Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel

Sonntagnachmittag

»Weißt du, Mieze, unser Liliputchen sieht ein bißchen blaßschnäbelig aus. Strengt sie sich auch nicht zu sehr an?« meinte am nächsten Sonntag die Großmama besorgt zu ihrer Schwiegertochter. Die beiden Damen saßen, mit Stopfen von Strümpfen beschäftigt, unter den fast voll erblühten Fliederbüschen und sahen den emsig mit Hacke, Schaufel, Rechen und Gießkanne hantierenden Kindern zu. Den Sonntag pflegte die Großmama stets in Schlachtensee im Lehrerhäuschen zuzubringen.

Fran Miezes klares Auge ruhte nachdenklich auf ihrer ältesten Tochter, die in dem von dem Zwillingsbruder gelockerten Erdreich Gemüsepflänzchen setzte.

»Ja, mein Mädel will mir auch gar nicht mehr so recht gefallen. Sie sieht schmal aus, und wenn sie sich auch Mühe gibt, heiter zu erscheinen, man merkt ihr den Zwang an. Allzu anstrengend ist die Tätigkeit in der Sparkasse wohl nicht für sie. Lilli hat ja stets alles spielend geschafft. Aber ich fürchte, der kaufmännische Beruf macht ihr wenig Freude. Sie hat zwar noch nie geklagt, aber eine Mutter kennt doch ihr Kind.«

»Mieze, mir hat es gleich nicht in den Kopf wollen, daß dieses Kind mit seiner lebhaften Phantasie in den nüchternen Zahlenberuf gepreßt wurde. Dein Mann hat sich in ähnlicher Weise in seinen Briefen mir gegenüber geäußert. Und auch Martin hält die Sache für verfehlt.« Voller Mitleid blickte die gute Großmama auf ihren Liebling, der augenblicklich ganz heiter mit Margot scherzte.

»Lilli ist durchaus nicht gepreßt worden, Mama. Ich habe ihr das Für und Wider klargestellt, wie es die Pflicht einer Mutter ist. Sie hat sich freiwillig für den Beruf entschieden. Und ich stehe noch immer auf dem Standpunkt, daß gerade dieser nüchterne Zahlenberuf das beste Gegenmittel für unsere nur allzu gern aus der realen Welt ins Land der Träume entwischende Lilli ist. Mit Hirngespinsten schafft man heutzutage nichts; es ist dringend nötig, in dieser schweren Zeit fest auf seinen Füßen zu stehen und nicht irgendwo in der Luft zu schweben. Lillis Gehalt ist für eine Anfängerin ganz nett. Du hättest mal sehen sollen, mit welcher Freude und welchem Stolz sie mir zu Beginn des Monats das erste selbstverdiente Geld einhändigte. Keinen Pfennig wollte sie für sich zurückbehalten, alles sollte ich für die Reise zu Ernst verwenden. Ich mußte meine ganze Beredsamkeit aufbieten, um eine Einigung zu erzielen. Und was hat sie schließlich mit den paar Mark, die sie für sich verwenden sollte, gemacht? Statt einer Sommerbluse, die sie wirklich notwendig braucht, hat sie für Margot Sandalen gekauft, damit das Kind nicht ihre Winterstiefel mit den schweren Holzsohlen im Sommer tragen muß. Der Rest ist in einem Schlips für Ludwig und in einem Paket für den Vater angelegt worden. Das Mädel wird niemals praktisch werden!« Den Worten zum Trotz, hingen die Augen der Mutter in inniger Liebe an ihrem uneigennützigen Kinde.

»Ja, unser Liliputchen!« sagte die Großmama und nichts weiter. Aber damit war alles gesagt. Die Damen schwiegen, und die sich auf und ab bewegende Stopfnadel flimmerte im Sonnenlicht.

»Wann wirst du nun reisen, Mieze?« nahm die Großmama nach einem Weilchen wieder das Gespräch auf.

»Am Pfingstsonnabend, da ist Lilli schon um drei Uhr frei. Sie braucht dann erst wieder am vierten Feiertag ins Büro zu gehen. Und die paar Tage bis zu meiner Rückkehr will Ludwig dann das Zepter hier führen. Eine Woche muß ich schon fortbleiben, die Reise ist zu weit und zu umständlich.«

Durch die grüne Wand der Himbeer-, Stachelbeer- und Johannisbeersträucher drangen die Stimmen der Kinder herüber.

»Gut, daß der Vater seinen Garten jetzt nicht sieht; er wäre wenig erbaut von der Verwandlung, die mit seinen herrlichen Blumenbeeten vorgenommen wurde,« ließ sich Lilli vernehmen. »Kartoffeln, Rüben und Kohl – als einzige Zierpflanze Tomaten – unser Garten kommt mir vor wie eine schöne Prinzessin, die in das Gewand einer Bauernmagd hat schlüpfen müssen.«

»Erzähle, Lilli – liebes, süßes Lillichen, du hast mir schon so ewig lange kein Märchen mehr erzählt. Den ganzen Tag bist du in dem alten Büro, und wenn du nach Hause kommst, hast du immer in der Wirtschaft oder im Garten zu tun. Für mich hast du jetzt niemals mehr Zeit, höchstens zwiebelst du mich noch mit der ekligen Deklination.«

»Das ist auch sehr nötig, du Faulpelz,« entgegnete Lilli lachend.

»Aber heute ist Sonntag, heute erzählst du mir wieder was«; das Schwesterchen streichelte bettelnd mit erdigen Händen Lillis zartes Gesicht.

»Mädel, wasch dir erst die Hände, ehe du deine Liebe so handgreiflich zeigst.« Ludwig befreite mit einem geschickten Nackengriff, mit dem er sonst meistens Schnauzel zu bedenken pflegte, seine Zwillingsschwester.

»Ist dir das unsympathisch, Lilli? Man muß doch Seife sparen,« neckte die kleine Margot zurück.

Sie war dem großen Bruder recht ähnlich. Dieselben tiefblauen Augen in dem runden Gesicht, nur die Haare, die bei Ludwig dunkelbraun waren, zeigten eine hellere Farbe. Erst nachdem Lilli dem Schwesterchen beruhigend zugeflüstert hatte, daß die Geschichte von der verwandelten Prinzessin bestimmt in der Schummerstunde auf dem Märchensofa droben erzählt werden sollte, sprang die Kleine auf holzklappernden Sohlen ins Haus, die notwendige Säuberung vorzunehmen.

Schnauzel, der krummbeinige Teckel, der früher niemals rennende Kinderfüße sehen konnte, ohne sich lebhaft blaffend an dem Galopp zu beteiligen, blinzelte müde und gleichgültig. Ab und zu schnappte er nach einer Fliege, aber mehr aus Gewohnheit als aus wirklichem Interesse.

»Kerl, sieh nicht so mißvergnügt drein an solchem herrlichen Maiensonntag,« schalt Ludwig, den faulen braunen Gesellen an dem herabhängenden Langohr zausend. »Weißt du, Lilli, ich glaube, der Schnauzel leidet an Melancholie. Er ist entschieden tiefsinnig geworden, seitdem der Vater fort ist.« Aber die Antwort auf seine lustigen Worte blieb aus. Erstaunt wandte er sich um.

Da stand die Lilli unter dem blühenden Schlehdorn und machte ein Gesicht, ähnlich wie der Teckel. Das Wort unsympathisch, das die kleine Schwester vorhin so harmlos gebraucht, hatte wieder die Erinnerung an die Worte der Kollegin, die sie nicht loslassen wollten, aufgerührt.

»Also eine fabelhafte Ähnlichkeit zwischen dir und Schnauzel,« stellte Ludwig fest. Doch noch immer wollten sich die Grübchen in Lillis Gesicht nicht vertiefen. Was hatte das Mädel denn bloß?

»So ernst, mein Freund, ich kenne dir nicht mehr,« zitierte er, frei ins Berlinische übersetzt, Gertrud Stauffacher.

Da mußte die Lilli doch wieder lachen.

»Also, Liliputchen, beichte! Was ist los? Biste verstimmt oder haste Hunger?«

»Keines von beiden – das heißt, dann hab' ich schon eher Hunger, den hat man ja jetzt immer. Aber wir müssen uns unser Abendbrot erst verdienen.« Sich zusammennehmend, griff sie nach dem Spargelstecher und begab sich an die Spargelbeete. »Hier gibt's Arbeit, Lulu – seit heute morgen alles schon wieder hoch. Solche Spargelernte hatten wir lange nicht. Und wie Glas bricht er sich.«

»Was nützet mir der schöne Garten,
Wenn andre drin spazieren gehn,«

summte der Zwillingsbruder mit betrübt drolligem Gesicht vor sich hin und machte sich ebenfalls ans Spargelstechen.

»Ja, mein guter Junge, diesmal haben wir noch nicht viel von unserem Spargel zu schmecken bekommen. Aber das Geld, das die Milchfrau uns täglich dafür aus Berlin mitbringt, bekommt uns um so besser.« Die Geschwister arbeiteten eine Zeitlang schweigsam nebeneinander.

Lilli kämpfte mit sich. Sollte sie Ludwig, ihrem zweiten Ich, beichten, was ihr das Herz abdrückte? Tapfer hatte sie bisher all die kleinen Enttäuschungen und Schwierigkeiten, die es in ihrer neuen Laufbahn zu überwinden galt, in sich verschlossen. Nur das Gute hatte sie daheim erzählt, es sollte keiner ihrer Lieben merken, wie schwer ihr im Grunde das Opfer, das sie dem Bruder und den schwierigen Zeiten brachte, wurde.

»Sage mal, Lulu,« begann sie plötzlich ganz ohne Zusammenhang, »ist dir schon mal jemand unsympathisch gewesen?«

Ludwig richtete seine lange Gestalt aus der gebeugten Stellung auf und dachte nach. »Ne!« machte er dann. »Mir sind alle Menschen ganz riesig sympathisch.«

»Mir auch,« pflichtete seine Zwillingsschwester bei. »Höchstens Sonja und Iwan Pietrowicz, unsere einstigen russischen Pensionäre. Wie die zuerst zu uns kamen, konnte ich sie nicht recht leiden. Aber nachher habe ich sie doch so lieb gewonnen.«

»Na also!« Der Student nahm seine unterbrochene Arbeit wieder auf.

Aber Lilli war nun mal im Fluß. »Was würdest du tun, Lulu, wenn du – na, es könnte doch sein – wenn du zum Beispiel einem Menschen unsympathisch wärst?« Da war es heraus.

»Ich?« Ludwig lachte laut auf. »Ein so netter Junge wie ich – das ist ja gar nicht möglich.«

»An Selbstunterschätzung leidest du nicht – aber du sollst nur mal den Fall setzen. Du bist jemandem unsympathisch –«

»Wer hat dir das gesagt, Lilli?« begehrte jetzt Ludwig ganz gegen seine sonstige Ruhe auf. »Etwa der Knirps, der Rotten, dem ich lateinische Nachhilfestunden gebe, oder gar Müller? Ja, Müller ist es sicher gewesen, der Bengel ist seit einiger Zeit patzig und frechdachsig –«

Jetzt konnte sich Lilli nicht helfen, sie mußte hell auflachen. Das war wieder ihr altes, frisches Lachen, das sie seit Tagen verlernt hatte. Die Großmama, bis zu deren Fliederplatz es silberhell hinzog, schmunzelte vor sich hin, und die Mutter blickte mit frohen Augen auf. »Na, nun scheint ja alles wieder im Lot zu sein.«

Lilli aber rief noch immer lachend: »Junge – was seid ihr Männer doch unlogisch. Du kannst dir nicht einmal einen abstrakten Fall vorstellen. Also abgesehen von deinen Schülern – was würdest du tun, wenn du einem unsympathisch wärst?«

»Ich kann mir das nur konkret vorstellen, Liliputchen. Ist es Rotter, dann hau' ich ihm eine runter. Und wenn der Müller es wagte, so was zu sagen, würde ich ihn so lange bei Strafarbeiten schwitzen lassen, bis ich ihm sympathischer geworden wäre – erledigt.«

»Durchaus nicht erledigt,« ereiferte sich Lilli. »Es könnte doch der Fall eintreten, daß du irgend einem Fremden, zu dem du nur oberflächliche Beziehungen hast, nicht sympathisch bist, was dann?«

»Dann laß ich ihn einfach laufen. Oder aber, wenn mir an seiner Schätzung was liegt, würde ich mich bemühen, seine Antipathie durch nettes Entgegenkommen zu bekämpfen. Aber sage mal, Liliputchen,« Ludwig zog die Stirn kraus, »die Sache scheint mir doch durchaus nicht so abstrakt zu sein, wie du vorgibst. Solltest du etwa gar eine derartige Erfahrung gemacht haben? Aber das ist ja gar nicht möglich!« Ludwig blickte zärtlich auf seine reizende Schwester, die doch einen jeden sofort für sich einnehmen mußte. »Liliputchen, sind sie nicht nett zu dir in der Sparkasse?« fragte er plötzlich, nach ihrer Hand greifend.

»Doch – doch – aber natürlich, sie sind wirklich ganz nett zu mir,« beruhigte ihn Lilli, bis über die kleinen Ohren rot werdend. Während der Student noch immer mißtrauisch vor sich hin brummte: »Will's ihnen auch geraten haben,« packte Lilli schnell den Spargel in die bereitstehenden Spankörbe und eilte davon, um dem unbequemen Examen ein Ende zu machen.

Stolz zeigte sie den Damen unter den Fliederbüschen ihre ergiebige Ausbeute.

»Wollt ihr den ganzen Spargel heute abend verzehren?« erkundigte sich die Großmama.

»Jawohl, mit brauner Butter; ein halbes Pfund davon habe ich schon in die Pfanne getan, und die Hühner legen uns schnell noch ein paar Eier dazu,« lachte die Enkelin. »In heutigen Zeiten muß man ja fürlieb nehmen.«

»Na – na – so üppig habe ich es zu Hause nicht.« Die Großmama nahm die Sache ernst.

»Wir ja auch nicht, Großmutterchen; es war übrigens nur ein Scherz. Der Spargel wird nach Berlin verkauft. Muttchen, wir holen jetzt unser Tischlein deck dich, da nehmen wir den Spargel gleich mit zur Milchfrau,« leichtfüßig eilte Lilli ins Haus.

»Was holt sie – lebt unser Liliputchen schon wieder mal im Märchenland?« erkundigte sich Großmama.

Frau Mieze lächelte. »Lilli hat die glückliche Gabe, auch an dem wenigst Guten noch irgend etwas Angenehmes herauszufinden. Wir haben uns entschließen müssen, das Essen jetzt abends aus der Massenspeisung zu holen. Unsere Vorräte sind allzusehr zusammengeschrumpft; sie stehen in umgekehrtem Verhältnis zu dem gesunden Jugendappetit meiner drei.«

»Aus der Massenspeisung?« entsetzte sich die Großmama. »Meine Reinmachefrau sagt, den Fraß könne sie nicht essen, und als ich Weihnachten nach Halberstadt gefahren bin, mochte ich es nicht mal meinem Mädchen zumuten, inzwischen in die Massenspeisung zu gehen.«

»Es ist nicht so schlimm, wie die Leute es machen. Vieles ist mitunter ganz kräftig gekocht, jedenfalls nicht schlechter, als es ein fettarmer Haushalt sich jetzt leisten kann. Man bekommt Erbsen, Graupen, Nudeln und Bohnen, alles Dinge, über die ich nicht mehr verfüge. Wir präparieren es uns noch ein wenig und – dann muß es eben schmecken. Unser Ludwig hat natürlich auch zuerst die Nase gerümpft – aber Hunger ist der beste Koch. Und Willis Humor würzt uns auch die fadeste Speise.«

»Es sind traurige Zeiten!« murmelte die alte Dame vor sich hin, die ihr Lebtag gewöhnt war, einen guten Tisch zu führen und sich mit den auch ihr auferlegten Einschränkungen nur schwer abfinden konnte.

»Freilich, das Drüber und Drunter im Lande, und daß unser stolzes Deutschland so am Boden liegen muß, das ist das furchtbarste. Aber sonst – schwere Zeiten lassen sich ertragen, und wir haben wirklich noch keinen Grund zum Klagen. Wir sind gesund, haben unser Dach über dem Haupt, unseren lieben Garten, in dem die Sonne uns ohne jede Bezugskarte Licht und Wärme spendet. Und wenn unser Vater mir erst wieder ganz genesen ist, dann haben wir sogar noch sehr viel Grund, uns glücklich zu schätzen.«

»Ja – wenn ...« Ein tiefer Seufzer hob Großmamas Brust. Sie machte sich Tag und Nacht Gedanken um ihren leidenden Sohn. »Die fröhliche Zufriedenheit hat unser Liliputchen sicher von dir, Mieze,« setzte sie nach einem Weilchen nachdenklich hinzu.

»Ich wollte, sie hätte auch etwas mehr von meiner praktisch-realen Ader geerbt. Aber da ist sie leider ganz ihres Vaters Tochter; immer im Reich der Ideale weilend – – –«

»Nun – nun – Mieze,« unterbrach sie die Großmama, die auf ihr Herzblatt auch nicht den allerleisesten Tadel kommen lassen wollte. »Die Lilli greift doch im Haushalt zu, daß es nur eine Art hat. Oder denkst du, es würden alle jungen Mädchen heute am Sonntagnachmittag mit Emailleeimern und Spargelkörben auf die Straße gehen?« Sie wies auf die drei Enkel, welche gerade die von der Veranda in den Garten führenden Steinstufen herabgesprungen kamen. In der Rechten den Spankorb mit dem frischgestochenen Spargel, in der Linken den kleinen blauen Eimer für das Essen im Takt schwenkend, so marschierten sie übermütig im Gänsemarsch an den beiden Damen vorüber. Der Teckel krummbeinig hinterdrein.

So ganz gleichgültig, wie die Großmama annahm, war es Lilli nun doch nicht, sich am Sonntagnachmittag, wo die Berliner geputzt durch die Seestraße nach der »Fischerhütte« und dem »Schloß am Schlachtensee« zogen, in dieser Aufmachung zu zeigen.

»Weißt du, Lulu, wir könnten hintenherum durch die Gärten gehen, es ist kaum weiter,« schlug sie harmlos vor.

»Na, da sieht man wieder mal, was du für ein schlechter Mathematiker bist, Liliputchen. Dies ist die Diagonale, die wir in der Seestraße abschneiden, und du willst eine Ellipse darum schlagen.« Der Bruder zeichnete mit dem Stiefelabsatz den Weg in den Erdboden.

»Und in der Seestraße ist es überhaupt heute viel feiner, wo alle vom Bahnhof lang müssen,« ließ sich auch Nesthäkchen vernehmen. Schnauzel hatte bereits seine Ansicht in die Praxis umgesetzt. Er raste als hellbrauner Punkt schon mitten unter allen Sonntagsausflüglern hindurch.

Lilli ergab sich. Schließlich, wenn der Herr stud. ing. sich nicht scheute, mit dem Esseneimer durch die Hauptstraße der Kolonie zu wandern, durfte sie als Mädchen es doch ganz gewiß nicht peinlicher empfinden. Sic schämte sich sogar heimlich vor dem Bruder, daß er ihren Beweggrund durchschauen könnte. Hatten die Zwillinge es sich doch, seit der Vater fern war, gelobt, vor keiner Arbeit zurückzuscheuen und jedes Opfer freudig auf sich zu nehmen.

Die anmutigen jungen Menschen zogen die Blicke der Vorübergehenden auf sich. Der schlanke, geschmeidige Jüngling mit den leuchtenden Augen gefiel allen, und das zierliche blonde Ding an seiner Seite, mit den braunen Schelmenaugen nicht minder. Und das Kleine mit seinem runden Gesichtchen und den erstaunten Blauaugen schien aus einem Bilderbuch herausgeschnitten.

Lilli empfand die auf ihnen haftenden Blicke als echte Evastochter. Aber nicht etwa angenehm, sondern in höchstem Grade beschämend. Sicher galten sie dem Emailleeimer.

Nun hatte man den rettenden Port, den großen Eckladen, in dem die städtische Speisung stattfand, glücklich erreicht. Lilli wollte gerade gesenkten Auges hineinschlüpfen, als es an ihr Ohr klang: »Tag, Fräulein Steffen, Sie sind doch hier draußen daheim, nicht? Können Sie uns nicht einen freundschaftlichen Wink geben, wo man hier was Anständiges zu futtern bekommt?« Es waren drei junge Kolleginnen aus dem Büro, die einen Sonntagsausflug gemacht hatten. Gott sei Dank, Fräulein Liedtke, nach der Lilli im ersten Schreck ausspähte, war nicht dabei.

Lilli überwand tapfer das Peinliche der Begegnung, wobei ihr Humor sie unterstützte. »Hier,« sagte sie lachend, mit ihrem Emailleeimer auf die städtische Volksspeisung weisend.

»Ne, danke« – die jungen Damen lachten – »das Vergnügen können wir in Berlin bequemer haben. Gibt's hier nicht irgendwo Fleisch ohne Marken!« erkundigte sich die eine flüsternd. »Außerhalb Berlins soll doch noch was zu kriegen sein?«

»Jawohl, Hottehüh,« mischte sich jetzt Ludwig, den die Schwester vorgestellt hatte, hinein.

Die jungen Damen lachten und zogen weiter.

Zu Hause war inzwischen noch mehr Besuch eingetroffen: Tante Gretchen und Onkel Martin, von den Kindern freudigst begrüßt.

»Na, Fräulein Bankdirektor, wie steht heute die Valuta?« Onkel Martin neckte seine erwachsene Nichte noch ebenso, wie vor dem Kriege das kleine Liliputchen.

»Leider noch nicht so, daß der Goldregen hier im Garten wirklich Gold regnet.« Lilli blieb ihm die Antwort nicht schuldig.

Sie hatte jetzt eine Bundesgenossin an Tante Gretchen, ihrer einstigen Turnlehrerin. Bald erhob sich ein lustiges Wortgeplänkel, während man den blütenreichen Maiabend beim Auf- und Niederschreiten im Garten genoß.

Lilli war inzwischen entschlüpft, um für das Abendbrot zu sorgen.

Großmama hatte wirklich recht, Lilli hatte von ihrer Mutter ein gut Teil praktischer Tüchtigkeit fürs Leben mitbekommen. Der Abendbrottisch in der Veranda war so zierlich gedeckt, die aus der Massenspeisung geholten Graupen mit Pflaumen waren so einladend angerichtet, daß es allen trefflich schmeckte. Für die Großmama aber hatte Lilli den schönsten Spargel zurückbehalten. Und wenn auch die Butter dazu fehlte, die Eiersoße, die Lilli schnell noch machte, aus einem richtigen Ei – nicht etwa Eiersatz – hatte der Großmama, wie sie meinte, noch niemals so gut gemundet. Die alte Dame ruhte nicht eher, als bis jeder am Tisch eine Spargelstange von ihrem Extraschüsselchen als Kostprobe annahm.

Margot drängte zum schnellen Abräumen des Tisches. Die Schummerstunde senkte sich herab, und das Märchen von der verwandelten Gartenprinzessin mußte doch noch erzählt werden.

»Aber erst muß ich noch unsere Heinzelmännchen füttern,« sagte lachend die ältere Schwester.

»Die Heinzelmännchen – Liliputchen? Du scheinst mir doch nicht ganz genau im Märchenreich Bescheid zu wissen,« wendete Onkel Martin neckend ein. »Umgekehrt muß es sein. Die Heinzelmännchen müssen euch füttern. Oder ist seit dem Krieg ein anderer Märchenbrauch üblich?«

»Nein – nein, die Märchen sind noch dieselben geblieben. Heute füttere ich meine Heinzelmännchen und morgen füttern sie uns dafür zum Dank. Wollt ihr's mal mitansehen?«

Da waren sie aber wirklich alle neugierig. Die ganze Gesellschaft zog in die Küche, wo die Fütterung der Heinzelmännchen stattfinden sollte.

Mit verschmitztem Gesicht zog Lilli die Kochkiste hervor – die sogenannte »Heinzelmännchen«-Kiste. »Da drin stecken unsere Heinzelmännchen! So, nun laßt es euch schmecken.« Übermütig setzte sie das bereits angekochte Kohlgericht zum nächsten Tage in die mit Heu, Holzwolle und Kissen ausgepolsterte Kiste. »Morgen früh sind sie fertig mit ihrer Arbeit, und wir können dann Suppe und Kartoffeln hineinsetzen. Aber was das Beste ist,« Lilli machte eine höchst geheimnisvolle Miene, »in der Geisterstunde zwischen zwölf und eins tun meine Heinzelmännchen bestimmt ein großes Stück Butter oder Speck an das Gemüse; darum schmeckt alles, was sie gekocht haben, so gut.«

»Und wir sparen die Kohlen,« warf die praktische Mutter ein. – Ludwig wollte nun aber auch sein Teil an der Bewunderung haben, denn er hatte die Heinzelmännchenkiste eigenhändig aus einem ehemaligen ganz einfachen Holzkasten selbst fabriziert.

Großmama kargte denn auch nicht mit ihrem Lob, während Onkel Martin Lilli drohte: »Na warte, wenn du deinen Onkel so anzuführen gedenkst.« Später aber, während Lilli oben auf dem Märchensofa dem Schwesterchen nun endlich die versprochene Geschichte erzählte, sagte unten in der dämmerigen Veranda Onkel Martin zu seiner Schwägerin: »Mieze, unser Liliputchen ist als Bankbeamtin nicht auf ihrem richtigen Platze. Es ist jammerschade um ihre dichterische Begabung und die reiche Phantasie, die da brach gelegt wird. Denk' an das, was ich dir sage. Früher oder später wirst du's einsehen.«

»Wenn ihr Talent wirklich so groß ist, wird es sich auch Bahn zu brechen wissen. Und ist dies nicht der Fall, so mag sie auf anderem Gebiet ihre Pflicht tun. Besser sie leistet als Bankbeamtin etwas Ganzes, als wenn sie als Schriftstellerin nur Halbes leistet,« meinte die Mutter ernst.

»Mieze hat recht,« pflichtete Tante Gretchen ihr bei. »Ich habe Lilli gewiß lieb, aber eine reale Grundlage, ein praktischer Halt ist ihr auf alle Fälle notwendig. Sie wird trotzdem noch den Weg ins Dichterland finden.«

Jetzt aber galt es, erst mal den Weg zum Bahnhof einzuschlagen, um den letzten Zug nicht zu versäumen.

Die ganze Steffensche Familie mit Schnauzel an der Spitze gab dem lieben Besuch das Geleit.

»Gut, daß Fräulein Liedtke heute nicht bei den Damen aus dem Büro dabei war,« sagte Lilli auf dem Heimweg nachdenklich zu dem Bruder. »Sie ist mir nicht so sympathisch wie die anderen.«

»Und du ihr?« fragte Ludwig pfiffig. Als er aber trotz der Dunkelheit bemerkte, daß sich das liebliche Mädchengesicht mit dunkler Röte überzog, schnalzte er mit der Zunge. »Aha – so sieht das aus, Liliputchen? Da rate ich dir, gehe ihr einfach aus dem Wege.«

Ganz so einfach, wie Bruder Ludwig es sich dachte, war das Aus-dem-Wege-Gehen denn doch nicht. Schon gleich am nächsten Tage sollte sich das erweisen.


 << zurück weiter >>