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Zehntes Kapitel

An der Schreibmaschine

Ra – de – ra – ra – – ra – de – ra – ra – – machte die Schreibmaschine. Tip – tip – tip – tip – sprangen die Finger auf der Tastatur durcheinander.

Herrn Wilhelm Krause,

Berlin.

Hierdurch teilen wir Ihnen ergebenst mit, daß wir Sie für Überweisung an die Firma L. Tengelmann u. Co., Hamburg, Große Bleiche 19, mit 9787,35 M. belastet haben.

Hochachtungsvoll

Rrrr – – – schnurrte das Blatt aus der Walze.

An die Firma Karl Friedrich König u. Sohn,
Schuhwarenfabrikation en gros

Berlin.

Ra – de – ra – ra – – – ra – de – ra – – da stand die Schreibmaschine plötzlich still. Der blonde Kopf des Tippfräuleins blieb gesenkt, die Braunaugen hafteten auf dem Wort »König«.

Tip – tip – tip – tip – langsam begannen sich die schlanken Mädchenfinger wieder zu bewegen. Aber die Worte, die auf dem weißen Blatte sichtbar wurden, hatten nichts mit der Schuhwarenfirma von Karl Friedrich König zu tun. – – –

Es war einmal ein König und eine Königin. Die lebten in einem schönen Schlosse herrlich und in Freuden. Der König war ein weiser Herrscher für seine Untertanen, die ihn liebten und verehrten. Und wenn die junge, zarte Königin in ihrer von vier Apfelschimmeln gezogenen Goldkarosse durchs Land fuhr, so jubelte das Volk ihr zu.

Nur eines fehlte dem Königspaar zu seinem Glücke. Der Sohn, der Prinz, der Thronfolger, der die Krone einst erben sollte, blieb ihnen versagt. Von Jahr zu Jahr hoffte man auf sein Erscheinen, aber immer war es wieder eine kleine Prinzessin, welche die blauen Augen im spitzenbesetzten Wiegenkorb aufschlug. Der König wurde verstimmt, die Königin traurig, und das Volk begann zu murren: »Wir wollen einen Thronfolger haben!«

Eines Tages ging die Königin in ihrem Parke spazieren. Da flog ein Gotteskäferlein ihr auf die weiße Hand.

»Marienwürmchen, setze dich auf meine Hand, auf meine Hand – ich tu' dir nichts zuleide,« summten ihre Lippen.

Da begann auch das Gotteskäferlein zu summen:

»Frau Königin, ich danke dir,
Hast du 'nen Wunsch, so sag' es mir.«

»Ach,« sagte die Königin und seufzte, »ich habe nur den einen einzigen Wunsch, meinem König und Gemahl den Thronerben fürs Land zu schenken. Aber der wird mir wohl nie in Erfüllung gehen.«

Wieder hörte sie ein leises Summen des Gotteskäferchens.

»Frau Königin – sum – sum – sum –
Folg' mir und kehr' nicht um.«

Da verließ die Königin heimlich ihre Hofdamen und entfernte sich von ihrem Gefolge. Durch den Blumengarten, in dem farbenprächtige Rosen sich zu einem Blütendache über ihrem Haupte wölbten, schritt sie weiter und weiter, bis die gepflegten Parkwege sich in dem dichten Walde verloren. Das schwarzrotgetupfte Gotteskäferlein flog vor ihr her und zeigte ihr den Weg, auf dem das weicheste Moos für ihre zarten, des Gehens nicht gewohnten Füße wuchs. Die Sonne stieg. Sie sandte senkrechte Strahlen durch das grüne Geäst. Langsamer, immer langsamer wurde der Schritt der Königin. Schließlich blieb sie herzklopfend stehen.

»Ich kann nicht mehr,« stieß sie kaum hörbar heraus. Gleich kam das Gotteskäferlein angeflogen, setzte sich ihr auf die Hand und sang:

»Frau Königin, laß dich nieder
Und lausch' der Vöglein Lieder.«

Da ließ sich die Königin auf das Moospolster herabgleiten und lauschte dem süßen Vogelsang in den Zweigen. Seltsam, sie verstand, was die Vöglein sangen! Von einer alten Sibylle sangen sie, die tief, tief im Walde in einer Felsengrotte hause, die sehr weise sei und jedem Menschen, der sich ihr in Bedrängnis nahe, einen guten Rat erteile. Immer leiser und leiser wurde das Singen in den Zweigen, die Königin – – schlief.

Der Mond stand bereits am Himmel, als die Königin aus ihrer Erschöpfung erwachte. Silbern sah der Wald aus, wie ein echter Zauberwald. Und wie merkwürdig – sie dachte mit keinem Gedanken zurück an ihr Schloß, wo man sich doch sicher um ihr Ausbleiben Sorgen machte. Nur vorwärts dachte sie, so schnell wie möglich zu der weisen Sibylle zu gelangen. Der silberne Wald glänzte hell wie Tageslicht, und da sie ausgeruht war, setzte sie ihren Weg fort. Die Vögelein aber, die über ihr in den Zweigen gesungen hatten, gaben ihr das Geleit. Mitternacht blies der Türmer vom Schloßturm, leise, ganz leise kam der Ton über die Baumwipfel zu der einsam wandernden Frau.

Da stand sie am Eingang der Felsengrotte.

Ein alter Uhu mit gesträubtem Gefieder hielt vor der Grotte Wache. Die Sibylle schlief nicht. Hellseherisch hatte sie die Kommende bereits geahnt, noch ehe sie dieselbe erblickt hatte. In einer Ecke saß sie zusammengekauert, und ohne den runzeligen Kopf zu heben, murmelte sie: »Ich kenne dich, Königin, und weiß, was dich zu mir führt. Du wirst den Thronerben, den der König und das Land ersehnt, zur Welt bringen – nur merke dir eins: Wenn du dem König zum erstenmal wieder entgegentrittst, hüte dich, das erste Wort zu sprechen!«

Die tiefliegenden Augen der Alten, die prophetisch in die Ferne gerichtet waren, schlossen sich ermüdet.

Jetzt erst sah die Königin bei dem matten Mondesglanz, der durch die Felsenspalte leuchtete, wie pergamentartig zerknittert, von tausend kleinen Fältchen durchzogen das Greisenantlitz der Sibylle war. Die Königin wagte nicht, sie noch einmal aus ihrer Versunkenheit zu wecken. Still schritt sie von dannen, an dem Wächter der Felsenspalte, dem greisen Uhu, der mit der Sibylle zusammenhauste, vorüber.

O weh, wo war das Gotteskäferlein hingekommen? Nirgends war sein leuchtendrotes Flügelkleid zu entdecken, und auch die Vögelein, die ihr das Geleit zur Sibylle gegeben, waren davongeflogen. Aber der Königin kam keine Furcht in dem einsamen Zauberwalde, in dem sie weder Weg noch Steg kannte. Nur selige Glücksempfindung über die Prophezeiung der Sibylle schwellte ihr die Brust. Sie fühlte weder Hunger, noch Durst, noch Müdigkeit, trotzdem sie kreuz und quer in dem dichten Wald umherirrte. Der Gedanke: »Ich werde einen Sohn haben – endlich – endlich!« leitete sie und stützte sie.

Der Mond verblaßte. Im Osten färbte es sich rosig. Plötzlich kamen Trompetensignale durch den Wald, näher und immer näher. Herzklopfend lauschte die Wandernde. Der König mit seinen Getreuen – sicher suchte man sie, war ihrer Spur gefolgt. Da kam auch schon Diana, des Königs Windspiel, auf sie zugejagt, und gleich darauf sprengte der König auf feurigem Rappen ihr entgegen.

»Wir werden einen Sohn haben, die Sibylle hat es prophezeit«, rief die Königin ihrem Gatten im Ueberschwang ihres Glückes schon von weitem entgegen.

Da verstummte sie jäh. Wie mit kalter, knöcherner Hand zog es ihr plötzlich das warme Herz zusammen. Die Warnung der Sibylle, die sie außer acht gelassen, stand mit erschreckender Deutlichkeit wieder vor ihr. Aber sie wagte nicht, dem König, der voller Freude sein Weib und die Glücksbotschaft empfing, von der Bedingung der Sibylle, die sie nicht erfüllt hatte, mitzuteilen, um ihn nicht zu enttäuschen.

Die Rosen im Garten verblühten. Bunte Blätter wirbelte der Herbststurm durch die Parkwege, und alsbald hielt der Winter mit lichtem Flockenpelz seinen schneeigen Einzug. Da kam die Stunde, wo die Königin endlich dem Lande den erwarteten Thronfolger schenken sollte.

Dichtgedrängt stand das Volk vor dem Schlosse in freudiger Erwartung, schaute nach der Marmorbalustrade, auf welche der König hinaustreten würde, um sein Glück zu verkünden. Aber der König erschien nicht.

Denn ach – in dem spitzenbesetzten Wiegenkorb lag das sechste Prinzeßchen.

Da erhoben sich die Stimmen der Empörung unter dem Volke: »Wir wollen die Königin fortjagen – wir wollen eine andere Königin haben, die einem Prinzen das Leben schenkt.« Auch zu dem König drangen diese unzufriedenen Stimmen und mehrten seinen Kummer. Es half nichts, er würde sich dem Willen des Volkes fügen müssen und die geliebte Gattin verstoßen. So enttäuscht er auch über die sechste Tochter war, er liebte seine Gattin und mochte sich nicht von ihr trennen.

In seiner Bedrängnis gedachte er der Sibylle. Sie wollte er zur Rechenschaft ziehen, daß sie das Land mit einer falschen Prophezeiung genarrt hatte. Sie mußte ihm einen Rat geben und ihm in seiner Not helfen. So machte er sich auf den Weg zu ihr durch tiefbeschneiten Wald. Aber soviel er auch in dem fußhohen Schnee hin und her stampfte, die Felsgrotte wollte sich nicht zeigen.

Siehe – da flog plötzlich, trotzdem es mitten im Winter war, das Gotteskäferchen, das um diese Zeit sonst niemals im Walde anzutreffen war, vor ihm her und summte:

»Herr König, erfüllt sei dein Wille,
Ich führe dich zur Sibylle.«

Und es flog dem König voran. Bald standen sie vor dem Felsentor, vor dem der alte Uhu, eine weiße Schneemütze auf dem Kopfe, getreulich Wache hielt.

Kein Feuer glimmte trotz der Winterkälte in der Felsgrotte; doch fror die Sibylle nicht. Zusammengekauert hockte sie in ihrer Ecke und murmelte unverständliche Worte. Aber als der König jetzt vor sie trat mit klirrendem Schwerte und sie hart anließ: »Warum hast du falsch prophezeit und mich und mein Land schwer enttäuscht?« Da erhob die Sibylle den alten, verwitterten Kopf und sah den König mit ihren halberloschenen Augen stumm an. Der König vergaß bei dem Blick dieser Augen, daß er der Herr und Gebieter von vielen Tausenden war, und sie ein armes Weib, das er zur Rechenschaft ziehen wollte.

Er neigte das Knie vor ihr und bat: »Hilf mir, Sibylle, aus meiner Not, in die du mich gestürzt hast, daß ich mein Weib nicht verstoßen muß, denn du bist weise.«

»Es gibt nur eines, König, dir aus deiner Bedrängnis, in welche die Vergeßlichkeit der Königin, nicht ich, dich gestürzt, zu helfen. Nicht eher wird der Sohn dir geschenkt, als bis du die neugeborene Prinzessin, die mit so wenig Freude empfangen worden ist, auf immer des Landes verwiesen hast.«

Die halberloschenen Augen der Sibylle schlossen sich wieder, und soviel der König auch lauschte, es war nur unverständliches Zeug, was sie noch murmelte.

Da machte sich der König auf den Heimweg. Aber das Herz war ihm nicht leichter, als da er gekommen. Wie sollte er der Mutter, der einzigen, die sich über die kleine Prinzessin Ingeborg freute, die trotz der Enttäuschung mit Mutterliebe auf das winzige Kindlein in ihren Armen blickte, den furchtbaren Spruch der Sibylle mitteilen.

Sein kluger Kanzler, dem er sich anvertraute, kraute sich die kahle Platte und gab dem König folgenden Rat: »Wir wollen der Königin sagen, Prinzessin Ingeborg sei gestorben. Das wird sie traurig stimmen, aber sie wird es leichter verschmerzen, als wenn sie wüßte, die Prinzessin lebt irgendwo im fernen Lande unter Fremden, vielleicht in Armut und Elend.«

Dem König leuchtete der Vorschlag ein. Ein sicherer Mann erhielt den Auftrag, das neugeborene Prinzeßchen über die Landesgrenze zu schaffen. Weit, weit fort, daß es nie wieder den Weg ins Königsschloß zu seinen Eltern zurückfinden könne. Der Diener entledigte sich seines Auftrages zur Zufriedenheit. Er machte sich mit dem kleinen Prinzeßchen, das nur ein Hemdchen ohne Krone, ohne jedes Abzeichen der Königswürde trug, auf den Weg. Viele Tage wanderte er, bis er an der Grenze des Landes stand. Dort schlug das schwere, eiserne Tor krachend für immer hinter dem Königskinde zu und stieß es aus Glück und Wohlleben hinaus in die Fremde.

In eine große, große Stadt, in der Millionen Menschen wohnen, brachte der Diener Prinzessin Ingeborg. Dort legte er sein schreiendes Bündel in einer schmutzigen Gasse auf die Schwelle eines Lumpenkellers. Dann eilte er spornstreichs zu dem König zurück, um sich für die rasche Ausführung des Befehls belohnen zu lassen.

Die Königin war sehr traurig über den Tod ihres jüngsten Töchterchens. Als sie jedoch nach Jahresfrist nun wirklich endlich den ersehnten Sohn in den Armen hielt, war das sechste Prinzeßchen bald vergessen. –

Klein-Ingeborg aber wuchs in dem schmutzigen Lumpenkeller auf und kannte das Leben nicht anders. Manchmal, ganz selten sehnte es sich wohl aus der düsteren Gasse hinaus nach hellem Sonnenschein und grünen Bäumen, nach einem freundlichen Wort und einer zärtlichen Mutterhand. Niemand ahnte, daß sie ein Königskind war. Nur die Kinder, die ja oft klüger sind als die Großen, nannten sie »Lumpenprinzessin«. – –

Ra – de – ra – ra – ra – de – ra – ra – Da stand die Schreibmaschine schon wieder still. Die Schreiberin atmete tief auf. Sie hatte ihre Umgebung vollständig vergessen.

Aber bald genug sollte sie aus dem Märchenland in die prosaische Wirklichkeit zurückbefördert werden.

»Fräulein Steffen, zum Stenogramm.« Herr Mählichs Glatze wurde für einen Augenblick sichtbar. Die Märchenaugen der versunkenen Lilli hielten ihn für den Kanzler des Königs.

»Ei, Fräulein Steffen, schlafen Sie mit offenen Augen? Sie haben sich ja ganz heiße Backen geschrieben. Flink – flink – Herr Mählich wird leicht ungeduldig.« Fräulein Schwertfeger, die Lilli recht wohl wollte, drohte ihr lächelnd.

Erschreckt fuhr Lilli empor. Himmel – was hatte sie nur getan? Der ganze Stoß Briefe war noch zu erledigen. Dafür lag das Märchen von der kleinen Lumpenprinzessin, an die sie bei ihrer Arbeit den ganzen Morgen hatte denken müssen, fix und fertig vor ihr. Was sollte sie nur machen, wenn die Gedanken kamen und sie mir nichts dir nichts ins Märchenland entführten? Sie mußte mit, ob sie wollte oder nicht. Flink die beschriebenen Bogen mit den unerledigten Briefen zusammen in ihr offenes Schubfach geschleudert. So – das Versäumte holte sie über Mittag nach. Lilli eilte in das nebenliegende Privatbüro zum Stenogramm. Im Vorbeigehen aber fing sie noch einen neugierig forschenden Blick der unweit sitzenden Kollegin Fräulein Liedtke auf. Der Blick war Lilli unbehaglich. Sie mußte an denselben denken, während sie Zeichen, Striche und Punkte über das weiße Blatt säte. Herr Mählich war mit seiner zerstreuten Stenotypistin heute nicht so zufrieden wie sonst.

Auch die Gedanken Fräulein Liedtkes drehten sich um Lilli. Warum hatte diese nur so glühende Wangen gehabt und war so erschreckt emporgefahren, als man sie gerufen? Bei langweiligen Geschäftsbriefen pflegen einem die Wangen nicht so zu brennen. Sicher eine verbotene Korrespondenz, heimliche Briefe. O, sie wollte das leichtfertige Fräulein schon entlarven. Sie wollte es Fräulein Schwertfeger beweisen, wie wenig die Kollegin die Gunst verdiente, mit der man ihr allgemein entgegenkam. Ein Glück, daß sie die Briefe in das Erledigungsregister einzutragen hatte. Da fiel es nicht auf, wenn sie die Schreibereien, die Lilli so scheu in ihr Schubfach hatte verschwinden lassen, an sich nahm. Die Heuchlerin wollte sie heute noch bloßstellen.

Es waren mehrere engbeschriebene Bogen, die Fräulein Liedtke aus dem fremden Fach zog. Einige fertige Geschäftsschreiben darunter. Aber die Briefe, nach denen sie spähte, wollten sich nicht zeigen. Was war denn das für ein Geschreibsel da von einem König und einer Königin? War die Steffen übergeschnappt? Fräulein Liedtke studierte das Märchen von der Lumpenprinzessin von A bis Z durch und machte ein nicht gerade geistreiches Gesicht. Sicher irgend ein Kindermärchen, das sie irgendwo gelesen und aus der Erinnerung niedergeschrieben hatte. Und so eine dumme Pute, die sich mit solch kindischem Zeug befaßte, wurde von dem Vorgesetzten ihr vorgezogen? Wie schade, daß sie die verhaßte Kollegin nicht mit den gesuchten Briefen bloßstellen konnte! Ließ sich das langweilige Märchen denn nicht dazu verwenden? Ja, sie konnte sie vor den anderen Kolleginnen damit aufziehen und lächerlich machen. Halt – Herrn Mählich mußte sie das Geschreibsel unter die Geschäftsbriefe schmuggeln, der sollte sehen, was für Allotria Lilli Steffen, statt zu arbeiten, trieb.

Fräulein Liedtke behielt Geschäftsbriefe und den ersten Bogen des Märchens, der die Ueberschrift Karl Friedrich König & Sohn, Berlin, Schuhwarenfabrikation en gros, trug, zurück. Die übrigen Blätter legte sie Lilli wieder in das Fach.

Nichts Böses ahnend, kehrte Lilli aus dem Allerheiligsten des Vorgesetzten zurück. Nanu – hatte Fräulein Liedtke sich die Briefe bereits genommen? Sie war doch noch gar nicht damit fertig. Ein ängstlicher Blick zu ihren Märchenblättern – Gottlob, die lagen noch alle so da, wie sie dieselben hingelegt hatte, das Schlußblatt zuoberst. Fräulein Liedtke hatte sie hoffentlich nicht weiter beachtet.

»Ach, bitte, Fräulein Liedtke, ich war mit meiner Korrespondenz noch nicht fertig,« wandte sich Lilli ein wenig befangen an die Kollegin.

»Sind nur noch zwei Briefe zu schreiben, die anderen habe ich schon selber erledigt. Habe keine Lust, nach der Tischzeit noch mal mit den langweiligen Eintragungen anzufangen,« gab die Angeredete ebenso mürrisch, wie sie meist zu sein pflegte, zur Antwort.

Lilli machte sich still wieder an ihre Arbeit. Ra – de – ra – ra – ra – de – ra – ra – ra – Eine Zeitlang richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Geschäftsbriefe, und auf die hin und her springenden Finger. Aber die Briefe waren recht uninteressant, und die Finger gingen ihre Wege so mechanisch, als ob einer sie an der Schnur zog. Was wunder, daß Lillis Gedanken nicht genügend gefesselt wurden und bald wieder hierhin, bald dorthin entwischten.

Zuerst dachte sie daran, wie süß die kleine Lumpenprinzessin heute morgen, als sie fortging, in den sauberen Kissen auf dem Märchensofa noch geschlafen hatte. Die sonst so farblosen Wangen hatte der Schlummer ein wenig rosig gefärbt. Gewiß träumte sie von der guten Fee, die sie aus ihrem Lumpenkeller erlöst hatte. Hoffentlich machte die Kleine der Mutter nicht zu viele Mühe und gab keinen Anlaß zu Aergernis, während sie im Büro tätig war und der Ludwig in der Technischen Hochschule. Mutter hatte heute ohnedies gerade genug zu tun. Morgen wollte sie ja zum Vater reisen. Da gab's zu packen und den Haushalt während ihrer Abwesenheit zu bestellen, denn ihre Große war nur während der beiden Pfingstfeiertage daheim.

Wenn sie doch mit zum Vater könnte! Ungestüme Sehnsucht nach ihrem Väterchen wallte in Lilli empor, daß die auf und ab springenden Finger plötzlich über die feuchtgewordenen Augen huschen mußten. Zwei Jahre hatte sie ihn jetzt nicht mehr gesehen. Damals war er auf Urlaub daheim gewesen, um bald darauf nach seiner Verwundung in das Schwarzwaldsanatorium zu kommen. Soviel man auch gespart und sich abgeknapst hatte, zu einem Besuch beim Vater wollte es, selbst wenn man vornehm vierter Klasse fuhr, nie langen. Nun endlich war das Geld, dank Lillis monatlichem Zuschuß, beisammen; da war natürlich die Mutter die erste, die zum Vater fuhr. Es wurde Lilli schwer, unsagbar schwer, zurückbleiben zu müssen. Vater und sein Liliputchen hatten sich immer am besten verstanden. Sie hatte ihre Mutter ja ebenso lieb – aber ganz gewiß! – nur trug die praktische, energische Art der Mutter nicht immer der phantastischen des Töchterchens Rechnung, wollte es auch gar nicht, um das notwendige Gegengewicht zu halten. Vater aber sah seine eigene feinsinnige Wesensart in stärkerem Grade bei Lilli neu aufleben – das war es, was die beiden so eng miteinander verband. Sie war Vaters Tochter durch und durch. Ach, wie oft hatte sie sich in den Tagen ihrer Bürotätigkeit danach gebangt, den Kopf wieder an Vaters Schulter schmiegen zu können. Sie brauchte sicher kein einziges Wort zu sagen, und doch würde er es herausfühlen, wie wenig ihre kaufmännische Tätigkeit ihr zusagte, daß sie ganz und gar nicht befriedigt dadurch war. Mutter mochte es wohl auch ahnen, aber sie wollte es nicht aufkommen lassen. Was sein mußte – mußte eben sein.

Ra – de – ra – ra – Da hatte sie sich schon wieder einmal verklappert. »Aufpassen, Lilli, aufpassen!« kommandierte sie sich selbst. Aber leider kam sie nur kurze Zeit dem Befehl nach.

Der Brief, den sie augenblicklich nach Jena an eine Firma zu richten hatte, entführte ihre Gedanken aufs neue.

Jena – Thüringen – von da aus war es wohl nicht allzu weit mehr in den Schwarzwald. Jeder der Beamten bekam vierzehn Tage Urlaub im Sommer. Die jungen Mädchen machten schon eifrig Pläne, wo sie denselben zubringen wollten. Wenn sie jeden Monat soundsoviel vom Gehalt zurücklegen konnte, reichte es am Ende zum Herbst zu einer Wanderreise nach dem Schwarzwald. Ludwig sollte auch noch tüchtig sparen, dann konnte man vielleicht gemeinsam – – – Lilli konnte diesen herrlichem Gedanken nicht weiter ausmalen, die Schreibmaschine klapperte ärgerlich dazwischen. Sie hatte auch allen Grund dazu. Denn der Brief an die Jenaer Firma starrte voll Fehler. Es half nichts, er mußte noch einmal geschrieben werden. Diesmal reisten die Gedanken nicht zu den Schwarzwaldbergen, und die Finger waren brav und gingen nicht auf falschen Wegen. Brief auf Brief, bis die Schreibmaschine mit einem letzten schnarrenden Ton für heute endgültig Ruhe gab.

Mittagspause. Still wurde es in dem großen Gebäude mit seinen vielen Gängen und Räumen. Nur vereinzelt kritzelte noch eine Feder, klapperte eine Maschine, hallte ein Schritt. Lilli hatte ihre schwarzen Schutzärmel, die sie über der weißen Bluse trug, abgezogen und holte ihr Brotpäckchen hervor. Heiß und stickig war es in dem Raum, in dem so viele Menschen ein und aus gingen. Sie öffnete ein Fenster, die während der Arbeitsstunden, des störenden Straßenlärms wegen, geschlossen blieben. Draußen schien es nicht luftiger als drinnen. Drückend heiß war es, kein Lüftchen ging. Vom fahlen, blaßblauen Himmel blinzelte die Sonne mittagsmüde durch Staub und Großstadtgetriebe. Wie erquickend mußte es jetzt in den Kieferwäldern am Schlachtensee sein. Und erst unter rauschenden Schwarzwaldtannen!

Ach, wäre man doch reich, reich ... Wenn ein freundlicher Geist ihr nur ein ganz, ganz winziges Teilchen des vielen Geldes, das hier in der Sparkasse an jedem Tage ein- und ausfloß, in ihren Beutel zaubern wollte! Ein kleiner Geist – ein Märchengeist – – – Lilli lächelte. Sie, die mit dem übermütigen Gesindel so vertraut war, wußte es ja am besten, daß sie nur zu denen kamen, die nicht faul waren, die selbst das ihrige dazu taten.

Was konnte sie nur beginnen, um außerhalb ihrer beamtlichen Tätigkeit noch Geld zu verdienen? Sollte sie es wagen, etwas von den Manuskripten, die sie geschrieben hatte, hin und wieder an eine Redaktion einzusenden? Ja, wenn wieder so ein Märchenpreisausschreiben stattfände, bei dem sie damals die tausend Mark erhalten hatte! Das würde sich lohnen. Das Märchen von der Lumpenprinzessin vielleicht, das sie soeben geschrieben hatte? Sie hatte die Empfindung, als ob es ihr nicht schlecht gelungen sei.

Aber nein – nein, sie sandte ihr ganzes Leben lang nichts wieder an eine Redaktion ein. Nach jener Enttäuschung vor zwei Jahren ... wie hatte sie nur im Ernst daran denken können, wieder etwas zu veröffentlichen. Größenwahnsinn hatte sie, ganz im Ernst. Noch heute wurde sie schamrot, wenn sie daran dachte, wie sie sich blamiert hatte. Eine Kriegsskizze hatte sie damals an dieselbe Zeitung, die ihr Märchen preisgekrönt hatte, gesandt. Sie bekam das Manuskript zurück! zurück! diese Beschämung! Eines Morgens lag es auf dem Kaffeetisch, harmlos wie jeder gewöhnliche Brief. Ein gedrucktes Formular war beigefügt, daß man leider keinen Gebrauch von ihrem freundlichen Anerbieten machen könne. Kein Wort weiter, nur die Unterschrift Doktor Rabe. Ach, wie schämte sie sich vor diesem fremden Doktor Rabe, der ihr Geschreibsel ohne jedes weitere Wort kurzerhand abgeurteilt hatte.

Mutter fand zwar damals, die böse Erfahrung sei ihr ganz gesund, daß sie keine zu hohe Meinung von ihrem Können bekomme und ihre Gedanken mehr auf das Praktische richte. Lange Zeit war Lilli nicht imstande gewesen, irgend etwas zu schreiben.

»Der Unglücksrabe« – so nannte sie den Unterzeichneten in Gedanken – »hat alle Märchen in mir totgekrächzt,« klagte sie Ludwig.

»Quatsch – nur nicht den Mut verlieren, Liliputchen. Schickt er dir ein Manuskript zurück, so sende du ihm zur Strafe zehn neue dafür ein,« hatte der Bruder lachend geraten.

Nein, dazu konnte sich Lilli nicht entschließen, dazu war sie zu stolz.

Aber allmählich kamen sie ihr wieder, die Märchengestalten, erst abends beim Einschlafen, und bald auch am Tage. Wo sie ging, und wo sie stand, belebte es sich. Sie begann auch wieder, das im Geist Geschaute niederzuschreiben, aber nur für sich, nur ganz im geheimen. Einer Redaktion etwas einzusenden, wagte sie nicht noch einmal.

»Ne, fange bloß nicht wieder mit den Dummheiten an, die ›Lumpenprinzessin‹ bleibt zu Hause,« sagte Lilli energisch zu sich und zermalmte den letzten Happen ihres Brotes so kraftvoll, als ob sie damit allen dummen Absichten ebenfalls den Garaus machen könne. Dann wurden die kurzen grauen Kontorärmel übergestreift und unnütze Gedanken damit verscheucht – wenigstens fürs erste.

Ein Schmetterling hatte sich durch das in der Mittagspause geöffnete Fenster in den großen Arbeitssaal gewagt. Jetzt umflatterte er kosend die Köpfe der schreibenden Damen, dann flog er wieder gegen das geschlossene Fensterglas, vergeblich den Ausweg zum goldenen Sonnenlicht suchend. Niemand hatte acht auf den armen Gefangenen. Nur Lillis braune Augen folgten seinen vergeblichen Anstrengungen mitleidig verständnisvoll.

»Ein kleiner Leidensgefährte – ich bin ja hier gerade so eingesperrt wie du, kleines Ding. Ich finde ebensowenig den Weg hinaus ins Freie,« dachte sie mit einem Seufzer.

Als ob der Schmetterling die Seelenverwandtschaft ahnte, umgaukelte er jetzt das krause, blonde Haargelock Lillis, das in der Sonne flimmerte. Nun umkreiste er Fräulein Liedtkes schöngebrannte Löckchen, dort wurde er mit einer ärgerlichen Handbewegung fortgescheucht. Fräulein Schwertfegers selbst im Sommer rote Nase, die wie eine feurige Blume anzusehen war, zog den übermütigen Wicht darauf an. Immer wieder näherte er sich dem verlockenden Rot, wohl in der Annahme, Honig dort nippen zu können. So – da saß er mitten auf der rosigen Knubbelnase.

Die in ihre Arbeit vertiefte Dame stieß einen Schrei aus. Er mischte sich mit silbernem Mädchenlachen. Glockenhell klang es durch den ernsten Raum der Arbeit, allenthalben ein Echo bei den jungen Beamtinnen weckend. Sie wußten gar nicht, warum sie lachten; Lillis von Herzen kommendes Lachen wirkte nun mal ansteckend.

»Ei – ei – hier geht es ja merkwürdig lustig zu.« Herr Mählich erschien auf der Bildfläche, wohl von der ungewohnten Heiterkeit aus seinem Heiligtum aufgescheucht. Er sah nichts weniger als lustig aus.

»Fräulein Steffen, ich muß dringend bitten, benehmen Sie sich doch nicht so albern,« rief Fräulein Schwertfeger der noch immer lachenden Lilli ärgerlich zu.

»Was haben Sie denn für eine Ursache, so vergnügt zu sein, Fräulein Steffen?« wandte sich jetzt auch Herr Mählich tadelnd an Lilli.

Die aber lachte immer noch. Nicht mehr leise und unterdrückt, nein, hell heraus. Der Schmetterling saß augenblicklich gerade Herrn Mählich auf der ehrfurchtgebietenden Glatze.

»Ja, da soll doch aber – – –« Die Stirnader unter der Glatze schwoll bedenklich an. »Wir sind doch hier nicht in einem Kleinkindergarten. Allerdings nach den Proben, die ich heute zur Unterschrift vorgelegt bekommen habe, muß ich wirklich daran zweifeln, ob ich erwachsene Damen, die sich des Ernstes und der Würde des Beamtentums bewußt sind, vor mir habe.« Lillis Lachen verstummte. Der Schmetterling flog erschreckt davon.

»Diesen Brief an die Firma König & Sohn, Berlin, haben Sie doch wohl zu erledigen gehabt, Fräulein Liedtke,« wandte sich der Vorgesetzte jetzt an die Zusammenfahrende. »Was haben Sie da für ein blödsinniges Zeug zusammengeschrieben.« Ehe Fräulein Liedtke noch Einspruch erheben konnte, hatte Herr Mählich einen Bogen entfaltet und begann mit seiner belegten Stimme zu lesen:

»An die Firma Karl Friedrich König & Sohn, Berlin, Schuhwarenfabrik en gros.

Es war einmal ein König und eine Königin. Die lebten in einem schönen Schlosse herrlich und in Freuden. Der König war ein weiser Herrscher für seine Untertanen, die ihn liebten und verehrten. Und wenn die junge, zarte Königin in ihrer von vier Apfelschimmeln gezogenen Goldkarosse durchs Land fuhr, so jubelte das Volk ihr zu. Nur eines fehlte dem Königspaare zu seinem Glücke: der Sohn, der Prinz, der Thronfolger – zum Kuckuck, was geht uns der Thronfolger eines x-beliebigen Königspaares hier an! Mit Ueberweisungsrechnungen für geliefertes Leder haben wir es in diesem Brief zu tun. Und wenn Ihnen das zu ledern ist, Fräulein Liedtke, es steht Ihnen jederzeit frei, sich eine interessantere Beschäftigung zu suchen.« Herr Mählich war Fräulein Liedtke, deren brummige Art allgemein bekannt war, sowieso nicht recht gewogen.

Das Lachen, das beim Vorlesen des Briefes laut geworden, verstummte erschreckt. Es kam nicht oft vor, daß Herr Mählich derartig losdonnerte. Jede der Damen nahm sich zusammen, den Gestrengen zufriedenzustellen. Und daß er einer Beamtin den Stuhl vor die Tür gesetzt hätte, war Gott weiß wie lange nicht vorgekommen. Trotzdem Fräulein Liedtke sich allgemeiner Unbeliebtheit erfreute, flog doch manch mitleidiger Blick zu der Gescholtenen.

Die aber sah nichts weniger als zerknirscht aus. Zwar brannten ihr zwei kreisrunde Flecke auf den sonst blassen Wangen, aber stolz hatte sie sich erhoben und den Mund zur Rechtfertigung geöffnet, indem sie einen vernichtenden Blick zu dem Nachbarpult gleiten ließ.

Ja, wo war denn Lilli Steffen? Der Mund blieb Fräulein Liedtke vor Staunen offen – denn die, welche sie vor den Vorgesetzten und Kollegen anzuklagen und bloßzustellen hoffte, stand bereits neben dem gestrengen Vorgesetzten und sprach mit lauter Stimme: »Verzeihung, Herr Mählich, ich habe den Brief an die Firma König & Sohn geschrieben. Fräulein Liedtke ist unschuldig daran.«

»Sie – Fräulein Steffen?« Herr Mählich runzelte die Stirn, die bis zum Hinterkopf reichte. »Albern, unzuverlässig und kindisch! Haben Sie öfters derartige Zustände der Geistesverwirrung? Waren auf dem besten Wege, eine brauchbare Beamtin zu werden, aber es scheint doch Hopfen und Malz an Ihnen verloren zu sein.« Aergerlich schritt er von dannen.

Lilli nahm mit gesenktem Kopf ihren Platz wieder ein.

»Es tut mir leid, Fräulein Steffen, daß Herr Mählich heute solche schlechte Meinung von Ihnen bekommen mußte.« Fräulein Schwertfeger sah bekümmert drein. »Ich habe mich gefreut, wie nett Sie sich in den letzten Wochen bei uns eingearbeitet haben. Nun werden Sie sich sehr zusammennehmen müssen, um die heutige Scharte einigermaßen wieder auszuwetzen.«

Sich zusammennehmen – ja, das wollte Lilli ganz gewiß. Während sie, durch einen mühsam zurückgehaltenen Tränenschleier verdunkelt, den bewußten Brief an König & Sohn, Schuhwarenfabrik en gros, noch einmal zu schreiben begann, schmerzte es sie am allermeisten, daß sie Fräulein Schwertfeger, die sich so nett ihr gegenüber zeigte, derart enttäuscht hatte. Sie bemerkte nicht die teilnehmenden Blicke der Kolleginnen, nicht den höhnisch frohlockenden vom Nachbarpult her. Tief gesenkt blieb Lillis Kopf über die Arbeit, bis der Zeiger der großen Uhr auf fünf wies.

»Fräulein Steffen, nehmen Sie sich die Standpauke doch nicht so zu Herzen; wir werden doch auch oftmals angesäuselt.« Fräulein Habicht und mehrere andere versuchten Lilli wieder aufzumuntern.

»Warum schreiben Sie auch solch hirnverbranntes Zeug zusammen, dann können Sie sich nicht wundern, wenn Herr Mählich Sie am Ende für geistesgestört hält.« Fräulein Liedtke erhob ihre Stimme, daß alle im Saal es hören konnten.

»Pfui, seien Sie doch nicht so schadenfroh, Fräulein Liedtke!« Die Empörung richtete sich jetzt gegen die unbeliebte Kollegin.

Lilli packte still ihre Sachen zusammen. Ihr kam nicht der leiseste Gedanke, daß sie die heutige Niederlage der Bosheit der Kollegin verdanken könnte. Aber ihre höhnischen Worte schmerzten sie.

Dabei mußte sie sich zusammennehmen, daß man zu Hause nichts von ihrer Gemütsverfassung merkte. Mutti sollte morgen früh frohen Herzens zum Vater fahren. Hoffentlich hatte die kleine Lumpenprinzessin daheim nicht auch Anlaß zum Aerger gegeben, wie hier im Büro. Hätte sie das Kind doch bloß niemals gesehen!

»Schäme dich, Lilli, was kann das arme Kind dafür, wenn du deine Pflicht verabsäumst!« Als ehrlicher Mensch mußte Lilli sich allein die Schuld zusprechen.

Aber sie sollte an diesem Tage und an den folgenden noch öfters Gelegenheit haben, zu wünschen, daß sie die Bekanntschaft der kleinen Lumpenprinzessin niemals gemacht hätte.

Durch die Kirschallee draußen in Schlachtensee, in die Lilli tiefaufatmend, dem Staub und der drückenden Schwüle der Stadt endlich entronnen zu sein, einbog, kam es trap-trap, trap-trap – – – ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht Beine. Zwei weiße Barfüßchen und sechs braune. Margot, Ingeborg und Schnauzel veranstalteten ein Wettrennen, wer wohl zuerst bei Lilli ankäme. Und die Beinchen der kleinen Lumpenprinzessin zeigten, trotzdem sie erst gestern im Bade abgescheuert worden waren, eine ebenso dunkelbraune Färbung wie die des Teckels.

»Ick hab' jewonnen – ick bin zuerst da!« Atemlos hing sich Ingeborg an Lillis helles Sommerkleid. Ritsch! Ein großer Riß ging durch das dünne Gewebe.

»Aber Ingeborg, mein hübsches Kleid –« Unsanft machte sich Lilli von den nicht allzu sauberen Kinderhänden los. »Sei doch nicht so ungestüm!«

»Ja, die Ingeborg macht nichts als Dummheiten,« bestätigte die inzwischen auch angelangte Margot, wohl ärgerlich darüber, daß man ihr den Rang abgelaufen hatte. »Mutti hat den ganzen Tag nichts weiter tun können, als sich bloß mit der fremden Krabbe herumzuärgern.«

»Aber, Margot,« dämpfte Lilli die kindlich unbarmherzige Aufrichtigkeit, trotzdem sie wußte, daß die Bezeichnung »fremde Krabbe« nicht Margots, sondern Ludwigs Ausspruch war. »Bist du wirklich so ungezogen gewesen, Ingeborg?«

»Ick weeß von nischt.« Verstockt senkte Ingeborg den Kopf und hielt die Hände schützend vor das Gesicht, als fürchte sie Prügel.

»Ich schlage dich nicht, Ingeborg. Aber ich habe geglaubt, du würdest dir Mühe geben, mir Freude zu machen, weil ich dich aus der dunkeln Gasse mitgenommen habe zu grünen Bäumen und Sonnenschein. Möchtest du mir nicht Freude machen und brav sein?«

»Ne,« sagte Ingeborg mit einer Deutlichkeit, die keinen Zweifel aufkommen ließ.

Lilli nahm an der einen Hand das Schwesterchen, an der andern das fremde Kind, während der Dackel sie freudebellend umkreiste.

»Warum warst du denn unartig, Ingeborg, was hast du denn getan?« forschte Lilli.

»Die Hühner hat sie gejagt, und die Ziegenmilch heimlich weggetrunken und – – –«

»Pfui, Margot, wer petzt denn? Ingeborg wird mir das selber erzählen, nicht wahr?«

»Ne,« sagte das Kind verstockt.

Lilli seufzte unhörbar. Was hatte sie sich und den Ihren durch den fremden kleinen Gast für eine Last aufgeladen!

Die Mutter war geschäftig beim Einpacken ihres Koffers. Lilli mußte sich ihr aufbewahrtes Mittagbrot heute mal selbst heiß machen. »Es steht in der Speisekammer, Lilli.«

»Gibt's noch etwas außer der Kartoffelsuppe?« erkundigte sich Lilli, nach einem Weilchen wieder bei der Mutter erscheinend, ein wenig zaghaft. Denn sie wollte die Mutter, falls diese heute bei ihrer vielen Arbeit den Menüzettel noch einfacher als sonst gestaltet hatte, nicht in Verlegenheit setzen.

»Aber freilich, Lilli, ich denke von den Klößen mit Backobst wirst du satt werden.«

»Klöße mit Backobst?« Lilli machte ein betroffenes Gesicht. »Es steht nichts in der Speisekammer.«

»So hat Ludwig es wohl schon zum Wärmen hinausgesetzt.«

Aber auch Ludwig, der sonst öfters mal den Koch für die abgespannt heimkehrende Schwester spielte, wußte nichts von den Klößen.

»Potzdonner, da soll doch – Lilliputchen, mir schwant Unheil, als ob du deine Rolle als gütige Fee heute am eigenen Leibe bereuen sollst. Wo ist Ihro Gnaden, die Lumpenprinzessin?«

»Nicht doch, Ludwig, du mußt das arme Ding nicht verdächtigen. Sie hat doch ihr Teil mittags bekommen,« verteidigte Lilli ihren Schützling.

»Die Katze läßt das Mausen nicht, selbst wenn sie satt ist. Die Hauptsache aber ist augenblicklich, daß du selber satt wirst. Womit speise ich dich nun?«

»Ach, Ludwig, die Klöße müssen sich doch finden. – Ingeborg – Ingeborg, komm doch mal her.« Lilli war auf die Veranda hinausgetreten und rief es den im Garten spielenden Kindern zu.

Ludwigs Beschuldigung, die sie im ersten Empfinden als ungerechtfertigt zurückgewiesen, schien ihr plötzlich nicht mehr ganz ausgeschlossen.

Ingeborg, in der von Margot geliehenen Schürze bereits ein Dreieck, kam langsam näher, als ahne sie Böses. Margot folgte neugierig.

»Sag, Ingeborg, wo hast du die Klöße hingestellt?« Das Kind wurde rot, blieb aber stumm.

»Ich bin nicht böse, Ingeborg, wenn du mir die Wahrheit sagst.« Lilli hob den Kopf des Kindes zu sich sanft empor.

»Ick weeß von nischt.«

»Hast du die Klöße gegessen, Ingeborg?«

»Ne.«

Mehr bekam man aus der kleinen Lumpenprinzessin nicht heraus. Immer abwechselnd: »Ick weeß von nischt« und »Ne.«

Lillis Magen, der noch nicht befriedigt war, machte schließlich dem ergebnislosen Verhör ein Ende. Die Klöße kamen nicht wieder. Lilli mußte sich schweren Herzens entschließen, von der geringen Fettration Bratkartoffeln zu machen.

Margot, die nicht zum zweitenmal petzen wollte, zupfte Ingeborg am Aermel. »Du, was hast du denn nach Tisch hinter den Stachelbeersträuchern zu tun gehabt? Soll ich da mal suchen?«

»Ne – ne, ick hab' man bloß 'n paar Stachelbeeren pflücken wollen,« stotterte Ingeborg verlegen.

»So, dann komm mal mit.« Margot ließ nicht locker.

Zwischen den Stachelbeersträuchern, ganz hinten am Zaun, entdeckten ihre Augen etwas Weißes. Es war die Schüssel, in welcher die Mutter die Klöße mit Backobst für Lilli verwahrt hatte. Wie ein Habicht stürzte Margot daraus los.

Die Schüssel war leer.

»Haach – hier hast du die Schüssel versteckt, und die Klöße hast du meiner armen Lilli weggefuttert – pfui!« empörte sich Margot.

»Ne, ne, wirklich nich, ick hab' die Klöße nich jejessen; die sind heidi.«

»Ach, du kannst mir ja viel vorschwindeln, schäme dich,« schalt Margot.

»Ne, ick schwindele, weiß Jott, nicht – ick wollte die Klöße heut abend essen, weil se mich so jut jeschmeckt haben. Aber nu sind se wech!« Bekümmert sah Ingeborg in die leere Schüssel.

Diesmal schwindelte Ingeborg in der Tat nicht. Sie hatte die Klöße nicht gegessen. Wo sie hingekommen waren, blieb allen ein Rätsel. Nur Schnauzel wußte es.


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