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Siebzehntes Kapitel

Das Märchenspiel

Der Schnee schmolz. Neue Säfte stiegen in Baum und Strauch. Knospen quollen zukunftsfreudig, kamen zur Blüte und zeitigten Früchte, starben und vergingen – der ewige Kreislauf.

Der Lehrergarten in Schlachtensee stand in buntem Herbstgewand. Ein Jahr war verflossen, seitdem Lilli Steffen ihren Fuß ins Dichterland gesetzt hatte.

Ein Jahr voll Fleiß, voll Streben und Erfüllung, voll Schaffen und Befriedigung.

Nur Sonja Pietrowicz wußte, wie fruchtbar Lillis Arbeit in diesem Jahr gewesen, daß an Großmamas ehemaligem »stummen Diener« Märchen, Erzählungen und Gedichte zum Leben erwachten, die unter dem Namen Steffen Liman die Kinderwelt entzückten.

Einer im Lehrerhäuschen ahnte wohl noch etwas von dem heimlich geschäftigen Treiben im Mansardenstübchen. Das war der Vater. Der las mit ganz besonderem Interesse die Kinderzeitung, wenn Steffen Liman etwas darin veröffentlichte. Und das war oft der Fall. Doktor Rabe mochte kaum ein Blatt erscheinen lassen, ohne von dem von ihm besonders geschätzten Mitarbeiter irgend einen Beitrag zu bringen.

Manchmal dachte Lilli wohl, ob es nicht viel angenehmer und bequemer für sie wäre, wenn sie ihre Erzeugnisse als »Tante Lilli« in die Kinderwelt flattern ließe, anstatt sich hinter einem falschen Namen zu verstecken. Aber gerade das Versteckspiel reizte die Mutwillige auch wiederum. Es machte ihr unsagbares Vergnügen, wenn Doktor Rabe seiner Verwunderung nicht genug Ausdruck geben konnte, wie dieser Steffen Liman stets erriet, was man gerade brauchte, und wie er den Wünschen des Redakteurs, ohne ihn persönlich zu kennen, stets zu entsprechen wußte.

Einmal allerdings war Lilli drauf und dran, den Kopf hinter ihrem Pseudonym hervorzustrecken und ihr wahres Gesicht zu zeigen. Das war, als Doktor Rabe sich ziemlich abfällig über die literarisch schaffende Frau geäußert hatte. »Sehen Sie, Fräulein Steffen,« hatte er gesagt, »die Frauen schreiben ihre Bücher genau so, wie sie einen Strumpf stricken. Sie arbeiten drauf los, stricken ihre Maschen, eine nach der anderen ab. Dann bekommt die Sache einen Knick, den Hacken, um darauf möglichst schnell abzunehmen und zum Ende zu eilen. Ohne Knochengerüst, ohne jede Disposition.«

»Na, erlauben Sie mal, Herr Doktor,« begehrte Lilli auf, »wir haben doch namhafte Schriftstellerinnen, die sicher nicht ihr Buch wie einen Strumpf zusammengestrickt haben!« Mit heißen Backen und flammenden Augen nahm Lilli Partei für ihre literarischen Schwestern.

Die kleine goldblonde Sekretärin mußte wohl besonders reizvoll in ihrer Entrüstung aussehen, denn der Goliath hörte eigentlich gar nicht recht, was sie sagte, sondern schaute sie nur an.

»Ja, ja, Ausnahmen mögen ja wohl vorkommen, aber die bestätigen nur die Regel,« sagte er schließlich, seine Gedanken zwingend.

»Ausnahmen sind diejenigen, von denen Sie sprechen, Herr Doktor. Ich selbst – – –« da biß sie sich auf die unbedachten Lippen. Bei einem Haar hätte sie gesagt: »Ich selbst habe vieles geschrieben, was Ihren Beifall gehabt hat.« Zum Glück war Doktor Rabe immer noch mehr mit Sehen als mit Hören beschäftigt und achtete nicht weiter auf den unvollendeten Satz.

Seit dem Sommer verkehrte Doktor Rabe in dem rosenumbuschten Lehrerhäuschen in Schlachtensee. Das war ganz zufällig gekommen. Steffens hatten an einem Sonntagnachmittag in der alten Fischerhütte am Schlachtensee mit Gerhards geweilt. Da wurde Lilli plötzlich sehr rot und erwiderte lebhaft den Gruß eines großen blonden Herrn, der an einem der Nebentische saß. Der Herr ließ es nicht bei dem Hutziehen bewenden, sondern trat an den Steffenschen Tisch, um seine Sekretärin zu begrüßen. Lilli vermittelte die Bekanntschaft, und die Folge davon war, daß Doktor Rabe mit seinem Bierseidel an den Steffenschen Tisch übersiedelte. Der Oberlehrer und der Redakteur hatten gemeinsame literarische Interessen. Als man aufbrach, um den Abend im Steffenschen Garten zu verbringen, wurde auch Doktor Rabe aufgefordert, sich anzuschließen. Er nahm die Einladung gern an und war seitdem häufiger Gast in dem kleinen weißen Haus.

»Ihr Vater ist ein wundervoller Mensch,« äußerte er sich gelegentlich zu Lilli. Seil er dieses sagte, hatte sie ihn besonders gern.

Doch auch mit Frau Miezes frischer, bestimmter Art verstand Doktor Rabe sich gut, und Margot mußte sich manche Neckerei von ihm gefallen lassen. Aber auch manche Tafel Schokolade erhielt sie dafür. Mit Ludwig war das Einvernehmen merkwürdigerweise nicht so besonders. Das lag nicht an dem Redakteur, sondern an dem jungen Studenten. Ludwig begegnete Doktor Rabe mit unterdrückter Ablehnung. Er hatte es noch nicht vergessen, daß sein Name für Lilli jahrelang ein Schreckgespenst gewesen war. Und auch jetzt fand Ludwig, daß dieser Fremde seinen Zwilling über die Maßen in Anspruch nahm. Es war doch schon wirklich genug, daß die Redaktion den Hauptteil ihrer Gedanken mit Beschlag belegte, was mußte er sich denn da noch in ihr Privatleben drängen! Er hatte jetzt sowieso wenig genug von seiner Lilli.

Doktor Rabe ahnte natürlich nichts von diesen brüderlich eifersüchtigen Gefühlen und kam dem jungen Mann mit offener Freundlichkeit entgegen.

Aber auch Lilli hatte mit kleinen eifersüchtigen Anwandlungen zu kämpfen. Diese galten Sonja oder vielmehr der Musik. Der Redakteur, ein begeisterter Musikfreund, war von Sonjas künstlerischem Violinspiel begeistert. Am ersten Abend im Steffenschen Hause hatte sie mit Ilse Gerhard Duette gespielt. Und da Doktor Rabe selbst Cellist war, hatten die drei sofort Trioabende verabredet. Lilli, die eigentliche Ursache der Bekanntschaft, kam sich dabei etwas ausgeschaltet vor. Sie hatte ihre Kinderklavierstunden aus Mangel an Begabung aufgegeben. Und wenn sie auch Musik sehr liebte, so mußte sie sich doch darauf beschränken, das Publikum an diesen Trioabenden darzustellen.

Noch manche andere Veränderung hatte der Sommer im Gefolge gehabt. Bei Onkel Martin war wieder Einquartierung eingerückt, ein Prinzeßchen war's auch diesmal, Tante Gretchens Ebenbild. Aber jetzt protestierte Onkel Martin nicht gegen seine Vaterwürde, sondern tat so, als ob solch ein intelligentes Vierwochenkind überhaupt noch nicht in die Welt geschaut hätte.

Das Lumpenprinzeßchen, an dem er kurze Zeit Vaterstelle vertreten hatte, war in Ostpreußen festgewurzelt. Es tat gut und wuchs zu einem brauchbaren Menschen heran. So lauteten die Berichte Lenas, die seit Ostern dort ebenfalls ihre Heimat und eine sie befriedigende Lehrtätigkeit gefunden hatte. Zu Oktober sollten Frau Ritter und die kleinen Geschwister ebenfalls nach Angerburg übersiedeln. Auch in dem Gemollschen Hause standen Veränderungen bevor. Die Parterrewohnung war für Gerhards doch zu beschränkt, wenn auch Ilse nach Rückkehr des Vaters ein Zimmer oben bei Fräulein Gabriele bezogen hatte, zwar mit großer Überwindung, denn die unmittelbare Nähe der vielköpfigen Katzenfamilie war nicht gerade verlockend für Ilse. Aber ihre Tochterliebe war doch größer als ihre Katzenabneigung. Seit Ostern bekleidete Herr Gerhard wieder seinen früheren Posten bei der Bank. Daß er den Wunsch hatte, sich wieder irgendwo anzukaufen, um auf eigenem Grund und Boden zu leben, war ja verständlich, aber für Fräulein Gabriele doch sehr schmerzlich. Denn wo fand sie wieder so liebe Mieter – na jachen! Es war nur gut, daß sich so schnell nichts Geeignetes für Gerhards bot!

Lilli hatte ein Märchenspiel geschrieben, ein Weihnachtsmärchen. Nicht die übliche Dramatisierung der bekannten Kindermärchen, sondern aus eigenem Phantasieborn hatte sie geschöpft. »Die Glockenmännlein« hieß es. Das Treiben der kleinen Geister in den Kirchenglocken, die aufs innigste mit allen wichtigen Lebensabschnitten der Menschen verknüpft sind, war darin allerliebst mit Poesie und Humor geschildert. Die Fürsorge der »Glockenmännlein« für das blonde Türmerliesel, das mit ihnen eine Reise in die große Weihnachtsglocke unternimmt, bildete den Inhalt des Weihnachtsmärchens. Eigentlich war es nur für das Kinderblatt geschrieben worden. Aber unter den Händen hatte es sich verwandelt, dramatische Gestalt angenommen und war über den Rahmen des Kinderblattes weit hinausgewachsen. Nun hatte Lilli nichts damit anzufangen gewußt. Aber Sonja war nicht um Rat verlegen.

»Wirrd gesandt an Theaterr, wo aufführren Kinderrvorrstellungen zu Weihnacht,« hatte sie ohne langes Besinnen entschieden.

»Nein, Sonja, das geht auf keinen Fall. Das müßte ich doch den Eltern erzählen – und vor allem, es wird ja gar nicht angenommen.«

»Warrt ab, mein Täubchen!« Sie drängte so lange, bis Lilli die »Glockenmännlein« wirklich an ein Berliner Theater, das Kindervorstellungen zu Weihnachten zu bringen pflegte, einsandte, natürlich als Steffen Liman mit postlagernder Antwort.

Eine ganze Weile hörte Lilli nichts von ihren »Glockenmännlein«. Die Blätter im Garten begannen schon zu fallen, Lilli dachte kaum noch daran, an dem Postschalter nachzufragen, ob etwas für Steffen Liman eingegangen sei. Sicher war das Märchenspiel in den Papierkorb gewandert, und sie erhielt von der Theaterdirektion überhaupt keine Antwort.

Da, eines Tages, als sie sowieso etwas auf der Post zu besorgen hatte, fragte sie mal wieder an. Sie entfärbte sich, als der Beamte mit gleichgültiger Miene einen Brief aus einem Fach zog.

O Gott. Sicher bekam sie das Stück nur zurück, sie brauchte wirklich nicht zu fürchten, daß es etwa angenommen worden sei. Merkwürdig dünn war der Brief. Das Manuskript konnte nicht darin sein. Mit zitternden Fingern riß Lilli den Umschlag ab.

Die Theaterdirektion teilte Herrn Steffen Liman mit, daß sie sein Stück »Die Glockenmännlein« zur diesjährigen Weihnachtsaufführung erwerben wolle. Der Herr möchte sich in das Theaterbureau bemühen, um die Bedingungen zu besprechen und den Vertrag zu schließen.

Lilli mußte sich auf eine Bank setzen. Die Beine waren ihr plötzlich wie gebrochen. Was nun? Sie freute sich kein bißchen. Keine Empfindung des Stolzes oder der Genugtuung kam ihr, nur grenzenlose Beklemmung, wie sie sich aus diesem Wirrwarr wieder herausfinden sollte. Das hatte sie Sonja zu verdanken. Sie war ihr ernstlich böse. Nun mußte sie sich gleich morgen bei Doktor Rabe beurlauben, denn das Theaterbureau war nur vormittags geöffnet. Und der Brief war schon einige Tage alt. Was für einen Grund schützte sie nur vor! Schrecklich, daß sie ihn wieder belügen mußte! So zog eine Unwahrheit immer eine neue nach sich. Den Eltern wollte sie natürlich erst etwas davon sagen, wenn der Vertrag wirklich unterzeichnet war.

Sonja jubelte. Alle Vorwürfe Lillis nahm sie lachend in den Kauf. »Ist mirr eine Ehrre, zu werrden gekanzelt ab von berühmterr Dichterr,« sagte sie und küßte die Freundin nach russischer Art auf beide Wangen.

Noch eine Hoffnung blieb Lilli, die vor der Eröffnung den Eltern gegenüber ungefähr ebenso bangte, wie vor Jahren, als sie den Märchenpreis gewonnen hatte, nämlich, daß der Vertrag nicht zustande kommen könnte, wenn die Theaterdirektion sah, daß Steffen Liman eine junge Dame war.

Ganz blaß und übernächtig sah sie am anderen Vormittag aus, als sie Doktor Rabe um Urlaub bat.

»Sind Sie krank, Fräulein Steffen?« In der Redaktion nannte er sie stets förmlich mit dem Vatersnamen, während er im Familienkreise Fräulein Lilli zu sagen pflegte.

»Ich habe Kopfschmerzen.« Das war keine Unwahrheit, denn ihre Schläfen hämmerten.

»Fiebern Sie auch nicht?« Er griff nach ihrem Puls. Der flog.

»Machen Sie nur keine Geschichten, Kindchen, und werden Sie nicht krank! Und daß Sie morgen nicht etwa in die Redaktion kommen, wenn Sie sich nicht ganz wohl fühlen!« Für Lilli war jedes gute Wort, das er ihr gab, wie brennendes Feuer. Grenzenlos undankbar kam sie sich vor, daß sie ihn hinterging.

Lillis Hoffnung erfüllte sich nicht. Der Vertrag wurde unterzeichnet. Auf den fünfzehnten November wurde die Erstaufführung der »Glockenmännlein« von Steffen Liman festgesetzt.

Jetzt stand Lilli in ihres Vaters Studierzimmer mit einem so bösen Gewissen, wie in ihrer Kinderzeit, wenn es etwas zu beichten gab. Und wie damals das Liliputchen, barg heute die erwachsene Lilli den Kopf an Vaters Schulter.

»Väterchen, ich muß dir etwas sagen.«

»Das sehe ich, Kind. Diese Armsünderstellung ist mir noch bekannt.«

»Ich – ich habe hin und wieder Märchen und Gedichte geschrieben und ...«

»Und habe sie unter dem Namen ›Steffen Liman‹ veröffentlicht,« vollendete der Vater mit ruhiger Stimme Lillis erregte Eröffnung.

»Woher weißt du denn das?« Lilli sah nicht sehr geistreich in diesem Augenblick aus.

»Mein Liliputchen kenne ich und ihre der meinigen verwandte Wesensart ebenfalls. Ich brauchte gar nicht mehr nachzusehen, ob die Beiträge mit dem Namen Steffen Liman unterzeichnet waren. Ich fühlte es vorher schon, was von dir stammte. Aber in dein Vertrauen wollte ich mich nicht eindrängen, Kind.«

»Ach, Vaterchen, das ist noch gar nicht alles. Jetzt kommt erst das Eigentliche.« Lilli machte ein unbehagliches Gesicht.

»Noch mehr ausgefressen?«

»Ja – ich soll aufgeführt werden – oder vielmehr meine ›Glockenmännlein‹,« Lilli reichte dem Vater den Vertrag hin mit einer Miene, als sei es ihr Todesurteil.

Der Vater durchflog das Schriftstück.

»Nun, Lilli, ich kann eigentlich nichts so Betrübliches darin finden, im Gegenteil« – Vaters Augen leuchteten in stiller Freude – »Mieze – Frau – komm mal rein!« rief er mit erhobener Stimme ins Nebenzimmer. »Unsere Mutter gehört bei einer Freude doch auch dazu!«

Frau Mieze erschien gleich darauf nichtsahnend.

»Lies mal!« Doktor Steffen schob seiner Frau den Vertrag zu.

»Hm – was geht uns der fremde Mensch an?«

»Hier stelle ich dir Herrn Steffen Liman vor, Mieze.« Lachend wies der Vater auf die erglühende Tochter.

»Was? Ja, Mädel, was fällt denn dir ein?« Die Mutter zog ihr Kind in die Arme und küßte es herzlich. »Aber wozu die Heimlichkeit, Lilli? Wenn einer etwas kann, soll er's auch ehrlich mit seinem Namen vertreten.«

»Im Anfang wagte ich es nicht, Muttchen, weil ich nicht wußte, wie die Sachen aufgenommen würden. Und nun komme ich aus dem Versteckspiel nicht mehr heraus. Ach, ich bin ja so froh, daß ihr es jetzt wißt! Nur Doktor Rabe liegt mir noch schwer auf der Seele.« Sie wurde, wenn möglich, noch etwas röter.

»So erleichtere sie dir doch, Kind, indem du ihm ebenfalls reinen Wein einschenkst!«

»Nein, das ist unmöglich – nach der Aufführung vielleicht. Er wird wahrscheinlich zur Kritik berufen sein, da soll er in keiner Weise beeinflußt werden.« So beschönigte Lilli vor den Eltern und vor sich selbst ihre Feigheit, Doktor Rabe die Wahrheit einzugestehen. »Tut mir den Gefallen und sagt ihm nichts von der Sache, wenn er mal zu uns kommt.«

Lilli brauchte nicht bange zu sein, daß Doktor Rabe von anderer Seite erfuhr, wer Steffen Liman eigentlich sei. Gerade in den Wochen vor der Aufführung lag besonders viel Arbeit in der Redaktion vor, so daß er keine Zeit zu Besuchen fand. Trotz der angestrengten Tätigkeit aber hatte er noch so viel Zeit, darüber nachzudenken, warum Lilli Steffen jetzt ihm gegenüber so scheu und ungleichmäßig erschien. Gerade ihr freies, unbefangenes Wesen war es, was ihm an ihr so gut gefallen hatte.

Die letzten Wochen vor dem fünfzehnten November flogen wie Tage dahin. Immer näher rückte das Schreckgespenst für Lilli – die Erstaufführung. Sie hatte auf Wunsch des Dramaturgen einer Probe beigewohnt und war ganz überrascht, was aus ihrem Weihnachtsspiel geworden war. Halb wünschte sie, daß Doktor Rabe der Aufführung beiwohnen möge, halb fürchtete sie es. Alle Anverwandten und Bekannten hatten bereits Eintrittskarten. Denn wie ein Lauffeuer hatte es sich verbreitet, daß Lilli Steffen unter die Dichter gegangen sei, und daß ihr erstes Werk am fünfzehnten November unter dem Namen Steffen Liman aufgeführt würde. Margots ganze Klasse hatte Karten gekauft, sämtliche Lehrer und Lehrerinnen der Schule. Alle hatten sie noch Interesse für die einstige Schülerin »Lilli Liliput«.

Ludwig und Ilse Gerhard waren aufgeregter als Lilli selbst. Sonja war unverwüstlicher Zuversicht. Onkel Martin drohte ihr bereits mit einem Lorbeerkranz. Und Tante Gretchen wollte durchaus ihre halbjährige Erika mit zu der Aufführung nehmen.

Nur einer war ausgeschaltet aus diesem Interessenkreis, derjenige, an dem Lilli eigentlich am meisten lag. Er schien überhaupt noch nichts von der Erstaufführung gehört zu haben.

Da, zwei Tage vor dem fünfzehnten, trat Doktor Rabe, zwei Logenkarten in der Hand, zu seiner Sekretärin.

»Fräulein Steffen, das wird Sie interessieren. Unser Mitarbeiter Steffen Liman hat ein Kinderweihnachtsmärchen geschrieben. Übermorgen ist die Uraufführung. Da müssen Sie unbedingt mit. Ich bin sehr begierig zu erfahren, was er als dramatischer Dichter leistet.«

»Was wollen Sie denn in solcher Kindervorstellung, Herr Doktor! Das ist doch nichts für Sie!« Mit erblaßten Lippen versuchte Lilli den Redakteur fernzuhalten.

»Aber erst recht, Fräulein Lilli! Gerade für derartige Kinderaufführungen habe ich das wärmste Interesse. Schneewittchen, Dornröschen und Frau Holle steht jedes Jahr auf dem Repertoir. Aber daß jemand mal den Mut hat, mit etwas Neuem, Eigenem zu kommen, ist anerkennenswert. Also wir gehen!«

»Ich – ich kann leider nicht – ich bin – ich bin verhindert.« Stotternd kam es heraus. Wie das leibhaftige böse Gewissen sah das reizende Mädchengesicht aus. Kopfschüttelnd verließ Doktor Rabe das Zimmer. Was war mit der Lilli los? Denn daß sie nur etwas vorgeschützt hatte, war ja klar. Sie mied das Beisammensein mit ihm. Das schmerzte ihn.

Der fünfzehnte November brach an, ein nebelgrauer Regentag. Lilli vermochte nicht, heute Doktor Rabe gegenüberzutreten. Sie, die peinlich Pflichtgetreue, ging nicht in die Redaktion. Sie fühlte sich auch wirklich körperlich elend.

»Kind, mehr als reinrasseln kann dein Stück nicht. Es war schon größeren Dichtern als dir beschieden, daß sie ausgepfiffen worden sind. Also nur frischen Mut!« Besorgt blickte der Vater auf sein verändertes Mädel.

»Lilli, komm, hilf mir beim Wäscheplätten! Arbeit ist die beste Arznei gegen unnütze Kopfschmerzen.« Frau Mieze faßte ihr Kind strammer an.

Wirklich, Lilli vergaß minutenweise bei der Arbeit und bei der Mutter frischem Geplauder, daß sie am Nachmittag zum Schafott mußte.

Trotzdem verging der Vormittag langsamer als all die Wochen vorher. Die Zeit kroch.

Aber schließlich kam doch die Stunde heran, in der die gesamte Steffensche Familie das Haus verließ. Nur Schnauzel blieb mit traurig herabhängenden Ohren zurück.

»Auf – zur Hinrichtung!« kommandierte Ludwig.

Viel anders war Lilli auch wirklich nicht zumute. Sie hatte sich dagegen gesperrt, zum erstenmal ihr neues Seidenkleid, zu dem sie sich in diesem Winter aufgeschwungen hatte, anzulegen. Es hatte korallenrote Farbe – »wie mein eigener Henker würde ich mir darin vorkommen,« hatte Lilli geäußert. Aber Sonja hatte nicht locker gelassen. Die Freundin sollte heute so schön als möglich erscheinen. Auch die Mutter hatte Sonja darin unterstützt, daß eine würdigere Gelegenheit zur Einweihung des Kleides nicht wiederkehren würde. »Also meinetwegen tut, was ihr nicht lassen könnt; schmückt das Opferlamm!« Lilli hatte sich ergeben.

Puh, war das ein gräßliches Wetter! Man fror äußerlich und innerlich. Wo war Lillis frischfröhlicher Mut hin, mit dem sie sonst allen Lebenslagen begegnete? Und wenn sie sich klar darüber wurde, weshalb sie sich eigentlich derart aufregte, so waren eigentlich weniger die »Glockenmännlein« daran schuld und der vielleicht mit ihnen verknüpfte Mißerfolg als die Möglichkeit, daß Doktor Rabe sie im Theater erblicken könnte und sah, daß sie ihn belogen hatte, als sie die zweite Redaktionskarte ablehnte.

Es schlug halb vier, als das Theater erreicht war. Auf vier Uhr war der Beginn festgesetzt. Vor dem Theater und im Vestibül wimmelte es von Kindern, nicht weniger aufgeregt als die junge Verfasserin. Bekannte begrüßten Lilli. Großmama zog sie in die Arme, Onkel Martin feierte sie als Sappho II., die treue Ilse drückte ihr teilnehmend wie bei einer Beerdigung die Hand. Lilli flüchtete in die ihr und ihrer Familie angewiesene Loge. Dort drückte sie sich ganz hinten in eine Ecke und war nicht dazu zu bewegen, sich mehr in den Vordergrund zu setzen. »Falsche Bescheidenheit« nannte es die Mutter. Sie ahnte ja nicht, vor wem Lilli sich verkroch, Lilli starrte auf den Theaterzettel in ihrer Hand. Da stand es: »Die Glockenmännlein. Weihnachtsmärchen in fünf Bildern von Steffen Liman.« Ach – wäre sie doch niemals auf diesen Namen verfallen! Der große Theaterraum war noch ziemlich leer. Diese Öde wirkte noch beklemmender. Lilli hörte ihr Herz schlagen.

Allmählich füllte es sich. Margot war von grenzenloser Aufregung und kaum zu bändigen. Sie war zum erstenmal im Theater und kam sich außerdem als Hauptperson vor. Sie nickte hierhin und dorthin und zog die Aufmerksamkeit der zahlreich erschienenen Bekannten auf ihre Loge.

Das erste Klingelzeichen – Lillis Herz setzte aus. Das zweite sie griff nach des Vaters Hand. Die wirkte ein klein wenig beruhigend. Zum drittenmal tönte die Klingel. Lilli erschien sie wie das Armsünderglöcklein.

Der Vorhang hob sich.

Man sah das Türmerstübchen, hoch oben im Glockenturm, und das blonde Türmerkind geschäftig die Abendsuppe für den Großvater bereiten. Das Lied, das es dabei sang, erschien Lilli ganz fremd. Sie erkannte ihre eigenen Verse nicht.

Sehr drollig wirkte der am Herd schnurrende Kater, mit dem das Türmerliesel Zwiesprach hielt. Das kleine Publikum jubelte.

So – die Suppe für den Großvater stand warm am Herd, und das Liesel kroch in sein Bett. Es sprach sein Nachtgebet. Leise begann die Abendglocke dazu zu läuten. Das Türmerliesel hatte es nicht so gut wie andere Kinder. Es besaß weder Vater noch Mutter, nicht einmal ein Weihnachtsbäumchen, trotzdem gerade heute Heiligabend war. Der Großvater war, nachdem er die Heilige Nacht eingeläutet hatte, von seinem Turm herabgestiegen zu den Menschen, um von ihnen etwas für sein Enkelkind zu erbitten. Denn er war arm und konnte ihm keine Weihnachtsfreude machen.

Leise Musik – das Türmerliesel schlief ein. In den Glocken ringsum aber begann es sich plötzlich zu regen. Die Glockenmännlein kletterten in der Weihnachtsnacht aus ihren Glocken heraus und begannen die schlummernde Liesel zu umtanzen. Dabei fragten sie die kleine Schläferin, ob sie sie kenne.

»Ich kenne sie,« schrie ein kleiner Zuschauer aus dem Parkett lebhaft dazwischen. »Das sind ja die Zwerge aus Schneewittchen!« Allgemeines Gelächter folgte auf den unbeabsichtigten Witz. Dann nahm das Spiel seinen Fortgang. Da war Pips, der in der Kinderglocke wohnt, die bei der Geburt der kleinen Erdenkinder ertönt, Fips, der in der Hochzeitsglocke haust, und Trips, der schwarze, dem die Trauerglocke gehört. Ein feuerroter kleiner Geist, Schnapp genannt, stellte sich vor; dessen Glocke rief bei Feuersgefahr die Menschen zum Löschen. Dann gab es noch das Morgenmännlein, das Mittags- und das Abendmännlein, welche die Tageszeiten den Menschen verkündeten. Der schönste von all den kleinen Geistern aber war Blink, der in der Weihnachtsglocke zu Hause war. Der hatte ein silbernes Kleid an und einen Stern im Haar. Sie alle waren die Freunde der kleinen Türmerliesel. Und weil es ein gar so braves Kind war und so wenig Freude hatte, beschlossen die Glockenmännlein, ihm einen schönen Weihnachtsabend zu bereiten. Es sollte mit ihnen in die große Weihnachtsglocke reisen, in der sie Weihnachten feierten. Zur Begeisterung des kleinen Publikums wurde das schlafende Liesel aus dem Bett geholt und auf einen kleinen Silberschlitten gepackt. Denn in der Weihnachtsglocke lag Schnee. Die Glockenmännlein spannten sich sämtlich vor, und unter den Klängen »O du selige, o du fröhliche, gnadenbringende Weihnachtszeit« fuhr der Schlitten davon.

Der erste Akt war zu Ende. Aber die Musik spielte weiter, und mit hellen Kinderstimmen fielen die kleinen Zuschauer in den Rängen und im Parkett ein. Ein Weihnachtslied folgte auf das andere, bis der Vorhang wieder in die Höhe ging. Es war herzerquickend. Lilli hatte kaum Zeit, festzustellen, daß gerade in der Loge gegenüber Doktor Rabe seinen Platz hatte. Diese Kinderfröhlichkeit riß auch sie mit fort.

Bild folgte auf Bild. Man begleitete das Türmerliesel auf seiner Fahrt durch die Weihnachtsglocke. Zuerst kam die Pfefferkuchenstadt, wo das Pflaster aus süßen Pfefferkuchenpflastersteinen gemacht und die Tore aus Christstollen erbaut waren. Da gab es Rosinenmänner, Marzipanfrauen und niedliche kleine Nußkinder in goldenen Schaumkleidern. Die sangen und tanzten Ballett. Dann kam das Türmerliesel an den Weihnachtskarpfenteich. Am begeistertsten aber war das kleine Publikum, als es jetzt in das Spielzeugland ging. Nein, was gab es da aber auch alles! Was nur ein Kinderherz entzückt, war dort lebendig geworden. Puppen, große und kleine, Balldamen und Babys spazierten mit Hampelmännern und Zinnsoldaten untergefaßt umher. Der Struwwelpeter erschien, der Teddybär tanzte, lebendige rote und blaue Bälle sprangen auf und ab, und der große Brummkreisel drehte sich, im tiefsten Baß ein Lied singend. Plumps – da lag er zum Jubel der Kinder auf der Nase.

Lilli sah, wie lebhaft und begeistert Doktor Rabe Beifall klatschte. Da löste sich bei diesen allgemeinen Beifallkundgebungen allmählich der Druck, der ihr das Herz abpreßte. Und eine große Freude nahm statt dessen davon Besitz, besonders als Vater ihr die Hand drückte und ihr zuflüsterte: »Mein Liliputchen!« und auch Muttchen ihr freudig stolz versicherte: »Wirklich allerliebst, Lilli, ich hätte dir das gar nicht zugetraut, mein Mädel!«

Großmama, die in der ersten Reihe dicht vor dem Vorhang saß, damit ihr nur kein Wort entging, drehte sich in Großmutterglück fast den Hals nach Lillis Loge aus und hörte nicht auf mit Winken und Nicken. Onkel Martin klatschte so laut, daß ihn Lilli jedesmal aus den Beifallskundgebungen heraushörte, und selbst wenn der Applaus schon schwieg, klatschte er allein noch immer.

Weiter, immer weiter ging die Reise mit den Glockenmännlein, bis in Knecht Ruprechts Wolkenreich. Dort gab es die schönsten Weihnachtsbäume, und jeder Baum gehörte einem Tannenelfchen. Die führten die Glockenmännlein zu Tisch, zur Weihnachtstafel. Obenan aber saß der kleine Weihnachtsgeist mit dem Türmerliesel. Und nun sollte das Liesel sagen, wo es ihm am besten gefallen habe; da dürfe es künftig wohnen. Schon wollte es rufen: »In der Pfefferkuchenstadt« – ach nein, im Spielzeugland war es ja noch viel schöner gewesen! Aber da klang ein leiser, leiser Glockenton zu ihr, ganz weit her – kaum hörbar. Das mußte der Großvater sein, der die Weihnachtsglocke läutete. Wollte sie den alten Mann wirklich allein lassen?

»Nein, nein, ich will wieder nach Hause zu meinem Großvater in unser kleines Stübchen,« rief es.

»Du bist ein braves Kind.« Knecht Ruprecht klopfte ihr die Wangen. »Und darum sollst du dir auch ein Weihnachtsbäumchen hier aussuchen, das darfst du dir mitnehmen.«

Ein Tannenelfchen mit einem allerliebsten Bäumchen nahm neben dem Türmerliesel auf dem Silberschlitten Platz. Die Glockenmännlein spannten sich wieder vor, und zurück ging die Reise. Und überall, im Spielzeugland und in der Pfefferkuchenstadt, ließ Blink, der Weihnachtsgeist, halt machen. Dort durfte sich das Türmerkind etwas aussuchen und mitnehmen. Der Silberschlitten war ganz voll beladen, als die Glockenmännlein ihre kleine Freundin wieder in das Türmerstübchen zurückbrachten.

Das Schlußbild: Liesel erwacht in ihrem Bett. Vor ihr steht ein brennendes Weihnachtsbäumchen, und das Elfchen schwebt als kleiner Engel an seiner Spitze. Ein Pfefferkuchenmann und eine Puppe liegen unter dem Baum. Oh, Liesel weiß ganz genau, wo die herstammen! Der Großvater aber steht mit frohen Augen daneben. Er ahnte ja nichts von Liesels nächtlicher Reise in die große Weihnachtsglocke. Die Glockenmännlein aber wissen es. Sie lugen allenthalben zum Stübchen herein und stimmen im Chor das Schlußlied an: »Stille Nacht, heilige Nacht.« Der Großvater und das Liesel fallen ein, und all die Kleinen unten im Theaterraum singen andächtig das Weihnachtslied mit.

Lilli war von ihrem eigenen Stück so mitgerissen, so gefangengenommen, daß sie gar nicht merkte, daß bei den ersten Klängen des Weihnachtsliedes ein Herr in ihre Loge trat. Erst als dieser ihre Schulter berührte, fuhr sie hoch.

Es war der Regisseur.

»Gnädiges Fräulein, bitte, kommen Sie mit hinter die Bühne. Man wird den Autor herausrufen, das Stück findet allgemeinen Beifall.«

»Nein, nein, das geht nicht! Das kann ich auf keinen Fall!« Sie war doch nicht Gerhard Hauptmann! Lilli verkroch sich entsetzt.

»Doch, gnädiges Fräulein, es gehört nun mal dazu. Es wird die Begeisterung noch steigern, wenn Sie sich zeigen.«

Ohne weiteres griff der Regisseur nach ihrem Arm und führte sie hinaus.

Willenlos folgte die junge Autorin. Es nützte ja nichts, ihr Sträuben. Sie mußte mit aufs »Schafott«. Durch dunkle Gänge, zwischen Kulissen und Schauspielern hindurch – jetzt stand Lilli unter dem brennenden Weihnachtsbaum im Türmerstübchen.

Der Vorhang war bereits gefallen. Brausendes Händeklatschen durchtobte das Theater. Dazwischen die Rufe: »Autor – Autor 'raus – Steffen Liman!«

Nicht die Furcht vor der Menge war es, die Lillis Herz sekundenlang aussetzen ließ, nur vor einem. Was würde der sagen, wenn er Steffen Liman hier oben erblickte!

Der Vorhang hob sich.

Ein goldblondes Elfenkind, das aus dem Märchenreich zu stammen schien, im korallenroten Gewand ward sichtbar an Stelle des erwarteten Dichters.

Ein schwarzes, tosendes Menschenmeer – es brauste und sauste vor Lillis Augen.

»Bravo – bravo – hoch – hoch Steffen Liman« – Blumen flogen zu Lillis Füßen. Ilses und Sonjas Hand hatten sie geworfen.

Lilli sah und hörte nichts davon. Nur zwei entsetzte Augen sah sie auf sich gerichtet, sah lebhaft klatschende Männerhände jäh herabsinken.

Sie vergaß, sich dankend zu verneigen und empfand erst einige Erleichterung, als der Vorhang endlich fiel.


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