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Viertes Kapitel

Ein schwerer Entschluß

Durch die vornehme Villenstraße, die sich am Wannsee entlangzog, schritt eilig eine schlanke, junge Dame. Den Hut trug sie in der Hand, damit die linde Frühlingsluft ungehindert durch das weiche braune Haar streichen konnte.

Ach – das tat gut nach den anstrengenden Arbeitstunden im Röntgenlaboratorium. Ihr so lange der Dunkelheit ausgesetztes Auge trank durstig das über den See hinströmende Silberlicht, hing in andächtiger Freude an den ersten Spuren von Blattgrün, die hier draußen die bräunliche Hülle überall schon sprengten.

Aber nicht lange währte dieser helle Ausdruck in dem jungen Gesicht. Als sie jetzt die schmiedeeiserne Gittertür zu einer der schönsten Villen, die ein Messingschild »Gerhard, Bankdirektor«, trug, öffnete, zogen sich die feinen Augenbrauen zusammen, und eine verfinsternde Falte erschien dazwischen, die in dem lieblichen, heiteren Mädchengesichte gar nichts zu suchen hatte.

Wie lange würde dieser Name hier noch stehen? Wie oft sie selbst noch dieses Tor durchschreiten? Ilse Gerhard seufzte schwer. Über die ausgedehnten Gartenanlagen, die sich bis zum See herabzogen, ließ sie den Blick schweifen. Ein weicher Hauch ersten Frühlingsatmens hing allenthalben über Baum und Busch. Er tat ihrem Auge plötzlich weh. Dort war der Sandspielplatz mit den Turngeräten, der Tummelplatz ihrer Kinderjahre – vielleicht würden bald fremde Kinderstimmen ihn beleben. Hier oben die Goldregenlaube auf der kleinen Anhöhe – »Ilsenruh« hatte Papa sie getauft – hatte die glücklichsten Stunden ihrer Jungmädchenjahre mit ihrem dichten Gezweig behütet. Wie oft hatte hier im Verein mit den Freundinnen Lilli Steffen, Lena Ritter und Sonja Pietrowicz im lachenden Beieinander das Kränzchen getagt. Abgeschieden und losgelöst von der großen Welt da draußen waren sie sich in der lauschigen, grünumsponnenen Verborgenheit vorgekommen. Die vier, die einst dort unzertrennbar gewesen, hatten die Kriegsjahre auseinandergerissen. Die junge Russin, die mit ihrem jüngeren Bruder Iwan bei Kriegsausbruch in Pension bei Steffens gewesen, war sofort heimgereist nach Petersburg. Lena Ritter, das fleißige Hausmütterchen, hatte keine Zeit mehr, in der Goldregenlaube Freundschaftsschwüre zu wechseln. Sie mußte ihre Arbeitskraft verdoppeln, um das Hauswesen zu versehen und sich gleichzeitig für das Lehrerinexamen vorzubereiten. Nur mit Lilli, ihrer vertrautesten Freundin, hatte Ilse nach wie vor während der langen Kriegsjahre dort oben, graue Soldatenstrümpfe, Kopfschützer und Kniewärmer strickend, die Rätsel des Lebens mit ihrer Backfischphilosophie zu lösen versucht. Da war ihr von Lillis sonnigem Wesen immer wieder neuer Mut zugeströmt, wenn sie, kleinmütig und verzagt über die Gefangenschaft des Vaters nachsinnend, den Kopf hatte hängen lassen.

»Lilli fehlt mir,« dachte Ilse, sanft über das mit hellgrünen Spitzchen behangene Gerank streichelnd. »Vierzehn Tage habe ich sie nicht gesehen! Wenn ich mit ihr all das Schwere besprochen habe, werde ich nicht mehr ganz so schwer daran tragen.« Aber die Zuversicht, die ihr aus dem Entschluß, die Freundin aufzusuchen, gekommen war, schwand, je mehr Ilse sich dem Hause näherte. Fast war es ein kleines Schlößchen mit seinen Türmen und der vornehmen, weißen Säulenterrasse. Ein kurzgeschorener Rasenteppich, von Edelrosen umsäumt, breitete sich zu seinen Füßen aus. Da und dort blühten ja schon die Veilchen! Wie das duftete! Dort der ganze Winkel am Springbrunnen leuchtend blau – das erste Sträußchen mußte wie stets Mama haben. Wer mochte es im nächsten Jahr pflücken?

Auf der Säulenterrasse erschien jetzt eine schlanke Frauengestalt. Sie winkte der heimkehrenden Tochter erfreut einen Gruß zu. Zählte doch Frau Gerhard täglich die Stunden, bis ihre Einzige wieder bei ihr war.

Aber auch dieser liebevolle Willkomm vermochte nicht Ilses Schritt zu beschleunigen. Im Gegenteil, es war ihr jetzt erst recht, als hingen sich Zentnergewichte an ihre Füße und zögen sie zurück.

»Mein Muttchen, könnte ich dir doch das ersparen – wäre nur erst die nächste halbe Stunde vorbei,« flüsterte sie beklommen.

Ein zierliches Hausmädchen mit weißem Stickereischürzchen und Häubchen öffnete auf ihr Klingeln. Der Fuß versank in den weichen Plüschteppichen der Diele. Schwere lederne Klubsessel mit Tischchen, überragt von Blattpflanzen, luden ein, zu behaglichem Plaudern Platz zu nehmen. Neunzehn Jahre lang hatte Ilse den Luxus täglich gesehen und niemals sonderlich beachtet. Heute klammerte sich ihr Blick an jede Einzelheit, als gelte es eine sofortige Trennung.

»Mein Ilsenkind scheint heute besonders abgespannt von der ungewohnten Tätigkeit zu sein, es ist auch später als sonst,« empfing die Mutter sie, einen besorgten Blick auf das bleiche Gesicht der Tochter werfend. »Komm, Herzchen, erquicke dich erst ein wenig. Hier ist eine Tasse Kakao, ich habe ihn heißgestellt. Und Alwines frischen Kuchen mußt du probieren – ja, so backt ihn kein anderer.« Mit ihren schlanken, weißen Händen ordnete die Mutter fürsorglich den Imbiß auf einem Tischchen.

»Danke, Muttchen, aber den Kakao trinke ich nicht. Der muß für dich zur Pflege bleiben. Und Alwine darf auch nicht so verschwenderisch mit weißem Mehl, Butter, Eiern und Zucker umgehen. Die Köchin kauft alles zu unvernünftig hohen Preisen und ist noch stolz, daß sie was bekommt. Aber wir können nicht mehr soviel Geld ausgeben, wir müssen lernen, uns mehr nach der Decke zu strecken, Muttchen« – – – lieber Gott, war das schwer, ihre zarte, verwöhnte Mama, die nie etwas anderes als den Reichtum kennengelernt hatte, und der man jahrelanger Krankheit wegen stets alles Unangenehme oder Aufregende ferngehalten, jetzt diese Eröffnung zu machen.

»Ich weiß ja, Herzchen, daß wir uns einschränken müssen, da es uns gegen unsere Ehre war, Papas Bankdirektorgehalt, das man uns großmütig während seiner Gefangenschaft auszahlen wollte, als Almosen anzunehmen. Wir haben ja auch unseren Verbrauch erheblich zurückgesteckt. Das Auto ist verkauft worden, Chauffeur, Diener, Gärtner und Jungfer entlassen. Und unser einziges Kind hat eine Stellung für Geld angenommen. Das ist das schlimmste, Ilse, darüber komme ich nie hinweg.«

»Das ist noch lange nicht das schlimmste, Mütterchen.« Wie gepreßt die helle Mädchenstimme klang! »Arbeiten muß jeder in der schweren Zeit. Du selbst hast dich doch, deiner schonungsbedürftigen Gesundheit ungeachtet, mit dem Erlernen der Blindenschrift befaßt, um den Ärmsten, die ihr Augenlicht fürs Vaterland hergeben mußten, die fachwissenschaftlichen Bücher, die sie für ihren Beruf brauchen, zugänglich zu machen. Ich müßte mich ja schämen, wollte ich nichts tun.«

»Arbeiten sollst du, Ilschen, nur nicht zum Erwerb. Das Brot nicht anderen, die es notwendiger brauchen, fortnehmen – das ist mein Standpunkt.«

»Es ist aber auch für uns notwendig, mein Mutterchen, und – – und es wird vielleicht noch notwendiger werden,« mit Anstrengung stieß Ilse es hervor.

»Was – was ist – du hast was von Papa gehört – er ist den Strapazen erlegen – – –« Frau Gerhard schlug die Hände vor das Gesicht. Sie vermochte das Furchtbare nicht zu Ende zu sprechen.

»Nein, nein, Mutterchen, rege dich nicht unnütz auf, du weißt, es schadet dir. Ich habe seit dem letzten Brief von Sonja Pietrowiez nichts gehört und hoffe, es geht Papa nach wie vor erträglich. Es handelt sich nur um materielle Dinge, um persönliche Einschränkungen.«

»Die will ich gern auf mich nehmen, Herzchen, wenn ich unserem Vater nur damit sein Los erleichtern könnte,« die Mutter hob den Kopf, der dieselben feinen Formen wie der ihrer Tochter zeigte. »Nur weiß ich nicht, wo wir noch sparen sollen. Das große Haus nebst Garten wird nur noch von drei Angestellten besorgt, und die Köchin sagt, das Geld schwindet ihr jetzt unter den Fingern.«

»Wir dürfen die Wirtschaftsführung nicht der Köchin überlassen, Mutterchen. Überhaupt – wir werden das anspruchsvolle Mädchen, das stets in reichen Häusern gewesen und keine Sparsamkeit kennt, entlassen müssen. Auch das Hausmädchen ist überflüssig. Von meiner alten Alwine freilich, die mich einst auf den Armen getragen, würde ich mich nur sehr schwer trennen.«

»Bist du denn nicht gescheit, Ilschen! Du kannst doch nicht das ganze Personal entlassen und die Sorge für Villa und Garten allein auf Alwines alte Schultern wälzen wollen. Ja, solch Neunmalklug redet, wie er's eben versteht.« Zärtlich klopfte die Mutter die blasse Wange der Tochter.

»Mein Vorschlag ist nicht so unverständig, Mütterchen, wie er dir zuerst wohl erscheinen mag. Freilich, Villa und Garten erfordern Personal. Aber – ich komme soeben von Onkel Justizrat, Mama. Daher wurde es auch später. Er wünschte mich zu sprechen. Als Verwalter unseres Vermögens machte er mir die Eröffnung, daß es so nicht weiter ginge. Sonst wären wir in kurzer Zeit am Bettelstab. Papa hat sein Hauptvermögen in den russischen Bergwerken stecken, um dessentwillen er kurz vor Ausbruch des Krieges noch die Reise nach Petersburg unternehmen mußte, um zu retten, was er konnte. Die Zinsen von unseren übrigen Papieren reichen nicht aus, einen so kostspieligen Haushalt zu bestreiten, wie ihn eine große Villa erfordert. Unsere Hoffnung, daß Papa nach Friedensschluß mit Rußland aus der Gefangenschaft entlassen würde, hat sich bis jetzt leider nicht erfüllt. Länger können wir nicht warten. Da wir so unüberlegt und hochmütig gewesen sind, wie Onkel Justizrat es bezeichnet, Papas Bankdirektorgehalt zurückzuweisen, gäbe es nur eins, um unsere zerrütteten Finanzen einigermaßen wieder in Ordnung zu bringen: Wir – wir müssen unsere Villa verkaufen.« Tonlos kamen die letzten Worte von den Lippen des jungen Mädchens.

Minutenlange Stille folgte. Draußen in dem Geäst der alten Linden zwitscherte es frühlingverheißend.

Frau Gerhard hatte ihre feingeäderten Hände gegen die klopfenden Schläfen gepreßt.

»Mutterchen – liebe, süße Mama – nimm es nicht so schwer! Wenn wir unseren Vater nur erst wieder haben, das ist uns doch mehr wert als alle Villen der Welt,« aufschluchzend barg Ilse wie früher als Kind den Kopf an der Mutter Brust. Der Druck, der seit Stunden auf der jungen Seele gelastet, löste sich in einem befreienden Tränenstrom.

»Was wird er sagen, wenn er endlich zurückkommen wird und findet sein schönes Heim, an dem sein ganzes Herz gehangen, nicht mehr?« klagte die Mutter leise.

»Er findet ja uns noch vor, Mütterchen! Wo wir sind, ist Papas Heim,« Ilse trocknete energisch die Tränen. Sie mußte stark sein, um der Mutter Trost zusprechen zu können. »Onkel Alfons hat bereits einen Käufer für die Villa an der Hand. Ein Klient von ihm, ein Kriegsgewinnler. Der möchte sie am liebsten mit allem Inventar sofort kaufen. Er würde einen guten Preis zahlen, so daß wir, bei sparsamer Wirtschaftsführung auf mehrere Jahre hinaus sorgenlos leben können.« Mechanisch wie etwas Auswendiggelerntes sagte das junge Mädchen es her, während ihr Blick in namenlosem Mitleid an dem durchsichtigen Gesicht der Mutter hing.

Vergeblich wartete Ilse auf eine Antwort. Die Mutter blickte starr vor sich hin. So hatte sie auch damals dagesessen, als die Nachricht aus Rußland von der Internierung des Vaters gekommen war – weil man ihn der Spionage verdächtigte. Damals hatte der Hausarzt gefürchtet, daß das alte Leiden der Mutter, wegen dessen sie jahrelang von Hause fern im Süden geweilt, sich durch die heftige Gemütsbewegung wieder einstellen könnte. Es war nicht so weit gekommen, die Mutter hatte sich von dem Schlage erholt. Aber wenn diese neue Aufregung nun ihrer Gesundheit schadete! Man hatte jetzt nicht mal die Mittel, um einen Kuraufenthalt zu ermöglichen.

Ilse war aufgestanden und auf die Terrasse hinausgetreten, von der man einen weiten Blick über den Wannsee genoß.

Wie einsam war ihre Kinderzeit hier in dem großen, eleganten Hause ohne die Mutter gewesen. Ein glückliches Kind war sie trotz allem Reichtum erst von dem Augenblick an geworden, als die Mutter für immer daheim bleiben durfte.

Und die Mutter blieb ihr ja, sie ging mit ihr in das neue Leben. War es da nicht undankbar, daß sie sich so schwer von äußerlichen Dingen trennte? Freilich, in dem Hause am Wannsee war sie geboren, in den Gartenwegen drunten hatte sie ihre ersten Schritte an Alwines Schürzenzipfel versucht. Dort war ihr kleines Badehaus, der Nachen, der den Namen »Ilse« trug, in dem sie so gern mit Freundin Lilli bei untergehender Sonne in die Purpurwellen hineingeglitten. Den Tennisplatz würde sie weniger vermissen, während der Kriegsjahre hatte sie weder Sinn noch Zeit für den Ballsport gehabt. Aber Papas Lieblingsplatz drunten am See, wo man an heißen Sommerabenden so oft in frohem Kreise bei Erdbeerbowle geplaudert und den vorüberziehenden Dampfern, vollgepfropft mit Ausflüglern, zugewinkt hatte, und – – –

»Nimmst du schon Abschied, mein Ilsekind?« – unbemerkt, mit leichtem Schritt, war die Mutter hinter sie getreten.

»Es bleibt uns ja nichts weiter übrig, Mutterchen,« möglichst unauffällig wischte das junge Mädchen das Naß von den Wimpern. »Vielleicht bekommen wir irgendwo eine nette kleine Wohnung mit einem Gärtchen, daß du das Grün vor den Fenstern nicht ganz entbehren mußt. Und aus deinem Zimmer darf nichts verkauft werden, Mama, das mußt du mitnehmen, wie es ist,« – Ilses Blick glitt zurück zu dem mit künstlerischem Geschmack ausgestatteten Wohnraum der Mutter, der die feinsinnige Art seiner Bewohnerin widerspiegelte.

»Die alten holländischen Bilder dort drüben werden wir wohl hier lassen müssen, Ilse. Sie sind besonders kostbar, und wir dürfen uns ja jetzt keinen überflüssigen Luxus mehr erlauben.«

»Wir wollen uns unser Leben trotzdem so schön gestalten, wie es nur angeht,« – in rührender Weise versuchte Ilse der Mutter den Mut zuzusprechen, an dem es ihr selbst gebrach. »Müssen wir unsere Gemälde verkaufen, nun, in den Galerien und Museen kann man sich genau so daran erfreuen. Und abends musizieren wir zusammen, Mutterchen – unseren Flügel nehmen wir mit, den lasse ich nicht hier. Alwine und ich, wir besorgen den Haushalt zusammen, ich kaufe ein, sie kocht, und du übernimmst die Kassenführung. Man kann auch in engen Räumen zufrieden und glücklich sein. Denke nur, wie knapp es jetzt manchmal bei Steffens ist, und trotzdem verlieren sie ihren Frohsinn nicht. Neulich erst sagte Lilli lachend: »Heute abend gibt's bei uns Pellkartoffeln mit Humor statt mit Hering.«

Ilses liebevolles Bemühen ward von Erfolg gekrönt. Ein leises Lächeln huschte bei ihren Worten über das tiefernste Frauenantlitz. Aber ebenso schnell, wie es gekommen, schwand es wieder.

»Du meinst es gut, Kind, aber für mich gibt es kein Glück, solange ich unseren Vater in Gefangenschaft schmachten weiß. Ich bin eine recht egoistische Mutter, Ilschen. Anstatt dir deine Jugendtage, die ich mir früher ganz anders vorgestellt habe, nach Kräften zu erhellen, werfe ich immer noch mehr Schatten auf deinen ohnedies schon verdunkelten Weg. Gehe zu Lilli Steffen, Ilse, dort hast du junge Menschen, mit denen du vergnügt und heiter sein kannst. Hier bei mir wirst du deines Lebens nicht froh, Kind.«

»Wir wollen uns beide gegenseitig helfen, Muttchen, uns trotz aller Schatten Sonnenschein in unser neues Leben zu tragen.« Obgleich Ilse vorher selbst den Wunsch gehabt, die Freundin aufzusuchen, sah sie ein, daß sie die Mutter nicht in der augenblicklichen Gemütsdepression allein lassen dürfte. »Es ist heute schon zu spät, nach Schlachtensee zu fahren, in einer Stunde ist Tischzeit.« Sie hatte noch immer die in Berlin ungewohnte Essenstunde gegen sechs Uhr beibehalten, obgleich der Vater, um dessen Berufspflichten willen man sie so gelegt hatte, jahrelang fern war. »Aber einen Spaziergang am kleinen Wannsee entlang können wir noch machen, Mama. Es knospet und sprießt schon allenthalben. Komm – wir gehen dem Frühling ein Stück entgegen.«

Frau Gerhard unterdrückte das ihr auf die Lippen tretende Wort: »Der Frühling tut mir weh, Kind.« Sie nahm den dunkelseidenen Mantel um, den die Tochter geschäftig herbeibrachte, und schritt langsam neben ihr die Marmortreppe hinab. Und wie vorhin Ilses Augen, so hingen jetzt die der Mutter an jedem Stück der vornehmen Diele. War es ihr doch, als ob es ihr schon nicht mehr gehörte.

Nein, der Frühling tat nicht weh – selbst jetzt, da er noch kaum die Knospenaugen aufgeschlagen, offenbarte er seine Zauberkraft. Wo ist ein Herz so wund, daß es demselben widerstehen könnte? Während Frau Gerhard langsam an Ilses Arm durch die von neuem Lebenssaft geschwellte Natur wanderte, empfand sie die Last, die ihr das Herz abdrückte, mit jedem Schritt weniger schwer. Die schlaffen, noch kraftlosen Blätterhändchen der Kastanienbäume streichelten leise ihr Auge: Sieh uns an, wie schwach und haltlos wir sind, und doch werden wir erstarken. Die Tulpenbäume, die den Weg säumten, streiften mutig ihr zartrosa Festgewand über, und doch würde noch so mancher Frühlingsturm daran reißen und zerren. Und all die bunten Hyazinthenglocken, welche aus starrer Winterscholle heraus neuem Werden entgegenläuteten, sie schwangen leise, leise in der Seele der traurigen Frau mit. Ihren Garten konnten Fremde ihr wohl nehmen, aber des lieben Herrgotts Garten blühte für jeden. Frau Gerhards matter Blick belebte sich, die durchsichtige Blässe ihrer Wangen wich einem kaum merklichen rosigen Hauch, und der müde Schritt wurde sichtlich elastischer.

Mit ihrem liebevollen Sichhineinfühlen in die Seele der Mutter empfand Ilse das mehr, als sie es sah. Mit geöffneten Lippen trank sie die noch herbe, vom See herüberstreichende Aprilluft. Wie schwer war ihr vorhin alles erschienen, bevor die Mutter das Notwendige erfahren! Und jetzt trug sie leicht an der geteilten Last, und die Zuversicht, daß alles auch in bescheidenen Verhältnissen wieder gut werden könnte, begann alsbald in dem Herzen der Neunzehnjährigen zu keimen und zu knospen – wie alles ringsum.

Es bedurfte eigentlich gar nicht mehr im Winde wehender Goldhaare, lachender brauner Augen und einer hellen Mädchenstimme: »Ilse – Ilse – lauf doch nicht so – wie gut, daß ich dich noch erwische –« um die grauen Augen Ilses aufleuchten zu lassen. Vom Bahnhof kam's hinter ihnen hergejagt, leicht und graziös wie ein Elfenkind, und da war die Lilli Steffen auch schon atemlos angelangt, begrüßte Frau Gerhard mit anmutiger Ehrerbietung und fiel der Freundin spornstreichs um den Hals. Es war ja wochentags ganz menschenleer hier draußen. Der alte Gärtner, der dort drüben die Obstbäume anpinselte, schob nur seine Pfeife schmunzelnd von einem Mundwinkel in den anderen, und höchstens die Amsel neben ihnen in dem noch kahlen Eichengeäst äugte mißbilligend herab.

»Eine Ewigkeit und drei Tage haben wir uns nicht gesehen, Ilse, ich hielt's schon gar nicht mehr aus zwischen meinen Kredit- und Debetposten, so bange war mir nach dir. Anstatt den Saldo zu berechnen, habe ich ausgerechnet, wieviel Tage und Stunden wir voneinander getrennt sind. Du läßt ja gar nichts von dir hören, Ilse. Und ich bin doch so begierig, wieviel Röntgenröhren du schon zertöppert hast,« sprudelte Lilli, lebhaft wie es ihre Art war, heraus.

»Nun – nun – Lilli, vierzehn Tage ist noch keine gar so lange Ewigkeit,« lächelte Frau Gerhard. »Aber du kommst heute gerade recht, Lilli, um meiner Ilse wieder ein bißchen von deinem Frohsinn einzublasen. Es tut ihr not.«

Lillis braune Augen gingen fragend zur Freundin, aber da wurde der strahlende Blick plötzlich trüb und bekümmert. Wie blaß die Ilse aussah!

»Strengst du dich zu sehr im Laboratorium an, Ilschen? Bist du nicht befriedigt von deiner neuen Tätigkeit?« forschte Lilli, ernst werdend.

»Nein – nein – meine Tätigkeit als Röntgenlaborantin macht mir Freude, obgleich ich mich noch nicht immer ganz sicher dabei fühle. Die Ärzte und Schwestern sind nett zu mir und haben Geduld, wenn ich als Neuling auch mal etwas versehe. Aber andere Sorgen habe ich, Lilli, – Wohnungssorgen – du sollst mit mir in den nächsten Tagen auf die Wohnungssuche gehen.«

»Wa-as?« fragte Lilli und riß die Augen erstaunt auf. »Ist dir deine Villa vielleicht nicht mehr schön genug?« Sie wandte den Kopf zu den über den Bäumen noch sichtbaren Ecktürmchen, die von der späten Nachmittagsonne in kupfriges Rot getaucht wurden.

»Zu schön!« meinte Ilse leise. Und mit der Aufrichtigkeit, die von klein auf zwischen den beiden Freundinnen geherrscht, fügte sie tapfer hinzu: »Unsere Verhältnisse erlauben uns nicht mehr, eine so kostspielige Villa zu bewohnen, Lilli. Wir müssen sie verkaufen und uns eine einfache Vierzimmerwohnung suchen.«

»Das ist ein schwerer Entschluß,« sagte Lilli leise. Niemand hätte es dem sonnigen Mädchengesicht zugetraut, daß es so ernst dreinschauen könne. »Ich helfe dir, mein Ilsekind, nicht nur beim Suchen der Wohnung, sondern auch –« der Nachsatz blieb unausgesprochen. Statt dessen drückte Lilli innig den Arm Ilses, in den sie sich eingehängt, gegen ihr Herz. Und Ilse verstand sie. Sie wußte, daß sie bei all dem Schweren, das es sonst noch zu überwinden galt, auf die Freundin zählen konnte.

Mit feinem Taktgefühl, das ihr schon als Kind eigen, wandte sich Lilli jetzt an die Mutter der Freundin, deren Blick sich aufs neue getrübt hatte.

»Liebe Frau Gerhard, Sie sollen mal sehen, wie gemütlich solch eine kleine Wohnung ist. Meine Großmama bewohnt nur drei Zimmer und Onkel Martin hat mit seiner jungen Frau bis vor kurzem auch noch dort gewohnt. Aber jede Stube sieht wie ein Festtag aus; ich habe stets die Empfindung, daß man seinen Alltagsmenschen draußen läßt, wenn man bei ihr eintritt. Wir wollen schon eine helle, freundliche Wohnung ausfindig machen, Ilse und ich. Vielleicht ist sogar bei uns in Schlachtensee etwas Passendes zu finden. Ach, Ilse, wäre das herrlich, wenn ich dich ganz in die Nähe bekäme.« Verflogen war aller Ernst. Die junge Dame vollführte zum Staunen des gerade auf sie herabblickenden Stolper Kirchturmes sogar einen Luftsprung und riß die bei weitem ruhigere Freundin in ihrer Lebhaftigkeit mit.

Frau Gerhard lächelte – es war ein wehmütiges Lächeln. Ja, solch junges Volk, das fand in allem Düstern alsbald wieder die Lichtseite heraus. Aber auch ihr tat Lillis sonniges Wesen wohl; und für ihr Kind war es ganz besonders gut, daß die Freundin gerade heute zu ihnen gekommen.

Die Kirchturmuhr des kleinen Dörfchens zeigte halb sechs. »Wir müssen zurückgehen, Kinder, sonst wird die Köchin ungeduldig. Du ißt mit uns, Lilli, dich lassen wir heute nicht so bald wieder fort.«

»Frau Gerhard, jetzt, bei der Lebensmittelteuerung, darf man sich keine Gäste auf den Hals laden, und – und Mutter hebt mir doch mein Mittagbrot stets zum Abend auf.«

Eigentlich hatte Lilli etwas ganz anderes sagen wollen, nämlich, daß Gerhards doch jetzt sicher sparen und deshalb Einladungen lieber unterlassen müßten; aber das Wort wollte ihr nicht über die Lippen.

»Lilli hat gewiß Angst, daß sie bei uns nicht satt wird,« scherzte Ilse, glücklich, den Abend mit der Freundin zubringen zu können.

An dem weidenverhangenen kleinen Wannsee mit seinen idyllischen Landhäuschen ging es in lebhaftem Gespräch zurück. Lilli machte Pläne. Gleich morgen Abend nach Büroschluß wollte sie in Schlachtensee auf die Wohnungssuche gehen. Ach, dann konnten sie morgens wieder zusammen in die Stadt fahren wie früher, und abends kam man abwechselnd in den hoffentlich benachbarten Gärten zusammen. Denn jetzt war Lilli mit ihrer lebhaften Phantasie schon so weit, daß es unbedingt ein Nachbarhaus sein mußte, in welchem Gerhards ihren künftigen Wohnsitz aufschlagen sollten.

»Vielleicht können wir uns sogar in die Fenster sehen, dann müssen wir Signale miteinander verabreden.« So baute Lilli der Freundin an Stelle der verlorenen Villa ein hübsches Luftschloß. Sie steckte die Freundin mit ihrer Vorfreude auf den gemeinsam zu verlebenden Sommer derart an, daß kein bitteres Gefühl mehr beim Betreten ihrer eleganten Häuslichkeit bei Ilse aufkam.

Nein, Lilli brauchte wirklich keine Angst zu haben, daß sie nicht satt wurde. Selbst ihr jugendlicher Hunger, der während des Tages nur durch Brot gestillt worden war, kam hier zu seinem Recht. Die unverwöhnte Lilli riß Mund und Nase auf. Seit Kriegsausbruch hatten sich die Freundinnen stets außerhalb der Mahlzeiten besucht, und Lilli nahm an, daß es überall knapp zuginge, wenn auch nicht ganz so wie in ihrem Hause. Aber, was ihr da vorgesetzt wurde, das war ja ein Gesellschaftsessen. Wie gern hätte die gute Lilli etwas von der herrlichen Torte für das Schwesterchen aufbewahrt. Und als ob Frau Gerhard ihre Gedanken erriet, hieß sie das servierende Hausmädchen einige Stücke für Lillis Geschwister einpacken.

»Nur einen Kosthappen,« meinte sie, als Lilli bescheiden Einsprache erhob. Aber der »Kosthappen« war so umfangreich, daß die ganze Steffensche Familie daran genug hatte.

»Arme Ilse, du wirst noch in manchem anderen umlernen müssen, mit der Vierzimmerwohnung ist der großartige Zuschnitt des Haushalts noch lange nicht in bescheidene Bahnen gelenkt,« mußte Lilli ein wenig beklommen trotz ihrer erst neunzehnjährigen Erfahrung denken.

Nach dem Essen ging man ins Musikzimmer, in dem der herrliche Flügel stand. Ilse Gerhard war eine feinsinnige Pianistin. Heute spielte sie ganz besonders seelenvoll. All das Weh, das der Tag ihr gebracht, ließ sie in weichen Harmonien dahinströmen.

Die beiden Zuhörerinnen verstanden diese Sprache sehr gut.

Durch die Spitzenvorhänge der strahlenden Fenster flimmerten die elektrischen Lichtstrahlen bis auf die dunkle Straße. Leise glitten die Klänge in den Frühlingsabend hinaus. Da blieb manch Vorübergehender lauschend stehen, blickte zu den hellen Fenstern empor und dachte: »Die Glücklichen!«

Sie hätten anders geredet, wäre ihnen die Möglichkeit geboten worden, den folgenden Sonntag in dieser »Villa der Glücklichen« zu erleben. Da tauchte bereits um neun Uhr früh vor dem Gartentor ein Besuch auf, dem man schon von weitem aus Kleidung und Gebaren den vielverspotteten Kriegsgewinnler ansah. Herr Friedrich Wilhelm Vorbrodt, ehedem Käse- und Eierhändler in einer kleinen Nebengasse von Rixdorf, war es, der sich hier mit seiner in Samt und Seide strotzenden fünfköpfigen Familie einfand, um die vor drei Tagen neu gekaufte »Vülla« in Augenschein zu nehmen. Es kam ihm und seiner »Frau Gemahlin« Theodora nicht der entfernteste Gedanke, daß sie zu so früher Stunde unbedingt lästig fallen mußten, und was die beiden Damen Gerhard, Mutter und Tochter, in den nächsten zwei Stunden an Protzentum und Zudringlichkeit auszuhalten hatten, läßt sich gar nicht beschreiben. Ilse behauptete noch nach Jahr und Tag, daß ihr beim bloßen Erinnern daran eine Gänsehaut überkomme. Das Schlimmste aber blieb doch, daß sie nun ihr Jugendparadies verlassen sollte. Das »Glück in der Wannseevilla« war zu Ende.


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