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Elftes Kapitel

Gute Fee

Lillis Mutter war abgereist. Nicht so frohgemut und leichten Herzens, wie sie es vorher gedacht. Die kleine, plötzlich hineingeschneite Hausgenossin hatte in der kurzen Zeit ihres Aufenthaltes schon viel Aufregung und Ärgernis bereitet, daß Frau Steffen ihre Wirtschaft nicht so ruhig zurückließ, wie es sonst wohl der Fall gewesen wäre. Ja, wenn die Lilli noch daheim gewesen wäre! Aber die mußte nach den Feiertagen gleich wieder in der Sparkasse antreten. Ludwig hatte allerdings einige Tage länger Ferien, und Margots Schule begann auch erst eine Woche später. Dieser Umstand aber gerade erfüllte Frau Doktor Steffens Herz mit sorgenvollen Ueberlegungen, was die beiden Kinder nicht alles während ihrer Abwesenheit anstellen konnten. Denn ihr Nesthäkchen war, trotzdem es sonst ein braves, gutgeartetes Kind war, leicht zu beeinflussen. Ludwig hatte ihr zwar mit verheißungsvoller Hingebung versichert, daß er die beiden Krabben schon an die Leine nehmen würde. Aber der Junge konnte doch nicht von morgens bis abends Kindermädchen spielen.

Trotz der kurzen Zeit, die der Mutter bis zu ihrer Abreise geblieben, hatte sie sich bemüht, die kleine Ingeborg anderweitig unterzubringen. Sie war in verschiedenen sozialen Vereinen tätig und hoffte, mit deren Hilfe nette Leute ausfindig zu machen, die gern ein elternloses, kleines Mädchen an Kindesstatt aufzogen. Aber so etwas fand man nicht von heute auf morgen. Zunächst hatte Frau Doktor Steffen mit der alten Frau im Lumpenkeller eine eingehende Unterredung gehabt, deren Ergebnis war, daß sie Lilli recht geben mußte, wenn sie ihren Schützling nicht länger bei dieser nicht ganz zurechnungsfähigen Alten in dem entsetzlichen, schmutzigen Kellerraum gelassen hatte. Ueber die Herkunft der Kleinen wußte die alte Frau ebensowenig Näheres wie Ingeborg selber. Die Stadt bezahlte ein Pflegegeld für sie, aber »die Jöre hat mir bei weiten mehr jekost,« wiederholte sie fortwährend vor sich hin.

So leicht die ehemalige »Großmutter« sich von Ingeborg trennte, so schwierig wäre die Erledigung der behördlichen Papiere gewesen. Polizeiliche Ab- und Anmeldungen, Brotkommissionsangelegenheit, Abmeldung von der früheren Schule und vor allen Dingen die Genehmigung der städtischen Fürsorge hätte Tage, ja Wochen beansprucht. Ludwig wollte gern alles für Lilli übernehmen, damit diese nur kein Kopfzerbrechen dadurch haben sollte. Aber die Muter hatte dafür gestimmt, Ingeborg vorläufig nur als Besuch zu betrachten. Es waren ja gerade Pfingstferien, da brauchte sie die Schule nicht zu besuchen. Alles Weitere hatte Zeit, bis man wußte, wo das Kind später bleiben sollte.

So lagen die Dinge, als die Pfingstsonne Lilli schon frühzeitig aus den Federn trieb. Feiertäglich und still atmete die Frühlingswelt draußen. Lilli schaute hellen Auges in das Knospen und Blühen. Mutter war jetzt gewiß in dem Schwarzwaldsanatorium angelangt. Mit reger Phantasie und zärtlichem Herzen empfand das junge Mädchen die Wiedersehensfreude der Eltern mit. Ach, wenn's dem Vater nur besser ging! Wenn Mutter nur gute Nachricht heimbrachte!

Aber jetzt war keine Zeit zum Sinnen und Faulenzen, vorläufig war noch kein Feiertag für Lilli. Am ersten Pfingstfestfeiertag pflegten von jeher die Großmama und Onkel Martin Gäste im Schlachtenseer Lehrerhaus zu sein. Meistens wurde dann eine gemeinsame Wanderung in die herrliche Umgebung unternommen. Auch diesmal hatte man einen Ausflug nach Potsdam geplant. Proviant wurde in den Rucksack gepackt, man wollte ein sogenanntes Picknick im Walde veranstalten, zu dem jeder etwas zu liefern hatte. Da galt es, sich zu tummeln, um die Wohnung zu säubern, den Garten zu gießen, Spinat zum Abendbrot zu schneiden und zuzubereiten, die Kinder feiertäglich zu putzen, und die Vorräte zum Mitnehmen für all die hungrigen Magen herzurichten.

Das »Lumpenprinzeßchen« schlief noch auf dem Märchensofa. Lilli hielt es für das beste, die Kleine vorläufig noch nicht zu wecken. Da war sie wenigstens sicher, daß sie keine Dummheiten machte. Kurz vor Mutters Abreise hatte es noch eine Aufregung gegeben. Das Glas eingekochter Erdbeeren aus dem eigenen Garten, das die Mutter vom vorigen Jahr her für den Vater aufgespart hatte, und das sie in ihrer Handtasche verpacken wollte, damit sie es nur heil hinbekam, war plötzlich leer. Erschreckt sahen alle auf das Glas, das die Mutter wie ihren Augapfel gehütet hatte. Man brauchte nicht zu forschen, jeder wußte, wer allein der Missetäter gewesen sein konnte.

Ingeborg leugnete auch nicht. »Det hat jeschmeckt wie Taft und Bindfaden!« Sie klopfte sich den Magen.

Die Steffenschen Kinder waren entsetzt darüber, daß es jemand gewagt hatte, den Vater um die Erquickung zu bringen. Die Mutter aber meinte mit vielsagendem Blick: »Wir werden wohl im Laufe der Zeit noch mehr solche Ueberraschungen erleben, Lilli.«

Trug dies die Schuld daran, daß Lilli die kleine Schläferin, während sie ihr langes Haar bürstete, nicht so freundlich betrachtete, wie es am gestrigen Morgen der Fall gewesen war? Nein, wenn Lilli ganz ehrlich sein wollte, so waren weder die verschwundenen Klöße noch die verschmausten Erdbeeren der Grund ihrer veränderten Gefühle für das heimatlose Kind. Die gestrige Rüge des Vorgesetzten, daß sie sich vor dem ganzen Büropersonal lächerlich gemacht hatte, das war es, was Lillis freundliche Empfindungen für Ingeborg verändert hatte. Und dabei fühlte sie deutlich, daß die Kleine doch gar keine Schuld daran trug, wenn sie ihre Pflicht vernachlässigt hatte und abliegende Dinge trieb. Und das bedrückte sie noch mehr.

Drunten im Garten war Frühkonzert. Die Vögelchen flöteten und jubilierten in den blühenden Büschen, als ahnten sie, daß da irgend ein bedrückender Gedanke in dem reizenden Mädchenkopf spukte, den sie mit ihrem Sang vertreiben mußten. Wirklich – bald dachte Lilli nicht mehr an Herrn Mählichs strafende Worte, an das Spottlachen der Kolleginnen und an Fräulein Liedtkes schadenfrohes Gesicht. Es war ja so schön auf der Welt – so wunderschön! Als nach einer halben Stunde Ludwig, sonst ein Langschläfer, zu ihrem Erstaunen bereits auf der Bildfläche erschien, rief er: »Liliputchen, du blickst ja drein wie der personifizierte Feiertag! Worüber freust du dich denn so?«

»Ueber alles, Ludwig. Sieh nur, das farbenprächtige Kleid mit dem Tauperlenschmuck, das unser Garten heute trägt. Hör nur, wie die Vögel sich miteinander unterhalten. Und wie die Sonne darüber lacht; von einem Ohr zum anderen zieht sie den goldenen Mund.«

»Ein nüchternes Menschenkind, wie ich, sieht nichts weiter, als daß der Garten vom Morgentau feucht genug ist, so daß wir nicht zu gießen brauchen. Den Radau der Vögel empfinde ich ziemlich störend und die Ohren der Sonne habe ich bisher auch noch nicht entdeckt. Tu mir den Gefallen, Liliputchen, und komme aus dem Märchenland bloß wieder herunter auf unsere prosaische Erde. Sonst gibst du uns am Ende statt Spinat heute abend Gras zu essen.«

»Ich wünschte, ich hätte auch nichts mit dem Märchenland zu schaffen.« Lillis noch eben so strahlendes Gesicht wurde ernst. Sie dachte an das Manuskript »Lumpenprinzessin«, das sie gestern ganz zu unterst in ihre Schublade verbannt hatte. Daß es ihr nur nicht wieder von ungefähr in die Hand geriet. Aber nein, heute wollte sie ja nicht an dieses häßliche Erlebnis denken, sich nicht den Pfingsttag durch die Erinnerung an das graugetünchte, ernste Büro trüben lassen.

Während Lilli mit erhitztem Gesicht den Spinat schnitt, bastelte Ludwig hier und dort im Garten. Bald war es ein Edelobstzweig, der ans Spalier gebunden werden mußte, bald die Schotenranken, die es zu stützen galt. Dort hämmerte er an den Starenkästen und hier pinselte er einen Obstbaum gegen die Raupen mit weißem Kalk an. Er war zu allem geschickt.

»Lilli, unser Kleinzeug scheint nicht aus dem Bette zu finden. Es ist doch schade, daß es den herrlichen Morgen verschläft.« Ludwig fand heute selbst Gefallen am Frühaufstehen.

»Ich bin mit meiner gärtnerischen Tätigkeit bereits fertig. Die Wege können die Kinder harken. Nun werde ich uns das Frühstück bereiten und die beiden aus den Federn jagen.« Lilli wusch sich unter dem Brunnen die erdigen Hände. Schnauzel stand in ehrfurchtsvoller Entfernung. Aus ihrer gemeinsamen Kinderzeit wußte er es noch, daß es dabei stets ein paar Spritzer für ihn absetzte.

Margot sprang bereits barfuß im Hemdchen durchs Zimmer, als Lilli ins Haus zurückkehrte. Aber Ingeborg schlief noch fest.

»Ingeborg, wach auf, es ist heute Pfingstsonntag.« Sanft strich Lillis Hand das strähnige Blondhaar des Kindes.

»Hm.« Ingeborg brummte im Schlaf.

»Es ist Zeit aufzustehen, Ingeborg.«

»Ruhig, Moppel, kusch dich.« Schlaftrunken lallte es das Kind. Es träumte wohl gerade von dem Lumpenkeller und seinem vierbeinigen Gefährten dort.

Das helle Lachen Lillis ermunterte Ingeborg alsbald. Das war ein anderes Erwachen als früher unter rauhen Scheltworten. Wohlig dehnte sich die Kleine in den weißen Kissen.

»Mach fix, Ingeborg, wir wollen ja heute nach Potsdam fahren.«

»Wo die reichen Leute Sonntags ihre Landparties hinmachen?« Wie der Wind war die Kleine heraus. Ohne Schuh und Strümpfe, ungewaschen und ungekämmt, das Matrosenkleid von Margot übergestreift – und schon war sie an der Tür.

»Wann jeht der Zug, Fräulein?«

»Willst du etwa in dem Aufzug nach Potsdam fahren, Ingeborg? Dann versteckt sich ja die Sonne, wenn du so schmutzig bist.«

»Ach wat, die kiekt wo anders hin als auf mir. Man los, Fräulein!«

»Nein, ehe du nicht sauber gewaschen und gekämmt bist, nehme ich dich nicht mit.« Lillis Miene wurde ernst. Alle Hände voll hatte sie zu tun, und nun mußte sie das große Mädel hier eigenhändig waschen. Denn sonst wurde es doch nur eine Katzenwäsche. Beim Haarentwirren gab es handgreifliche Kämpfe. Ingeborg schrie und stieß eigensinnig mit Händen und Füßen.

»Au – Se ziepen mir – au – au – – –«

Wo war der feiertägliche Frieden des Lehrerhäuschens hin!

Wie aus dem Wasser gezogen war Lilli, als Ingeborgs Toilette glücklich beendet war. Zum Mundspülen und Zähneputzen konnte sie sich durchaus nicht entschließen.

»De Frau« – das war Lillis Mutter – »hat ma det jestern ooch schon jezeicht. Ne, det is ma zu eklig, mit ne olle Bürste in mein' Mund 'rumzumurksen.«

»Aber Ingeborg, mit einem unsauberen Mund trinkt man nicht Kaffee. Sowas ist mir wieder eklig.« Unwillkürlich mußte Lilli lächeln, daß man jedes Ding von zwei Seiten betrachten konnte. Das war nun das Prinzeßchen, das sie in ihrem Märchen aus einem Königsschloß hatte in die Welt der Wirklichkeit kommen lassen. Nicht mal die einfachsten Kulturbegriffe kannte es.

Trotzdem wich die strenge Erzieherin nicht eher, als bis Ingeborg ihre Zähne richtig mit der Bürste bearbeitet hatte.

Ludwig hatte in Gemeinschaft mit Margot bereits den Kaffeetisch gedeckt. »Na, Lilli, gute Fee spielen ist doch nicht so einfach, was?« meinte er pfiffig, der Schwester in das erhitzte Gesicht sehend.

Die lachte. »Wenigstens für Erdenkinder, die nur mit einem irdischen Maß von Geduld begabt sind, ist die Sache etwas schwierig.« Munter begann sie die Marmeladenbrote zu streichen.

»Schmeckt jut!« Blitzschnell hatte Ingeborg die erhaltenen Schnitten abgeleckt.

»So, nun mußt du dein Brot trocken essen, wenn du so unmanierlich bist, die Marmelade abzulecken,« sagte Lilli ernst.

»Da is ja noch 'ne janze Menge drin,« Ingeborg wies auf die noch halbvolle Büchse und hielt ihr Brot hin, um es neu bestreichen zu lassen.

»Gibt's nicht!« Ludwig legte sich energisch ins Mittel. »Ein anderes Mal iß anständig.«

»Sie kennt's nicht anders, Ludwig, es hat's ihr noch nie jemand gesagt,« verteidigte die gute Fee ihren Schützling.

»So mag sie's heute lernen.« Ludwig fühlte sich als strenger Vater.

Aber er hatte nicht mit Ingeborgs Findigkeit gerechnet. Margot, die ihr Brot neben sich auf dem Teller liegen hatte, schrie mit einemmal erschreckt auf. Ihre Marmeladenstulle war verschwunden. Statt dessen lag Ingeborgs wenig appetitliches, abgelecktes Brot da. Die kleine Lumpenprinzessin aber sprang mit der erwischten Schnitte zwischen den Beeten herum und johlte: »Anjeführt mit Löschpapier!«

»Wenn du so ungezogen bist, Ingeborg, lasse ich dich heute zu Hause; dann nehmen wir dich nicht mit nach Potsdam,« rief Lilli ärgerlich. Margot weinte um ihr Brot, und Ludwig schimpfte: »Laß sie doch ruhig zu Hause, die Range. Dann hat man unterwegs wenigstens Ruhe.«

»Ich gönn' es dem armen Kind so sehr, mal einen Pfingstausflug zu machen. Es hat sich so darauf gefreut. Und außerdem, Ludwig, hätten wir wohl eine ruhige Minute unterwegs, wenn wir Ingeborg hier allein wüßten? Die stellt uns ja inzwischen das Haus auf den Kopf.«

»Hast recht, Schwesterchen. Es geht dir mit der kleinen Lumpenprinzessin wie dem Manne im Märchen, der sich eine Wurst an die Nase wünschte und sie nachher nicht wieder loswerden konnte,« zog Ludwig die Schwester auf.

Die hatte aber keine Zeit mehr zum Schwatzen.

»Ich muß an die Arbeit, Ludwig, kümmere dich um die Kinder.« Damit war sie nebst dem Tassengeschirr davon.

Ihr Zwillingsbruder war wenig erbaut von seinem Amt. Margot pflegte im allgemeinen keine Aufsicht notwendig zu haben. Die spielte artig im Garten oder mit ihren Puppen. Bei Ingeborg aber gab es stets was zu rügen. Bald zertrat sie junge Saatpflänzchen, bald rupfte sie Knospen von den Büschen oder futterte gar unreife Erd- und Stachelbeeren. So lieb Ludwig seine Lilli hatte, daß sie ihnen diesen Rüpel ins Haus gebracht hatte, verzieh er ihr nicht so leicht.

Die Rucksäcke lagen fix und fertig da, verheißungsvoll gestopft. Tagelang hatten Steffens schon mit dem Brot gespart, um für den Pfingstausflug genug Lebensmittel mitnehmen zu können. Auch zu einer Wurst als Belag hatte Lillis Gehalt noch gereicht. Und die Hühner waren so freundlich gewesen, für jeden ein Ei zu legen, so daß den unverwöhnten Kindern ein herrliches Mahl in Aussicht stand.

Mehr aber lockte noch Potsdam mit seinen blauen Seen und weißen Schlössern in blühenden Gärten. Eine halbe Stunde zu früh stand Margot bereits, angetan mit dem weißen Stickereikleid, marschbereit da. Für Ingeborg hatte die gutherzige Lilli ein weißes Matrosenkleid von Margot frisch geplättet, damit sie sich nicht zurückgesetzt fühlte.

Alles war aufs beste erledigt. Der Spinat zum Abendbrot stand in der Kochkiste unter Obhut der Heinzelmännchen. Die Bratkartoffeln dazu waren geschnitten, sogar Fett hatte die fürsorgliche Lilli bereits in die Pfanne getan. Denn abends, wenn Großmama und die anderen Gäste da waren, sollte es rasch gehen. Der Abendbrottisch auf der Veranda war schon zierlich gedeckt.

Als Lilli jetzt in ihrem Pfingststaat, dem rosa Voilekleid, dem kein Mensch es ansah, daß Lilli es aus einem verwaschenen weißen Kleid mit Hilfe von roter Tinte rosenrot gefärbt hatte, taufrisch wie eine Rose, die Treppe vom Mansardenstübchen hinabsauste, stand die Familie, Schnauzel an der Spitze, abmarschbereit. Nur Ingeborg fehlte.

»Eben war sie noch hier, wo kann sie bloß hin sein?« Ludwig trieb zur Eile.

Sie wird nochmals in den Garten gelaufen sein. »Ingeborg – Ingeborg – wir gehen!« Margot schmetterte es von der Gartentür, wo sie ungeduldig mit Schnauzel wartete, zurück.

Keine Ingeborg ließ sich blicken. Ludwig stampfte mit langen Schritten durch die Zimmer, »abscheuliche Jöre!« in sein zart sprießendes Bärtchen murmelnd. Lilli suchte im oberen Stockwerk, in der Badestube, der Küche – – – da stand das kleine Mädchen, unbekümmert darum, daß man sich die Lungen nach ihm ausschrie. Die geschnittenen kalten Kartoffeln, die zum Abendbrot sein sollten, warf es in die Fettpfanne und schmauste daraus mit beiden Händen. Das Fett lief ihm an den Fingern und dem mühsam geplätteten Matrosenkleid herab.

»Ungezogenes Ding!« Lillis Geduld war zu Ende. Ehe es sich Ingeborg versah, hatte sie eine Ohrfeige bekommen.

»Au – wenn Se ma hauen, jeh' ick wieder bei meine Jroßmutter.« Ingeborg hielt sich die fettigen Hände schützend vor das Gesicht.

Lilli schämte sich etwas, daß sie aus der Rolle einer guten Fee in die einer bösen verfallen war. »Ludwig, du mußt mit Margot vorangehen und die anderen bitten, einen Zug zu überschlagen und auf uns zu warten. Ich muß Ingeborg erst wieder umziehen.« Man hatte sich mit Großmama und Onkel Martin auf dem Bahnhof Schlachtensee verabredet.

»Eine Landpartie mit Hindernissen – na, das kann ja heute noch gut werden.« Ludwig, Margot und Schnauzel zogen als Vortrab ab.

»Hast du mich denn gar nicht ein bißchen lieb, Ingeborg, daß du mich so ärgerst,« meinte Lilli traurig, während sie ein anderes Waschkleid des Schwesterchens hervorsuchte.

»Ick ärjer' ja jar nich.« Ingeborg sah verstockt drein.

»Doch, wenn du die Kartoffeln, die dir nicht gehören, fortnimmst, das ist Diebstahl. Darüber bin ich traurig. Du weißt doch, daß man nicht stehlen soll. Das hast du doch in der Schule gelernt.«

»Ach wat – die Lehrerin hat gut reden. Die weeß nischt davon, wie Hungern is.«

»Hattest du denn Hunger, Ingeborg? Du hast doch vor kurzem erst gefrühstückt.« Es wäre Lilli eine Erleichterung gewesen, wenn die Kleine aus Hunger genascht hätte, und nicht aus übler Gewohnheit.

»Hunger hatt' ick keinen. Aber wenn man wat zu essen sieht und nimmt's nich, denn is man dämlich, sagt Jroßmutter.«

O Gott, wie schwer war es, diesem verwahrlosten Kinde die einfachsten Rechtsbegriffe beizubringen.

Nachdenklich schweigend kleidete Lilli die Kleine um.

»Se brauchen nich so traurige Augens zu machen, Fräulein. Ick nehm' keine Kartoffeln mehr,« versprach Ingeborg, die das Schweigen bedrückte.

»Auch nichts anderes, Ingeborg? Versprichst du mir das?« Lillis Augen strahlten auf. Wie glücklich würde sie es machen, wenn sie das moralisch verkommene Kind zum Guten beeinflussen könnte.

»Det wird sich finden!« Zu weiteren Zugeständnissen verstand sich die Kleine nicht.

Lilli konnte sich auch unmöglich noch länger mit moralischen Auseinandersetzungen befassen. Sonst erreichtem sie den nächsten Zug nach Potsdam ebenfalls nicht. Im Galopp ging es die Kirschallee entlang zum Bahnhof.

Dort war das neueste Steffensche Familienmitglied von Ludwig und Margot den Verwandten schon genügend angekündigt und gekennzeichnet worden.

»Armes Liliputchen, ganz erhitzt siehst du aus!« Großmamas feingeäderte Hände strichen zärtlich ihrer Lilli das blonde Gelock aus der Stirn.

»Macht nix, Großmuttchen. Es tut mir nur leid, daß ihr durch uns einen Aufschub erlitten habt. Guten Tag, Onkel Martin. Fein, Tante Gretchen, daß du diesmal auch dabei bist bei unserem Pfingstausflug. Hier stelle ich euch meinen Schützling Ingeborg vor.«

»Ah, Ihre Gnaden, das Lumpenprinzeßchen.« Onkel Martin kam nicht weiter mit seiner lustig untertänigen Begrüßung. Lillis kleine Hand hatte sich ihm bittend auf die Lippen gelegt.

»Nicht doch, Onkel Martin! Bitte, nicht so! Die Kleine hat soviel Spott, soviel Häßliches in ihrem kurzen Leben schon hinnehmen müssen, daß wir ihr nur Liebes antun wollen,« bat Lilli halblaut.

»Wenn sie dir das nur lohnt, gute Fee. Feenhände sollen sich nicht mit irdisch Häßlichem befassen, sonst verlieren sie am Ende selbst ihre Zauberkraft.« Halb scherzhaft, halb ernst klang es.

Lillis lustige Entgegnung: »Feenhände können auch das Häßlichste schön gestalten, ich hab' nur leider keine,« wurde übertönt von dem Schnaufen des einfahrenden Zuges.

Knüppeldick voll war es. Lilli, die Ingeborg krampfhaft an der Hand hielt, ließ dieselbe einen Augenblick los, um der Großmama beim Einsteigen behilflich zu sein. Jetzt schnell Ingeborg hinterher verstaut – ja, wo war Ingeborg? Sie stand nicht mehr auf dem Platz, auf dem Lilli sie noch eine Sekunde vorher gesehen. War sie in ein anderes Abteil eingestiegen? Hatte die Menge der Ausflügler sie mit fortgerissen?

»Ingeborg – Ingeborg, wo bist du?« Angstvoll erhob Lilli ihre Stimme.

»Hier – hier bin ich –« Irgend ein Berliner Spaßvogel machte sich einen Scherz mit dem hübschen Mädel.

»Einsteigen, Lilli, flink – – –« Ludwig, der mit Margot vor einer Tür Posto gefaßt hatte, zog die Umherirrende mit Gewalt hinein. »Solch Liliputchen hat hier noch Platz.«

»Nein, Ludwig, es geht nicht; Ingeborg ist verschwunden. Ich muß wieder aussteigen ...« Da pfiff der Zug. Es war zu spät.

»Um Himmels willen, Ludwig, der Bahnhof ist noch ganz schwarz von Menschen. Sicher ist Ingeborg nicht mitgekommen. Ich muß von der nächsten Station zurückfahren.« Lilli weinte fast vor Aufregung.

»Auf keinen Fall, Lilli; das hieße die Menschenliebe denn doch zu weit treiben. Dir tut ein Herauskommen nach deiner Bürotätigkeit notwendiger als uns allen. Wenn die Krabbe entlaufen ist, mag sie bleiben, wo der Pfeffer wächst,« ereiferte sich der Student.

»Wie kannst du bloß so leichtsinnig sprechen, Ludwig, ich trage doch die Verantwortung für das Kind.« Lilli war ernstlich böse auf ihren Zwillingsbruder. Keinen Blick hatte sie für den tiefblauen Schlachtensee, der mit seinen Villen am Ufer fast italienischen Charakter trug.

»Das fehlte, Lilli, daß wir uns beide auch noch um der fremden Jöre willen in die Haare kommen. Ruhig Blut! Bis Potsdam fährst du mit. Ist das Unglückswurm dort nicht zu finden, gondele ich zurück und erfülle Vaterpflichten an ihm.« Ludwigs Miene ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, daß er schlagende Beweise seiner Vaterpflichten geben würde.

Lilli drückte Ludwig stumm die Hand. Länger als fünf Minuten konnte sie dem guten Jungen niemals böse sein. »Wenn Ingeborg sich nicht in Potsdam findet, dann nehme ich, so sehr leid es mir auch tut, den anderen das Vergnügen zu stören, ebenfalls nicht an dem Ausflug teil,« sagte Lilli mit aller Bestimmtheit.

»Doch, Lilli, doch! Du mußt mitkommen. Wer soll denn sonst unser Mittagbrot verteilen. Und überhaupt, ohne dich macht es gar kein Vergnügen.« Jetzt begann Margot zu weinen.

Die Komik der abwechselnden Traurigkeit wirkte auf die beiden großen Geschwister erheiternd. Lillis Optimismus wagte sich wieder hervor. Es war doch genau so möglich, daß Ingeborg irgendwo anders eingestiegen war. Das Leben hatte das kleine Mädel ja frühzeitig selbständig gemacht. Und mußte sie von dem Pfingstausflug Abstand nehmen und nach Hause fahren – na ja, sie hatte sich die ganzen Wochen schon darauf gefreut! – aber schließlich war es doch bloß eine mißglückte Landpartie. Da drüben, wo aus lichtem Frühlingsgrün weiße Villentürmchen über den Wannsee herübergrüßten, da hatte man heute mit Schwererem fertig zu werden. Es waren die letzten Tage, die Ilse und ihre Mutter in ihrem schönen Heim verbringen durften. Morgen hatte Lilli sich erboten, mit Ilse zusammen die neue Wohnung in Charlottenburg möglichst freundlich zum Empfang der Mutter herrichten zu helfen. Die Möbel waren bereits dort. Frau Gerhard und ihre Tochter hausten die letzten Tage in Ilses Mädchenreich. Herr Vorbrodt wollte schon die Pfingsttage gern auf eigenem Grund und Boden verbringen. Aber mit einer ihr sonst fremden Willenskraft hatte sich Frau Gerhard dagegen gesträubt. Nicht eine Stunde früher, als es vertraglich festgesetzt war, ließ sie die Fremden in ihr Heim einziehen.

Lilli hatte versucht, die Freundin und ihre Mutter dazu zu bewegen, an ihrem Pfingstausflug teilzunehmen, um ihnen über die letzten qualvollen Tage ein wenig hinwegzuhelfen. Aber so gut es auch von Lilli gemeint war, Mutter und Tochter wollten das Pfingstfest still für sich in ihrem Haus und Garten, in dem jeder Stein und jeder Baum eine Erinnerung für sie war, verleben.

»So sonnenhell ist die Welt, so strahlend, als gäbe es nur Glück und Freude auf ihr, und doch birgt sie für viele so arge Bitternis,« dachte Lilli, und die eigene Sorge um das ihrer Obhut unterstellte Kind legte sich ihr wieder drückend auf die Seele. Gottlob, da waren ja schon die bescheidenen Vorstadthäuschen von Nowawes, nun war man bald am Ziel.

»Lilli, ich sehe schon den Brauhausberg. Nicht wahr, Ludwig, das da drüben ist die Garnisonkirche, in der der Alte Fritz begraben liegt? Und die runde große Kuppel, das ist die Nikolaikirche – hurra, wir sind in Potsdam!« Margots helle Stimme schmetterte das Willkommen.

Eine lange Menschenschlange bewegte sich dem Ausgange zu. Großmama, Tante Gretchen, Onkel Martin und Schnauzel, alle fanden sich wieder. Nur von Ingeborg keine Spur. Vergeblich jagte Lilli vom Zuge zum Ausgang, und vom Ausgang zum Zuge. Nirgends das strohblonde Haar, nirgends das blasse, altkluge Kindergesicht Ingeborgs.

»Es hilft nichts, ich muß zurück. Laßt euch durch mich nicht stören. Viel Vergnügen und zum Abendbrot erwarte ich euch.« Mit zuckenden Lippen stieß es Lilli hervor. Sie öffnete bereits die Tür zu dem in der Richtung nach Schlachtensee zurückgehenden Zuge.

»Dann fahren wir alle mit nach Haus. Liliputchen lassen wir am Pfingsttag nicht allein,« ließ sich die gute Großmama vernehmen.

Margot begann zu weinen, Ludwig zu schelten.

»Ich würde an deiner Stelle ruhig mitkommen, Lilli,« versuchte auch Onkel Martin seine Überredungskunst. »Gute Fee sein, hat schließlich auch seine Grenzen. Und begegnen kann ja dem Kinde nichts. Es wird wieder nach Hause gehen.«

»Nein, Martin, das meinst du sicher nicht im Ernst,« widersprach seine junge Frau. »Wenn Lilli die Sorge für das Kind nun mal leider übernommen hat, muß sie auch die etwaigen Folgen tragen. Ich bin Mamas Ansicht, daß wir alle mit zurück nach Schlachtensee fahren und dort unser Picknick veranstalten.«

»Also dann alle Mann hopp! In drei Minuten geht der Zug zurück.« In Hast wurde eines der leergewordenen Abteile gestürmt. Schnauzel blaffend dazwischen.

»Es ist mir entsetzlich, daß ich schuld bin an eurer mißglückten Landpartie.« Lilli hätte es am liebsten wie Margot gemacht und geheult.

Da – was tauchte da plötzlich außen am Fenster aus? Ein bekanntes Gesicht, ein Kindergesicht, fahl und farblos, mit altklugen Augen.

»Mum – mum – kiek – kiek – – –« Da war es wieder verschwunden, so schnell wie es erschienen.

Aber schon waren Ludwigs lange Beine hinterher, schon hatte er die kleine Ausreißerin am Kragen.

»Verflixte Range – – – aussteigen, schnell!«

In unbeschreiblicher Hast überpurzelten sich Steffens. So – da standen sie alle, zweibeinig und vierbeinig, herzklopfend und erhitzt wieder auf dem Bahnsteig. Selbst Großmama, die besorgt untersuchte, ob ihr schwarzes Spitzentuch bei dem Gedränge auch kein Loch bekommen habe.

»'rin in de Kartoffeln – 'raus aus de Kartoffeln.« Onkel Martin behielt immer seinen Humor.

Die Lokomotive pfiff, der Zug ging ohne sie ab.

»Windelweich müßte man dich prügeln, du abscheuliches Ding, solche Unruhe und Aufregung zu verursachen,« schalt Ludwig, die schmale Kindergestalt mit beiden Fäusten festhaltend, als fürchte er, sie könnte sich ihm unter den Händen wieder entwinden.

»Ne, nich hauen, nich verhauen! Ick kann doch nischt davor, wenn se mir bei det Jedränge wegschubsen tun,« heulte Ingeborg, während Margot, noch Tränen an den Wimpern, nun wieder über das ganze Gesicht lachte, daß doch noch etwas aus dem Ausflug wurde. Schnauzel bellte fragend dazwischen.

»Warum bist du nicht gekommen, als wir dich suchten? Du mußt doch unser Rufen gehört haben.« Lilli fühlte sich jetzt als strenger Richter.

»Na woll doch. Zum Kejeln war's! Ick hab hinter de Stationsvorsteherbude jehuckt und hab' ma 'n Ast jelacht, wie Se immer hin und her karjolt sind. Ach, det war zum Piepen!«

»Und an unsere Sorge hast du gar nicht gedacht, Ingeborg?« meinte Lilli eindringlich.

»Sorge? Um mir macht sich keener nich Sorgen. Wenn ick weglauf', is jut, hat Jroßmutter oft jesagt. Aber wiederkommen darf ick nich.« War das eine traurige Kinderweisheit!

»Da wir dich in unser Haus genommen haben, Ingeborg, sorgen wir uns auch um dich und wollen dich liebhaben. Aber wenn du so ungezogen bist, kann ich das doch gar nicht.« Lilli sah dem Kinde tief in die Augen.

»Lieb haben?« Es leuchtete plötzlich wie ein Sonnenstrahl aus den altklugen Augen. »Ne, is nich! Mir hat keener nich lieb.« Da war der helle Strahl schon wieder erloschen.

»Doch, Ingeborg!« Lilli hatte inzwischen das Kind aus Ludwigs fesselnden Fäusten befreit und es selbst an die Hand genommen, während sich die Gesellschaft auf das Stadtschloß zu bewegte. »Doch, der liebe Gott hat dich lieb und alle guten Menschen, wenn du brav bist, Ingeborg.«

»Ick bin ja nich brav,« klang es bekümmert. »Aber wenn Se mir liebhaben wollen, denn wer ick es vielleicht doch noch. Und fortlaufen will ick janz jewiß nich mehr.« Forschend sah die Kleine zu Lilli auf.

»Ja, Ingeborg, ich will dich liebhaben!« Das junge Mädchen schlang liebevoll den Arm um der Kleinen Schulter. Sie dachte nicht mehr an all den Ärger, all die Sorge und Aufregung, die ihr schon durch ihr Liebeswerk erwachsen waren. Lilli war in diesem Augenblick ganz gute Fee.

»Darf ich – darf ich denn vielleicht ooch Lilli zu Ihn' sagen, wie Margot, Fräulein?« Schüchtern kam diese Bitte.

Hellauf lachte Lilli. »Aber natürlich, wenn du weiter nichts willst. Sag nur ruhig Lilli und du zu mir.«

War der Himmel jetzt nicht noch einmal so blau wie zuvor? Schauten die Potsdamer Barockhäuser nicht ganz besonders lustig drein? Und spielte das Glockenspiel der alten Garnisonkirche heute nicht noch viel feierlicher als sonst: »Lobe den Herrn, meine Seele?«

An der »Bittschriftlinde«, wo einst Friedrich der Große die Anliegen seiner Potsdamer Bürgerschaft in Empfang zu nehmen pflegte, warteten die anderen.

»Na, hältst du die kleine Delinquentin auch gut fest, Polizist?« erkundigte sich Onkel Martin. »Selbst Feenhänden kann mal etwas entschwinden, ehe man sich's versieht.«

»Ingeborg wird nicht mehr fortlaufen, sie hat es mir versprochen.«

»Na, dem Versprechen würde ich weniger trauen als meinen Fingern,« meinte Onkel Martin lachend.

»Feenhände können auch unsichtbar festhalten, Onkel Martin,« ging Lilli auf seinen Scherz ein. Zum größten Entsetzen der anderen ließ sie dabei das kleine Mädchen von ihrer Hand frei.

Und das Wunder geschah. Trotz Ludwigs und Schnauzels mißtrauischen Blicken, trotzdem beide ständig auf dem Sprung waren, dachte die kleine Lumpenprinzessin an ihr Versprechen. Lillis Feenhände hielten unsichtbar fest.

Weder in der holländischen Kolonie, noch in der russischen, welche die Kolonisten sich zu Zeiten Friedrichs des Großen im Stil ihrer Heimat erbauen durften, und auf die Onkel Martin seine jungen Begleiter aufmerksam machte, rührte sich Ingeborg von Lillis Seite. Nur in dem herrlichen Park von Sanssouci wurde es ihr schwer, auf den Fußwegen zu bleiben und nicht wie Schnauzel quer über die samtgrünen Rasenflächen zu jagen. Da mußten die Feenhände Lillis wieder sichtbar eingreifen, sonst hätte Ingeborg sicher die kostbarsten Blüten geknickt und die Orangerien geplündert. In dem Rokokosaal des Alten Fritz, in dem einst die Tafelrunde zu tagen pflegte, saß plötzlich das Lumpenprinzeßchen auf dem durch eine Schnur für das Publikum abgesperrten Lehnsessel des Königs. Es mußte von dem Diener, von Onkel Martin und Ludwig mit Gewalt von diesem ihm nicht zukommenden Platz heruntergebracht werden. Aber als Ingeborg zu Margots Ergötzen und zum Entsetzen der übrigen sogar die Tabaksdose und den Krückstock des Alten Fritz anzufassen wagte, hielt man es doch für geraten, mit dem unzivilisierten kleinen Ding lieber wieder die freie Natur aufzusuchen, daß es nicht noch mehr Ärgernis erregte. Ludwig hatte nicht übel Lust, den königlichen Krückstock auf Ingeborgs Rücken tanzen zu lassen. Aber als sie draußen dann an den Hundegräbern des Königs die fast erloschenen Inschriften entzifferten, und Ingeborg nachdenklich meinte: »Det waren doch bloß Hunde, und doch hat sie sojar ein König lieb jehabt,« da kam es allen zum Bewußtsein, daß es in dieser schlechtgepflegten Kinderseele auch gute Regungen gab, daß das herumgestoßene Kind sich nach Liebe sehnte.

Auf dem Weg durch den frühlingslichten Wildpark zum Bayrischen Häuschen, wo man Rast zu machen dachte, nahm Tante Gretchen den Arm ihrer jungen Nichte.

»Lilli, ich habe den ganzen Weg darüber nachgedacht, wie ich dir helfen kann,« begann sie. »Du hast dir und eurem Haushalt, von den besten Beweggründen geleitet, eine schwere Last mit dem fremden Kinde aufgebürdet. Wenn du übermorgen wieder deine berufliche Tätigkeit aufnehmen mußt, ist das Kind in Abwesenheit deiner Mutter nicht genügend beaufsichtigt. Anderseits glaube ich, daß man mit Strenge und Liebe aus dem vernachlässigten Kinde einen brauchbaren Menschen erziehen kann, denn es ist noch nicht alles Gute in ihm erloschen. Ich weiß von meinem Turnlehrerinnenberuf her, Kinder richtig zu behandeln. Deshalb habe ich soeben mit Onkel Martin gesprochen, und er ist, wenn auch nicht gerade sehr begeistert, doch damit einverstanden, daß ich dir die schwere Verantwortung für die Kleine abnehme, und daß das Kind vorläufig zu uns kommt, bis es anderweit gut untergebracht werden kann.«

»Tante Gretchen, das willst du für mich tun? In euer junges Glück willst du dir das schwer zu behandelnde fremde Kind nehmen? Ach, Tante Gretchen –« Lilli fiel der jungen Tante unbekümmert um die Vorübergehenden dankbar um den Hals. »Nun sehe ich, wie recht ich damit hatte, daß ich von meiner frühesten Backfischzeit an für dich geschwärmt habe. Jetzt bist du meine gute Fee!« Eine Zentnerlast wich plötzlich von Lillis Herzen.

»Ich wollte, Lillichen, ich könnte auch in anderer Beziehung deine gute Fee sein.« Tante Gretchen drückte mit innigem Ernst Lillis Arm. »Du hast bisher kein Vertrauen zu mir gehabt. Aber gesehen habe ich es doch, daß du in deinem beamtlichen Beruf nicht die Befriedigung findest, die man zu seinem Lebensglück braucht. Sag', irre ich mich?« Forschend sah sie ihr in die klaren Braunaugen.

Lilli schüttelte errötend den Kopf. Sie schwieg geraume Weile. Dann gab sie sich einen Ruck. »Du hast richtig gesehen, Tante Gretchen. Ganz besonders die letzten Tage im Büro waren sehr unerfreulich für mich. Aber was nützt es denn, zu klagen. Wir können es ja nicht ändern. Selbst du als meine gute Fee vermagst es nicht.« Sie versuchte schon wieder zu scherzen.

»Wer weiß, Lilli, manchmal kommt einem Hilfe, wenn man sie am wenigsten vermutet. Vorläufig kann ich dir nur den Rat geben, laß den Mut nicht sinken. Aber vielleicht kann ich dem Rat auch bald die Tat folgen lassen.«

Das Bayrische Häuschen war erreicht. Malerisch lag es, von alten Baumriesen bewacht, in seiner Waldabgeschiedenheit. Selbst die Stullen auspackenden Berliner konnten ihm seinen idyllischen Frieden nicht nehmen. Man bestellte Getränke und tafelte vergnügt an den weißgescheuerten, mitten in den Wald gastlich hineingesetzten Tischen aus dem Rucksack.

Das war ein fröhliches Schmausen. Hell klang das Lachen der Steffenschen Kinder zu Onkel Martins drolligen Schnurren und Witzen. Das Lumpenprinzeßchen kam sich wie in eine andere Welt verzaubert vor, wenn es an die sonnenlose, übelduftende Gasse dachte, in der es bisher gelebt hatte. Seine blassen Wangen röteten sich.

War es das jugendhelle Lachen, das einen älteren Herrn mit grauem Vollbart veranlaßte, sich dem fröhlichen Tisch zu nähern? Er zog seinen Kneifer aus der Westentasche, sah noch einmal schärfer herüber und grüßte dann erfreut.

»Tag, Steffen; also sind Sie's doch! Die Zeiten haben sich geändert, seitdem wir uns in den Karpathen trafen. Aber Ihren unvergleichlichen Witz haben Sie immer noch behalten, wie ich aus dem fröhlichen Lachen Ihrer Zuhörer schließe.«

»Ja, der ist mir noch nicht abhanden gekommen, trotzdem ich seit einiger Zeit in Ehefesseln schmachte,« gab Onkel Martin schlagfertig zurück. »Wie freue ich mich, Doktor, Sie bei Vogelgezwitscher anstatt bei Granatengeheul zu sehen. Herr Doktor Reinhard, Redakteur und Kriegsberichterstatter a. D. Meine Mutter, mein Ehegesponst, meine Nichte Fräulein Lilli Steffen, Kollegin von Andersen, städtische Beamtin und gute Fee, alles in einer Person. Mein Neffe, Herr Ludwig Steffen, stud. ing. und Zwilling, das Kleinzeug Margot Steffen und Ingeborg Unbekannt. Da haben Sie uns alle beieinander,« stellte Onkel Martin lustig vor. »So – nehmen Sie Platz, lieber Doktor, und teilen Sie unseren bescheidenen Schmaus.«

Doktor Reinhard ließ sich nicht lange bitten. Er begrüßte die Damen verbindlich und begann mit Onkel Martin gemeinsame Erinnerungen vom Kriegsschauplatz auszutauschen. So bemerkte keiner, wie heiß Lilli das Blut bei der Vorstellung des Fremden ins Gesicht geschossen war.

Er war also Redakteur an einer Zeitung, die in dem gleichen Verlage erschien wie das Blatt, an das Lilli ihre schriftstellerischen Ergüsse eingesandt hatte, von wo aus ihr die Schmach der Ablehnung widerfahren war. Freilich, der Name der Zeitung sowohl wie der des Redakteurs war ein ganz anderer, aber dennoch – unbehaglich war seine Anwesenheit Lilli doch.

Hatte wirklich keiner acht gehabt, daß Lilli bei der Vorstellung heiß errötet war? O nein, Tante Gretchen war es nicht entgangen. Nur reimte sie sich die Sache etwas anders zusammen.

»Sagen Sie, Herr Doktor,« begann sie, als eine Gesprächspause bei den Herren eingetreten war, »beschäftigen Sie in Ihrer Redaktion auch Damen, welche die höhere kaufmännische Handelsschule besucht haben?« Vielleicht konnte sie schon jetzt ihrem Lilli vorhin gegebenen Rat die Tat folgen lassen und die Rolle der guten Fee spielen.

»Aber freilich, gnädige Frau, Stenotypistinnen sowohl wie Sekretärinnen. In jeder Redaktionsabteilung ist das holde Geschlecht vertreten. Ich selbst bin augenblicklich gerade in der unangenehmen Lage, meine langjährige Sekretärin, die vollständig auf meine Arbeiten eingestellt war, zum ersten Juli durch Krankheit zu verlieren. Mir graut jetzt schon vor dem Ersatz.«

Einen raschen triumphierenden Blick warf Tante Gretchen zu Lilli hin, die sich jäh entfärbte, dann sagte sie lebhaft: »Ei, Herr Doktor, vielleicht darf ich Ihnen einen Ersatz empfehlen, bei dem Ihr Grauen ungerechtfertigt ist. Hier meine Nichte Lilli Steffen. Sie ist im Lettehaus ausgebildet, augenblicklich bei der städtischen Sparkasse und interessiert sich ganz besonders für alles, was mit Schriftstellerei zusammenhängt. Dabei ist sie gewissenhaft, intelligent – –«

»Gretchen, mach das Kind mit deiner Lobhudelei nicht schamrot,« unterbrach sie ihr Mann, mit neckendem Blick auf die erglühende Lilli.

»Aber recht hat meine Frau. Liliputchen wär' am rechten Platz bei Ihnen, Doktor, das würde sicher unserer Empfehlung keine Schande machen. Das geborene ›Federvieh‹. Als es so groß war« – Onkel Martin zeigte halbe Daumenlänge – »da hat es bereits Märchen und derlei Kram verfaßt. Steht mit Gnomen und Elfen auf du und du.«

»Wenn man selbst zu den Elfen gehört, wundert mich das nicht,« ging Doktor Reinhard galant auf Onkel Martins Ton ein. »Mir wäre es natürlich wertvoll, eine derartig gutempfohlene Sekretärin zu bekommen. Trotzdem ich Ihnen bei mir nicht den Umgang mit Märchengeistern, sondern nur den mit den weniger lieblichen Geistern der Politik versprechen kann. Das ist nämlich mein Reich. Hätten Sie denn Lust zu einem derartigen Posten, mein Fräulein?«

Lilli war es bei seinen Worten abwechselnd heiß und kalt geworden. Da war er, der Weg ins Gelobte Land, in das sie sich im Wachen und Träumen sehnte. Er schlug zwar eine etwas andere Richtung ein, als sie es sich vorgestellt, aber immerhin, der Weg führte in das Land ihrer Sehnsucht.

Sollte sie ihn schnell einschlagen – ehe sich wieder eine Mauer davorschob und ihr den verlockenden Pfad abschnitt?

Aber nein, nein – der Weg ging auch gleichzeitig dahin, von wo aus ihr die größte Kränkung, die bitterste Enttäuschung in ihrem Leben geworden war. Doktor Rabe war in demselben Gebäude tätig. Wenn sie nun mit ihm dort zusammentreffen wurde, wenn er ihren Namen wiedererkannte, in diese peinliche Lage konnte sie sich unmöglich begeben. Blitzschnell zogen diese Erwägungen durch Lillis Blondkopf.

»Was zögerst du denn, Liliputchen, greif zu, pack das Glück beim Schopf,« raunte ihr der Zwillingsbruder mit einem aufmunternden Rippenstoß zu.

»Ich könnte mich ja zum ersten Juli noch gar nicht freimachen. Wir haben vierteljährliche Kündigung,« stotterte Lilli und hatte dabei das niederdrückende Bewußtsein, daß der fremde Redakteur sie für ein Gänschen halten mußte. Und doch empfand sie eine gewisse Erleichterung, daß ihr der Entschluß durch den Kündigungstermin vorweggenommen wurde.

»Bis Oktober kann ich mich allerdings nicht behelfen. Aber es tritt ja öfters mal eine Änderung bei den Damen ein. Wenn Sie den Wunsch haben, später zu uns zu kommen, will ich mich gern für Sie verwenden, gnädiges Fräulein.« Wohlwollend blickte Doktor Reinhard auf das liebreizende Mädchen, das in seiner bescheidenen Verlegenheit besonders anmutig aussah.

Bums – da hatte sich die Mauer wieder vor Lillis Weg ins Dichterland aufgetürmt – nur einen winzigen Durchlug gönnte sie ihr in die verlockende Ferne.

Als man mit erleichterten Rucksäcken auf staubiger Landstraße weiterging zu den Kirschbäumen des Dorfes Caputh, ahnten weder das Lumpenprinzeßchen noch seine gute Fee, daß sie heute alle beide an einem Kreuzweg in ihrem Leben gestanden hatten.


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