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Elftes Kapitel.
Auf der Suche

Unverzüglich sollte mit den Nachforschungen begonnen werden, und zwar aus zwei schwerwiegenden Gründen:

Erstens stand Leben und Tod dabei auf dem Spiele, denn es handelte sich darum, daß der Beweis von der Unschuld Joam Dacostas beigebracht wurde, ehe der Befehl von Rio de Janeiro einlief. Da die Identität des Verurteilten festgestellt war, konnte dieser Befehl in der Tat nur ein Vollstreckungsbefehl sein.

Zweitens durfte Torres' Leichnam nur so kurze Zeit wie irgend möglich im Wasser gelassen werden, um das Etui und den Inhalt unbeschädigt vorzufinden.

Araujo lieferte in dieser Lage den Beweis nicht nur für seinen Eifer und seine Intelligenz, sondern auch für seine äußerst genaue Kenntnis des Stromes am Mündungspunkte des Rio Negro.

»Wenn Torres,« sagte er zu den jungen Leuten, »zunächst von der Strömung weggetrieben worden ist, dann müssen wir den Fluß auf eine ziemlich lange Strecke absuchen, denn wenn wir abwarten wollen, bis der Leichnam infolge der Zersetzung an die Oberfläche käme, so würden wir mehrere Tage dazu brauchen.«

»Das geht nicht an,« antwortete Manuel, »und wir müssen heute noch ans Ziel kommen.«

»Wenn im Gegenteil,« fuhr der Lotse fort, »der Leichnam im Kraut und Schilf hängen geblieben ist, dann werden wir ihn in einer Stunde gefunden haben.«

»Also ans Werk!« schloß Benito.

Es blieb in der Tat weiter keine Wahl. Die Fahrzeuge näherten sich dem Ufer, und die Indianer begannen mit langen Stangen alle Teile des Stromes unterhalb des Strandes, wo der Zweikampf stattgefunden hatte, abzutasten.

Dieser Fleck war leicht wiederzuerkennen. Eine Blutspur kennzeichnete den Kreideabsturz, der senkrecht ins Wasser fiel. Kleine, auf den Schilfblättern verspritzte Tropfen machten die Stelle kenntlich, wo die Leiche verschwunden war.

Ein Ufervorsprung, der 50 Fuß stromabwärts hervortrat, hielt hier das Wasser unbeweglich in einer Art Stauflut zurück. Keine Strömung zeigte sich am Fuße des Abhangs, und das Schilf stand hier völlig still.

Man konnte daher hoffen, daß Torres' Leichnam nicht ins weite Wasser weggeführt worden sei. Selbst wenn das Flußbett hier abschüssig wäre, so hätte er nur ein paar Klafter den Abhang hinabgleiten können: und auch weiter unten machte keine Strömung sich bemerkbar.

Die Ubas und Pirogen teilten sich in die Arbeit und begrenzten das Feld der Nachforschungen auf den äußersten Umkreis des Stauwassers. Von außen nach innen tastend, wurde mit den langen Stangen jedes Fleckchen abgesucht.

Aber der Leichnam des Abenteurers wurde weder im Schilf noch auf dem Grunde des Wassers gefunden.

Zwei Stunden nach Beginn der Nachforschungen kam man zu der Annahme, daß der Leichnam jedesfalls den abschüssigen Boden hinuntergeglitten und schräg gefallen war, so daß er aus dem Bereich der Stauwasser heraus gekommen und an eine Stelle geraten war, wo die Wirkung der Strömung bemerkbar zu werden begann.

»Deswegen brauchen wir aber nicht zu verzweifeln,« sagte Manuel, »oder gar unsere Nachforschungen aufzugeben.«

»Und müßten wir auch,« rief Benito, »den Strom in seiner ganzen Länge und Breite durchsuchen!«

»In seiner ganzen Breite, vielleicht,« antwortete Araujo. »In seiner ganzen Länge, nein, das ist glücklicherweise nicht nötig!«

»Warum?« fragte Manuel.

»Weil eine Meile abwärts vom Zufluß des Rio Negro der Amazonas ein sehr scharfes Knie macht und gleichzeitig sein Flußbett jäh emporsteigt. Dort ist also gleichsam ein natürlicher Damm, über den nur das, was an der Oberfläche treibt, hinwegkommt.«

Dies war ein glücklicher Umstand, wenn Araujo sich nicht täuschte. Aber im Grunde konnte man sich auf diesen alten Kenner des Amazonenstromes verlassen. Seit 30 Jahren betrieb er das Lotsen-Gewerbe, und die Fahrt über diese Stelle des Stromes, wo die Strömung infolge der Einzwängung äußerst reißend ist, war ihm oft sauer genug geworden.

Araujo hatte also recht, wenn er sagte, der Leichnam könne, sofern er durch sein spezifisches Gewicht noch auf dem sandigen Grunde des Bettes gehalten wurde, nicht über diesen Damm hinausgetrieben sein. Wenn er allerdings später infolge der Gasausdehnung an die Oberfläche stiege, so würde ihn dann ohne Zweifel die Strömung erfassen und er sich unfindbar stromabwärts über den Damm hinaus verlieren. Aber dieses rein physische Moment konnte erst in einigen Tagen eintreten.

Man konnte sich in dieser Sache an keinen geschicktern und erfahrenern Mann wenden als an den Lotsen Araujo. Da er nun versicherte, daß die Leiche nicht über den engen Kanal, also höchstens eine Meile weit, getrieben sein konnte, so brauchte nur dieser Teil des Stromes abgesucht zu werden, und die Leiche mußte gefunden werden.

Keine Insel und kein Eiland unterbrach übrigens an dieser Stelle den Lauf des Amazonas. Hieraus folgte, daß, nach einer Untersuchung der beiden Ufer bis zu dem Damm das 500 Fuß breite Bett selbst auf das eingehendste abgeforscht werden mußte.

Folgendermaßen gingen sie nun zu Werke. Die Fahrzeuge begaben sich an das linke und rechte Ufer des Amazonenstromes und fuhren dort entlang. Mit Stangenstößen wurde Schilf und Kraut durchsucht. Die geringsten Vorsprünge des Ufers, an denen ein Körper hätte hängen bleiben können, entgingen den Nachsuchungen Araujos und seiner Indianer nicht.

Aber die ganze Arbeit führte zu keinem Ergebnis, und der Tag war schon zur Hälfte verflossen, ohne daß der unauffindbare Leichnam an die Oberfläche des Stromes gebracht worden wäre.

Eine Stunde Ruhe wurde den Indianern gewährt. Während dieser Pause aßen sie, dann machten sie sich wieder ans Werk.

Diesmal teilten sich die vier Boote unter Leitung von Araujo, Benito, Fragoso und Manuel den ganzen Raum zwischen der Mündung des Rio Negro und dem Damm in vier Bezirke. Jetzt handelte es sich darum, das Strombett abzusuchen.

An gewissen Stellen kam man mit den Stangen nicht aus, um den Grund hinreichend zu untersuchen. Deshalb wurden an Bord Baggerhaken oder vielmehr Eggen aus Draht und Steinen, die von einem festen Netz umschlossen wurden, hergerichtet, und während die Boote scharf dem Ufer parallel fuhren, wurden diese Harken ins Wasser gelassen und am Grunde hingezogen.

Bei dieser schwierigen Arbeit verblieben Benito und die Seinen bis zum Abend. Die mit Rudern bewegten Pirogen und Ubas befuhren den Wasserspiegel in dem ganzen Becken, das stromabwärts an dem Damm endete, nach allen Richtungen hin.

Während dieses Teils der Arbeit gab es aufregende Momente genug, wenn die Haken an einem Gegenstande hängen blieben und Widerstand leisteten. Dann wurden sie heraufgezogen, aber an Stelle des so begierig gesuchten Leichnams brachten sie nur ein paar schwere Steine oder Krautklumpen, die sie aus ihrem Sandbett rissen, mit hinauf.

Dennoch dachte niemand daran, die unternommene Suche aufzugeben. Alle vertieften sich ohne Nebengedanken in dieses Werk der Rettung. Benito, Manuel und Araujo hatten es nicht nötig, die Indianer anzuspornen. Die braven Leute wußten, daß sie für den Fazendero von Iquitos arbeiteten, für den Mann, den sie liebten, für das Haupt der großen Familie, die in einundderselben Gleichheit Herren und Diener umfaßte!

Ja! wenn es sein mußte, wollte man, ohne an Ermüdung zu denken, die Nacht über die Arbeit fortsetzen. Alle wußten nur zu gut, was jede verlorne Minute wert war.

Kurz vor Sonnenuntergang gab jedoch Araujo, der ein Weiterarbeiten bei Dunkelheit für unnütz erklärte, das Zeichen, die Boote zurückzurudern, und sie fuhren daher wieder zur Mündung des Rio Negro, um sich nach der Jangada zu begeben.

So sorgfältig und so besonnen die Arbeit auch ausgeführt worden war, sie hatte nichts gefruchtet!

Auf der Rückfahrt wagten Manuel und Fragoso nicht vor Benito von diesem Mißerfolg zu sprechen. Mußten sie nicht befürchten, daß die Entmutigung ihn zu einer verzweifelten Tat hinreißen könnte?

Aber der junge Mann hatte jetzt weder Mut noch Kaltblütigkeit verloren. Er war entschlossen, in diesem äußersten Kampf, seines Vaters Leben und Ehre zu retten, ans Ziel zu gelangen, und er war es, der das Wort an seine Gefährten richtete.

»Auf morgen!« rief er. »Wir fangen morgen von vorn an und in besserer Weise, wenn das möglich ist!«

»Jawohl,« antwortete Manuel. »Das läßt sich noch besser machen. Wir können noch nicht sagen, daß wir dieses Becken in der ganzen Ausdehnung seiner Tiefe völlig abgesucht hätten!«

»Nein, das können wir nicht,« antwortete Araujo, »und ich halte aufrecht, was ich gesagt habe: Der Leichnam Torres' ist da – er ist da, weil er nicht wegtreiben kann, weil er über den Damm nicht hinauskann, weil er erst nach einigen Tagen an die Oberfläche steigen und stromab schwimmen kann! Ja, er ist da – und es soll nie wieder ein Schluck Rum an meine Lippen kommen, wenn ich ihn nicht wiederfinde!«

Diese Versicherung aus dem Munde des Lotsen war von großem Wert und wohl angetan, wieder Hoffnung zu machen.

Aber Benito wollte sich nicht mehr an Worten genügen lassen, er wollte Tatsachen sehen, wie sie auch sein mochten, und glaubte antworten zu müssen:

»Ja, Araujo, die Leiche Torres' ist noch in diesem Becken, und wir werden sie wiederfinden, wenn –«

»Wenn?« fragte der Lotse.

»Wenn sie nicht den Kaimans zum Opfer gefallen ist.«

Manuel und Fragoso warteten voller Spannung, was Araujo hierauf antworten würde.

Der Lotse schwieg ein Weilchen. Er wollte überlegen, ehe er Antwort gab.

»Signor Benito,« sagte er endlich, »es ist nicht meine Gewohnheit, etwas leichthin zu sagen. Auch ich habe denselben Gedanken gehabt, aber hören Sie mich an! Haben Sie während der zehnstündigen Suche einen einzigen Kaiman im Wasser gesehen?«

»Keinen einzigen,« antwortete Fragoso.

»Wenn Sie keinen gesehen haben,« fuhr der Lotse fort, »so ist der Grund, es gibt eben keine. Diesen Tieren liegt nichts daran, sich in das weiße Wasser zu wagen, da eine Meile weiter oben doch ausgedehnte Flächen jenes schwarzen Wassers sind, dem sie den Vorzug geben. Wenn die Jangada von einigen dieser Tiere angegriffen worden ist, so erklärt sich dies daher, daß sie an dieser Stelle sich in keinen Zufluß des Amazonas haben zurückziehen können. Hier ist das etwas anderes. Fahren Sie den Rio Negro hinauf, dort finden Sie Kaimans scharenweis. Wenn der Leichnam des Mannes in diesen Nebenfluß gefallen wäre, so bestände vielleicht keine Hoffnung, ihn jemals wiederzufinden! Aber er ist in den Amazonenstrom gefallen, und der Amazonas wird ihn wieder herausgeben.«

Von seiner Besorgnis erleichtert, nahm Benito die Hand des Lotsen, drückte sie und antwortete nur:

»Auf morgen, meine Freunde!«

Zehn Minuten später waren alle wieder an Bord der Jangada.

An diesem Tage war Yaquita ein paar Stunden bei ihrem Mann gewesen. Aber als sie vor ihrem Weggang weder den Lotsen, noch Manuel, noch Benito, nach die Kähne sah, begriff sie, welche Nachforschungen vorgenommen werden sollten.

Indessen wollte sie Joam Dacosta nichts sagen, da sie hoffte, ihm am folgenden Tage den Erfolg melden zu können.

Aber Benito war kaum auf die Jangada zurückgekehrt, so begriff sie, daß die Nachforschungen nichts gefruchtet hatten.

Dennoch trat sie zu ihm.

»Nichts?« fragte sie.

»Nichts,« antwortete Benito, »aber morgen geht's weiter!«

Alle Mitglieder der Familie gingen in ihre Kabinen, und es fiel kein Wort über das, was vorgefallen war.

Manuel wollte Benito bewegen, sich hinzulegen, Um wenigstens ein paar Stunden zu ruhen.

»Wozu?« antwortete Benito. »Könnte ich denn schlafen?«


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