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Achtzehntes Kapitel

Lorbeer und Myrte

Lilli wußte nicht, wie sie aus dem Theater heimgekommen war. Man hatte sie umdrängt, sie beglückwünscht, ihr Blumen in die Hände gedrückt. Alle hatten sie ihr überschwengliche Worte der Anerkennung gezollt. Nur einer kam nicht, trotzdem er durch Zufall plötzlich ganz in ihre Nähe geraten war und Margot laut genug rief: »Da ist ja Doktor Rabe!« Er zog formell den Hut und ging weiter, fand es nicht für nötig, ihr und den Eltern ein freundliches Wort zu gönnen. Heiß war es Lilli in die Augen gestiegen. Sie stand unter dem Glückwunsch- und Blumenregen mit einem Gesicht da, als sei ihr Stück soeben ausgepfiffen worden, als hätte es nicht diese begeisterte Aufnahme gefunden.

»Ganz allerliebst – wirklich reizend, nicht nur für Kinder – endlich mal wieder ein Märchen in unserer nüchternen Welt –« Das waren fremde Urteile, die im Vorübergehen Lillis Ohr streiften.

»Bravo – gratuliere – ich bin stolz auf meine ehemalige Schülerin!« Ihr einstiger Lehrer, Professor Schuster, jetzt Direktor der Schule, drückte ihr erfreut die Hand.

Nichts machte Lilli, der sonst so Impulsiven, heute Eindruck. Sie ließ alles über sich ergehen, lächelte zu den schönen Worten, aber ihr Herz wußte nichts davon. Das weinte bei all den Freudenbezeugungen.

Nun war man endlich wieder zu Hause. Gottlob! Großmama, Onkel Martin, Tante Gretchen und Ilse Gerhard waren mit nach Schlachtensee hinausgefahren, um dort zu »feiern«.

Wie wenig war Lilli danach zumute! Als der Vater sie freudig bewegt in seinem Studierzimmer in die Arme schloß: »Mögen dir alle deine Schritte in die Öffentlichkeit von so gutem Erfolg begleitet sein wie heute der erste, mein Liliputchen!« da barg die erfolgreiche Autorin schluchzend den Kopf an Vaters Brust.

Der streichelte beruhigend das Goldhaar: »Kind, es war zuviel heute für dich, es hat dich übernommen. Gehe hinauf in dein Zimmer und komme erst in dir ein wenig zur Ruhe!«

Zum erstenmal in ihrem Leben vermochte Lilli nicht, am Herzen des Vaters sich das eigene Herz zu befreien. Sie konnte nicht von dem sprechen, was sie heute am meisten bewegte.

Droben im Mansardenstübchen hing ein riesiger Lorbeerkranz mit himmelblauer Seidenschleife über Lillis Schreibtisch, dem »stummen Diener«. In Goldbuchstaben stand darauf: »Dem berühmten Dichter Steffen Liman.« Darunter das Datum.

Ach, hätte sie doch niemals jenen Namen angenommen! Lilli betaute den Lorbeer mit ihren Tränen.

Sonja, die Spenderin des Kranzes, kam, sich nach der Freundin umzusehen.

»Lilli, du bist verruckt, zu weinen, anstatt zu sprringen meterrhoch. Wenn ich werrde haben solch Errfolg bei mein errstes Konzerrt, ich wärre derr glücklichste Mensch auf Errde.«

Sonja hatte recht. Undankbar war sie, zu heulen, anstatt sich zu freuen. Was ging sie der fremde Mensch an, und ob er ein gutes Wort für sie hatte oder nicht! Nun wollte sie gerade lustig sein – gerade!

Eine festlich gedeckte Tafel erwartete Lilli drunten. Frischgebackene Pfannkuchen dufteten darauf mit all den Blumenspenden um die Wette. Die gute Mutter! In aller Eile hatte sie gebacken. Onkel Martin hatte ein paar Flaschen Wein angeschleppt. Und jetzt drückte er Lilli mit dem Rufe: »Hoch, Sappho die Zweite – hoch! – – –« gar einen Lorbeerkranz auf die Stirne.

Die aber riß sich den Kranz herunter. »Nein, nein, ich mag ihn nicht.«

»Nehmt ihn hinweg, er sengt mir meine Locken,« zitierte Tante Gretchen lachend den Tasso.

Alles Sträuben half nichts. Onkel Martin gab nicht eher Ruhe, als bis sie, den Lorbeerkranz im Haar, oben den Ehrenplatz an der Tafel zwischen der glückverklärten Großmama und dem Vater eingenommen.

»Wartet doch wenigstens mit euren Ruhmesbezeugungen noch, bis morgen die Kritiken heraus sind. Vielleicht brechen die mir noch das Genick.« Dabei dachte Lilli nur an eine Kritik.

»Davor brauchst du nicht bange zu sein. Die Begeisterung war allgemein,« widersprach man.

Es wurde eine höchst fidele Feier. Lili, die Hauptperson, lachte und scherzte mit den anderen. Nur die Mutter merkte, daß ihr das Lachen nicht so frei von Herzen kam wie sonst.

Das ganze Mansardenstübchen duftete nach Lorbeer, als Lilli endlich ihr Lager aufsuchte. Wie gut, daß morgen Sonntag war, daß sie nicht in die Redaktion mußte! Wenigstens noch ein Tag Galgenfrist.

In aller Frühe schon lief Ludwig am anderen Morgen zum Bahnhof, um sämtliche Zeitungen, deren er habhaft werden konnte, für Lilli herbeizuschaffen.

»Glänzende Kritiken, eine wie die andere!« stürmte er in das Frühstückszimmer. »Nur – – –« er verstummte. Denn Lilli, von der er angenommen, daß sie noch auf ihren Lorbeeren ruhe, befand sich bereits am Kaffeetisch.

»Nur?« wiederholte Lilli gespannt und griff nach den Zeitungen.

»Ach, Unsinn, das soll bloß so was heißen. Wahrscheinlich paßt es ihm nicht, daß seine Sekretärin mehr kann als er. Der reine Konkurrenzneid!« schalt Ludwig.

»Sprichst du von – von Doktor Rabe?« Mit stockender Stimme fragte Lilli es. Sie war blaß, während ihre Hand unter dem Pack Zeitungen hastig nach der Morgenpost suchte.

»Freilich – von wem sonst? Eine Gemeinheit, dir deine glänzenden Kritiken zu verderben.« Der gemäßigte Zwillingsbruder war nicht wiederzuerkennen.

»Laß sehen!« Lilli trat mit dem Blatt zum Fenster. Damit nur niemand sah, daß ein Tränenschleier ihr den Blick trübte!

»Die Glockenmännlein von Steffen Liman erlebten gestern im Westen-Theater zu Berlin die Uraufführung. Das kleine Publikum nahm die Weihnachtsgabe dankbar hin. Es ist ja nicht schwer, kritiklose Kinderherzen zu begeistern. Umso gewissenhafter muß die Kritik der Großen verfahren. Steffen Liman, der sich als Märchenerzähler bereits einen Namen in der Jugendliteratur geschaffen hat, bringt mit der regen Phantasie, die ihm eigen, einen besonders hübschen Stoff. Leider ist die Bearbeitung desselben hinter dem Wert der poetischen Idee zurückgeblieben. Die Bilder entbehren des Zusammenhangs, sie sind zu lose aneinandergeheftet. Die dramatische Steigerung fehlt. Bei der Gestalt des Tannenelfchens scheint der Verfasser dem Dichter Gerhard Hauptmann in seiner ›Versunkenen Glocke‹ über die Schulter gespäht zu haben.«

»Solch eine Niedertracht – kein Wort ist davon wahr!« Lilli brach in rückhaltloses Weinen aus. Sie konnte nicht zu Ende lesen.

»Kind, wer sich in die Öffentlichkeit begibt, der muß gegen Angriffe gewappnet sein. Das sind die Dornen, welche die Rosen tragen. Eine ehrliche, tadelnde Kritik halte ich überdies für wertvoller als Lobhudeleien,« versuchte die Mutter sie zu beruhigen.

»Ja, eine ehrliche Kritik. Aber das ist keine. Ich habe die ›Versunkene Glocke‹ überhaupt noch gar nicht gelesen. Wie kann er mir das nur in die Schuhe schieben, daß ich mich mit fremden Federn schmücke – das – das ist einfach schlecht!« Lilli schluchzte zum Herzerbarmen.

»Und wo er dich kennt, wo er in unserem Hause verkehrt hat – wie kann er dich da nur so runterreißen!« Ludwig ballte die Fäuste. Der Schmerz seines zweiten Ichs brachte den guten Jungen ganz aus dem Häuschen.

»Ich kann sehr wohl verstehen, daß Doktor Rabe gerade, weil er dich kennt, weil er freundschaftliche Beziehungen zu unserem Hause pflegt, sich als gewissenhafter Kritiker verpflichtet fühlt, einen strengeren Maßstab an das Stück zu legen, als es sonst vielleicht der Fall gewesen wäre.« Vaters Stimme, die bisher geschwiegen, glättete mit ihrer Ruhe die wilden Wogen. »Außerdem ist die Kritik auch gar nicht schlecht. Das Tannenelfchen erinnert unbedingt an die ›Versunkene Glocke‹, ob du sie nun gelesen hast oder nicht. Aus den Einschränkungen, die Doktor Rabe in bezug auf den dramatischen Aufbau des Stückes macht, kannst du nur lernen und für das nächste Mal Gewinn daraus ziehen, Lilli. Du hast nicht zu Ende gelesen. Hier heißt es weiter: ›Es ist anerkennenswert, daß der Verfasser den Mut hat, mit Neuem, Eigenem die Kinderwelt zu beschenken, und nicht wie die meisten ausgefahrene Geleise einschlägt. Man darf mit Interesse weiteres von dem Autor, der den Kinderton besonders glücklich zu treffen weiß, erwarten. Die Darstellung war frisch und dem Märchengeist entsprechend. Die Regie tat ihr Möglichstes, um dem Fluge der Dichterphantasie zu folgen.‹ – Das ist eine ehrliche, objektive Kritik, Lilli.«

»Weder ehrlich, noch objektiv! Rein persönlich ist sie! Wenn er mir zum Schluß auch wieder ein Zuckerplätzchen auf die bittere Pille gibt, ich weiß doch, woher der Wind weht. Ärgerlich ist er, der Herr Doktor, daß ich ihn so lange mit dem Namen Steffen Liman genasführt habe. Das ist das Ganze. Weil er sich vor mir blamiert hat, will er mich nun blamieren. O, ich durchschaue ihn!« Lilli war noch immer außer sich.

»Einer so unedlen Handlungsweise halte ich Doktor Rabe nicht für fähig, Kind.« Der Mutter Stimme klang ernst mahnend. »Komm, trinke deinen Kaffee vollends aus und freue dich der anderen guten Kritiken.«

»Was frage ich nach denen! Gerade die Morgenpost, gerade – – –« Lilli biß sich auf die Lippen. »Gerade die Zeitung, bei der ich tätig bin, reißt mich 'runter,« vollendete sie schnell. »Aber ich bleibe nicht dort, ich kündige zum ersten Januar. Mit diesem Rabe arbeite ich nicht länger zusammen. Entweder ich werde in eine andere Abteilung versetzt oder ich suche mir wo anders eine Stelle.« Fräulein Heißsporn rief es mit tränenblitzenden Augen.

»Lilli, schütte das Kind nicht mit dem Bade aus. Du hast dich bisher durchaus wohl gefühlt in der Zusammenarbeit mit dem intelligenten Redakteur,« bedeutete sie der Vater.

»Damit ist es jetzt zu Ende.« Das klang, als ob für Lilli überhaupt alles zu Ende sei.

»Warrum ärrgerrst du dirr überr derr einen schlechten Krritik, Lilli? Frreue dirr lieberr überr all den grroßarrtigen hierr.« Sonja, die inzwischen das Zimmer betreten und die Kritiken angelegentlich studiert hatte, schob ihr die Blätter zu. »›Wahrre Märrchenpoesie, die an Anderrsen erinnerrt – Humor und kindliche Naivität – ein Errfolg, wie err nurr den Grrößten zuteil wirrd – hinter dem Namen Steffen Liman birrgt sich ein Elfchen, das selbst aus dem Märrchenland zu kommen scheint. Kein Wunderr, daß es so gut dorrt Bescheid weiß. – Endlich wiederr ein rrichtiges Märrchen – –‹ Ich wünschte, ich bekäme mal ebenso gute Krritiken. Lilli, mein Täubchen, was willst du noch mehrr?«

Sonja umfaßte die betrübte Freundin aufmunternd.

Ja, freilich – alle übrigen Kritiken waren gut, ohne jede Einschränkung. Aber darum eben!

Sie hatte es von Anfang an gewußt, daß dieser Unglücksrabe ihr Pech bringen würde.

Das war ein trübseliger Sonntag, der auf den gestrigen Freudentag folgte. Richtige Aschermittwochstimmung. Lilli bangte vor dem nächsten Arbeitstag, auf den sie sich sonst den Sonntag über gefreut hatte. Sie bangte vor dem Wiedersehen mit Doktor Rabe, und am meisten davor, daß sie ihm zum ersten Januar kündigen wollte.

»Wenn du's nicht tust, hast du keinen Charakter,« sagte sie vor dem Einschlafen in energischem Ton zu sich selber, als sie keine Ruhe finden konnte und immer wieder eine Stimme in ihr laut werden wollte, daß es doch eigentlich gar nicht nötig sei.

In ziemlich katzenjämmerlicher Stimmung saß die junge Sekretärin am nächsten Tage vor ihrem Arbeitstisch. Der Herr Vorgesetzte war noch nicht erschienen. Wenn er doch überhaupt nicht käme! Zum erstenmal in ihrem Leben war Lilli feige. Die Arbeit wollte nicht vorwärts. Überall lagen Zeitungsexemplare der Sonntagsausgabe, die über Steffen Liman den Stab brachen.

Die Tür ging. Das Herz blieb Lilli stehen. Sie sah nicht auf.

»Gutem Morgen,« sagte eine bekannte Stimme. Doktor Rabe ging durch das Vorzimmer in seinen Arbeitsraum. Lilli hatte nur steif mit dem Kopf genickt. Ihr strahlendes »Guten Morgen,« das ihn sonst begrüßte, blieb aus.

Nicht einmal jetzt hatte er irgend ein Wort für sie. Die Angelegenheit war mit der Kritik für ihn erledigt.

»Fräulein Steffen, bitte zum Stenogramm!« Sein Kopf verschwand wieder.

Lilli wappnete sich mit all der Entschlossenheit, die ihr von ihrer Mutter überkommen war. Nur nicht merken lassen, daß sie sich was aus seiner schlechten Kritik machte!

War es das fahle Novemberlicht? Es fiel dem Redakteur auf, wie blaß die eintretende Sekretärin aussah.

Das Diktat begann. Lilli warf ihre Zeichen mit einer Wut auf das Papier, als ob das unschuldige Blatt die Ursache zu der Spannung zwischen ihnen sei. Knacks – da brach die Bleistiftspitze ab. Stillschweigend schob Doktor Rabe ihr den eigenen Bleistift zu.

Das Stenogramm war beendigt. Würde er jetzt etwas sagen? Lillis Herz schlug so laut, daß sie fürchtete, Doktor Rabe könnte es hören. Aber der hatte sich bereits wieder seinen Manuskripten zugewendet. Er schenkte ihr gar keine Beachtung mehr.

Lilli ballte die Hände. Sie atmete tief.

»Herr Doktor, ich bitte um meine Entlassung zum ersten Januar – – –« O Gott, nun war es heraus!

Er fuhr herum.

»Schön.« Das kam genau so ruhig wie sonst. »Ich kann es verstehen, daß Steffen Liman Besseres zu tun hat, als Sekretärindienste zu leisten.

Der Name traf. Es begann Lilli im Kopfe zu brausen.

»Ich bitte nur um Versetzung in eine andere Abteilung.« Mühsam brachte sie es heraus.

Eine kurze Pause. Endlos schien sie Lilli.

»Gut – ich werde mich dafür verwenden.«

Dann war Lilli wieder in ihrem Zimmer, an ihrem Arbeitstisch. Aber sie dachte nicht daran, das Stenogramm in die Schreibmaschine zu übertragen. Den Blondkopf auf der Schreibtischplatte in den Armen vergraben, weinte sie, weinte ...

Sie hörte nicht, daß die Tür sich öffnete, das jemand eintrat. Eine ganze Weile stand Doktor Rabe hinter dem bitterlich weinenden »Steffen Liman«. Dieser Anblick war zuviel für den blonden Riesen. Seine Hand strich besänftigend über das Goldhaar.

Sie merkte es nicht.

»Lilli – weinen Sie nicht so – ich kann's nicht sehen –« Da hob sie verstört den Blondkopf.

»Warum weinen Sie, Lilli?« Seine Augen fragten es eindringlicher noch als sein Mund.

»Weil – weil ich Sie hintergangen habe – und – und weil Sie mir deshalb böse sind.« Ganz etwas anderes sagte Lilli unter der Einwirkung seiner Augen, als was sie beabsichtigt hatte. Aufs neue begann sie herzbrechend zu schluchzen. Sie war ganz fassungslos.

Doktor Rabe wußte sich keinen Rat mehr. Das leise Streicheln über ihr im Schmerz auf- und niederzuckendes Gelock nützte gar nichts. Und so kam's, daß Doktor Rabe plötzlich »Steffen Liman« in seinen Armen hielt, nur um die Schluchzende besser zu trösten.

Das mußte ihm wohl auch gelingen. Leiser wurde Lillis Weinen. Und als er ihr die letzten Tränen von den Augen küßte, da lachte sie schon wieder.

»Warum hattest du kein Vertrauen zu mir, Lilli?«

»Ich – ich – Sie haben mir vor Jahren mal eine Skizze abgelehnt. Und da wagte ich es nicht, wieder etwas unter meinem Namen zu veröffentlichen. Ich habe unter der Heimlichkeit sehr gelitten. Mehr als einmal wollte ich es Ihnen sagen, wer Steffen Liman eigentlich sei, aber – – –« Sie senkte wie ein kleines Schulmädel den Kopf.

»Die Kündigung zum ersten Januar hier für die Redaktion habe ich angenommen. Aber ich kann eine Privatsekretärin gebrauchen, Lilli. Und damit mir diese nicht wieder eines schönen Tages mit Kündigung droht, will ich sie lieber gleich in Ehefesseln legen, das heißt, wenn Steffen Liman nichts dagegen hat.«

»Nein, der hat nichts dagegen, der hat überhaupt nichts mehr zu sagen. Als Lilli Steffen will ich weiter für die Kinderzeitung schreiben – – –«

»Daraus wird nichts.«

Ganz erschrocken sah Lilli zu ihm auf.

»Allenfalls als Lilli Rabe,« lachte der gestrenge Vorgesetzte. »Aber ich denke, wir einigen uns auf Onkel Hans und Tante Lilli.«

»Daß ich jetzt selbst noch ›Rabe‹ heißen muß!« seufzte Lilli lachend. »Irgend ein nichtsnutziger Kobold hat mir das sicher eingebrockt. Nicht ausstehen konnte ich den Namen, der mir damals die Enttäuschung brachte!«

»Jetzt soll er dir keine Enttäuschung bringen, sondern die Erfüllung, Lilli.« Fest schmiegte sich die kleine Liliputhand in die große des Riesen.

Was kümmerten sich der Redakteur und seine Sekretärin heute darum, ob morgen eine Zeitung erschien oder nicht! Die zwei hatten andere als berufliche Dinge zu besprechen. Über die abfällige Kritik beklagte sich Lilli. Sie mußte sich jetzt alles von der Seele reden; daß sie bittere Tränen vergossen hatte über die ungerechte Beschuldigung, nach fremden Mustern gearbeitet zu haben, und daß sie an seinem objektiven Urteil gezweifelt hatte.

Jetzt war die Reihe, bestürzt auszusehen, an Doktor Hans Rabe.

»Du hast recht, Lilli,« meinte er nachdenklich, »ich war nicht ganz objektiv. Aber nicht aus Berufsneid, wie du annahmst, sondern – weil du es warst. Weil ich dich lieb hatte.« –

Die Kirschenallee draußen in Schlachtensee stand naß und frierend. Welke Blätter streifte der Novemberregen von den zitternden Ästen. Aber das junge Menschenkind, das da leichtfüßig über die Pfützen sprang, sah nichts von Novembergrau und Vergehen. Das schaute mit Augen in die kahlen Zweige, als ob sie in voller Blüte ständen. Ja, wer im Märchenland daheim ist, für den blüht es selbst im November.

Vor dem Gartentor stand Schnauzel, mißmutig und trübselig wie der Novembertag. Nur aus Pflichtgefühl pendelte er mit dem Schwänzchen die übliche Begrüßung.

Lilli neigte sich herab und packte eines der herabhängenden Ohren.

»Schnauzel, du sollst der erste sein, der es erfährt –« und leise, ganz leise flüsterte sie ihm in die braunen weichen Ohrlappen: »Ich bin Braut, Schnauzel!«

Laut auf jaulte der Köter. Er sprang ins Haus, die Freudenbotschaft blaffend zu verkünden.

Die Familie war in dem geheizten Zimmer versammelt, ein jedes bei seiner Arbeit. Schnauzel raste wie besessen von einem zum andern. Aber niemand verstand sich auf die Hundesprache.

Da erschien Lilli, mit windgezaustem Haar, mit heißen Wangen und Märchenaugen.

»Na, mein Mädel, hast du in deiner Aufregung auch keine Dummheiten heute in der Redaktion gemacht und die gute Stelle etwa aufgegeben?« empfing sie die Mutter besorgt.

»Doch, Muttchen, ich bin zum ersten Januar entlassen.« Über das ganze Gesicht lachte Lilli dabei.

»Wie leichtsinnig, Kind! Um nichts und wieder nichts gibst du das Sichere auf, ehe du eine andere Stelle hast.« Frau Mieze war durchaus unzufrieden.

»Ich habe bereits eine andere Stelle.« Lachend fiel Lilli der vorwurfsvoll dreinschauenden Mutter um den Hals.

»Das ist recht, daß du dem Rabe den Stuhl vor die Tür gesetzt hast nach seiner Schundkritik, Lilli. Das gönne ich ihm,« triumphierte Ludwig.

Die Zwillingsschwester lachte, bis die Tränen ihr in die Augen traten.

»Lilli, da steckt doch noch was dahinter – ich kenne doch mein Mädel!« Fragend begegneten die Augen des Vaters den ihren.

Und da – da war es mit einemmal zu Ende mit Lillis Lachen. Die Tränen begannen zu fließen. An Vaters Schulter barg sie den Blondkopf, dem Platz, der von klein auf der Beichtstuhl gewesen.

»Errätst du's nicht, Vaterchen? Doktor Rabe will mich zu seiner Privatsekretärin und – und – – –«

»Na, du hast doch hoffentlich für die dir zugedachte Ehre gedankt, Lilli?« unterbrach sie Ludwig empört.

»Nein, angenommen hab' ich's.« Regen und Sonnenschein stritten in Lillis Gesicht. »Ich werde seine Privatsekretärin und – und – und seine Frau!« Raus war's.

Sekundenlang atembeklemmende Stille.

Dann gab Schnauzel den Auftakt zu den allgemeinen Freudenbezeigungen.

»Mein Liliputchen! Nun wirst du bodenständig in dem Land unserer Sehnsucht. Mögest du dort nicht nur den Ruhm, sondern vor allem das Glück finden!« flüsterte der Vater bewegt.

Frau Mieze aber meinte, nachdem sie ihre Älteste endlich wieder aus den Armen ließ: »Jetzt aber hat's ein Ende mit dem Geschreibsel, Lilli. Jetzt kriege ich dich tüchtig in der Wirtschaft 'ran. Von dem Tischleindeckdich im Märchen wird dein zukünftiger Mann nicht satt.«

Margot hing jubelnd an Lillis Hals, und Sonja küßte sie immer umschichtig auf die Wangen: »Mein Täubchen, du sollst werrden glücklich. Aberr was soll werrden aus deine Lorrberren?«

»Damit lege ich Heringe ein – bis zu meiner Goldenen Hochzeit wird der Lorbeerkranz wohl reichen«, entgegnete Lilli lachend.

»Nein, du mußt schrreiben weiterr. Steffen Liman darrf nicht verrlierren sein Rruhm in Eheglück.«

»Doch, Sonja, Steffen Liman hat seine Rolle ausgespielt. Ich will jetzt nur noch ich selber sein. Aber Lilli Steffen wird ihre gesammelten Märchen demnächst in Buchform erscheinen lassen. Oder vielmehr Hans – – ich meine Doktor Rabe,« verbesserte sie sich errötend, »will sie herausgeben.«

Einer stand abseits, der hatte keinen Glückwunsch, kein frohes Wort für Lilli und war doch eigentlich der nächste für sie ihr Zwilling.

»Na, Lulu, du siehst ja aus, als ob du mich fressen wolltest, anstatt mir zu gratulieren?« Mit fragendem Vorwurf wandte sich Lilli an den Bruder.

»Dich nicht – aber deinen Doktor Rabe! Erst reißt er dir die Federn aus, und dann ist er so gnädig, dich zu seiner Frau zu begehren. Hast du denn gar keinen Stolz ihm gegenüber, Lilli?«

»Nein, nur – Liebe.« Keiner von den anderen hörte Lillis Antwort. Aber vor diesem Ton mußte Ludwigs Eifersucht die Waffen strecken. Fest hielt er die Zwillingsschwester, die ein anderer ihm nehmen wollte, umschlungen. –

Die Weihnachtstanne in dem weißen Lehrerhäuschen gab sich diesmal ganz besondere Mühe, zu funkeln und zu strahlen. Aber mit dem strahlenden Glanz, der aus den Augen der jungen Braut leuchtete, kam sie doch nicht mit.

»Ich gebe dir den guten Rat, Hans, sei auf deiner Hut,« neckte Onkel Martin den neuen Neffen. »Diesen Märchenkobolden ist nicht zu trauen. Wie sie auftauchen, verschwinden sie auch wieder, nachdem sie einem auf der Nase herumgetanzt haben.«

»Ich wag's trotzdem!« Der Vorsicht halber schlang Hans Rabe aber doch lieber den Arm um seine Braut.

Zum ersten Januar legte Lilli ihre Sekretärinstelle bei der Morgenpost nieder. Die Mutter tat's nicht anders. Vom Schreibtisch gab sie ihr Kind nicht in die Ehe. Obgleich Lilli von klein auf wirtschaftlich hatte mit angreifen müssen, behauptete Frau Mieze, daß sie nichts verstehe. –

Auch Ilse Gerhard, die innigen Anteil an dem Glück der Freundin nahm, verließ mit dem neuen Jahr ihren Wirkungskreis. Ihre Eltern wünschten, daß ihre blasse Ilse die anstrengende Tätigkeit im Röntgenlaboratorium aufgeben solle. Schweren Herzens kam Ilse diesem Wunsche nach. Auch Doktor Engelbrecht trennte sich nur sehr ungern von seiner Röntgenassistentin und schien die Absicht zu haben, sie sich bald auf immer wieder zu holen.– –

Wieder ist's Frühling. Flieder und Rotdorn stehen in Knospen, und die Vögel verkünden es jubilierend.

Da baute sich das junge Rabenpaar sein Nest. Hinter Efeugerank und Rotdorn ganz versteckt liegt's, abseits von dem Getriebe der großen Stadt. Hans Rabe und seine junge Frau beziehen das Erdgeschoß in dem Gemollschen Hause. Denn Gerhards haben endlich ein passendes Landhaus in Dahlem gefunden. Fräulein Gabriele ist glücklich, Lilli in ihr Haus zu bekommen, und auch Rosaura nebst Familie schnurrt zufrieden – schönchen!

Zu Lilli Liliputs Polterabend wird noch einmal der ganze Märchenspuk, der in ihrem Mansardenstübchen gewebt, lebendig, von Prinzessin Schneeflocke an, ihrem ersten literarischen Erfolg, bis zum allerletzten »Die Glockenmännlein«. Gulliver, der in das Liliputland verschleppt wird, fehlt natürlich nicht. Ludwig zeigt seine neuerworbenen Sympathien für den langen Schwager dadurch, daß er ihn möglichst getreu als Gulliver kopiert. Auch Ihro Gnaden, das Lumpenprinzeßchen, geruht zu erscheinen als rotbackiges Bauernmädel in Begleitung der treuen Lena.

Statt des Lorbeerkranzes von Onkel Martin zieht sich heute Großmamas Myrte durch Lillis Goldhaar.

Wie ein lichtes Wölkchen hängt das Liliputchen an dem Arm seines blonden Riesen. Bräutliche Blüten streuen die Kirschenbäume ihr auf den Weg. So schreitet sie hinaus aus dem Hause ihrer glücklichen Kindheit und Mädchenzeit in das Land der Erfüllung.

Nur die beiden verwitterten Steinputten vor der alten Haustür erspähen durch das Efeugerank ein wenig von dem Glück der zwei.


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