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Sechzehntes Kapitel

Unter falscher Flagge

Doktor Schmidt kam nicht wieder. Er mußte nach der Grippe, die ihn besonders stark gepackt hatte, einen längeren Erholungsurlaub antreten. Später übernahm er eine andere Redaktionsabteilung.

Lilli war in begreiflicher Aufregung, wer zum neuen Jahre ihr fester Vorgesetzter werden würde. Bisher hatten die Herren immer abwechselnd sich der verwaisten Redaktion angenommen. Ihr selbst war die größere Verantwortung durchaus von Nutzen gewesen. Sie war dadurch selbständig und umsichtig geworden. Und hatte sie auch mal etwas falsch gemacht, Lehrgeld muß schließlich ein jeder bezahlen.

Die Weihnachtsfesttage, die man diesmal im Steffenschen wie im Gerhardschen Hause ganz besonders gemütlich, nach langer Zeit wieder vereint, begangen hatte, waren vorüber. Im ernsten Arbeitsgewand forderte das neue Jahr sein Recht.

Lilli saß an ihrem Schreibtisch. Sie las Manuskripte, ordnete Briefe und stellte die nächste Nummer der Kinderzeitung zusammen. Obenauf lag ein Schreibmaschinenmanuskript »Lumpenprinzessin« von Steffen Liman. Die braunen Augen hafteten an dem Namen des Verfassers. Wieviel Kopfzerbrechen hatte dieser Lilli bereitet! Noch vor Weihnachten war er geboren worden, denn mit der anonymen Einsendung, das ließ sich nicht durchführen. Aber sie konnte sich ja ein Pseudonym, einen Schriftstellernamen, zulegen, wie so viele, die in die Redaktion kamen. Hinter diesem stand sie sicher und unerkannt wie auf einem Maskenball. Kein Mensch ahnte, wer sich dahinter verbarg.

»Knecht Ruprecht und das Telephon« hatte Beifall gefunden. Margot, der Lilli regelmäßig die Kinderzeitung mit heimbringen mußte, war ganz begeistert von den lustigen Versen. Der Vater äußerte sich gleichfalls anerkennend.

»Von wem ist es? Steffen Liman? Kenn' ich nicht. Jedenfalls trifft er den Kinderton besonders gut.« Und plötzlich hatte Vater die mit hauswirtschaftlicher Arbeit beschäftigte Lilli etwas schärfer ins Auge gefaßt. Sie war blutübergossen – aha, er kannte doch sein Liliputchen! Er kannte doch ihre Art zu reimen! Aber er tat ihr den Gefallen, die Maske, hinter der sie sich verbarg, nicht zu lüften.

Eine Vertraute hatte Lilli. Das war Sonja. Die Freundin ihrer Kindertage war ihr, ungeachtet der langen Trennungsjahre, gleich wieder so nahe wie eine Schwester. Trotzdem Sonja des Wohnungsamtes wegen das überflüssige Zimmer bei Steffens innehaben mußte, wohnte sie in Wahrheit bei Lilli oben im Mansardenstübchen. Dort war es auch, wo die Freundin darauf gedrungen hatte, daß Lilli in das verschlossene Schubfach griff und von ihrem Manuskriptgeheimnis dieses und jenes zur Veröffentlichung hervorsuchte.

»Jetzt ist es Zeit, zu werrden fürr dirr berrühmterr Dichterr,« hatte Sonja mit felsenfester Überzeugung geäußert.

Ach, Lilli glaubte es ja so gerne! Der Löwe hatte Blut geleckt. Wenn das Weihnachtsgedicht gefallen und ihr ein ganz nettes Honorar eingetragen hatte, warum sollte es nicht mit anderen Arbeiten ebenso glatt gehen? Ohne sich zu loben, sie hatten manchmal in der Kinderbeilage etwas veröffentlicht, was weniger gut war als ihre Arbeiten. Sonja brauchte eigentlich gar nicht so sehr zuzureden. Nur bei der Bildung des Pseudonyms mußte sie sich beteiligen. Steffen Ernst wollte Lilli sich zuerst nennen. Der Name Steffen mußte hinein, ohne den tat sie's nicht. Vaters Vorname brachte ihr sicher Glück. Aber am Ende hielt man sie dann für einen Sohn von Otto Ernst, dem Vater von Appelschnut. Nein, das konnte unangenehme Verwechslungen geben. Auch der Name ihres Bruders ging nicht an, ebenfalls aus literarischen Gründen. Schließlich war sie in Gemeinschaft mit Sonja, die allerdings immer für russische Endungen war und allen Namen ein wicz oder ka anhängen wollte, auf den Namen Steffen Liman verfallen. Darin war sowohl von ihrem Vornamen wie von ihrem Vatersnamen etwas enthalten.

So segelte die »Lumpenprinzessin« unter der falscher Flagge Steffen Liman zu Neujahr mit in die Redaktion.

Lilli mußte lächeln, als ihr Blick das Manuskript streifte. Sie dachte jenes Tages in der Sparkasse, da ihr die »Lumpenprinzessin« arge Unannehmlichkeiten eingetragen hatte. Wieviel glücklicher und befriedigter war sie jetzt hier! Emsig neigte sich der blonde Kopf wieder über die Arbeit, die ihr so viel Freude machte.

Sie unterbrach ihre Tätigkeit erst, als die Tür ohne vorherige Anmeldung des kleinen dienstbaren Geistes geöffnet wurde. Ein Herr, etwa um die dreißig, sehr groß, sehr blond, mit angenehmen Gesichtszügen, trat ein.

»Der Riese Goliath,« dachte Lilli und erhob sich. »Ich werde ungefähr wie David neben ihm wirken.« Trotz dieser Vorstellungen, die blitzschnell durch den lustigen Mädchenkopf zuckten, fragte Lilli höflich nach den Wünschen des Eintretenden.

»Ich bin der neue Feuilletonredakteur der Morgenpost. Ich hoffe, daß wir gut miteinander arbeiten werden. Doktor Rabe« – er machte der jungen Dame eine kurze Verbeugung.

»Nein, das ist ja nicht möglich – – –« entfuhr es der impulsiven Lilli, die noch immer nicht gelernt hatte, sich unter allen Umständen zu beherrschen.

»Was ist nicht möglich? Daß ich die Redaktion übernehme? Warum zweifeln Sie daran?« fragte der Herr belustigt über die sichtbare Verlegenheit der Sekretärin.

»Nein – ich – ich hielt bisher einen andern Herrn für Herrn Doktor Rabe.« Auch Lilli mußte plötzlich lachen, als sie an das kleine Männchen mit dem schwarzen Haarschopf und den buschigen Augenbrauen dachte und dann auf den blonden Riesen vor sich schaute. Und in diesem Lachen, das so hell und silbern durch den Raum zog, schwand das Unbehagen, das Lilli bei Nennung des Namens Rabe überkommen.

Warm berührte das junge Lachen den neuen Vorgesetzten. Trotzdem zog er die blonden Augenbrauen hoch und setzte eine ernste Amtsmiene auf. Hoffentlich kein albernes Ding, das er da zur Zusammenarbeit zuerteilt bekommen hatte.

»Wie heißen Sie, bitte?«

Lilli mußte ihren Namen zweimal nennen, so undeutlich sprach sie ihn das erste Mal aus. Wenn Doktor Rabe sich desselben erinnerte!

»Schön – also Fräulein Steffen.« Der Vorgesetzte machte ein völlig gleichgültiges Gesicht. »Bitte unterrichten Sie mich ein wenig über die Eingänge und was für die nächsten Tage bereits vorgesehen ist.«

Fleißige Arbeit begann. Lilli brannten die Wangen vor Eifer. Sie dachte nicht mehr daran, ob es Doktor Rabe oder Doktor Schmidt war, mit dem sie Manuskript auf Manuskript durchging. Das Interesse für den Gegenstand ließ sie alles andere vergessen.

»Welcher der Herren hat die Kinderzeitung während der Krankheit des Kollegen redigiert?«

»Eigentlich keiner. Die Herren haben mir die Zusammenstellung ganz überlassen, nur vor Abdruck davon Kenntnis genommen.«

»Das muß natürlich wieder anders werden. Sie mögen eine recht brauchbare Sekretärin sein, aber wie weit Ihre Urteilsfähigkeit geht, muß ich erst erproben. Die Kinderzeitung liegt mir ganz besonders am Herzen. Für die Jugend ist das Beste gerade gut genug.«

»Herr Doktor Schmidt hat mir sogar Bücher zur selbständigen Kritik überlassen.« Lilli war tief gekränkt. Daß man an ihrer Urteilsfähigkeit zweifeln konnte, war geradezu empörend. Sie hatte es ja gewußt, dieser Rabe war für sie nun mal ein Unglücksrabe.

Der blonde Goliath ließ seiner kleinen Sekretärin keine Zeit, ihrer Empörung weiter nachzuhängen. »Ich möchte Ihnen gleich etwas diktieren – soll morgen früh noch hinein.«

Doktor Rabe diktierte schnell und fließend. Ganz anders als Doktor Schmidt. Der war im Zimmer auf- und abgelaufen, hatte sich umständlich geräuspert, sich den letzten Satz oft dreimal hintereinander wiederholen lassen, um ihn dann schließlich in eine ganz andere Fassung zu bringen. Zuerst hatte Lilli dabei manchmal das Gleichgewicht verloren. Aber allmählich hatte sie sich an Doktor Schmidts Stenogramm gewöhnt. Mit feinem Taktgefühl hatte sie es nachempfunden, daß es ihn störte, wenn sie ihn erwartungsvoll anblickte. Ihre Augen blieben fest auf das Papier geheftet.

Ihrem neuen Vorgesetzten schien es ganz gleich zu sein, ob die Stenotypistin ihn ansah oder nicht. Für den schien sie nichts weiter zu sein als eine Maschine, in die er hineinredete. Eine feuilletonistische Plauderei war es über das Streiken so vieler Zentralheizungen aus Kohlenmangel. Witzig und geistvoll war der Stil, greifbar klar die Bilder, die er brachte.

Lillis Finger flogen über die Tasten. Sie setzte ihren Ehrgeiz darein, nicht zurückzubleiben, den schnellen Gedankengang nicht zu hemmen. Einmal entschlüpfte ihr der Ausruf: »Au ja – fein!« Nicht einmal da hatte Doktor Rabe von der ihr nicht zustehenden Kritik Notiz genommen. »Als ob irgend ein Hund gebellt hat,« dachte Lilli ziemlich geknickt.

»Brav gehalten,« sagte er schließlich am Ende anerkennend.

Merkwürdig, Lilli war über dieses Lob keineswegs erfreut. Pah, was jede Stenotypistin, die Übung hatte, konnte, das lohnte auch noch gerade hervorzuheben! Geistig wollte sie von diesem überlegenen Herrn anerkannt werden, jawohl – aber gerade geistig schien er sie ja völlig auszuschalten.

Die blonde Sekretärin saß an ihrem Schreibtisch und tat nichts. Oder vielmehr sie döste, wenn man das als eine Tätigkeit bezeichnen will. Zum erstenmal seit Jahren kam Lilli sich wieder klein und unbedeutend vor wie früher, da sie noch das »Liliputchen« genannt wurde. Nicht nur körperlich. Trotzdem es auch nicht gerade angenehm war, sich den Hals auszurecken und zu jemandem aufsehen zu müssen. Das geistige Aufsehen war das ungleich Bedrückendere. Nun war es mit ihrer freudigen, sie beglückenden Arbeit hier vorbei, seitdem der Unglücksrabe in ihr Reich geflogen war.

Gedankenvoll blickte Lilli auf die vor ihr liegende »Lumpenprinzessin«. Die wanderte natürlich wieder mit nach Haus. Sich zum zweitenmal einer Ablehnung dieses sich überhebenden Herrn Doktors auszusetzen, das fehlte gerade!

Aber er konnte ja gar nicht wissen, daß sie Steffen Liman war. Und es reizte sie eigentlich sehr, zu erfahren, wie er ihr Märchen beurteilen würde. Sicher brachte er der Jugendabteilung mehr Interesse entgegen als sein Vorgänger, der diese nur so nebenbei behandelt hatte. Denn was er da über Jugendliteratur gesagt hatte, war doch eigentlich riesig nett gewesen und ihr ganz aus dem Herzen gesprochen. Nein, nun gerade die »Lumpenprinzessin« blieb hier. Geistig imponieren wollte sie dem blonden Riesen, wenn auch nur heimlich, wenn sie selbst es auch nur wußte. Zum erstenmal, seitdem Lilli in der Redaktion arbeitete, war sie zerstreut und vermochte ihre Gedanken nicht zu sammeln.

Die erste Nummer der Kinderzeitung, die »Onkel Hans« – so unterzeichnete Doktor Rabe – herausgab, brachte den Anfang der »Lumpenprinzessin«. Diese hatte Gnade vor dem strengen Richter gefunden. Lilli frohlockte heimlich. Mochte er sie doch übersehen. Mochte er sie doch für ein Durchschnittsgänschen halten, das nichts anderes konnte als nachschreiben und tippen. Sie lachte ihn innerlich aus. Dieses Gefühl gab ihr dem Herrn Vorgesetzten gegenüber ein gewisses Rückgrat. Ja, in ihrem Ton kam bei aller Bescheidenheit manchmal eine schalkhafte Überlegenheit zum Ausdruck.

Der lange Doktor Rabe bekam allmählich Respekt vor seiner kleinen Sekretärin. Sie konnte was. Sie war zuverlässig und unermüdlich, intelligent und mit gesundem Urteil begabt. Daß sie außerdem allerliebst war, äußerlich, wie in ihrer frisch-fröhlichen Art, störte durchaus nicht. Im Gegenteil, eine recht angenehme Zugabe!

Längst war Lilli Steffen für den Herrn Redakteur keine bloße Maschine mehr. Er hatte sich gewöhnt, fast alles Eingegangene mir ihr zu besprechen. Er gab etwas auf ihr Urteil. Allerdings, als sie es mal wagte, selbständig einen Satz seines Stenogramms umzuändern, da ihr dieser nicht gefiel, fuhr er mit einem kräftigen Donnerwetter dazwischen.

Ganz entsetzt blickten die Braunaugen den zorngeröteten Riesen an. Ja um alles in der Welt, was hatte sie denn so Arges verbrochen? Sie hatte es doch gut gemeint! Sie wollte doch, daß sein Artikel so schön wie nur irgend möglich werden sollte! Und da sprach er von Überhebung, Anmaßung und Ungehörigkeit – die lustigen braunen Augen füllten sich mit Tränen.

Das war dem blonden Riesen nun wieder recht unangenehm. Eine Gemeinheit, solchem kleinen, lieben Ding Tränen zu entlocken! Er war nun mal ein Hitzkopf, na ja, aber sobald es ausgebullert hatte, tat es ihm leid. Unbehaglich blickte er auf die bereits wieder in ihre Arbeit vertiefte Lilli. Dann verließ er ärgerlich das Zimmer. Die Tür flog krachend ins Schloß.

Lilli ahnte natürlich nicht, daß der Ärger des Herrn Doktors mehr sich selbst als ihr galt. Sie war ganz unglücklich, ihn so erzürnt zu haben. Zu Hause kannte man das lustige Mädel nicht wieder.

»Lilli, du gehst umher wie eine wandelnde Tränenweide – hat dir irgend jemand etwas angetan?« Ihr Zwillingsbruder fragte vergebens.

Ebenso die Eltern. Das heißt, die fragten eigentlich nicht. Frau Mieze mit ihren gesunden Anschauungen ließ überhaupt keine Stimmungen bei ihren Kindern aufkommen. Die übersah sie einfach. Der Oberlehrer machte sich allerdings Gedanken, als er sein fröhliches Liliputchen so in sich gekehrt sah. Was war mit dem Mädel? Fühlte sie sich in ihrem neuen Wirkungskreis, von dem sie zuerst so begeistert gewesen, nicht mehr wohl? Der neue Redakteur schien ihr im Anfang nicht besonders sympathisch zu sein. Aber das hatte sich doch wohl mit der Zeit gebessert.

Nicht einmal Sonja erfuhr den Grund von Lillis Verstimmung. »Dichterrschmerrzen« nannte die junge Russin sie lachend. »Setze dirr und schrreibe einen Elegie, Lilli, mein Täubchen.«

Der einzige, dem eine Ahnung davon kam, wo man die eigentliche Ursache zu Lillis ungewöhnlichem Weltschmerz suchen mußte, war Schnauzel. Den hatte Lilli, als er ihr gegen Abend entgegenlief, an seinen beiden langen Dackelohren genommen und ihm schwermütig zugeflüstert: »Bin ich anmaßend und überhebend, Schnauzel?« Und der Dackel hatte sie genau so schwermütig angesehen, wie sie ihn, statt mit dem Kopf hatte er lebhaft mit dem Schwanz geschüttelt. Nein, er kannte die jetzt zwanzigjährige Lilli nun doch schon seit ihren ersten Kinderjahren – diese Eigenschaften hatte er bei ihr noch nicht wahrgenommen.

Drei Tage lang war das Fräulein Sekretärin mit dem Herrn Redakteur »verknurrt«. Diesen Ausdruck aus den Schultagen gebrauchte Lilli noch heute für »böse sein«. Sie sprachen nur geschäftlich miteinander. Die Sekretärin war wieder ganz Maschine, der Redakteur ganz Vorgesetzter.

Am vierten Tage lag auf Lillis Schreibtisch eine Eintrittskarte ins Große Schauspielhaus. Sie erschrak freudig. War diese ihr zugedacht oder nur zufällig liegen geblieben? Doktor Rabe war Theaterkritiker. Zu allen Erstaufführungen wurden der Redaktion zwei Karten eingesandt. Bisher hatte er noch niemals daran gedacht, ihr eine davon zu verehren.

Lilli tat, als ob sie die Karte nicht gesehen hätte. Sie nahm wie stets ihr Stenogramm auf, ließ sich über Beantwortung der Briefe Anweisung geben und war so zurückhaltend und sachlich wie in den vergangenen Tagen. Der Goliath mußte sich schon dazu bequemen, den ersten Schritt von seiner Höhe herab zu seiner kleinen Sekretärin zu tun.

»Fräulein Steffen, haben Sie heute abend Zeit? Es ist Hauptmann-Premiere im Großen Schauspielhaus, ›Der weiße Heiland‹. Wollen Sie mitkommen? Es wäre mir ganz wertvoll, mit Ihnen darüber zu sprechen.«

Lillis zartes Gesicht färbte sich purpurn vor Freude bis zu dem goldenen Flimmerhaar. Nicht nur das seltene Theatervergnügen, und noch dazu eine Hauptmann-Premiere, war die Ursache. Nein, vielmehr freute sie sich, daß Doktor Rabe den Wunsch hatte, mit ihr darüber zu reden. Und im Grunde, ganz aus dem geheimsten Grunde ihrer Seele war es auch dies nicht einmal, was sie so sehr beglückte, sondern das sichtbare Bemühen des gestrengen Vorgesetzten, sein zorniges Auflodern wieder gutzumachen.

Daß die lebhafte Lilli in ihrer Freude, von der er nichts ahnte, so stumm blieb, machte Doktor Rabe stutzig. »Haben Sie keine Lust, Fräulein Steffen?« fragte er betreten.

Ein Blick in die glückstrahlenden, sprechenden Braunaugen mußte ihn wohl eines anderen belehren. Denn er hielt der jungen Sekretärin plötzlich die Hand hin: »Also schön, wir schließen wieder Frieden, was?«

Und dann begann aufs neue fleißiges Arbeiten.

Doktor Rabe sorgte dafür, daß Lilli heute pünktlich Schluß machte. »Um sieben Uhr fängt es an, zwei Stunden brauchen Sie für die Hin- und Herfahrt. Und ausruhen müssen Sie sich auch eine Stunde. Sonst sind Sie heute abend nicht frisch und aufnahmefähig.«

Oh, Doktor Rabe brauchte wirklich keine Furcht zu haben, daß Lilli nicht genügend aufnahmefähig sein könnte! Sie dachte gar nicht daran, sich daheim auszuruhen. Jubelnd sprang sie durch das Haus: »Eine Premierenkarte zum weißen Heiland – ich freue mich ja so unbändig – ach, könnte ich euch doch alle mitnehmen!« Ob es ihr wirklich so ernst mit diesem Wunsch war, mag allerdings dahingestellt bleiben.

Der Vater lächelte. Was solch eine Theaterkarte doch alles zuwege brachte! Ganz umgewandelt war das Mädel heute wieder.

Die Kleiderfrage verursachte starkes Kopfzerbrechen. Was sollte sie anziehen? Sie besaß nichts, was ihr würdig genug erschienen wäre, zu einer Hauptmann-Premiere neben Doktor Rabe im Großen Schauspielhause zu sitzen.

»Zieh ein helles Sommerkleid an, Lilli, darin sieht ein junges Mädel immer nett aus,« riet die Mutter.

»Aber, Muttchen, damit kann ich nicht zu einer Hauptmann-Premiere gehen. Ein Sommerkleid jetzt mitten im Winter, das ist verfroren. Ich muß doch die Redaktion repräsentieren!«

»Ja, freilich, wenn du Repräsentationspflichten hast, Kind –« lachte die Mutter.

»Schade, daß ich es noch nicht bis zu einem Smoking gebracht habe, Lilli, ich würde ihn dir sofort leihen,« neckte auch Ludwig.

Sonja aber brachte ihr Grünseidenes. Es war entzückend, nur viel zu lang. »Ist nicht sehrr schlimm, nähen kurrz es – derr frrische Grrün wirrd kleiden dirr zu blonde Haarr ganz grroßarrtick.«

Ja, davon war Lilli auch überzeugt. Das Grünseidene war der Würde des Abends entsprechend. Aber »ne, Sonja, ich dank' dir schön, in gepumpten Kleidern gehe ich nicht – mit fremden Federn mag ich mich nicht schmücken.« Leicht wurde es Lilli nicht, so zu sprechen.

»Du bist verruckt! Sind wirr nicht wie Schwesterrs?« Die junge Russin konnte diesen geordneten Sinn nicht verstehen.

Trotzdem blieb Lilli fest. Und schließlich wurde es doch ein Sommerkleid, das Blümchenkleid mit dem weißen Spitzenfichu, in dem sie wie eine kleine Biedermeierdame aussah. Denn was Mutter vorschlug, war fast immer das richtige, wenn auch Lilli oft erst später davon überzeugt wurde. –

Das gewaltige Riesenrund des Großen Schauspielhauses, das aus dem ehemaligen Zirkus entstanden, gähnte noch vor Leere und Finsternis, als Lilli lange vor Beginn es betrat. Einmal war sie schon dort gewesen. Da hatte sie gemeinsam mit Ludwig vom höchsten Olymp herab die »Orestie« genossen. Aber der Logenplatz, den man ihr anwies, ganz dicht an der Arena, in der das Spiel stattfand, das war heute doch ganz was anderes.

Langsam füllte sich das Theater. Seidenrauschende Damen neben dem schwarzen Gesellschaftsanzug der Herren. Himmel – wie klein und unbedeutend kam sie sich in ihrem bescheidenen Blümchenkleid zwischen all den kostbaren Toiletten vor! Wenn Doktor Rabe sich seiner einfachen Begleiterin bloß nicht schämte!

Knüppeldick voll war das Theater. Jeder Platz besetzt. Nur der neben Lilli war noch frei. Zweimal hatte es bereits geläutet. Die einleitende Musik begann. Herzklopfend lauschte Lilli, ohne zu einem rechten Genuß zu kommen. Wo blieb Doktor Rabe? Wenn er nun überhaupt nicht kam und sie die Kritik für die Morgenpost schreiben mußte?

Da gerade beim dritten Klingelzeichen, als der Vorhang sich teilte und der Götzentempel sichtbar wurde, erschien der Erwartete.

»Pünktlich auf die Minute.« Er nahm neben Lilli Platz.

Die aber hatte jetzt nur noch Sinn für das Spiel.

Das Fremdartige des Stoffes, das Volk der Azteken, das in Mexiko vor der Eroberung Ferdinand Cortez' herrschte, mit seinen heidnischen Gebräuchen fesselte sie aufs höchste. Der leichtgläubige König Montezuma, der in den landenden Weißen von Gott Gesandte begrüßt, sie brüderlich aufnimmt und sein Vertrauen zum Schluß mit Verrat, Gefangenschaft und Blutbad gelohnt sieht, erweckte Lillis tiefstes Mitgefühl. Ihre rege Phantasie ließ das ganze Theater ringsum versinken, sie war in Mexiko, mittendrin in den aztekischen Sitten. Als brausendes Beifallsklatschen den ersten Akt schloß, kam Lilli aus einer andern Welt.

»Hauptmann – Gerhard Hauptmann – – –« Das Publikum rief nach dem Verfasser.

Das scharfgeschnittene Profil Gerhard Hauptmanns, das Lilli bisher nur von Bildern her kannte, wurde auf den Steinstufen des Götzentempels sichtbar. An der Hand führte er den König Montezuma.

Gräßlich – einem derartig jede Illusion zu rauben! Lilli schloß die Augen. Nein, sie wollte sich nicht aus ihrer Stimmung reißen lassen.

»Schlafen Sie, Fräulein Steffen?« Das war Doktor Rabes Stimme, die sie in die Wirklichkeit zurückholte.

»Ach, ich wünschte, das Spiel ginge ohne Unterbrechung fort!«

»Das wäre etwas anstrengend für Schauspieler und Publikum. Auch ist Kulissenwechsel vorgesehen.«

Nein, wie konnte er nur so nüchtern sprechen!

»Ich kann mich nicht so schnell wieder in unseren Kulturstaat zurückfinden.«

»Sie scheinen mir auch heute aus einer anderen Epoche zu kommen, aus der Zeit des Reifrockes und der Stöckelschuhe.«

Lilli sah nicht den bewundernden Blick, der seine Worte begleitete. Ach, gewiß schämte er sich ihres einfachen Aussehens!

Wirklich, da sagte er: »Sie sollten aber doch hier die Augen aufmachen, Fräulein Steffen! Es lohnt sich. Die Damen geben sich und ihren Putz zum besten. Ich mache an dem Premierenpublikum meine Studien. Sehen Sie dort drüben, das ist Ludwig Fulda, und hier hinter uns Lovis Corinth. Alle Künste haben ihre Abgesandten geschickt. Kommen Sie hinaus in den Gang, da ist es noch interessanter.«

Draußen zwischen den Säulengängen, unter den Riesensteinpalmen, die farbigen Lichterglanz aus Kristallblüten über die hin und her wogenden Menschen sprühten, wurde Lilli mit der Pause ausgesöhnt. Das Exotische der eigenartigen Beleuchtung paßte ihrer Stimmung. Auf diesen und jenen machte Doktor Rabe seine Sekretärin aufmerksam, lauter bekannte Größen. Aber Lilli hatte heute nicht das Interesse dafür, das sie sonst sicher gehabt hätte. Der König Montezuma interessierte sie ungleich mehr als die Berliner Künstlerwelt.

Das Spiel nahm seinen Fortgang. Es wurde geklatscht, es wurde gepfiffen. Stürmischer Beifall und dazwischen Zischen. Vorrufe, Blumenspenden und Lorbeerkränze – der richtige Premierenlärm.

Doktor Rabe fragte seine Gefährtin nach ihrem Urteil.

»Wundervoll – herrlich ist es – nur der Zwischenaktradau müßte fehlen,« meinte Lilli, empört auf die tobende Menge blickend.

»Dann dürfen Sie nicht zu einer Erstaufführung gehen, Fräulein Steffen.« Dem Redakteur machte dieses Sichhineinversenken Lillis, dieses Völligaufgehen in der Theaterwelt Spaß.

Auch nach dem Schluß, auf dem Wege zum Bahnhof, vermochte sie nicht, das Stück als Dichterwerk zu besprechen.

»Morgen, Herr Doktor – heute bin ich noch in der Hauptstadt der Azteken. Ich muß erst eine Nacht darüber schlafen, um ein objektives Urteil zu bekommen. Heute habe ich das Stück erlebt, da kann ich mich noch nicht davon loslösen.«

»Kleine Phantastin! Also eine Theaterkritik kann ich Ihnen niemals überlassen. Die muß morgen früh bereits drin stehen. Wenn ich Ihnen das Geleit bis zum Bahnhof gegeben habe, geht es in die Redaktion. Dort schreibe ich die Kritik nieder und gebe sie gleich in Druck.«

Nein, zur Theaterkritikerin würde sie sich niemals eignen. Aber ihr ausgeprägtes Pflichtbewußtsein ließ Lilli doch das Anerbieten stellen: »Brauchen Sie mich vielleicht zum Stenogramm, Herr Doktor, daß es schneller geht? Ich stelle mich gern zur Verfügung.«

»Nein, Fräulein Steffen, das tue ich Ihnen nicht an. Ja, wenn ich der König Montezuma wäre!« lachte Doktor Rabe. Dann trennten sie sich.

Von diesem Abend an bekam Lilli öfters mal die zweite Theaterkarte des Redakteurs. Viel Schönes sah sie auf diese Weise. Aber sie lernte auch allmählich sich ein Urteil bilden. Nicht erst am andern Tage, sondern gleich während des Stückes. Doktor Rabe hatte seine Freude an der Begeisterungsfähigkeit und der gesunden Urteilskraft seiner jungen Begleiterin.

Lilli selbst freute sich von einem Tage zum andern auf ihre Redaktionsarbeit. Sie ging ganz darin auf.

Mitten im Winter war's. Selbst in den Straßen Berlins lag hoher Schnee. Man konnte ihn gar nicht so schnell fortschaffen, wie neue, lichte Flockenmassen herniedersanken. Trotzdem war in den Straßen ein besonders starker Menschenverkehr auffallend. Die Bahnen streikten wieder mal, oder vielmehr ihre Angestellten. Zuerst fehlte die elektrische Straßenbahn. Dann kam die Untergrund- und Hochbahn an die Reihe. Und zuletzt schloß sich auch noch die Eisenbahn für Stadt- und Vorortverkehr dem Ausstande an. »Wilde« Fuhrwerke, Kremser, Schlächterwagen, ja sogar Möbelwagen traten in Tätigkeit, um den Verkehr der Riesenstadt ein wenig aufrecht zu erhalten. Aber der unaufhörlich fallende Schnee schien sich mit den Streikenden verbündet zu haben. Die Pferde kamen nicht von der Stelle. Sie rutschten und fielen. Nicht viel anders ging es auch den Menschen. Lauter Schneemänner, rutschend, trippelnd, purzelnd, lachend oder schimpfend.

Lag der Schnee in der Stadt schon so hoch, wie war das erst draußen vor den Toren! In den Vororten war man wie lebendig begraben. Nur hin und wieder brachte lustiges Schlittengebimmel etwas Abwechslung in die Stille.

»Kinder, ihr könnt morgen nicht in die Stadt,« sagte Doktor Steffen am Abend zu seiner Familie, in das weiße Gewirbel hinausschauend.

»Au, fein« – Margot tat einen Luftsprung – »wir schreiben französisches Extemporale!«

»Faulpelz!« sagte der Vater lachend. »Das wirst du bei mir schreiben.«

»Ist serr unangenehm fürr mirr, zu verrsäumen derr Violinlektion.« Sonja war mit Leib und Seele bei ihrer Musik. Sie machte fabelhafte Fortschritte.

Auch Ludwig war es gar nicht recht, das Kolleg wider Willen schwänzen zu müssen. Es ging scharf auf das Vorexamen los. Zu Ostern hoffte er, es glücklich zu bestehen.

»Na, und du, Lilli, du schweigst dich ja ganz aus?« Ludwig zupfte seine in das flockige Niedergleiten der Schneesterne vertiefte Schwester am Ohrläppchen. »Heute ist der letzte Zug nach Berlin gegangen. Von morgen an kann die Morgenpost nicht mehr erscheinen, da du in der Redaktion fehlst.«

»Ich werde morgen vormittag auf alle Fälle auf meinem Posten sein,« versicherte Lilli mit Bestimmtheit.

»Nanu? Willst du ein Luftschiff benutzen?« fragte Ludwig.

»Nein, aber meine beiden Beine. Ich laufe nach Berlin.«

»Ausgeschlossen, Kind, das gebe ich nicht zu. Ich bin gewiß für Pflichterfüllung, aber solchen Vorkommnissen gegenüber hört jede Verpflichtung auf,« mischte sich der Vater ein.

»Ich muß in die Redaktion. Es liegen wichtige Sachen vor. Doktor Rabe braucht mich. Die Kinderzeitung muß morgen fertiggestellt werden und verschiedenes andere noch.« Ganz heiß und eifrig wurde Lilli.

»Ja, Kind, aber mit dem Kopf durch die Wand kann man doch nicht!« tat auch die Mutter ihre Meinung kund. »Abgesehen von der Anstrengung, daß du erschöpft an die Arbeit kommst; du kannst dich auf den Tod erkälten, wenn du nachher stundenlang mit nassen Füßen an der Schreibmaschine sitzt.«

»Aber, Muttchen, ich kann mir ja ein Paar Reservestrümpfe mitnehmen. Und wie oft laufen die Berliner zu ihrem bloßen Vergnügen bis nach Schlachtensee heraus!«

»Im Sommer vielleicht, aber nicht im Winter, wenn kein Durchkommen durch den Schnee ist.«

»Selbst im Sommer fahren sie bis Station Grunewald. Von dort brauchst du fast noch mal zwei Stunden bis zur Redaktion.« Vater war gar nicht einverstanden.

»Wann soll die Gletscherwanderung morgen früh losgehen, Lilli?« erkundigte sich Ludwig.

»Spätestens um sieben Uhr. Gegen zehn, halb elf bin ich dann sicher in der Redaktion.«

»Wenn du nicht vorher im Schnee stecken geblieben bist. Also schön, ich sorge für Seil und Eispickel!«

»Kommst du denn mit, Ludwig?«

»Na, denkst du, ich werde meinen ›Illing‹ allein in den weißen Tod gehen lassen? Wie seilen uns an und ziehen gemeinsam ins Verderben.«

»Ich sei, gewährrt mirr das Bitte, in euerr Bund derr Drritte,« zitierte Sonja lachend.

»Abgemacht, morgen geht's zu dritt auf die Gletscherwanderung. Aber daß keiner verschläft; gewartet wird auf keinen Fall!«

»Und wie kommt ihr zurück, Lilli? Ludwig und Sonja kommen noch bei Tag heim, trotzdem die Anstrengung des Zurücklaufens auch für sie zu groß ist. Aber du kannst doch unmöglich in der Dunkelheit den Weg machen! Das erlaube ich unter keinen Umständen,« widersetzte sich die Mutter nachdrücklich.

»Ich erledige nur das Notwendigste in der Redaktion und bin noch bei Tage zu Hause. Vielleicht finde ich auch irgend einen Wagen, der mich mitnimmt.« Es war undenkbar für Lilli, der Redaktion auch nur einen Tag fernzubleiben.

»Jawohl, einen goldenen Schlitten, von vier Schwänen gezogen, mit einem Märchenprinz darin,« neckte Ludwig die Schwester.

»Auf letzteren lege ich keinen Wert. Aber der Schlitten wäre mir nicht unangenehm.«

Was nützten den Eltern alle Einwendungen – am anderen Morgen, Punkt sieben Uhr, marschierte die Kolonne ab. Sie bestand nur aus dem Zwillingspaar. Sonja, die Langschläferin, konnte sich nicht so zeitig von ihrem Bett trennen.

Zuerst machte die Gletscherwanderung großes Vergnügen, Die Landschaft sah wie ein Wintermärchen aus, und das Stapfen rötete die Wangen. Aber allmählich wurde der Schritt doch etwas langsamer, wenigstens der Lillis; Ludwigs lange Beine stampften unentwegt vorwärts.

»Wenn doch was käm' und mich mitnähm'!« dachte Lilli heimlich. Aber der fromme Märchenwunsch ging nicht in Erfüllung.

Tiefe Stille. Sic beide und ein vorüberkrächzender Rabe die einzigen Lebewesen. Lilli mußte lächeln. Früher hatte sie beim Anblick eines Raben stets ein gewisses Unbehagen empfunden. Jetzt nickte sie ihm wie einem guten Bekannten zu.

Als man aus dem Walde heraustrat, begann erst die eigentliche Anstrengung. Der Sturm packte sie von allen Seiten und wirbelte ihnen ganze Lawinen von Schnee in die Augen.

»Nun hört die Gemütlichkeit aber auf!« Ludwig verkroch sich in seinen Mantelkragen.

Als sie endlich an der Charlottenburger Brücke, wo ihre Wege auseinandergingen, schwer atmend anlangten, war Lilli gänzlich erschöpft. Dabei hatte sie noch einen Weg von einer guten Stunde vor sich.

»Sei vernünftig, Lilli, und gehe zu Ilse Gerhard! Du bist hier ganz in ihrer Nähe,« riet der Bruder. »Doktor Rabe kann sehen, wie er ohne dich fertig wird; er muß sich eben selber ein bißchen mehr anstrengen.«

»Ach, was verstehst du denn davon!« Ganz wütend wurde Lilli plötzlich gegen ihren Begleiter. Das kam sicher nur von der Überanstrengung.

»Wenn du eigensinnig bist, tue, was du willst. Aber zurück darfst du den Weg auf keinen Fall wieder gehen. Bleibe doch bei der Großmama! Da bist du morgen früh gleich in der Nähe der Redaktion.«

»Ich will mir's überlegen, Ludwig.« Heimlich war Lilli fest entschlossen, wenn sie sich genügend erholt hatte, wieder den Rückweg zu unternehmen.

»Ich sage zu Hause, daß du während des Streiks bei der Großmama bleibst.« Damit stapfte Ludwig auf die Technische Hochschule los. Lilli arbeitete sich weiter durch die weißen Massen. Mit einstündiger Verspätung langte sie als Schneemann in der Redaktion an.

»Hallo – Fräulein Steffen – hat sie der Wind hergeweht? Wie kommen Sie denn aus Schlachtensee zur Stadt herein?« empfing sie Doktor Rabe freudig überrascht.

»Auf Schusters Rappen. Die kleine Gletscherwanderung war mal was anderes.« Lilli scherzte, aber ihre Lippen waren blaß und zitterten.

»Kind – Sie haben sich zu sehr angestrengt, das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen! Jetzt ruhen Sie sich erst mal hier in dem Sessel aus. Trinken Sie einen Schluck Wein.« Doktor Rabe eilte geschäftig in seinen Privatraum und kam mit einem Gläschen Frühstückswein zurück.

»So – ausgetrunken!« befahl er mit einem besorgten Blick auf die Erschöpfte.

Das tat gut. War es die Fürsorge oder der feurige Wein? Lilli fühlte sich alsbald frischer.

»Wir können sogleich mit der Arbeit beginnen, Herr Doktor.«

»Die Arbeit läuft nicht davon.«

»Aber ich.« Lilli konnte schon wieder lachen.

»Nanu? Haben Sie noch nicht genug Proben Ihrer Tapferkeit heute geliefert?«

»Ich muß doch wieder heim!«

»Zu Fuß? Das kann ich unmöglich zugeben. Sie haben doch sicher Bekannte oder Verwandte in der Stadt, bei denen Sie bleiben können.«

»Ja, bei meiner Großmutter.« Lilli, die noch vor kurzem Ludwig gegenüber auf ihrem Willen bestanden hatte, den Heimweg trotz der Anstrengung zu unternehmen, streckte dem Herrn Vorgesetzten gegenüber sofort die Waffen.

»Merkwürdig,« äußerte sich im Laufe des Vormittags Doktor Rabe zu seiner Sekretärin, als sie die Kinderzeitung zusammenstellten, »dieser Steffen Liman ahnt immer, was wir gerade brauchen. Ein sehr wertvoller Mitarbeiter. Ich möchte ihn wohl mal kennen lernen.«

»Er kommt niemals in die Redaktion, sondern schickt alles brieflich ein.« Brannten die Wangen der Sekretärin noch so von der Kälte?

»Es ist unrecht von mir,« dachte Lilli, als sie später allein ihre Briefschaften erledigte, »daß ich Doktor Rabe belüge und unter falscher Flagge segle. Noch dazu, da er vorhin so rührend nett zu mir gewesen ist. Aber sagen – nein, sagen kann ich es ihm auf keinen Fall, daß ich Steffen Liman bin. Wie müßte ich mich vor ihm schämen! Und ich bekäme auch kein objektives Urteil mehr zu hören.«

Acht Tage dauerte der Bahnstreik. Die einzige, die sich darüber freute, war die Großmama. Denn die hatte dadurch ihr Liliputchen eine Woche lang ganz für sich.


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