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Fünfzehntes Kapitel

Ein Wintergast

Tiefverschneit lag das kleine einstöckige Haus in der Schloßstraße. Eine dicke, weiße Nachtmütze hatte der Winter ihm über die Ohren gezogen. Es lag noch viel verschlafener da als sonst. Die Steinputten an der Haustür hatten weiße Nachtröckchen anbekommen. Fest in ihre Schneebetten eingekuschelt, träumten sie von Sommerzeit und Vogelfang. Fußhoch lag der Schnee in dem kleinen Vorgarten. Eine einzige Fußspur nur zog sich vom Garten zum Haus. Ein schmaler Damenfuß war's, der sich täglich den Weg durch den hohen Schnee bahnte.

Ilse Gerhard war die einzige der Bewohnerinnen, die aus dem verschlafenen Schneehäuschen täglich in das Leben draußen zurückkehrte. Nicht einmal Rosaura, die sonst sehr für Bewegung in frischer Luft war und auch ihren Nachwuchs nach diesen Abhärtungsprinzipien erzog, mochte jetzt die Gletscherwanderung durch den tiefen Schnee wagen. Am warmen Ofen schnurrte es sich ungleich behaglicher.

Ein Glück war's daß man das blasse Fräulein, auf welches das Katzengeschlecht zuerst recht scheel gesehen, jetzt im Hause hatte. Es sorgte für Kohlen, die diesen Winter recht knapp waren, und es sorgte für Milch. Jeden Morgen in aller Frühe sah man es, den Milchtopf in der Hand – trap-trap – durch den Schnee stampfen.

Was war aus der verwöhnten Ilse Gerhard geworden! Wer sie morgens nach Milch und Brot laufen sah, wer sie, bevor sie an ihre Röntgentätigkeit ging, beim Ofenheizen und Stubenausfegen erblickte, der hätte das verwöhnte junge Fräulein aus der eleganten Wannseevilla wohl kaum wiedererkannt.

Oh, aber was hatte die arme Ilse auch für Lehrgeld zahlen müssen. Wieviel Tränen hatte sie heimlich vergossen, wenn das Feuer nicht brennen wollte oder der Reis angesetzt hatte. Manche Blase an den früher so zarten, weißen Händen legte Zeugnis von der ungewohnten Tätigkeit ab.

Solange Alwine die Wirtschaft versah, waren Ilses Hände zart und weiß geblieben. Da hatte sie nur nötig gehabt, den Einkauf zu besorgen. Auch das war nicht immer leicht. Denn praktisch war Ilse nun mal nicht erzogen. Sie freute sich, wenn sie eine Büchse Spargel für zehn Mark erstanden hatte, die wo anders elf Mark kostete. Mama mußte Spargel und feine Gemüse bekommen, daran war sie doch gewöhnt. Kohl, der ungleich billiger war, durfte man Mama nicht vorsetzen, das vertrug ihr Magen sicher nicht. Aber Mama aß nur, wenn auch ihre Ilse daran teilnahm, und für Alwine allein derbere Kost zu kochen, das lohnte doch nicht. So aßen sie alle drei Spargel und teure Gemüse. Daß diese Lebensweise aber einen tüchtigen Riß in die Wirtschaftskasse machte, das wurde Ilse nach Ablauf des ersten Monats erschreckend klar. Da war so viel verbraucht, wie sie für drei Monate ausgesetzt hatte. Oh, was nun? Sie hatte doch so sparsam gewirtschaftet. Wie konnte sie sich bloß noch einschränken?

Mit Mama mochte Ilse derartige Überlegungen nicht pflegen. Die wurde gleich traurig, daß ihre Ilse solche Last und Sorge auf sich nehmen mußte. Mama hatte sich noch schwerer in dem neuen verkleinerten Heim eingelebt, als Ilse gefürchtet hatte. Sie klagte nicht, o nein, das tat Mama nie. Aber sie war so blaß und still, kaum, daß sie mal lächelte, wenn Ilse etwas zu berichten hatte. Weder Fräulein Gabriele Gemolls Plaudereien aus längstvergangenen Tagen, noch Lillis, Willis, Cillis, Tillis und Millis übermütige Annäherungsversuche vermochten Frau Gerhard aufzuheitern. Sie saß während des Sommers mit ihrer Handarbeit auf der efeuumsponnenen kleinen Veranda und des Winters auf ihrem Erkerplatz. Von dort schaute sie mit wartenden Augen in das Gärtchen hinaus, ob Ilse wohl bald von ihrer Tätigkeit heimkäme. Oder war es noch etwas anderes, wonach die stille Frau ausblickte?

Über ein Jahr war es nun schon her, daß die letzte Nachricht aus Rußland kam. Auch keine unmittelbare. Nur Sonja Pietrowicz schrieb an Ilse, daß es ihrem Vater den Verhältnissen nach ganz gut ginge. Inzwischen waren dort wieder unter der Sowjetregierung Unruhen und Kämpfe ausgebrochen. Weder Frau Gerhard noch Ilse bekamen eine Antwort auf ihre nach Petersburg gerichteten Briefe. Warum schrieb denn wenigstens Sonja nicht? Galt es eine schlimme Botschaft auszurichten, zu dessen Überbringer sich niemand gern macht?

Ilse hoffte mit dem Vorrecht der Jugend, daß nur äußere politische Verhältnisse der Grund des langen Schweigens seien. Die Mutter aber hatte Ilses Hoffnungsfreudigkeit nicht mehr. Allzuoft war sie schon enttäuscht worden. Dieses Nichtmehrhoffenkönnen, das machte Frau Gerhard noch niedergedrückter als die veränderten Lebensverhältnisse.

Auf den Rat ihrer mütterlichen Freundin, Frau Doktor Steffen, hatte Ilse die Mutter mit ihren Wirtschaftssorgen schließlich doch vertraut gemacht. Es zeigte sich, daß dies viel richtiger war, als die Mutter mit allem zu verschonen. Frau Gerhard half Ilse bei ihren wirtschaftlichen Überlegungen und Geldeinteilungen und wurde dabei wieder teilnehmender und frischer. Allerdings sehr praktisch war die stets an Reichtum gewöhnte Frau auch nicht. Ja, manchmal zeigte es sich, daß das Küken noch verständiger zu wirtschaften verstand. Denn Ilse hatte doch schon so manches in dem Lehrerhäuschen bei Steffens, wo man all sein Lebtag hatte sparen müssen, gelernt.

Alwine, die dritte im Bunde, war diejenige, die am allerwenigsten den veränderten Verhältnissen Rechnung trug. Ihre Gnädige mußte das Beste vom Besten haben, dafür hatte sie gesorgt, solange sie im Gerhardschen Hause war. Und Ilschen, ihr Liebling, sollte sich keine Hand naß machen, das gehörte sich nun mal nicht für solche vornehme, junge Dame. Ja, mit Alwines Unvernunft hatte Ilse den schwersten Stand. Hatte sie den Speisezettel möglichst wohlfeil zusammengestellt, so überraschte sie Alwine sicherlich mit einer prächtigen Torte, zu der soundsoviel Eier und Butter draufgegangen waren. Das wäre ja noch schöner, daß ihre Herrschaft darben sollte! Solange die alte Alwine im Hause war, sorgte sie auch für einen anständigen Happen.

Manchesmal hatte Ilse wohl gedacht, es wäre besser, auf die Hilfe der alten treuen Seele zu verzichten, die ihr das Sparenmüssen so erschwerte. Aber als die Hilfe dann eines Tages wirklich fehlte, kam die arme Ilse sich mit ihrer wirtschaftlichen Unkenntnis ganz verraten und verkauft vor.

Der Winter hatte einen bösen Gast im Geleit gehabt, die Grippe. Kaum ein Haus gab es in der Millionenstadt, das sie mit ihrem bösen Besuch verschonte. Durch die kleinste Türspalte drängte sie sich mit ein. Und war sie erst mal drin, dann machte sie sich breit. Alt und jung, alles war ihr verfallen.

Alwine wurde von der Grippe ergriffen. Sie konnte nicht aufstehen und Ofen heizen, sondern mußte jammernd mitansehen, daß Ilse dies mit ihren feinen Händchen tat. Natürlich brannte der Ofen erst, nachdem Fräulein Gemolls Aufwartung sich sachverständig Ilses Not annahm. Ilse wollte ihre treue ehemalige Kinderfrau selber pflegen, aber sie mußte vormittags ins Röntgenlaboratorium. Mama, die so zart und empfindlich war, durfte sich auf keinen Fall der Ansteckung aussetzen. Der behandelnde Arzt hielt es für das geratenste, die Kranke in ein Krankenhaus überzuführen, wo sie die notwendige Pflege hatte. Das gab Ilse aber nicht zu. Ihre alte, treue Alwine ins Krankenhaus, nein, sie würde schon die Zeit zur Pflege aufbringen. Und wirklich, vor sechs Uhr in der Früh, wenn noch alles dunkel war, erhob sich Ilse schon leise von ihrem Lager.

Sie bereitete das Essen vor und das Krankensüppchen. Sie machte Alwine die notwendigen Packungen, maß Temperatur und zeichnete sie in die Fiebertabelle ein. Wenn sie um zehn Uhr ins Röntgenlaboratorium kam, dann hatte sie schon so viel geschafft wie früher in einem ganzen Jahr nicht. Freilich war sie dann von der ungewohnten Arbeit und dem noch ungewohnteren Frühaufstehen abgespannt und unfrisch für die ebenfalls recht anstrengende Röntgenarbeit. Doktor Engelbrecht, der im Anfang mit seiner jungen Assistentin recht zufrieden gewesen war, mußte jetzt öfters mal ein Auge zudrücken. Bald war eine Platte unter-, bald war sie überbelichtet. Heute belastete sie eine Röntgenröhre zu stark, morgen ließ sie dieselbe zu weich werden. Ja, bei einem Haar hätte sie neulich ein sehr wertvolles Rohr fallen lassen, als ihr plötzlich einfiel, daß sie vergessen hatte, Alwine des Morgens ihre Aspirintabletten zu geben. Beim Entwickeln der Röntgenplatten mußte sie daran denken, ob Mama auch nicht etwa an der Herdplatte stehen und das Essen fertig bereiten würde, bevor sie nach Hause kam. Ihre zarte, vornehme Mama durfte derartige grobe Arbeiten nicht verrichten. War es da ein Wunder, daß das Röntgenbild nicht tadellos wurde? Und daß Doktor Engelbrecht unzufrieden den Kopf schüttelte: »Fräulein Gerhard, wo haben Sie denn bloß Ihre Gedanken!«

Ach, wenn Doktor Engelbrecht gewußt hätte, woran Ilse alles zu denken hatte. Und dabei noch die größte Sorge, daß Mama sich nicht auch noch ansteckte, oder daß sie selbst der Grippe ihren Tribut zahlen mußte. Was sollte denn bloß werden, wenn sie auch noch auf der Nase lag?

Nun aber war das Schlimmste vorbei. Alwine war wieder so weit hergestellt, daß sie leichte Arbeit im Hauhalt leisten konnte, und an Frau Gerhard und Ilse war die Grippe einsichtsvoll vorübergeschritten.

Heute hatte Ilse trotzdem tüchtig zu tun. Aber es war freudige Arbeit, die es zu verrichten galt. Frau Gerhard hatte darauf gedrungen, daß ihre fleißige Ilse wieder mal mit den Freundinnen zusammen sein sollte. Es war notwendig, daß sie unter junge, frohe Menschen kam; das Mädel wurde ihr bei all den Pflichten und häuslichen Sorgen zu ernst. Ilse aber wollte nichts davon hören, die Freundinnen aufzusuchen und Mama und Alwine allein zu lassen. Dagegen nahm sie den Vorschlag der Mutter, die Freundinnen zu sich zu bitten, freudig auf. Du lieber Himmel, sie war doch noch nicht zwanzig und sehnte sich auch nach jugendfrohem Lachen. Besonders die lange Trennung von Lilli Steffen, die wegen der Grippe notwendig gewesen, war ihr recht schwer geworden. Und Mama würde es sicherlich auch gut tun, junge Gäste bei sich zu sehen in ihrer Abgeschiedenheit.

Also heute war nach langer Zeit wieder Kränzchen. Aber Alwine durfte nichts damit zu schaffen haben, die sollte sich noch nicht anstrengen. Ilse setzte ihre Ehre darein, alles allein zu bereiten. Daß der Napfkuchen, bei dem Ilse sich Blasen in die Hände geschlagen hatte, etwas zu dunkel geraten war, sah man gar nicht, so viel Zucker hatte die junge Wirtin darüber gestreut. Den Teetisch zierlich zu bereiten, das war Ilses ganz besondere Kunst. Im Biedermeierzimmer, da war es am gemütlichsten. Der runde Teetisch mit den altertümlichen Blümchentassen und dem schönen alten Zierat aus Großmutters Servante wirkte im Schein der lilaverhangenen Lampe durchaus stilvoll. Und als Fräulein Gabriele noch mit einer Schüssel Krausgebackenem erschien – sie hätte sich erlaubt, auch einen kleinen Beitrag zuzusteuern, zum Dank, daß Ilse ihr bei dem hohen Schneefall täglich die Milch mitbesorgte, na jachen – da konnte man den einstigen Luxus nicht allzusehr vermissen.

Bald saßen sie denn auch gemütlich plaudernd zu vieren beim Schein der lila Lampe und genossen mit Tee und Kuchen zugleich den Zauber der vornehmen Gemütlichkeit, den das Gerhardsche Heim selbst in dem verengerten Rahmen ausströmte.

Lilli war natürlich wieder die Lebhafteste. Was hatte sie alles zu erzählen. Von daheim und aus der Redaktion. Die Grippe hatte ihr Haus zum Glück verschont. Mutter hütete Vater aber auch wie ihren Augapfel. Fünf Pfund hatte er unter ihrer Pflege schon zugenommen. Zum Sommer durfte er sicher wieder am Gymnasium unterrichten. Aber Einquartierung bekamen sie. Das Wohnungsamt fand, daß sie zu viele Zimmer hätten. Eins mußten sie noch abgeben. Als ob die Mutter nicht schon gerade genug zu tun hätte. Und wer weiß, wen man ins Haus bekam. Am liebsten dann schon einen Pensionär, den Vater gleichzeitig unterrichtete.

»Ach, Kinder, und in unserer Redaktion ist jetzt auch polnische Wirtschaft. In jeder Abteilung fehlen ein paar Menschen. Ehe man sich's versieht, hat die Grippe wieder einen beim Wickel. Mein Doktor Schmidt ist schon über acht Tage krank; wenn er bloß bald wiederkäme. Die anderen Redaktionen bemuttern uns, aber nur recht stiefmütterlich. Das meiste bleibt liegen, die Manuskripte häufen sich chimborassoartig. Vieles muß ich auf eigene Kappe nach Gutdünken erledigen; nächstens werde ich noch Chefredaktrice der Morgenpost. Vor sieben Uhr abends komme ich keinen Tag nach Hause. Und wenn heute nicht Kränzchen gewesen wäre, säße ich jetzt sicher noch mit sorgenschwerem Haupte an meinem Redaktionstisch. So aber dachte ich mir: Das Kränzchen abzuhalten ist wichtiger, als daß die Morgenpost erscheint, und bin einfach ausgekniffen.«

»Ich hab's nicht viel besser gemacht, Lilli. Meine Examenshefte habe ich treulos im Stich gelassen, trotzdem das Lehrerinexamen bereits in bedrohlicher Nähe ist,« fiel Lena mit drolligem Seufzer ein.

»Na, Kinder, ich finde, daß euch eure angestrengte Tätigkeit glänzend bekommt. Lena ist, seit sie in Ostpreußen war, überhaupt nicht wieder zu erkennen. Nimm nur noch ein Stück Kuchen, du mußt dir deine Schönheit bewahren,« nötigte die Wirtin.

»Ja, die ostpreußische Weide ist der reine Verschönerungsverein für Lena gewesen,« neckte Lilli übermütig. »Nächsten Sommer schicken wir dich wieder zur Auflackierung hin.«

»Das kann schon möglich sein, daß ich wieder nach Angerburg fahre. Vielleicht sogar für immer. Mir ist zu Ostern – wenn ich nicht durchs Examen geplumpst bin – eine Stelle an der dortigen Volksschule in Aussicht gestellt worden. Ach, Kinder, dann wäre all mein Sehnen erfüllt. Landkinder zu unterrichten, habe ich mir immer gewünscht. Man kann dort viel segensreicher wirken als in der Großstadt. Und Mutter könnte ihr Blumengeschäft aufgeben und zöge mit den Kleinen zu mir. Ruth und Walter besuchen uns, wenn sie Urlaub haben. Und ihr müßt auch kommen.«

»Schön, also das nächste Kränzchen in Angerburg – darauf leere ich meine Tasse,« rief Lilli.

»Und ich mal erst auf ein glückliches Examen – ich finde, wir sind sehr wenig egoistisch, daß wir Lenas Wünsche unterstützen. Wir verlieren sie doch dadurch,« meinte Ilse, wieder ernster werdend.

»Na, ich rücke dir ganz bestimmt auf die Bude, Lena, wenn du erst die Gänse in Angerburg unterrichtest. Schon um zu sehen, wie es meinem Lumpenprinzeßchen in seiner neuen Heimat ergeht.«

»Und was machen die anderen dann ohne dich, Lilli? Ich habe dich im Verdacht, daß du nicht nur redaktionell tätig bist, sondern selbst die Federn gegen die wehrlose Menschheit zückst. Wann erscheint dein erstes Werk, Lilli?« neckte Ilse.

»Quatsch mit Soße!« Lilli verbarg das errötende Gesicht hinter der erhobenen Teetasse.

Zu ihrem Glück gab Frau Gerhard gerade ihren mütterlichen Betrachtungen Ausdruck: »Wie bleich meine Ilse gegen euch beide aussieht! Das Kind strengt sich zu sehr an.«

Ja, Lilli sah augenblicklich ganz besonders rosig aus. Das hatte auch seinen guten Grund. Ilse hatte mit ihrer harmlosen Neckerei den Nagel auf den Kopf getroffen.

Lilli wollte zum erstenmal etwas veröffentlichen. Die Weihnachtsnummer der Kinderzeitung mußte während der Krankheit des Doktor Schmidt zusammengestellt werden. Die vertretenden Herren hatten sie damit beauftragt.

»Ein Weihnachtsmärchen oder eine kleine Erzählung, ein hübsches, möglichst lustiges Gedicht und vielleicht ein paar Scherzfragen oder Rätsel,« hatte man vorgeschlagen. Das sollten für sie die Anhaltspunkte sein.

Ein brauchbares Märchen hatte sich unter dem eingesandten Material gefunden, wenn Lilli auch heimlich meinte, sie hätte den Stoff hübscher bearbeiten können. Aber das lustige Weihnachtsgedicht wollte sich nicht auftreiben lassen. Alles Gereimte, was Lilli in die Finger bekam, war tragisch. Sollte sie ...

Es war ein langer Kampf, den Lilli mit sich selbst kämpfte. Daheim im festverschlossenen Kasten lagen verschiedene Weihnachtsgedichte. Das eine würde gerade den richtigen Umfang haben und frisch war's, anders konnte sie ja überhaupt nicht schreiben. Aber sie wollte doch nie wieder etwas einreichen ... Ach was, es brauchte ja kein Mensch davon zu erfahren. Doktor Schmidt war krank, und außerdem würde sie es natürlich anonym abdrucken lassen. Vorausgesetzt, daß es die Zensur des Kollegen, der sich darum kümmern wollte, überhaupt aushielt.

Heute nun hatte sie dem betreffenden Herrn die Weihnachtsnummer vorlegen müssen. Zuerst das Märchen. Dann herzklopfend das Gedicht.

»Knecht Ruprecht und das Telephon – ganz nette Idee.« Der Redakteur begann zu lesen.

»Ist das heut ein Gebimmel
Beim lieben Gott im Himmel,
Knecht Ruprecht steht am Telephon
Den ganzen Tag, seit morgens schon.«

Jede Zeile kannte Lilli auswendig. Wort für Wort folgte sie im Geiste dem eifrig Lesenden.

»Hahaha – allerliebst! Bringen Sie das Gedicht an erster Stelle, Fräulein Steffen. Das Märchen auf die zweite Seite.« Der vertretende Redakteur ging zu anderem über, nicht ahnend, welchen Aufruhr seine Worte in der Seele der blonden Sekretärin verursacht hatten.

Also nun war's entschieden. Sie wurde »gedruckt«. Aber Stolz und Freude war es eigentlich nicht, was Lilli erfüllte. Eher ein beklemmendes Gefühl. Wie sollte sie es, wenn ihr Gedicht anonym abgedruckt wurde, mit der Auszahlung des Honorars halten? Verzichten mochte sie natürlich darauf nicht, dazu konnte sie es zu gut gebrauchen. Für Vaters Pflege sollte es verwandt werden. Sie selbst hatte die Honorar-Anweisung an die Kasse unter sich. Entweder wurde dasselbe den Verfassern übersandte oder diese erhoben es persönlich an der Auszahlungskasse, was bei der augenblicklichen Schriftstellernot das üblichere war. Die Auszahlung geschah aber nur gegen Namensunterschrift. Das waren schwere Sorgen, die Lilli plötzlich hatte.

Bei Tee und Kränzchenkuchen vergaß sie dieselben, bis Ilses harmloses Wort sie wieder erweckte. Aber schon waren die anderen in einem Gespräch über Ilses recht verantwortliche Tätigkeit. Der Arzt überließ ihr jetzt schon selbständig Bestrahlungen. Auch die Röntgenbilder, die Ilse vorlegte und erklärte, nahmen Willis volles Interesse in Anspruch. Die eigenen Angelegenheiten traten darüber in den Hintergrund.

Während die drei Freundinnen so zum erstenmal in Ilses neuem Heim gemütlich »Kränzchen« hielten, während Frau Gerhard trotz des lebhaften Gespräches immer wieder verstummte, da ihre Gedanken rückwärts eilten zu Tagen, wo die drei Mädel sich an den Kränzchennachmittagen in ihrem herrlichen Park am Wannsee getummelt hatten, schritt ein einsamer Wanderer auf die verschneite Villa mit den Ecktürmchen und der Säulenterrasse zu, die Ilses Mutter gerade so deutlich im Geiste vor sich sah. Den Mantelkragen hochgeschlagen, die Hände in den Taschen, ging er langsam, Schritt für Schritt. Wie einer, der des Gehens ungewohnt ist, oder der mit jedem Schritt wieder Besitz von etwas ergreift. Das hohe, schmiedeeiserne Gittertor trug eine Schneehaube. Das Schild, das den Namen des Besitzers zeigte, lag tief unter Schnee. Aber der Fremde schien gut Bescheid zu wissen. Ohne zu zögern, öffnete er die Gittertür und trat ein. Baum und Strauch standen in ihrer weißen Pracht wie zu einem Feste geschmückt. Schlohweißer Samtteppich breitete sich bis zu dem Hause. An dem Rondell des Springbrunnens blieb der Gast stehen. Kalte Flocken trieb der Wind ihm ins Gesicht – er merkte es nicht. Er war erfüllt von Wärme und tiefinniger Freude.

Hinter welchem Fenster mochten sie weilen, seine Lieben? In dem Terrassenzimmer, dem Zimmer seiner Frau, am gemütlichen Teetisch? Für ihn der liebste Ort, die Oase, nach der er sich gesehnt hatte all die Jahre da draußen. Oder saßen sie in Ilses Zimmer am Flügel? Ach, wieder gute Musik hören nach all dem Häßlichen, vor dein man sein Ohr gern hätte verstopfen mögen. Kamen da nicht Töne aus dem Hause?

Ja, Tonleitern wurden auf und ab geleiert, aber so schülerhaft, daß der Fremde den Kopf schüttelte: »Das ist ganz gewiß nicht Ilse.« Sollte sie etwa Unterricht erteilen? Die Wolke, die bei diesem Gedanken über seine Stirn gezogen war, wich wieder, als er jetzt mit heimlichem Lächeln einen Schlüssel aus der Tasche zog. Sein Hausschlüssel. Sechs Jahre lang hatte er ihn treulich bewahrt als seinen höchsten Schatz, der ihm den Eingang in das verlorene Paradies wieder öffnen sollte.

Er trat in die Diele. Nanu – das Billard hier draußen? Warum hatte man diese Veränderung getroffen?

Einen Augenblick ließ er sich in einen der tiefen Klubsessel sinken. Ah – wieder zu Hause! Er mußte es ganz auskosten, das Behagen, das in diesem Bewußtsein lag. Aber im nächsten Augenblick erhob er sich schon wieder. Zu den Seinen – keine einzige der kostbaren Minuten verlieren. Wer mochte ihm als erste entgegenkommen? Seine Ilse? Oder gar Alwine mit der weißen Haube?

Da – eine plärrende Kinderstimme. Himmel – was war das?

»Bschscht – Cäsarchen, bschscht – – –« wohl die Stimme der Wärterin, die das schreiende Kind beruhigte.

Sollte Ilse sich inzwischen verheiratet haben? Zwanzig Jahre mußte sie jetzt wohl bald zählen, seine kleine Ilse. Aber an diese Möglichkeit hatte er niemals gedacht, trotzdem er über Jahr und Tag keine Nachricht mehr von Haus erhalten hatte.

Vorsichtig schlich er sich die mit roten Plüschteppichen belegte Marmortreppe hinauf. Ganz leise wollte er die Tür aufklinken und eintreten ...

Da – ein leichter, hüpfender Schritt aus dem oberen Stockwerk – das mußte Ilse sein. Der Fremde drückte sich in eine der mit Blattpflanzen bestandenen Treppennischen und hielt den Atem an.

Er mochte sein Kind bei dem Dämmerlicht des frühen Winterabends nicht erschrecken.

»Ilschen,« rief er daher halblaut, als sie ihn beinahe erreicht hatte, und all die Zärtlichkeit, die er bei Nennung dieses Namens empfand, durchzitterte seine Stimme.

Gellendes Geschrei antwortete auf die zärtlichen Laute.

»Ein Einbrecher – ein Einbrecher – Hilfe – Hi – i – hilfe – –«

In wahnsinnigem Entsetzen jagte das junge Mädchen davon.

Das war doch nicht seine Ilse! Aber der Fremde hatte keine Zeit, der Sache weiter nachzuspüren. Türen öffneten sich, elektrisches Licht flammte auf. Stimmen wurden laut, völlig fremde erschreckte Stimmen.

»Wo – wo – wo ist der Spitzbube?« Ein kleiner kugelrunder Herr ohne Kragen und Schlips stürmte, einen Stiefelknecht als Waffe schwingend, auf die Diele hinaus.

»Wo – wo?« Die Tür des Terrassenzimmers wurde aufgerissen, aber statt der schlanken, zarten Gestalt seiner Frau erblickte Herr Gerhard eine große Dame von gewaltigem Umfang im Unterrock und Frisiermantel.

»Deinen Revolver, Fritze – hol doch das Schießgewehr – dem Kerl wollen wir eins auf den Pelz brennen, daß er das Wiederkommen verlernen soll.«

»Ach nein, Dorchen, nicht schießen!« klang es kläglich von den Lippen des fetten kleinen Herrn. »Lieber die Sache in Frieden ordnen. Sie haben hier nichts zu suchen, verstanden – machen Sie sofort, daß Sie 'rauskommen, sonst benachrichtige ich die Polizei!« Das klang ungeheuer energisch.

Aber das Lachen, das Herrn Gerhard über diese sonderbare Begrüßung unwillkürlich ankam, wurde erstickt durch die beklemmende Frage: Wo waren seine Frau und Ilse? Hatten sie Mieter ins Haus nehmen müssen? Hier und da lugten über das Treppengeländer teils neugierige, teils entsetzte Kindergesichter und fremde Dienstboten.

Die riesige Dame machte Miene, dem Einbrecher, der wie erstarrt dastand, selbst an den Kragen zu gehen.

»Nu aber 'raus – mit so'n Gelichter macht man kurzen Prozeß!« Frau Theodora vergaß ganz ihre neue Vornehmheit.

»Sie verkennen mich, gnädige Frau.« Herr Gerhard machte der Dame im Unterrock eine tadellose Verbeugung. »Ich bin der Besitzer dieses Hauses – – –«

»Na, das is aber 'n bißchen starker Tobak! Hast du's jehört, Dorchen? Diese Frechheit übersteigt doch alle Jrenzen. Nennt sich bereits den Besitzer dieses Hauses, wo wir ihn jlücklich abjefaßt haben. Das ist ein schwerer Junge! Hildegardchen, telephoniere mal schnell an die Polizei.«

»Sie können sich die Mühe sparen, mein Herr.« Herrn Gerhard wurde die Sache jetzt doch zu bunt. »Mein Name ist Gerhard, Bankdirektor Gerhard. Ich bin jahrelang in Rußland gewesen und finde jetzt bei meiner Heimkehr mein Haus von fremden Leuten bewohnt. Wo ist Frau und Fräulein Gerhard – sind sie nicht zu Hause?«

»Ah – der Herr Gerhard sind Sie – sehr anjenehm – warum sagen Sie das denn nicht jleich?« Der kragenlose kleine Herr mit dem Stiefelknecht machte einen kurzen Diener.

»Aber einem auch solchen Schreck einzujagen.« Der Unterrock verneigte sich ebenfalls hoheitsvoll.

»Kommen Se 'rein in die jute Stube.« Gastfreundlich öffnete der kleine Herr die Tür zu Herrn Gerhards eigenem Arbeitszimmer.

»Vorbrodt is mein Name –meine Frau Jemahlin« – aber die war bereits in dem Terrassenzimmer verschwunden, wohl um ihre Toilette zu vervollständigen.

»Wollen Sie mir nicht erklären, Herr Vorbrodt, was das zu bedeuten hat?« Herr Gerhard kam der Aufforderung, näherzutreten, nicht nach. »Haben Sie meiner Frau einen Teil der Villa abgemietet?«

»Abgemietet is jut. Abjekauft hab' ich se ihr, und bar berappt.« Er klopfte sich auf die Hosentasche. »Der Spaß hat mich 'n nettes Sümmchen gekostet – na, wir haben's ja dazu!«

»Und – wo wohnt meine Familie jetzt?« Die Diele mit allen Möbeln schien plötzlich vor Herrn Gerhards Blicken zu schwanken. Sie hatten verkaufen müssen, sie waren in Not gekommen, seine Lieben! Und er hatte sie gut versorgt geglaubt. Dieser Gedanke allein hatte ihn alle die furchtbaren, jahrelangen Entbehrungen ertragen lassen. Er hatte gedacht, daß die Bank, die seine Vermögensverhältnisse genau kannte, ihnen Kredit gewähren würde. War er doch bei großen Bankunternehmungen mit seinem Geld beteiligt gewesen.

»Wo se wohnen? Irjendwo in Schlorrendorf – –«

»Wo?« fragte Herr Gerhard entsetzt.

»In Charlottenburg – oder wie der Berliner sagt ›Schlorrendorf‹. Was die jenaue Adresse is, wird Ihn' meine Frau Jemahlin besser sagen können. Wo sind denn Gerhards hinjezogen, Theodorachen?«

Die Treppe herab rauschte ein grünes Seidenkleid.

»Aber willst du denn den Herrn nicht ins Vüsütenzimmer bitten, Friedrich Wilhelm?« Ein vernichtender Blick streifte den kleinen Gatten.

»Jawohl, aber jewiß doch, Theodorachen.« Er riß dienstbeflissen die Tür zum Empfangszimmer auf. Einen Blick nur warf Herr Gerhard hinein – seine eigenen silbergrauen Möbel, seine Ölgemälde – – –

»Ich danke sehr, aber ich möchte gleich weiter. Nur die Adresse – – –« Die Stimme des Fremden klang plötzlich belegt.

»Die Adresse wäre Schloßstraße Nummer süben. Aber der Herr Gerhard wird uns doch die Öhre zu einem Tößchen Mokka göben. Es wird Ihnen doch gewiß Freude machen, das frühere Logis« – die Dame sprach das Wort genau so aus, wie man es schrieb – »nach so langer Zeut wieder zu beaugenscheinigen.«

Herr Gerhard dankte trotz der liebenswürdigen Einladung. Er konnte nicht einmal ein Lächeln über die Halbbildung der vornehm tuenden Dame aufbringen. Der Boden brannte ihm unter den Füßen. Nur fort – fort von hier, wo jeder Gegenstand eine liebe Erinnerung war, ihm mit tausend Wunden in das Herz brannte.

»Verzeihen Sie die Störung, meine Herrschaften.« Da schlug die Tür seines ehemaligen Hauses, die er so freudig geöffnet hatte, hinter Herrn Gerhard zu.

»Der hat's aber sehr eilig, wieder wegzukommen.« Kopfschüttelnd schaute Frau Theodora ihm nach.

Keinen Blick warf der fremde Gast mehr zurück. Er hastete der Straße zu. Erst als er außerhalb des Parkgitters war, blieb er schweratmend stehen. Die Füße waren ihm plötzlich bleiern. Er schauerte vor Kälte zusammen und hatte doch russische Winter kennen gelernt. So – das wäre vorüber. Gebe der Himmel, daß nicht eine zweite, noch größere Enttäuschung seiner harrte, daß er seine Heimat wenigstens in seinen liebsten Menschen wiederfand!

Langsamer, noch viel langsamer als er gekommen, Schritt für Schritt zurück zum Bahnhof. Als hielten ihn tausend Fäden an diesem Fleckchen Erde, auf dem er einst so glücklich gewesen. Erst als er im Zuge saß, vermochte er wieder vorwärts zu schauen, sich auf Frau und Kind zu freuen.

In der Schloßstraße Nummer 7 war man aus dem Erdgeschoß in das erste Stockwerk hinaufgewandert. Die Freundinnen hatten Ilse gebeten, ihnen etwas vorzuspielen; sie hatten so lange nicht den Genuß gehabt. Fräulein Gemoll, die man um Erlaubnis bat, den Flügel zu benutzen, war glücklich, auch ihren Teil von dem jungen Besuch abzubekommen. Aber jachen, gewiß doch – sie sollten nur ohne weiteres heraufkommen – schönchen.

So blieb nur Alwine in der Parterrewohnung und erfreute sich beim Bereiten des Abendbrotes an den durch die dünne Decke deutlich hörbaren Klängen. »Ne, unser Ilschen spielt doch auch zu schön. Ganz feierlich wird einem dabei wie in der Kirche.«

Noch einer lauschte der Mondscheinsonate, die dort oben meisterhaft gespielt wurde. An der schneeüberböschten Haustür stand er, zwischen den beiden schlafenden Steinputten. Die hatte Ilses Spiel wohl auch geweckt. Sie blinzelten müde in den Winterabend. Nanu – wer war denn das? Wer hatte denn hier in dieser Einsamkeit was zu suchen?

»Meine Ilse!« Die Steinputten spitzten die Ohren, die leider mit Schneewatte verstopft waren. Es war aber auch nichts weiter zu hören. Der Fremde zog bereits die heisere Türschelle.

Alwine mit der gestärkten Tollhaube öffnete.

»Sind die Herrschaften zu sprechen?«

Alwines Augen waren nicht mehr die jüngsten. Auch war es fast dunkel in dem nur durch das fahle Schneelicht von draußen erhellten Vestibül. Aber die Stimme ... die Stimme ...

Jawohl, wenn der Herr eintreten wolle. Sie führte ihn in das Biedermeierzimmer.

Der hochgeklappte Mantelkragen, der das Gesicht beschattete, wurde zurückgeschlagen.

»Kennt mich die alte Alwine in der Tat nicht mehr?«

»Herr du meines Lebens – sind Sie's denn wirklich, Herr Bankdirektor? Nein, ist das eine Freude – ist das ein Glück! Was wird bloß unsere Gnädige dazu sagen und das Ilschen! Gleich hole ich sie – gleich!« Alwine, die dem unvermutet Heimkehrenden soeben noch in ihrer Wiedersehensfreude die Hände geküßt hatte, wollte spornstreichs nach oben.

»Hiergeblieben, Alwine! Ich will die Meinen hier unten erwarten. Ihr habt wohl Besuch?«

»Ja, das Kränzchen – Fräulein Lillichen und Fräulein Lenachen – gleich hole ich noch ein Gedeck für den Herrn Bankdirektor.« Sie eilte geschäftig davon.

Herr Gerhard war allein in dem Biedermeierzimmer. Er setzte sich in einen der steifbeinigen Sessel. So – hier war er zu Hause. Jedes Stück war ihm vertraut, vom Großvater auf den Enkel übergegangen. Hier in diesen Räumen fühlte er das Wesen seiner Frau. Er schritt ins Nebenzimmer. Das ehemalige Frühstückszimmer war zum Eßzimmer aufgerückt. Und doch das gleiche Behagen, derselbe vertraute Geist auch hier. Das einfenstrige Zimmer, das sich daran schloß, bot eine merkwürdige Zusammenstellung von Herrenzimmer und Damenzimmer. Die ganze Längswand nahm die Bibliothek ein, seine Bücher; die hatten sie nicht bei dem ungebildeten Mann zurückgelassen. Daneben der mit weißem Mull umbauschte Toilettentisch, ein kleines Sofa, ein Tischchen mit blühenden Blumen – hier hatte Ilse ihr Reich. Das letzte der Zimmer war das Schlafzimmer der beiden Damen. Wie eng und bescheiden, und doch welche vornehme Atmosphäre in der Vierzimmerwohnung.

Herr Gerhard kehrte in das Biedermeierzimmer zurück. Aber hier hatten schon andere Gäste Platz genommen. Auf dem Sofa mit den Rosenkränzen saß Rosaura, umgeben von Millichen, Lillichen, Tillichen, Cillichen und Willichen. Sie hatten sich mit dem Heimkehrenden durch die Glastür, die ihnen sonst Ilses Abneigung zufolge fest verschlossen blieb, mit hindurchgequetscht. Alwine in ihrer Wiedersehensfreude hatte ihrer nicht geachtet. Auch jetzt hatte sie vollauf damit zu tun, die Koteletten, die eigentlich zu morgen mittag bestimmt waren, für den Herrn zu backen. Schön goldbraun, wie er es liebte.

»Eine merkwürdige Liebhaberei haben sich meine Damen zugelegt!« dachte Herr Gerhard, lächelnd die vielköpfige Katzenfamilie betrachtend. Dann lauschte er einträchtig in Gemeinschaft mit ihnen wieder den von oben erklingenden Harmonien.

Das Spiel hatte geendet. Leichte Schritte kamen die Treppe herunter. Es war Ilse, die Alwine Anweisung geben wollte, ein Gedeck mehr für Fräulein Gemoll mit aufzulegen. Die alte Dame war so jugendlich begeistert in dem jungen Kreise, daß Ilse ihrer einsamen alten Freundin gern einen netten Abend verschaffen wollte. Alwine hatte es sich nicht nehmen lassen, einen Salat zu machen; sein Stullenpäckchen hatte sich ein jeder mitgebracht. Da kam es auf eine Person mehr auch nicht an.

Ilse schloß die Korridortür auf und trat, nichts ahnend, in den ersten Raum, das Biedermeierzimmer.

Barmherziger Himmel, waren die Jahre versunken? Da saß – nein, das konnte nur einer sein, wenn auch die Zeitung, die er vorgenommen, das Gesicht fast verdeckte.

»Papa – – –!«

Die Steinputten draußen schreckten empor. Solchen Glückeston hatten sie noch nie in diesem Hause vernommen. Neugierig spähten sie durch die Spalten der grünen Jalousien. Da sahen sie das blasse Fräulein mit rosenroten Wangen an der Brust des fremden Herrn liegen, ihn unter Tränen streichelnd und küssend.

»Papa – lieber, lieber Papa – – –«

»Mein Ilsenkind – – –«

Sechsstimmiges »Miau« mischte sich in die innigen Wiedersehenslaute. Und da sprang es auch schon zwischen die zärtlich Umschlungenen. Rosaura, die von den nahen verwandtschaftlichen Begehungen der beiden nichts ahnte, hielt es für angemessen, Sitte und Anstand in diesem ehrenwerten Hause Gemoll aufrecht zu erhalten.

»Die gräßlichen Katzen!« Selbst diese höchste Stunde ihres Lebens beeinträchtigten sie Ilse. Aber heute hatte sie keine Zeit, sie wie sonst hinauszujagen. Mama mußte heruntergerufen, vorsichtig auf das sie erwartende Glück vorbereitet werden, daß ihr die plötzliche Freude nicht schadete.

»Mama, kannst du wohl mal herunterkommen – es – es ist Besuch da.«

»Besuch – – –?« Was war es nur in Ilses Stimme, in Ilses Blick, daß es hell wie ein Blitzstrahl Frau Gerhard plötzlich durchzuckte – – –

Besuch? Er war gekommen, auf den sie nun jahrelang gewartet hatte. Jede Faser ihres Wesens sagte es ihr.

Zwischen all den Geigen, Celli und Flöten, deren Klingen und Singen Ilse zu hören glaubte, lag sie weinend und lachend zugleich am Halse ihrer Lilli und berichtete von dem großen, plötzlich im wahren Sinne des Wortes hereingeschneiten Glück. Nicht einmal die Tochter wollte Zeuge des Wiedersehens der Eltern sein.

Die kleinen Steinputten aber waren indiskreter. Sie reckten die Hälse, äugten und spähten, und selbst ihre steinernen Herzen wurden dabei warm.

Das Kränzchen nahm heute einen unvorhergesehenen Abschluß. Nachdem auch die Freundinnen Herrn Gerhard herzlichst begrüßt, nachdem die »verehrte Wirtin« ebenfalls vorgestellt worden war, und ihrer Freude über den neuen Hausgenossen Ausdruck gegeben hatte, trieb Lilli zum Aufbruch. Gerhards mußten heute für sich bleiben.

»Ein bildhübsches Ding ist die kleine Lilli geworden,« meinte Herr Gerhard, nachdem die Freundinnen sich verabschiedet hatten. »Aber mit meiner Ilse bin ich auch ganz zufrieden, nur rötere Backen muß sie mir wieder bekommen.«

Ganz erfüllt von dem Glück ihrer Freunde fuhr Lilli heim. Sie ahnte nicht, daß auch ihrer dort eine Überraschung harrte.

Einen schwarzen Haarknoten hatte dieselbe, große dunkle Augen, und an den Hals flog sie der Heimkehrenden: »Lilli – kennen du deine Sonja noch – lieben du ihrr noch?«

Sonja Pietrowicz! Sie war mit Herrn Gerhard nach Berlin gekommen, um sich an der Hochschule für Musik als Geigenvirtuosin auszubilden.

Ihr erster Weg war zu Steffens gewesen. »In Lillis Mansardenstübchen finden ich immerr Unterrkunft,« hatte sie Herrn Gerhard auf seine Aufforderung, bei ihm zu wohnen, geantwortet.

Dort saßen die beiden Freundinnen auf dem Märchensofa, eng umschlungen, bis tief in die Nacht. Sie merkten nicht die Kälte, nicht, daß die Stunden verrannen. Von all dem Schweren sprachen sie, was die Trennungsjahre über ihre Länder und über sie selbst gebracht hatten. Aber auch von ihren Hoffnungen und ihren Zukunftswünschen.

Aus dem stillen Haus in der Schloßstraße fiel ebenfalls bis Mitternacht Lichtschein in den verschneiten Garten hinaus. Dort saßen glückliche Menschen beieinander. Herr Gerhard berichtete, wie bei den letzten Unruhen endlich auch sein Gefängnis geöffnet wurde und es ihm gelang, die Familie Pietrowicz zu erreichen. Dort hatte er sich unter Obhut und sachverständiger Pflege der Frau Doktor zur Reise gekräftigt. Man hatte ihm einen Paß auf Iwans Namen besorgt, damit er nicht aufs neue wieder Schwierigkeiten haben sollte. Als Sonjas Bruder hatte er die recht umständliche Reise gemeinsam mit dieser zurückgelegt. Von seinen Entbehrungen und den Qualen, die er hatte erdulden müssen, erzählte Ilses Vater nichts. Aber seine beiden liebsten Menschen sahen sie an den ergrauten Schläfen, an den Furchen, die sein Gesicht durchschnitten. Sanft und zärtlich versuchten die weichen Frauenhände, die Zeugen der bösen Jahre fortzustreichen.

Im ersten Stockwerk des kleinen Hauses nahm man gleichfalls innigen Anteil an dem Wiedersehensglück.

Na jachen, selbst wenn der Herr Bankdirektor Gerhard Pfeife rauchen sollte, um ihres Lieblings Ilse willen würde Fräulein Gabriele Gemoll auch das in den Kauf nehmen – schönchen!


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