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Achtes Kapitel

Mittelstandsküche

Bei Steffens herrschte erwartungsvolle Freude. Einer von Lillis einstigen Schützlingen, dem sie während des Krieges Liebesgaben ins Feld gesandt, hatte ihr aus Dankbarkeit von dem Bauernhof seiner Eltern eine »Futterkiste« angemeldet, die sollte sie nach Geschäftsschluß auf dem Schlesischen Bahnhof in Empfang nehmen.

Lilli hatte ihrer Mutter versprechen müssen, da es mit dem Heimkommen spät werden konnte, irgendwo etwas Warmes zu Mittag zu essen. Natürlich hatte Großmama, sobald sie davon hörte, ihren Liebling zu sich eingeladen. Sie hätte gerade von Verwandten etwas Gutes geschickt bekommen. Das aber wollte Lilli keineswegs der Großmama entziehen und bestand darauf, in der Mittelstandsküche zu speisen. Sie hätte schon längst den Wunsch gehabt, diese Einrichtung aus eigenem Augenschein kennen zu lernen, weil ihre Freundin Lena Ritter, die das Seminar besuchte und nachmittags in den unteren Klassen unterrichtete, dort häufig zu speisen pflegte.

Nun war die Mittelstandsküche, die Lena Ritter zu besuchen pflegte, in der Nähe des Zoologischen Gartens, also in der besten Gegend Berlins, gelegen. Die aber, zu der Lilli Steffen jetzt ihre Schritte lenkte, lag im Zentrum der Stadt, im Geschäftsviertel. Dementsprechend stimmte sie nicht ganz mit dem Bilde überein, das Lillis geschäftige Phantasie ihr nach Lenas begeistertem Bericht gemalt hatte. Vergeblich suchte Lilli nach den Blumenvasen, die jeden Tisch schmücken sollten. Auch die weißen, sauberen Papiertischtücher, die Lena gerühmt hatte, waren hier nicht zu sehen. Der schmale, langgestreckte Raum war nicht sehr einladend und überfüllt. Fortwährend kamen und gingen Gäste. Dunstige warme Luft, von scharfem Kohlgeruch durchsetzt, schlug Lilli entgegen. Zwischen den auf einen Platz Wartenden drängten sich bedienende junge Mädchen mit dampfenden Tellern hindurch. Aufsichtführende Damen bewogen Saumselige zum Aufstehen und wiesen Eintretenden Plätze an.

Lilli hätte am liebsten sofort wieder kehrtgemacht. Die städtische Volksspeisung draußen in Schlachtensee, aus der sie das Abendessen zu holen pflegten, machte einen weit freundlicheren Eindruck, wies nicht den zehnten Teil der Besucher auf und war neu und hell. Aber Lilli zwang sich zum Bleiben und hielt inmitten des Tumultes sich selbst eine kleine Standrede: »Schäm' dich doch, Mädel! Das habe ich ja gar nicht gewußt, daß du solchen Sparren im Kopf hast. Spielst immer die Bescheidene und Einfache, und wenn es mal gilt, zu beweisen, daß du vorliebnehmen kannst, willst du auf und davon. Hiergeblieben!«

Nachdem sich Lilli so den Kopf selbst zurechtgesetzt hatte, nahm sie auf einem Stuhl zwischen einer Bahnschaffnerin und einer Straßenkehrerin, die nicht gerade angenehm roch, mit einiger Überwindung Platz.

Auf die Frage, ob sie Kohl oder Nudeln wünsche, entschied sich Lilli für letztere, und nahm dann ihre Umgebung etwas genauer in Augenschein.

Kaufmannslehrlinge, Schreibmaschinenmädchen und Telephonistinnen, Briefträger, nett aussehende ältere Damen, Bürgerfamilien mit lebhaften Kindern und Gasarbeiter in blauem Arbeitskittel saßen in bunter Reihe freundschaftlich nebeneinander. Lilli war stets für Volksgemeinschaft eingetreten, aber leider nur in der Theorie, wie sie heute erkannte. Es hätte ihren Appetit doch entschieden erhöht, wenn die Straßenkehrerin, die recht unmanierlich in den Zähnen herumstocherte, ihr nicht gegenübergesessen hätte.

Diese erhob sich nun zum Glück, und eine der Aufsichtsdamen schob einen neuen Ankömmling mit »bitte, hier wird ein Platz frei« zu dem leeren Stuhl.

Lilli sah flüchtig auf, und plötzlich gab es ihr einen Ruck bis in die Zehen. Fräulein Liedtke war es, die gerade auf ihren Tisch lossteuerte, mit einem Male haltmachte und nach einem anderen Platz ausspähte. Aber da kein anderer Stuhl frei war, mußte Fräulein Liedtke wohl oder übel sich an Lillis Tisch niederlassen. Sie neigte das Haupt mit den gebrannten Ponylöckchen um einen halben Zentimeter – beileibe nicht tiefer – mit allgemeinem Gruß für alle am Tisch Sitzenden. Die Kollegin beachtete sie nicht. Lilli schlugen die Flammen ins Gesicht vor Ärger. Ein sanftmütiges Lämmchen war sie keineswegs. Ihr gesunder Appetit, schon durch die wenig gemütliche Umgebung stark herabgemindert, verflüchtigte sich noch mehr. Also so unsympathisch war sie der Kollegin, daß diese nicht einmal an einem Tisch mit ihr sitzen mochte, sie keines besonderen Grußes würdigte? Der Ärger würgte Lilli im Halse.

Da brachte ihr das Mädchen den bestellten Teller mit Nudeln.

»Mohrrüben oder Kohl?« wandte sie sich an die Neuhinzugekommene.

»Ich möchte Nudeln,« bestellte Fräulein Liedtke mit einem Seitenblick auf den eben gebrachten Teller.

»Gibt's nicht mehr – Mohrrüben oder Kohl?«

»Mohrrüben habe ich erst gestern gegessen, und Kohl – –« die junge Dame zog die Nase kraus.

Lilli schwankte. Ihr gefälliges Wesen trieb sie, der Kollegin den eigenen Teller anzubieten. Aber wenn sie eine Abweisung erfuhr?

Ach was! – hatte Ludwig ihr nicht geraten, entweder der Betreffenden aus dem Wege zu gehen oder zu versuchen, sich ihr sympathischer zu machen? Das erste war ihr nicht gelungen, also wollte sie es einmal mit dem zweiten versuchen. Lilli schob ihren unberührten Teller mit einem halb schüchternen, halb kindlich bittenden Gesicht der Gegenübersitzenden zu: »Bitte, Fräulein Liedtke, nehmen Sie meine Nudeln – ich esse Mohrrüben auch sehr gern.«

Man mußte wirklich schon ganz in Abneigung erstarrt sein, um diesem herzenswarmen Liebreiz widerstehen zu können.

Auch die Kollegin konnte sich ihm nicht verschließen. Aber das war es ja gerade, was sie, die Unschöne, gegen das reizende junge Ding, dem alle Herzen zuflogen, einnahm, mehr als die Niederlage, die sie mit ihrem Englisch erlitten. Der Neid stieg wieder in ihr empor und malte zwei rote Flecke auf ihre blassen Wangen. Mit abweisender Stimme sagte sie: »Danke, ich esse Kohl.«

Lilli war abgeblitzt. Beschämung und Empörung stritten in ihr. Am liebsten hätte sie jetzt das Prügelmittel, mit dem der Bruder sich bei seinem Schüler Sympathie verschaffen wollte, in Anwendung gebracht. Aber da man im allgemeinen so etwas nur denkt, doch nicht tut, machte sich Lilli statt dessen stumm an das Verzehren ihrer Nudeln. Sie mundeten ihr jedoch gar nicht. Sicher hätte es ihr immerhin besser geschmeckt, wenn statt der unfreundlichen Kollegin noch die Straßenkehrerin ihr Gegenüber gewesen wäre.

Sie saß wie auf Kohlen. Sie, die jedem Menschen frei und offen ins Gesicht zu blicken pflegte, heftete ihr Auge jetzt krampfhaft auf einen Fleck in der Tischplatte. Nach dem letzten Bissen erhob sie sich, nickte flüchtig überallhin und verließ mit tiefem Aufatmen die Mittelstandsküche.

Was nun? Die Essenspause währte noch eine halbe Stunde. Sollte sie noch geschwind zu der nicht allzu entfernt wohnenden Großmama springen? Aber nein; Lilli scheute heute, zum erstenmal in ihrem Leben, die lieben klaren Augen der alten Dame. Großmamas Augen würden es mit dem nie fehlgehenden Gefühl der Liebe erkennen, daß nicht alles bei ihr in Ordnung war. Lilli war eine zu offene Natur, um die sie augenblicklich beherrschenden Empfindungen verbergen zu können. Der Großmama durfte sie ihr Heim nicht mit der häßlichen Erfahrung, die sie soeben gemacht hatte, verdüstern.

Ins märkische Museum? Es war nicht weit dahin, aber Ludwig hatte mit ihr verabredet, diese Sammlung einmal gemeinsam mit ihr zu besuchen. Dem Bruder zuliebe wollte sie nun nicht früher allein hingehen.

Halt! – da war ja der Krögel, eine der ältesten Durchgangsgassen von Alt-Berlin. Er führte vom Molkenmarkt zur Spree hinunter. Großmama hatte den Kindern öfters von diesem malerischen, einst von Schiffern und Fischern bevölkerten Gäßchen erzählt. Bei Lilli war sofort der Wunsch rege geworden, dieses Stückchen Alt-Berlin in Augenschein zu nehmen. Sie bog in den schmalen, krummwinkligen Gang ein. Selbst heute, an dem sonnendurchleuchteten Maientag, wirkte der Krögel düster und moderig. Kein Sonnenstrahl fiel hier hinein, und doch war die Gasse belebt von dem Gezwitscher frühlingsheller Kinderstimmen. So viele Kinder! Sie hockten wie Spatzen nebeneinander auf den schiefgetretenen Treppenstufen der zum Teil baufälligen Häuser, sie peitschten den Kreisel auf dem schmutzigen, holperigen Pflaster, spielten, auf einem Bein springend, »Himmel und Hölle«, lachten und schrien. Nachdenklich blickte Lilli auf die vielen jungen Menschenblümchen, die hier in dieser sonnenlosen Gasse gedeihen sollten. Da war gar manch elendes, blasses Gesichtchen darunter, dem man die Kriegsnot deutlich ansah. Unwillkürlich mußte Lilli an das Schwesterchen daheim denken. Das blühte trotz der Entbehrungen wie ein Röslein. Für seine Gesundheit war gesorgt: ein luftiger Schlafraum in der Nacht, bei Tage viel Sonnenlicht und stundenlanger Aufenthalt in der freien Natur; da machten die Mängel der Ernährung nicht viel aus. Aber hier? Ob die armen Dingerchen, die so seelenvergnügt in der moderig dumpfen Gasse herumsprangen, überhaupt schon den Frühling gesehen hatten? Lillis soziales Gewissen regte sich. Da hatte sie vorhin in der Mittelstandsküche ein Unbehagen verspürt, mit der Straßenkehrerin zusammen zu speisen, anstatt diese segensreiche Einrichtung mit Freuden zu begrüßen. Und wieviel blieb noch zu tun übrig. Wie notwendig war eine Verbesserung der Wohnungsverhältnisse und – – lautes Schluchzen riß Lilli aus ihren sozialen Ideen. Zu ihren Füßen kauerte in einem Kellerwinkel ein kleines, vielleicht achtjähriges Mädchen. Das hatte die schmutzigen Händchen vor das Gesicht geschlagen. Der schmale Körper bebte in stoßweisem Weinen.

Voller Mitleid beugte sich Lilli zu der Kleinen herab und strich ihr über das Haar. »Warum weinst du denn, mein Herzchen?« fragte sie in liebevollem Ton.

Das Schluchzen wurde noch stärker.

»Die Alma hat mich meinen schönen Flieder jeklaut, und ich hab' ihn doch auf'm Kehricht jefunden,« heulte es hinter den schmierigen Händchen.

Richtig, da sprang ein etwas größeres Mädel mit einem verblühten Fliederzweig, von einer Horde Kinder umgeben, vor dem weinenden Ding hin und her. »Lumpenprinzessin – Lumpenprinzessin,« johlten sie dabei.

Der Kinderjammer um einen vertrockneten Blütenzweig ging dem warmherzigen jungen Mädchen nahe. »Weine nicht mehr, Kleine, ich bringe dir morgen aus meinem Garten einen großen Strauß ganz frischen Flieder mit, ja?«

Das Schluchzen verstummte jäh. Durch die Finger hindurch spähte das Kind zu der schönen, jungen Dame empor, die so freundlich zu ihm sprach wie selten jemand. Dann aber, die herumhüpfende Alma gewahrend, begann es aufs neue zu heulen.

»Aber nun ist doch alles gut, nun brauchst du doch nicht mehr zu weinen, Kleine,« tröstete Lilli.

»Die olle Alma will mir nich mitspielen lassen, sie kann mir nich leiden, sagt se – und Lumpenprinzessin schimpft se mir –« Der Schmerz überwältigte sie wieder.

»So spiele doch mit den anderen Kindern, es sind ja genug hier. Kümmere dich doch nicht um die Alma, wenn sie so unartig ist,« sprach Lilli ihr freundlich zu. Gleich darauf aber durchfuhr es sie: »Du gibst dem Kinde hier gute Ratschläge und handelst doch selbst nicht danach. Hast du dir die Mißachtung von Fräulein Liedtke nicht genau so zu Herzen genommen? Hättest du nicht auch am liebsten geheult, anstatt dich an die vielen Menschen zu halten, die dir wohlgesinnt sind und dich lieb haben?«

Die Kleine hatte inzwischen in plötzlichem Entschluß die Hände von den Augen genommen. Es war ein jämmerliches Kindergesicht, was da zum Vorschein kam. Nur die roten Tränenflecke unterbrachen die graugelbe Farbe der Haut.

»Ich will auch jar nicht erst mit dir spielen, du Olle, du bist mich ville zu unjezogen – jawoll, det lasse ick schöne bleiben,« rief sie mit erwachender Energie der Alma zu.

»Lumpenprinzessin – Lumpenprinzessin!« – Gequieke und Gejohle war die Antwort.

»Komm, laß die unartigen Kinder. Du darfst mir eure Gasse zeigen, ich sehe sie heute zum erstenmal. Komm, geh' mit mir, das ist viel schöner.« Lilli griff nach dem wenig einladenden Kinderhändchen.

Es huschte wie ein stolzes Lächeln über das verweinte Gesichtchen. Aber sofort verschwand es wieder. »Ach, hier jibt's jar nischt zu sehen,« meinte das Kind geringschätzig.

»Doch, zeige mir mal, wo du wohnst, und erzähle mir, wie du heißt.«

»Hier wohn' ich, in'n Lumpenkeller,« die Kleine wies auf das finstere Loch, zu dem halsbrecherische Stufen herabführten. »Darum ärjern se mir auch immer mit ›Lumpenprinzessin‹. Und heißen tu' ich Ingeborg.«

»Also hier wohnen deine Eltern?« Lillis Teilnahme war geweckt.

»Ne – ich hab' keine.«

»Was – auch keine Mutter, die dich lieb hat?«

Das Kind schüttelte den Kopf, daß die ungepflegten Haarsträhnen nur so flogen.

»Ne, is nich. Jroßmutter behält mir bloß aus Jnade und Barmherzigkeit, sagt se, trotzdem ich ihr jeden Tag nischt als Ärjer mache.«

Wie etwas ganz Natürliches erzählte es die Kleine, während die warmherzige Lilli bis in tiefster Seele erschüttert war von diesem traurigen Kinderschicksal.

»Du mußt dir Mühe geben, der Großmutter keinen Ärger zu machen, Ingeborg, sondern mußt lieb und brav sein, zum Dank, daß sie so gut zu dir ist,« mahnte sie freundlich.

»Die gut?« Das Kind lachte unkindlich häßlich aus. »Schimpfen tut se und verhauen tut se mir, und hungern läßt se mir ooch. Heute habe ich noch jar nischt zu essen jekriegt.«

Nur einen Augenblick überlegte Lilli. Den Krögel konnte sie sich noch immer ansehen, doch hier galt es vor allem zu helfen. Ein Kind, das hungerte – – – bitter weh tat es ihrem warmen Herzen. Vergessen war die feste Vornahme, die Mittelstandsküche nicht wieder zu betreten. Der für eine Sekunde Einspruch erhebende Gedanke: »Wie – wenn Fräulein Liedtke noch dort sein sollte ...« wurde durch einen Blick auf die kleine Jammergestalt sofort zum Schweigen gebracht.

»Komm, kleine Ingeborg,« sagte sie entschlossen, »du sollst ein warmes Essen bekommen. Die Mittelstandsküche ist gleich hier drüben am Molkenmarkt.«

»In de Mittelstandsküche – so fein – au!« Die Tränen waren plötzlich versiegt. Die Kinderhände zerrten an Lillis Rockfalten. »Rasch, Fräulein, rasch – daß Jroßmutter nischt merkt.« Ein scheuer Blick ging zu dem mit Spinnweb überzogenen Kellerfenster.

»Warum soll denn deine Großmutter davon nichts wissen, Ingeborg? Es ist doch nichts Unrechtes. Sie wird sich gewiß darüber freuen, wenn du ein warmes Essen bekommst.«

»Jawoll.« Wieder das häßliche Lachen. »Dis jönnt se ma nich. Da is se selber jierig drauf.« Damit zog das Barfüßchen die junge Dame ängstlich um die Ecke.

Dort stand Alma mit ihrem Schwarm.

»Etsch – siehste – ick jeh' doch in de Mittelstandsküche, und du nich, etsch!« Ingeborg konnte sich nicht enthalten, ihrer kleinen Feindin stolz diese Mitteilung zu machen.

Neidische Augen folgten ihr. Das Wort »Lumpenprinzessin«, das sonst stets erschallte, wo das kleine Mädchen sich blicken ließ, wagte sich jetzt vor ihrer Begleiterin nicht hervor.

An dem Schaufenster der Mittelstandsküche standen andere Kinder, die Näschen gegen das Glas gepreßt. Gierig schnupperten sie nach dem Essensdunst, der durch die auf- und zuklappende Eingangstür drang. Die gutherzige Lilli hätte sie gern alle mit hineingenommen, die kleinen Hungrigen. Aber so große Sprünge durfte sie mit ihrer Barschaft nicht machen.

»Au – riecht es hier jut!« Ingeborg ließ sich auf Lillis Geheiß an einem Tisch neben ihr nieder. Ein schneller Blick hatte das junge Mädchen belehrt, daß Fräulein Liedtke noch drüben auf ihrem Platz saß. Daß auch sie bemerkt worden war, zeigte ihr deutlich das geringschätzige Lächeln, mit dem die Kollegin Lilli und ihre armselige, kleine Begleiterin musterte.

Aber Ingeborgs Jubel über den großen Teller Essen, der »mächtig jut« schmeckte, brachte das falsche Schamgefühl, das in Lilli aufsteigen wollte, zum Schweigen. Nein, sie ließ sich durch die hämischen Blicke der »Feindin« nicht die Freude an ihrer Guttat zerstören!

Mit unglaublicher Schnelligkeit schlang das Kind den aufgehäuften Teller Kohl hinunter. Es bediente sich dabei häufig statt der Gabel seiner unsauberen Finger. Für die an peinliche Sauberkeit und beste Manieren gewöhnte Lilli war dieser Anblick eine größere Pein als die erstaunten Blicke der Umsitzenden. Sie mochte die Kleine nicht auf ihr ungehöriges Essen aufmerksam machen, um nicht das Gute, was sie ihr antat, einzuschränken. Das Kind sollte eine helle Erinnerung an diese Stunde mit in ihren dunklen Lumpenkeller nehmen. Aber als der Teller jetzt geleert war und Ingeborg mit flinkem Zünglein wie ein Kätzchen ihn auszulecken begann, entfuhr es dem jungen Mädchen doch entsetzt: »Pfui, Ingeborg – das macht man doch nicht!«

Die Kleine blickte sie mit verständnislosen Augen an. »Soße is det Beste, sagt Jroßmutter,« damit setzte sie das Reinigungswerk ihres Tellers unbekümmert fort.

In diesem Augenblick gerade ging Fräulein Liedtke, die den Speiseraum zu verlassen im Begriffe war, vorüber. Ein sprechender Blick wanderte zu Lilli hin. Deutlich stand in den verächtlich herabgezogenen Mundwinkeln zu lesen: »Na, da sieht man es ja, was du für einen netten Umgang hast!«

Es bedurfte für Lilli der Aufbietung ihrer ganzen Menschenfreundlichkeit, um gegen die Ursache dieser neuen Niederlage unverändert nett zu bleiben. »Hat dir die Großmutter niemals gesagt, daß man seinen Teller nicht ausleckt?«

»Ne« – ein höchst verwundertes Kopfschütteln – »die macht's doch selber so.«

»Armes Kind,« dachte Lilli, »wie kann man dir einen Vorwurf aus etwas machen, was du nicht anders vor dir siehst. – Bist du denn in der Schule fleißig?« setzte sie das Examen fort.

»Ne – jar nich. Letzte bin ich, weil ich oft mit Jroßmutter und Moppeln mit de Lumpenequipage 'rumjondeln muß, anstatt in de Schule zu jehen. Jroßmutter sagt, Schule is unnötig, da lernt man doch nur dummes Zeug,« setzte die Kleine weise hinzu.

Trotzdem ihr eigentlich durchaus nicht heiter zumute war, mußte Lilli über diese Kritik lächeln; gleich darauf aber dachte sie erschüttert: »Lieber Himmel, wie ist es nur möglich, daß an einem so sonnenhellen, goldenen Maientag solch ein Elend in der Welt ist, daß ein Kind, das vielleicht keine schlechten Anlagen hat, in einer derartigen Atmosphäre moralisch und körperlich verkommt!«

»Nu muß ich aber rennen, sonst wird die Olle tücksch!«

»Aber Ingeborg, wie kannst du nur in so unehrerbietigem Ton von der Großmutter reden. Morgen bringe ich dir einen schönen Strauß Flieder mit, dann mußt du mir aber auch versprechen, nie wieder etwas so Häßliches zu sagen, ja?«

»Ne,« das Kind schüttelte den Kopf. »Se schwindeln ma ja doch bloß was vor. Flieder kost't ville Jeld. Dis wer'n Se mir jrade mitbringen.«

»Habe ich mit der Mittelstandsküche nicht auch Wort gehalten, Ingeborg?« fragte Lilli vorwurfsvoll. »Und wenn du dir Mühe gibst, artig und auch in der Schule fleißig zu sein, dann darfst du mich mal in Schlachtensee besuchen und mit meinem Schwesterchen im Garten spielen. Du gehst doch gewiß gern spazieren, nicht wahr?«

»Spazierenjehen – ih wo! Dis is bloß was vor de reichen Leute, sagt Jroßmutter, vor de Armen jibt's man bloß Arbeit!«

»Alle Menschen müssen arbeiten, ob reich, ob arm. Und die liebe Sonne scheint für jeden, Bäume und Blumen blühen für sie alle ganz gleich,« versuchte Lilli die falschen Ansichten des Kindes zu belehren.

Die Kleine hörte nicht recht auf diese Unterweisung. »Nu muß ick aber jehen,« damit lief sie um die Ecke in den düsteren Krögel hinein.

Traurig setzte Lilli ihren Weg fort. Das Herz tat ihr weh. Da fühlte sie plötzlich wieder eine kleine Hand in ihrer herunterhängenden Rechten.

»Ick bedank' ma auch villemals vor das jute Essen in de Mittelstandsküche,« und ehe Lilli noch antworten konnte, war Ingeborg schon wieder auf und davon.


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