach! wenn er imstande gewesen wäre, das Wasser abzuleiten, in Dampf aufzulösen, auszutrocknen – wäre er imstande gewesen, das ganze Becken von dem Damm bis zur Mündung des Rio Negro freizulegen – dann wäre jedesfalls dieses Etui, das in Torres' Kleidern verborgen war, in seiner Hand! Dann wäre die Unschuld seines Vaters am Tage! Joam Dacosta würde wieder freigelassen und könnte mit den Seinen die Fahrt stromab fortsetzen! Wie viele furchtbaren Prüfungen wären dann erlassen!

Benito hatte auf dem Boden Fuß gefaßt. Unter seinen schweren Sohlen knirschte der Kies des Strombettes. Er war jetzt etwa 10 bis 15 Fuß tief am Grunde der abschüssigen Stelle, wo Torres verschwunden war.

Hier machte sich ein unentwirrbares Dickicht von Schilf, Wasserpflanzen usw. breit, und sicherlich hatte am vergangenen Tage keine der Stangen das Gewirr völlig durchsuchen können. Es war also möglich, daß der Leichnam in dem Pflanzengeschling unter Wasser festgehalten wurde und sich noch an derselben Stelle befand, wohin er gefallen war.

An dieser Stelle war infolge des Stauwassers, das von einer vorspringenden Uferspitze her kam, gar kein Strom. Benito folgte lediglich den Bewegungen des Floßes, das die Stangen über seinem Haupte weiter bewegten.

Das Licht drang ziemlich tief in dieses klare Wasser, über dem eine herrliche Sonne an wolkenlosem Himmel ihre Strahlen fast senkrecht herniederwarf. Unter den gewöhnlichen Bedingungen der Durchsichtigkeit im Wasser ist schon bei einer Tiefe von 20 Fuß der Blick äußerst beschränkt: hier aber schien das Wasser vom Lichte wie durchtränkt, und Benito konnte noch tiefer steigen, ohne daß die Finsternis ihm die Tiefe des Stromes verhüllte.

Der junge Mann schritt sacht dahin. Sein Eisenstab durchsuchte das Kraut und das am Grunde aufgehäufte Geschwemm. »Schwärme« von Fischen, wenn man sich so ausdrücken darf, kamen hervor, wie Vögel aus einem Dickicht auffliegen. Gleichzeitig liefen Hunderte von Krustentieren über den gelblichen Boden, wie große, aus ihrer Behausung gescheuchte Ameisen.

Aber obwohl Benito nicht einen Punkt des noch nicht durchforschten Grundes verfehlte, blieb der Gegenstand seiner Suche ihm noch immer verborgen. Er erkannte jetzt, daß die Abschüssigkeit des Bettes ziemlich beträchtlich war, und schloß daraus, daß Torres' Leichnam möglicherweise über das Stauwasser hinaus gerollt war, nach der Mitte des Stromes hin.

Wenn das der Fall war, so befand er sich vielleicht noch dort, da die Strömung ihn bei der großen, hier noch zunehmenden Tiefe nicht hatte erfassen können.

Benito beschloß daher, in dieser Richtung weiterzusuchen, sobald er das Krautdickicht völlig abgestreift hatte. Er schritt also vorerst noch in der alten Richtung fort, die auch das Floß verabredetermaßen noch eine Viertelstunde lang innehalten sollte.

Die Viertelstunde verfloß, und Benito hatte noch nichts gefunden. Er fühlte jetzt das Bedürfnis, an die Oberfläche hinauf zu steigen, um neue Kräfte zu sammeln.

An einigen Stellen, wo die Tiefe des Stromes noch beträchtlicher wurde, hatte er bis zu 30 Fuß hinabsteigen müssen. Er hatte daher den Druck von ziemlich einer Atmosphäre auszuhalten gehabt – körperliche Ermüdung und geistige Lähmung war daher bei einem, der diese Arbeit nicht gewöhnt war, leicht erklärlich.

Benito zog daher die Klingelschnur, und die Männer begannen ihn hinaufzuziehen; aber sie taten es allmählich, indem sie nach je zwei bis drei Fuß eine Minute innehielten, damit er nicht zu schnell von dem Druck befreit würde, was auf seine innern Organe von verhängnisvoller Wirkung hätte sein können.

Sobald der junge Mann auf dem Floß war, wurde ihm die Metallkugel des Skaphanders abgenommen, er tat einen tiefen Atemzug, und setzte sich, um sich ein wenig auszuruhen.

Die Pirogen waren sofort herangekommen. Manuel, Fragoso und Araujo waren bei ihm und warteten, was er sagen würde.

»Nun?« fragte Manuel.

»Noch nichts! Nichts!«

»Du hast noch keine Spur entdeckt?«

»Noch keine!«

»Soll ich dich ablösen?«

»Nein, Manuel,« antwortete Benito. »Ich habe angefangen – ich weiß, wohin ich gehen will – laß mich machen!«

Benito erklärte nun dem Lotsen, daß er die Absicht hätte, den tiefern Teil des Strombettes bis zum Damm abzusuchen, wo der aufsteigende Boden den Leichnam hätte aufhalten müssen. Araujo billigte diesen Plan und ergriff dementsprechende Maßregeln.

Manuel glaubte Benito jetzt einige Ratschläge erteilen zu sollen.

»Da du nach dieser Seite hin deine Nachforschungen fortsetzen willst,« sagte er, »wird das Floß schräg in dieser Richtung fahren, aber sei vorsichtig, Benito. Es handelt sich darum, noch tiefer zu steigen als bisher, vielleicht 50 bis 60 Fuß, und dort wirst du einen Druck von zwei Atmosphären auszuhalten haben. Wage dich also nur sehr langsam tiefer, sonst könntest du die Geistesgegenwart verlieren. Du würdest dann nicht mehr wissen, wo du bist, noch was du tun willst. Wenn es dir ist, als wäre dein Kopf in einem Schraubstock, wenn dir die Ohren beständig sausen, dann gib unverzüglich das Klingelzeichen, damit wir dich heraufholen; nachher kannst du weiter suchen, wenn es sein muß. Dann bist du wenigstens ein bißchen daran gewöhnt, dich in dieser Tiefe zu bewegen.«

Benito versprach Manuel, seiner Ratschläge eingedenk zu sein, deren Wichtigkeit er begriff. Er drückte seinem Freunde die Hand, die Skaphanderkugel wurde ihm von neuem auf den Nacken gestülpt, dann arbeitete wieder die Pumpe, und der Taucher war bald im Wasser verschwunden.

Das Floß hatte sich jetzt etwa 40 Fuß vom linken Strande entfernt, aber je weiter es sich nach der Mitte des Stromes zu bewegte, um so mehr konnte der Strom es schneller treiben, als nötig war. Die Ubas wurden daher mit ihm verkettet, und die Ruderer hielten es gegen die Strömung, so daß es nur sehr langsam weiter trieb.

Benito war ganz allmählich hinuntergestiegen und befand sich wieder auf festem Boden. Als er auf dem Sande des Grundes stand, konnte man nach der Länge des Taues darauf schließen, daß er sich in einer Tiefe von 65 bis 70 Fuß bewegte.

Hier war also eine ziemlich tiefe Aushöhlung, die beträchtlich unter dem normalen Niveau lag.

Die Flüssigkeit war jetzt dunkler, aber die Klarheit dieses durchsichtigen Wassers ließ noch Licht genug hinabdringen, daß Benito hinreichend die einzelnen Gegenstände am Grunde wahrnehmen und mit Sicherheit vorwärts schreiten konnte.

Der Sand war übrigens mit Glimmer besät, der eine Art Reflektor zu bilden schien, und man hätte die einzelnen Körner zählen können, die wie leuchtender Staub strahlten.

Benito ging, hielt Umschau und durchsuchte die geringsten Vertiefungen mit seinem Eisen. Er tauchte langsam tiefer. So erreichte er die Mitte des Strombettes, wo der Druck am stärksten war.

Bisweilen umgab ihn dichte Finsternis, und er konnte selbst auf ganz beschränktem Umkreis nichts mehr sehen. Das ging aber stets vorüber. Es war einfach das Floß, das ihm zu Häupten fuhr, die Sonnenstrahlen völlig abschnitt und die Nacht an Stelle des Tages hervorrief.

Aber im nächsten Augenblick war der große Schatten wieder verschwunden, und der Sand reflektierte wieder das Licht so gut wie zuvor.

Noch immer stieg Benito tiefer. Er empfand dies vor allem an dem zunehmenden Druck, den die Wassermasse auf seinen Körper übte. Er atmete nicht mehr so leicht, die Organe reagierten nicht mehr so bequem auf seinen Willen, wie unter dem Gleichgewicht der Atmosphäre.

Hier befand er sich unter der Einwirkung physiologischer Bedingungen, an die er nicht gewöhnt war. Das Sausen in den Ohren nahm zu; da aber sein Geist noch immer klar war, da sich die Ueberlegung noch mit vollkommner Sicherheit in seinem Gehirn vollzog, so wollte er das Zeichen zum Emporziehen nicht geben und stieg noch tiefer.

Einen Augenblick lenkte in dem ihn umgebenden Halbdunkel eine verworrene Masse seine Aufmerksamkeit auf sich. Dieselbe schien ihm die Form eines unter einem Bündel Wasserkraut verstrickten Körpers zu haben.

Eine heftige Aufregung bemächtigte sich seiner. Er eilte dorthin. Mit seinem Eisen bewegte er die Masse.

Es war nur der Leichnam eines riesigen Kaimans, der schon zum Skelett geworden war und den die Strömung des Rio Negro bis in das Bett des Amazonas getrieben hatte.

Benito fuhr zurück, und trotz der Versicherungen des Lotsen kam ihm der Gedanke, daß ein lebender Kaiman sich in diese Tiefen hätte verirren können.

Aber er wies die Idee von sich und setzte seinen Weg fort, so daß er bald den Boden der Senkung erreichte.

Er mußte jetzt in einer Tiefe von 90 bis 100 Fuß angelangt sein, und infolgedessen war er einem Druck von drei Atmosphären unterworfen. Wenn die Aushöhlungen noch weiter gingen, mußte er bald seine Nachforschungen aufgeben.

Die Erfahrungen haben in der Tat bewiesen, daß in den Tiefen von über 120 bis 130 Fuß sich die äußerste Grenze befindet, die bei Tiefseegängen zu überschreiten gefährlich ist. Nicht nur vermag der menschliche Organismus unter solchem Druck nicht mehr richtig zu funktionieren, sondern auch die Apparate bringen nicht mehr regelmäßig genug die erforderliche Luft herzu.

Dennoch war Benito entschlossen, solange weiter zu gehen, wie ihn die moralische Kraft und moralische Energie nicht verließen. Eine unerklärliche Ahnung zog ihn in die Tiefe, ihn dünkte, als hätte der Leichnam bis auf den Grund dieser Aushöhlung fallen müssen.

Plötzlich erblickte er in einem dunkeln Loch einen Kadaver – ja, eine noch bekleidete Leiche, ausgestreckt wie ein Schlafender, mit den Armen unterm Kopf.

War das Torres? In der noch undurchdringlichen Finsternis war es schwer, ihn zu erkennen. Aber was da lag, war der Leichnam eines Menschen – zehn Schritt von ihm entfernt, lag er regungslos!

Eine fast schmerzhafte Erregung ergriff Benito. Sein Herz hörte einen Augenblick auf zu schlagen. Er glaubte, das Bewußtsein zu verlieren. Eine äußerste Willenskraft brachte ihn wieder zu sich. Er ging auf den Leichnam zu.

Plötzlich ließ ein ebenso heftiger wie unerwarteter Schlag ihn im innersten Wesen erzittern! Ein langer Streifen schlang sich um seinen Leib, und trotz der dicken Skaphanderkleidung fühlte er sich mit verdoppelten Schlägen gepeitscht.

»Ein Gymnote!« sagte er sich.

Das war das einzige Wort, das er hervorbringen konnte.

In der Tat hatte einer jener elektrischen Zitteraale ihn angefallen, die im Amazonas und seinen Nebenflüssen sehr zahlreich sind.

Benito begriff, was er von dem Angriff dieses furchtbaren Tieres zu fürchten hatte. Seine Kleidung vermochte ihn nicht zu schützen. Die zuerst weniger starken Entladungen des Gymnoten wurden immer heftiger und würden erst nachlassen, wenn die elektrische Kraft des Tieres sich erschöpft hatte.

Benito war auf den Boden gesunken. Unter den elektrischen Schlägen des Gymnoten, der langsam über seinen Leib hinstrich und sich um ihn schlängelte. Selbst die Arme vermochte er nicht mehr zu heben. Bald entfiel ihm auch sein Stab, und die Hand hatte nicht mehr die Kraft, die Klingelschnur zu fassen, um das Zeichen zu geben.

Benito fühlte sich verloren. Weder Manuel noch seine Gefährten konnten ahnen, welcher furchtbare Kampf sich unter ihnen abspielte, zwischen einem entsetzlichen Gymnoten und dem unglücklichen Taucher, der sich kaum noch bewegte und ganz wehrlos war.

Und dies in dem Moment, wo er einen Leichnam – ohne Zweifel Torres' Leichnam – erblickt hatte!

In einem äußersten Trieb der Selbsterhaltung wollte Benito rufen. Seine Stimme verklang in der Metallkugel, die keinen Ton hinausließ.

In diesem Augenblick verdoppelte der Zitteraal seine Angriffe und gab so furchtbare Schläge, daß Benito unter heftigen Zuckungen völlig niedersank.

Nun fühlte er, daß die Geistesgegenwart ihn verließ. Vor den Augen ward es ihm schwarz – seine Glieder wurden starr.

Aber ehe er noch die Kraft zu sehen und zu denken völlig verlor, geschah etwas Unerwartetes, Unerklärliches und Seltsames.

Eine dumpfe Detonation pflanzte sich durch die flüssigen Schichten fort. Es war wie ein Donnerschlag, dessen Rollen im Wasser weiter lief. Benito war es, als sei er rings von einem furchtbaren Brausen umgeben, das in den äußersten Tiefen des Stromes ein Echo fand.

Und plötzlich entrang sich ihm ein letzter Schrei ... Eine entsetzliche Vision erschien ihm vor den Augen.

Der Leichnam eines Ertrunkenen, der bisher auf dem Boden gelegen hatte, hatte sich aufgerichtet. Die Wellen des Wassers bewegten ihm die Arme, wie wenn er sie selber in eigentümlichem Leben bewegte. Krampfhafte Stöße rüttelten diesen entsetzlichen Kadaver auf.

Es war Torres Leiche! Durch die Wassermasse war ein Sonnenstrahl bis zu diesem Körper gedrungen, und Benito erkannte das aufgedunsene, grünliche Gesicht des Elenden, der von seiner Hand getroffen worden war.

Während Benito mit seinen gelähmten Gliedern keine Bewegung hatte machen können, während seine schweren Sohlen ihn hielten, als wäre er auf dem Sandboden festgenagelt, richtete der Leichnam sich auf, bewegte den Kopf von oben nach unten, hob sich aus dem Loch, in dem ein Gestrüpp Wasserpflanzen ihn zurückgehalten hatte – und – entsetzlich anzuschauen! – stieg ganz gerade zur Oberfläche des Amazonenstromes hinauf.


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