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Zwölftes Kapitel

Umzug

Die verwitterten Steinputten an dem Hauseingang des hinter Efeu versteckten, abseits von dem Großstadtgetriebe gelegenen Häuschens in der Schloßstraße konnten sich seit Tagen nicht genug wundern. Neugierig streckten sie ihre abgestoßenen Nasen in die warme Sommerluft. Da wurden die grünen Rolljalousien, die wie sie selbst seit Jahren in unveränderter Beschaulichkeit geträumt hatten, laut knarrend in die Höhe gezogen. Robuste Frauen mit geschürzten Röcken, mit Holzpantinen und Scheuereimern hielten ihren Einzug in das stille Heiligtum des alten Fräuleins. Die weißschwarzgefleckte Rosaura mit ihrem fünfköpfigen Nachwuchs, Lillichen, Tillichen, Cillichen, Millichen und Willichen, wagten sich gar nicht mehr die schmale Treppe hinunter, seitdem sie in unangenehme nähere Bekanntschaft mit den Scheuerfluten gekommen waren. Als aber eines Tages ein großer grüner Möbelwagen vor dem kleinen Häuschen halt machte, als lautrufende Männer schwere Möbelstücke in das Erdgeschoß zu schleppen begannen und dabei unbekümmert die zierlichen Buchsbaumeinfassungen der Gartenwege mit derben Stiefeln zertraten, da wurde es den beiden Steinputten vor der Haustür doch zu bunt. Über hundert Jahre hielten sie vor diesem Häuslein hier schon Wache, und stets war es ruhig und manierlich dort zugegangen. Freilich, die Welt hatte sich inzwischen bös verändert. Diese Kunde war selbst in ihre stille Abgeschiedenheit gedrungen. Die Spatzen pfiffen es ja von den Dächern, wie wüst alles drüber und drunter ging im Lande. Sie aber, in Gemeinschaft mit der alten Bewohnerin, hatten bisher nichts von all den Unruhen gemerkt. Für sie war das Leben hinter Rotdorn und Efeu so leise dahingeplätschert wie immer. Und nun riß man sie aus ihrem friedlichen Behagen und der stillen Beschaulichkeit. Was fiel denn dem Fräulein Gabriele ein, daß es auf seine alten Tage laute Menschen in ihr stilles Heim einließ?

Fräulein Gabriele Gemoll dachte hinter ihren weißen Scheibengardinchen Ähnliches wie ihre steinernen kleinen Wächter. Sie streckte wie sie die Nase unzufrieden zwischen den Efeuranken hinaus und beobachtete in ihrem runden Fensterspiegel, dem sogenannten Spion, mißbilligend das laute Treiben der Eindringlinge.

Hätte sie doch bloß nicht den Mietvertrag abgeschlossen. Zehnmal tat es ihr schon leid. Der Magistrat hätte seine Drohung mit Einquartierung am Ende doch gar nicht wahr gemacht. Sie hatte sich unnötig ins Bockshorn jagen lassen. Nun war es mit ihrem Frieden vorbei.

Heute sahen die pausbackigen Steinputten drunten an den ausgetretenen Stufen ganz besonders erstaunt drein. Mädchenstimmen klangen hell durch die Räume des Erdgeschosses. Dazwischen ein warmes, silbernes Lachen, daß selbst das steinerne Herz der kleinen Wächter davon erweicht wurde. Sie spähten durch das grüne Gerank zur Verandatür herein.

Da drinnen tummelten sich zwei blühende junge Mädel gar emsig, große Ärmelschürzen über den hellen Sommerkleidern. Die Möbel standen bereits an den Wänden. Es waren alte, gemütliche Biedermeiermöbel in Altmahagoni, durchaus stilgerecht für das alte Häuschen.

»Schade, daß der Tapezier heute am Feiertag nicht zu haben ist, Lilli,« hörten die Steinputten eine Altstimme sagen. Sie gehörte zu der Braunhaarigen. »Ich hätte so gern das Zimmer für Mama fix und fertig gehabt zum Einzug. Ohne Gardinen macht es keinen freundlichen Eindruck!«

»Wozu hast du denn deine Freundin Lilli da, Ilse?« sagte die kleine Blonde. »Tapezier und alle sonstigen Handwerker haben wir uns längst abgewöhnt. Die Axt im Haus erspart den Zimmermann. Früher hat Mutter unsere Gardinen aufgesteckt. Jetzt machen Ludwig und ich es gemeinsam. Aber ich glaube, ich kann hier mein Gesellenstück wagen.«

»Ach, Lilli, das vergesse ich dir nie, wie du mir heute zur Seite bist. Umso mehr, da du durch dein Findelkind doch zu Hause so schwer entbehrlich bist.«

»Tante Gretchen holte Ingeborg schon heute vormittag zu sich. Es hat große Kämpfe gekostet. Die Kleine wollte durchaus nicht von mir fort. Nur das Versprechen, daß sie jeden Sonntag, wenn sie in der Woche brav war, zu uns herauskommen dürfe, hat sie schließlich gefügig gemacht.«

»Ich kann es verstehen, daß die Kleine sich nicht von dir trennen wollte. Ohne dich würde ich, glaube ich, nichts anderes hier tun als heulen. Ich bin ja auch so unpraktisch und hauswirtschaftlich so unerfahren. Mit dir zusammen macht mir selbst die traurige Arbeit hier, die unser früheres Leben begräbt, Freude.«

»Wie kannst du bloß so sprechen, Ilse?« schalt die Blonde zärtlich. »Ein neues Leben baust du deiner Mutter hier auf, so mußt du es betrachten. Aber zum Schwatzen haben wir beide keine Zeit. Ich laufe mal schnell zu Fräulein Bedur, ob sie uns nicht eine Leiter borgen kann. Gleich bin ich wieder da.« Fort war sie.

Ilse war es, als ob das Zimmer plötzlich nicht mehr so sonnenhell sei wie zuvor. Sie ließ die Hände, die vorsichtig das feine zierliche Porzellan in die alte Glasservante ordneten, müde sinken. Freilich sah es anheimelnd und nett aus, das Zimmer. Es waren die lieben, alten Familienmöbel, die Bilder der Großeltern, die grünen Ripssessel, alles das war ihnen in die »Fremde« gefolgt. Da war es wieder das eine Wort, das Ilse, so sehr Lilli auch das neue Heim anpries, aus jeder Ecke entgegenschrie. Der große weiße Kachelofen in der Ecke, wie kalt sah er aus! Sicher würde sich Alwine im Winter mit ihm herumärgern müssen. Das nur an Zentralheizung gewöhnte Kind des zwanzigsten Jahrhunderts blickte mißbilligend auf den breitspurig dastehenden Gesellen aus einer früheren Zeit. Kein elektrisches Licht, kein warmes Bad, sobald man den Wasserhahn aufdrehte – wie sollte Mama sich nur ohne dies alles hier einleben! Und dann der Blick von den Fenstern, den man gehabt hatte, weit, weit über den blauen Wannsee. Wie würde ihnen der fehlen! Hier war alles so eng, so klein, der Blick so begrenzt durch das dichte, grüne Gerank. Ach, es war Ilse, als ob sie hier ersticken müßte. Sie trat auf den kleinen Vorbau, von dem aus man in den Garten hinabsteigen konnte. Unwillkürlich mußte sie an ihre weiße Säulenterrasse denken. Unten auf dem Wannsee war Leben, Wellen, Dampfer, Segelboote, Ruderer; hier alles tot. Wie lebendig begraben kam sie sich in der ungewohnten Stille vor. Da – leises, betrübtes Mauzen. Rosenrote Schnäuzchen schoben sich fürwitzig durch die grüne Blattmauer, etwas Schwarzweißgeflecktes folgte, und da sprang es an der versonnenen Ilse vorüber eins, zwei, drei, vier, fünf in die Veranda. Lillichen, Millichen, Cillichen, Tillichen und Willichen, sie machten wohlerzogen ihre Antrittsvisite.

Laut schreiend entwich die junge Wirtin in das Zimmer, die Glastür schleunigst zusperrend und zum Überfluß sogar noch verriegelnd. Draußen mauzte der Besuch allein betrübt weiter. Ilse aber mußte plötzlich lachen. Da hatte sie sich eben innerlich beklagt über die totenähnliche Stille des Hauses, und nun, da das Leben zu ihr kam, war es ihr auch wieder nicht recht. Nein, eher freundete sie sich doch mit dem Kachelofen und mit der Gaskrone an, als mit dem fünfköpfigen Katzengeschlecht Rosauras.

»Das ist recht, Ilschen, daß du so vergnügt bist.« Lilli erschien wieder auf der Bildfläche, eine Stehleiter schweratmend hinter sich herzerrend. »Fräulein Bedur ist reizend. Wir sollen uns von ihr holen, was wir brauchen. Und wo dein Flügel bleibt, fragt sie, Ilse. Er sollte doch nach oben in das leere Zimmer.«

Ilses zartes Gesicht erschien noch um einen Schein blasser.

»Den Flügel – meinen Flügel habe ich den Vorbrodtschen Kindern für ihre Tonleitern überlassen.« Ihre Stimme klang belegt. »Ich habe hart gekämpft, Lilli. Entweder hätten wir Vaters Bücher oder meinen Flügel mitverkaufen müssen. Ich will mich nicht besser machen, als ich bin – es war kein leichter Kampf. Aber wenn Vater heimkommt und sein schönes Heim nicht findet, dann soll er wenigstens seine besten Freunde, die Bücher, nicht entbehren. Vielleicht gestattet Fräulein Gemoll, daß ich später mal eines ihrer Klaviere benutze. Vorläufig ist mir nicht nach Musizieren zumute. Es tut so weh, wenn ich daran denke, daß mein lieber Flügel jetzt unbarmherzig von unmusikalischen Kinderhänden bearbeitet wird.«

»Der Flügel ist totes Holz, Ilse. Das, was ihm Leben und Sprache gibt, trägst du in dir. Gleich heute fragen wir Fräulein Bedur, ob du ihr Klavier benutzen darfst. Die Musik wird euch am schnellsten über manches Schwere hinweghelfen.« Lilli stand bereits auf der Leiter und raffte die feinen Tüllgardinen.

»Der Tapezier könnte es auch nicht besser machen, Lilli,« lobte Ilse. »Das Zimmer sieht gleich viel wohnlicher aus. Was nun? Stelle mich an, denn ich bin nur Handlanger.«

»Mutter müßte das hören, wie du mich hier als ein Unikum an Tüchtigkeit herausstreichst. Vielleicht bekäme sie dann auch eine bessere Meinung von meiner praktischen Begabung,« sagte Lilli lachend. »Also weiter im Takt! Hier fehlt nur noch eine Vase mit altmodischen Blumen. Vielleicht Goldlack oder Reseda. Denn Georginen blühen ja erst im Herbst.«

»Ich wollte in jedes Zimmer eine Schale mit Rosen setzen. In Mamas Zimmer gelbe Marschall-Niel. Die sind so zart und fein wie sie selbst, darum hat sie dieselben auch sicher zu ihren Lieblingen erkoren. Jeden Morgen schickte der Gärtner ihr die schönsten Exemplare für den Kaffeetisch herauf.«

»Es müssen ja nicht die teuren Marschall-Niel-Rosen sein, Ilse. Ein Strauß bunter Anemonen kostet soviel wie eine einzige Rose und sieht farbenleuchtend und lustig aus. Für das Geld würde ich lieber die Speisekammer füllen, daß sich eure alte Alwine nicht gar zu armselig in ihrem neuen Reich vorkommt.«

»Dafür hat unsere Köchin noch gesorgt. Die hat trotz unseres Einspruches eingeweckt, was der Garten nur an Frühobst und Gemüse bot. Sogar den Geflügelhof hat sie beräubert. Als ob wir von nun an zum Hungertode verurteilt wären. Ganz so schlimm wird's ja hoffentlich nicht werden,« setzte sie mit Galgenhumor hinzu.

»Und was hat euer Freund Herr Friedrich Wilhelm Vorbrodt zu diesen Streifzügen in sein künftiges Besitztum für ein Gesicht gemacht?« erkundigte sich Lilli lustig.

»Der ist heute morgen schon mit dem frühesten in seinem hellgelben Anzug bei uns draußen aufgetaucht. Wie ein Schutzmann patrouilliert er im Garten auf und ab, daß wir ja keine Edelobstbäume verpflanzen oder die Frühkirschen noch ernten. Ich hätte Mama gern den heutigen Tag in der lästigen Gemeinschaft erspart. Ich wollte sie überreden, mit mir hierherzufahren und uns zu helfen.«

»Das wäre auch sicher besser für sie gewesen, als allein dort Trübsal zu blasen. Warum hast du sie nicht mitgebracht? Schließlich hätte es ihr auch Freude gemacht, selbst bei dem allmählichen Entstehen des neuen Heims Hand anzulegen.«

»Nein, Lilli, da kennst du Mama nicht. Sie ist augenblicklich ganz willenlos, sie kann sich zu keiner Tätigkeit aufraffen. Gerade so war sie damals, als die Nachricht von Papas Gefangenschaft kam. Nur darin behauptet sie ihren Willen, daß sie keine Stunde früher unsere Villa verläßt, als sie muß –«

»Und doch ist der Termin, der eigentlich erst zum ersten Juli sein sollte, schon morgen?« verwunderte sich die Freundin.

»Ja, wir brauchen das Geld. Onkel Justizrat meinte, das wären sentimentale Anwandlungen, daß wir nicht vor dem ersten Juli die Villa übergeben wollten. Zuerst käme das Müssen und dann das Wollen. So haben wir uns schließlich auf den dritten Pfingstfeiertag für die Übergabe geeinigt. Ich wünschte, die nächsten acht Tage wären erst vorbei.«

»Man soll sich keine Zeit fortwünschen, pflegt meine Großmama immer zu sagen. Eine jede Zeit hat sowohl ihr Gutes wie ihr Schlechtes. Paß mal auf, Ilschen, wie gemütlich ihr hier leben werdet. Du kannst für eure Häuslichkeit sorgen, hast deinen Beruf, der dich befriedigt; fast könnte ich dich beneiden.«

»Du – mich, Lilli? Lieber Himmel!« Und plötzlich den Stoß Wäsche, den sie gerade in den Schrank einordnen wollte, in jähem Begreifen niedersenkend, rief Ilse lebhafter, als es sonst ihre Art war: »Mein Lillichen, fühlst du dich nicht wohl in deiner Tätigkeit? Dich kenn' ich doch nur als glückliches Menschenkind, das überall Frohsinn und Zufriedenheit findet und anderen noch davon spendet. Ich eigensüchtiges Mädel denke und spreche immer nur von uns und nehme dein Interesse ganz selbstverständlich für uns in Anspruch. Sag, Lilli, ist nicht alles so in der Sparkasse, wie du es dir gedacht hast?«

»Ja und nein. Viel Illusionen habe ich mir ja von Anfang an nicht gemacht. Daß mir der kaufmännische Kram nicht liegt, wußte ich von vornherein. Ich hatte nur gehofft, daß ich mich mit gutem Willen hineinfinden würde. Wirklich, Ilse, ich habe die allerbesten Vorsätze gehabt. Aber, ›es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.‹ Ich habe eine unfreundliche Kollegin, die mir den Aufenthalt dort noch besonders verleidet. Anstatt mich auf meine Arbeit zu freuen, graut es mir davor, morgen früh wieder in der Sparkasse anzutreten.« Niemals hatte Ilse die Freundin so entmutigt gesehen.

»Gibt es denn da keinen Ausweg, Lilli? Du kannst doch nicht dein ganzes Leben in einer Sphäre zu bringen, die dir zuwider ist. Dann mußt du auf die spätere Beamtenpension verzichten und dir einen Wirkungskreis suchen, der deiner Veranlagung mehr entspricht. Vielleicht in einem Kunstverlage oder auch in einer großen Buchhandlung,« überlegte sie.

»Gestern ist mir eine Sekretärinstelle bei dem Redakteur einer hiesigen Zeitung angeboten worden und –«

»Himmlisch – das ist das Richtige für dich, Lilli.« Die ruhige Ilse war plötzlich Feuer und Flamme.

»Und ich – ich habe sie ausgeschlagen. Ich hätte es mit dem Kündigungstermin auch nicht in Einklang bringen können,« setzte sie schnell hinzu. Den anderen Grund, das, der unbekannte Doktor Rabe, der in demselben Hause tätig war, mit dem abgewiesenen Manuskript ihr wie der Engel mit dem feurigen Schwerte den Weg zum Paradies verschloß, nein, diesen Grund Vertraute sie nicht einmal der besten Freundin an. Sie schämte sich schon vor sich selbst genug.

»So mußt du unbedingt am ersten Juli deine Stelle in der Sparkasse kündigen, Lilli. Du findest sicher zu Oktober etwas Passenderes.« Es war, als ob die beiden Mädel plötzlich ihre Wesensart vertauscht hätten.

»Und wenn ich nichts finde?« Kleinlaut klang es. »Wenn ich den Sperling in der Hand los bin und die Taube auf dem Dache fliegt ebenfalls fort? Mein Gehalt ist ein wichtiger Faktor in unserer Wirtschaftskasse geworden. Ich darf es nicht leichtsinnig aufgeben, Ilse.«

»So hat jeder seine Sorgen.« Ilse Gerhard seufzte.

»Weißt du, Ilse, ich denke jetzt oft an das Gleichnis, wie die Menschen mit schwerbeladener Bürde auf dem Rücken keuchend und jammernd zum lieben Gott kamen. Sie könnten die Last, die ihnen aufgebürdet, nicht mehr schleppen. Gott möge sie ihnen erleichtern. Andere hätten viel weniger zu tragen. ›Schön,‹ meinte unser Herrgott, ›legt nur eure Last ab. Und dann mag jeder sich die aussuchen, die ihm besser gefällt und ihm leichter dünkt.‹ Da standen sie und prüften gegenseitig ihre Bürde. Und dann griff ein jeder wieder still zu der seinigen. So würde es uns am Ende auch ergehen, Ilse.«

Die Steinputten draußen am Hauseingang hatten die Ohren gespitzt und eifrig gelauscht. Das klang ja ungeheuer lebensklug für achtzehn- oder neunzehnjährige Weisheit. Mehr mochten die jungen Dinger wohl nicht zählen. Aber noch jemand spitzte die Ohren. Fräulein Gabriele Gemoll hatte dem schönen Mittagsonnenschein ihre kleinen blanken Fenster mit den Scheibengardinchen weit geöffnet. Denn lauschen, nein, lauschen wollte sie nicht, solche üblen Eigenschaften waren in der Gemollschen Familie niemals Brauch gewesen. Aber sie konnte es doch nicht hindern, daß die hellen Mädchenstimmen zu ihr heraufdrangen. Und was sie da hörte, söhnte sie allmählich mit den neuen Mietern aus.

»Brave Kinder, na jachen,« nickte sie vor sich hin, dann trippelte sie hinaus in die Küche und schaute prüfend in die kleinen Töpfe, in denen sie gleich das Essen auf zwei Tage zu kochen pflegte. Darauf strich sie sich das Schwarzseidene, das sie stets trug, zurecht und stieg die Treppen hinab.

»So, Ilschen, das Zimmer deiner Mama wäre nun soweit fertig. Die Kleinigkeiten wird sie sich selbst einräumen wollen. Ich hätte gar nicht gedacht, daß die Möbel sich hier so nett machen.« Lilli schaute sich befriedigt in dem wohnlichen Raum um.

»Die Bilder der alten Holländer fehlen, dafür hängen wir Papas Bild hin. Was meinst du, Lilli, hier über den kleinen Teetisch?«

»Ich meine, daß jetzt Mittagszeit ist und mir der Magen bereits schief hängt. Auch der fleißigste Arbeiter hat ein Recht auf Mittagspause. Wie sagt Katerlieschen im Märchen? ›Eß ick erst oder arbeit' ick erst? Hei, ick will erst essen.‹ Darf ich die Ehre haben, das gnädige Fräulein zu Tisch zu führen?« Lilli breitete ein blauweißkarriertes Fenstertuch als Decke über eine der Kisten, die allenthalben aufgestapelt standen, und begann ein umfangreiches Stullenpaket auszupacken. »Das Diner ist angerichtet,« meldete sie wieder mit ihrer gewöhnlichen Heiterkeit.

»Ich habe nichts dazu beizusteuern als meinen Hunger, Lilli. Als ich heute morgen Herrn Vorbrodt in unserem Garten erblickte, war mir der Appetit so gründlich vergangen, daß ich nicht daran dachte, etwas zu essen mitzunehmen. Eine der Kisten mag ja wohl etwas Eßbares enthalten. Aber welche mag es sein? Alwine soll sich Küche und Speisekammer nur allein einräumen.«

»Wo denkst du hin, Ilse, wir werden doch nicht an eure Vorratskisten gehen. Komm, halte mit, mein Herz, so bescheiden ich es dir bieten kann. Für den Nachtisch kaufen wir uns dann irgendwo etwas Obst.«

Da – ein leises Wimmern der Türschelle. Es klang etwa so, als ob jemand, der jahrelang stumm gewesen, zum erstenmal wieder seine Stimme probiert.

»Du, war das bei uns?« Lilli hielt im Einbeißen lauschend inne.

»Ach wo, wer sollte uns wohl besuchen? Höchstens Lillichen, Cillichen, Tillichen, Millichen und Willichen,« gab Ilse belustigt zurück.

Noch einmal wimmerte das blecherne Geklingel. »Es ist doch bei uns.« Lilli eilte neugierig hinaus.

Da stand in dem gründämmerigen Treppenvorraum das alte Fräulein im Schwarzseidenen. Es machte einen altfränkischen, kleinen Knicks.

»Störe ich, meine jungen Damen?«

»Nein, treten Sie näher, Fräulein Gemoll.« Lilli biß sich auf die Lippen. Bei einem Haar hätte sie Fräulein Bedur gesagt. Das kam davon, daß sie sich daran gewöhnt hatte, den Namen scherzhaft in Dur aufzulösen.

Ilse kam dem Besuch mit der vornehm gewinnenden Art, die sie von ihrer Mutter übernommen hatte, entgegen. »Wie freundlich von Ihnen, Fräulein Gemoll, daß Sie sich nach uns umschauen. Unser Empfangsraum ist fast fertig, darf ich Sie näher bitten?«

Trippelnd und seideknisternd folgte Fräulein Gemoll, die spitze Nase prüfend erhoben.

»Ein Biedermeierzimmer, O, das freut mich, na jachen. Wenigstens ist doch unter der heutigen Jugend noch Pietät für Dinge einer früheren Zeit vorhanden.« Sie nahm gravitätisch auf dem grünen Ripssofa Platz.

»Fräulein Bedur müßte immer hier in der Sofaecke sitzen,« dachte die unverbesserliche Lilli. »Sie gehört hier herein wie die alten Messingleuchter und die weißgehäkelten Decken und Deckchen.«

Inzwischen unterhielt sich der Besuch mit Ilse über das Wetter. Denn gleich mit ihrem Anliegen herauszurücken, das hielt Fräulein Gemoll bei einem Antrittsbesuch für ungehörig. Nachdem festgestellt worden war, daß die schöne Witterung durchaus noch nicht von Dauer zu sein brauche, daß es vielleicht regnen könnte, und daß sogar ein Gewitter nicht ganz ausgeschlossen sei, richtete sich Fräulein Gemoll aus ihrer gebückten Haltung auf. Schönchen, die jungen Damen wären ja schon sehr fleißig gewesen. Aber es bliebe doch gewiß noch viel zu tun übrig. Na, jachen. Und da sie selbst viel Zeit übrig habe, wäre es ihr eine Freude, wirklich nur eine Freude, den Damen ein wenig behilflich sein zu können. Vorausgesetzt natürlich, daß man ihr Anerbieten nicht für zudringlich halte. Für diesen Fall bitte sie, ihre Worte als ungesprochen zu betrachten.

»Ich weiß wirklich nicht, ob ich heute am Feiertag Ihr liebenswürdiges Anerbieten annehmen darf,« begann Ilse zögernd.

»Aber natürlich können wir Hilfe gebrauchen,« unterbrach sie Lilli eifrig. »Wir wollen nach der Mittagspause noch das Porzellan und Glas auspacken und ins Büfett einräumen. Das muß alles erst vorher noch mal gewaschen werden. Ich wollte schon hinaufkommen und bitten, ob wir uns oben wohl etwas warmes Wasser machen können, denn Küchenheizungsmaterial haben wir noch nicht da und ein Gasometer ist auch noch nicht gestellt.«

»Schönchen, Sie können ruhig meine Hilfe annehmen und auch meine Küche ganz nach Bedürfnis benutzen. Vorher aber möchte ich die jungen Damen noch bitten, mir auf einen Löffel Suppe die Ehre zu geben. Es ist notwendig, daß der Mensch etwas Warmes in den Magen bekommt, wenn er so angestrengt arbeitet. Ganz einfach, ohne alle Vorbereitung, na, jachen. In einer halben Stunde darf ich Sie dann wohl zum Mittagbrot erwarten, meine jungen Damen? Schönchen!«

Das altmodische Schwarzseidene nahm knisternd Abschied von dem grünen Rips vergangener Tage, und Fräulein Gabriele Gemoll wieder mit einem altfränkischen Knicks von den jungen Mädchen. Sie war von ihrem ersten Besuch recht befriedigt. Die neuen Hausgenossen schienen wirklich recht achtbare Leute zu sein.

Die junge Mieterin war von ihrem Besuch weniger begeistert.

»Was sollen wir denn bloß mit der umständlichen alten Dame als Hilfe, Lilli? Viel gemütlicher wäre es gewesen, wir beide hätten allein weiter gemacht. Und daß wir gleich den ersten Tag zum Mittagessen hinaufkommen sollen, ist mir auch gar nicht recht. Wer weiß, wie Mama sich zu dem Verkehr im Hause stellt. Wir können doch jetzt nicht schon mit einer Gegeneinladung kommen.«

»Braucht ihr auch gar nicht bei Fräulein Bedur. Sei doch nicht so formell, Ilse. Was uns aus gutem Herzen geboten wird, können wir dankbar annehmen. Ob ihr gesellschaftlich später miteinander verkehren wollt, bleibt deiner Mutter ja immer noch überlassen. Aber ich glaube, es ist wertvoll für euch, jemand im Hause zu haben, der euch über die Geschäfte und den Einkauf in der neuen Gegend unterrichtet. Überhaupt wirst du in mannigfacher Beziehung eine Hilfe und eine Zuflucht bei Fräulein Bedur haben.« Lilli band die große Wirtschaftsschürze ab und wusch sich die Hände.

Ilse folgte ihrem Beispiel. Hausschürzen besaß sie nicht, eine weiße Kittelschürze aus dem Röntgenlaboratorium hatte dafür dienen müssen. »So, unsere Dinertoilette wäre beendigt.«

»Ist die halbe Stunde noch nicht um, Ilse? Ich habe mordsmäßigen Hunger. Na, jachen. Mir ist zumute, als ob wir uns in das Pfefferkuchenhäuschen aus Hänsel und Gretel begeben. Hoffentlich bratet man uns nicht selber. Also gehen wir. Schönchen!«

»Das geht nicht, Lilli.« Ilse zog die Freundin wieder zurück. »Wenn du solchen Unsinn machst, kann ich oben nicht ernst bleiben.« Nachdem sie beide ihre Lachmuskeln besänftigt und ihren Mienen wieder den vorgeschriebenen Besuchsernst einverleibt hatten, zogen sie die Porzellanschelle an der weißen Tür. Die Glocke war etwas weniger heiser als die im Erdgeschoß.

Fräulein Gabriele empfing ihre jungen Gäste mit der altmodischen Würde einer Hofdame. Ilse wurde als Mieterin auf das rote Plüschsofa geführt, wo sie zu ihrem Unbehagen Platz nahm. Denn neben ihr in der anderen Sofaecke schnurrte behaglich Rosaura, die Mutterkatze.

Fräulein Gemoll hatte den Tisch in der kurzen Zeit festlich gedeckt. In dem roten Rubinglas blühten Aurikel; altes Porzellan mit breitem kobaltblauen Rande schmückte das seidenglänzende Damasttuch. Die alte Dame wandte sich in leiser Verlegenheit an ihre jungen Gäste.

»Ich muß um Entschuldigung bitten, meine Damen, wenn ich die Gastfreundschaft insofern verletze, als ich Sie einen Augenblick allein lasse, um das Essen anzurichten. Ich halte mir nur eine Aufwartung. Aber die kommt am Feiertag nicht. Und da muß ich, so peinlich es mir auch ist – na, jachen.«

»Aber nein« – bei einem Haar hätte Lilli aber ›neinchen‹ gesagt – »Fräulein Gemoll: Gestatten Sie, daß ich die Aufwartung heute übernehme. Ich darf Ihnen behilflich sein, da wir Ihnen so viele Mühe machen, nicht wahr?« Ehe die alte förmliche Dame noch Einwendungen machen konnte, war Lilli in ihrer liebenswürdigen unbefangenen Art ihr bereits in die Küche gefolgt.

Arme Ilse! Allein mußte sie mit Rosaura auf dem roten Plüschsofa zurückbleiben. Das junge Mädchen rückte in die äußerste Ecke. Beide betrachteten sich mit Mißtrauen. Wie treulos von Lilli, sie hier in dieser Gesellschaft allein zu lassen.

Rosaura war eine kluge Katze, eine Leuchte ihres Geschlechtes. Sie empfand, daß man ihr mit Abneigung entgegenkam. Gleichzeitig sagte ihr ihr Instinkt, daß die junge Dame jetzt allem Anschein nach in diesem Hause Heimatsrecht haben würde, und daß es daher geraten wäre, sich gut mit ihr zu stellen.

Sie begann höflich zu schnurren – Ilse beobachtete sie nur umso ängstlicher.

»Ob ich ihr die Hand küsse?« dachte Rosaura. »Die Menschen sind dafür besonders empfänglich.« Sie richtete sich aus ihrer behaglichen Ecke auf, um sich der neuen Hausgenossin freundschaftlich zu nähern.

Ilse saß bereits auf dem Sprunge. In dem Augenblick, wo Rosaura mit verbindlichem »Miau« auf sie zusprang, sprang Ilse mit entsetztem Schrei vom Sofa, sprang einer von den schönen alten Tellern klirrend und berstend zu Boden. Und gleichzeitig sprang es auch aus allen Ecken und Körben. Lillichen, Millichen, Cillichen, Tillichen und Willichen, alle fünf umsprangen sie ängstlich miauend die Katzenmutter.

In diesem Augenblick kehrte Fräulein Gabriele Gemoll nebst ihrer neuen Bedienung aus der Küche zurück. Lilli hätte vor Lachen fast die Suppenschüssel, die sie Fräulein Gemoll nach längerem Wortkampfe abgenommen, hinter dem zerbrochenen Teller hergeworfen. Glockenhell mischte sich ihr Lachen mit dem Miauen der sechs Katzen.

Die alte Dame aber stand erstarrt. »O Gott!« sagte sie, »was ist denn hier passiert? Aber Lillichen, Millichen, Tillichen, Cillichen und Willichen – ihr seid doch sonst so brav?« Vorwurfsvoll blickte sie auf die Scherben.

»Es ist mir äußerst unangenehm, Fräulein Gemoll, daß ich durch meine Scheu vor Katzen den Schaden verursacht habe,« begann Ilse sich zu entschuldigen. Ordentlich böse war sie auf Lilli, daß die bei einer so peinlichen Situation lachen konnte. »Ich werde versuchen, den kostbaren Teller nacharbeiten zu lassen, denn vorrätig bekommt man ja das alte Porzellan nicht mehr.« Man sah es dem bald blaß, bald rot werdenden jungen Mädchen an, wie unangenehm ihr die Sache war.

»Aber Kindchen, wegen des zerbrochenen Tellers lassen Sie sich nur ja keine grauen Haare wachsen. Ich bin noch dutzendweise damit versehen. Na, jachen. Aber daß Sie meine Katzen nicht mögen, ist betrübend. Es sind so liebe, anhängliche Tierchen. Na, ich denke, Sie werden sich miteinander im Laufe der Zeit noch anfreunden.«

»Nie!« dachte Ilse, während sie wieder den Sofaplatz einnahm, und Lilli umsichtig die Scherben beseitigte. Dabei geschah es, daß Rosaura Lilli an Stelle von Ilse die Hand leckte, was ihr ein wohliges Krauen eintrug. Lillichen, Millichen, Tillichen, Cillichen und Willichen nahmen zwischen Cello, Bratschen und Flöten in einer Ecke Platz. »Jetzt bekommen wir wohl Katzenmusik als Tischbegleitung zu hören?« meinte Lilli in lustigem Ton.

»O nein,« verwahrte sich Fräulein Gabriele. »Musik freilich haben die Gemolls immer geliebt, auch beim Essen. Jetzt ist hier schon lange nicht mehr musiziert worden. Denn meine Hände sind steif, na, jachen. Aber nun lassen Sie das Essen nicht kalt werden, meine jungen Damen; greifen Sie zu.«

»Vielleicht spielen Sie später mit meiner Freundin wieder zusammen. Ilse wollte Sie sowieso bitten, ob sie wohl eines Ihrer Instrumente benutzen darf. Sie hat ihren Flügel mit verkaufen müssen.« Trotz Ilses beschwörenden Blicken brachte Lilli ihr Anliegen vor.

»O, das tut weh, das kann ich mir denken. Aber jachen – jachen, das heißt, wenn es gute, anständige Musik ist. Ich selbst habe noch einen Flügel stehen, guter alter Bechsteinflügel. Vielleicht probieren Sie ihn mal nach Tisch, Fräulein Gerhard.«

Ilse wollte zuerst freudig bei der Aussicht auf einen Flügel zustimmen. Aber nein, in Gesellschaft von Rosaura und ihren Sprößlingen würde sie gar keine Sammlung zum Musizieren haben.

Das Essen verlief ohne weitere Störung, Lilli ließ es sich schmecken. Sogar eine kalte Speise hatte Fräulein Gemoll noch rasch in aller Eile bereitet. »Mädchenerröten« nannte sie dieselbe. Daß es Ilse nicht so mundete, lag zum Teil an der geräuschvollen Ouvertüre vor dem Essen, zum Teil an dem in Aussicht stehenden Finale, das sie nach dem Essen auf dem Flügel vorführen sollte.

Fräulein Gemoll ließ auch nicht locker.

»Ich weiß, Ihre Zeit ist heute beschränkt, meine Damen. Trotzdem darf ich Sie wohl bitten, liebes Fräulein Gerhard, uns mit etwas Musik zu erfreuen. Dies Haus hat niemals Gäste gesehen, ohne daß musiziert wurde. Als letzte Gemoll möchte ich nicht von den Familienüberlieferungen abweichen. Na, jachen.«

Es wäre unhöflich von Ilse gewesen, dem Wunsche ihrer sich so freundlich zeigenden Wirtin nicht nachzukommen. Eine gewisse Erleichterung gewährte es ihr immerhin, daß außer Fräulein Gabriele Gemoll und Lilli nur noch Rosaura ihnen in das Zimmer, wo der Flügel stand, folgte. Die fünf Kleinen blieben mauzend an der Tür zurück.

Leise, zögernd schlug Ilse die ersten Tasten an. Beethovens Eroica entquoll ihren kunstgeschulten Fingern. Voll und weich kamen die Töne, trotzdem das Instrument lange nicht gespielt worden war. In den Harmonien des Meisters vergaß es Ilse, daß sie nicht mehr daheim am Wannsee ihrem eigenen Flügel Sprache verlieh, daß sie in einem fremden Hause, vor fremden Ohren spielte. Ja, daß unter ihren Zuhörern sogar die kunstverständig lauschende Rosaura sich befand.

Als sie geendet, als sie die Hände weltentrückt in den Schoß gleiten ließ, blieb es eine ganze Weile still in dem kleinen Zimmer. Selbst Rosaura wagte keinen Beifall zu spenden. Dann erhob sich Fräulein Gemoll seideknisternd, trippelte auf die noch immer versunkene Ilse zu und küßte sie begeistert mit ihren schmalen Lippen auf die Stirn.

»Sie hat mir mein guter Vater gesandt, Kind, daß ich in meinem Alter noch das Glück haben soll, wahre Musik im Hause der Gemolls zu hören. Wie danke ich Ihnen! Wir werden sicher gute Freunde werden, auch wenn Sie meine Katzen nicht mögen. So oft Sie Lust haben, steht Ihnen mein Flügel zur Verfügung. Je öfter, umso größere Freude machen Sie mir.« Die dankbare Begeisterung der alten Dame berührte Ilse warm. Sie kam sich nicht mehr fremd in diesem Hause vor, wo die Musik sie mit der bejahrten Wirtin verband.

Bald darauf gerieten Beethovens Klänge in Vergessenheit. Hammer und Zange machten statt dessen Musik, Kisten wurden geöffnet, Porzellan und Glas ausgepackt, gewaschen und in die dafür vorgesehenen Schränke eingeräumt.

Fräulein Gemolls Hilfe war nicht zu unterschätzen. Unermüdlich waren ihre welken, kleinen Finger tätig und klug ihr Rat. Ilse wurde allmählich abgespannt, sie war hauswirtschaftliches Schaffen nicht gewöhnt. Auch wirkte die seelische Aufregung des Umzuges auf ihren zarten Organismus. Aber Lilli setzte ihren Ehrgeiz drein, nicht eher Feierabend zu machen, als bis die vier Zimmer so gut wie fertig eingeräumt waren und zum Willkommen einen freundlichen Eindruck machten.

Die Steinputten am Hauseingang hatten schon längst unzufrieden die Nasen gerümpft, soweit sie nicht abgestoßen waren. War das im Gemollschen Hause jemals Brauch gewesen, den Feiertag so zu entheiligen? Na, ja, ein paar Stunden Arbeit, das konnte man allenfalls verstehen. Sie waren ja nicht von heute und wußten, daß ein Umzug viel Mühe machte. Aber jetzt ließ die Sonne bereits ihre letzten Strahlen über ihre Steinlocken gleiten, es war Zeit, sich zur Ruhe zu begeben. Die drinnen schienen das ja schließlich auch einzusehen. Die schlanke Braunhaarige hatte bereits den Hut aufgesetzt, das konnte man deutlich durch die Gardinen hindurch erkennen.

Noch jemand außer den beiden Steinputten spähte angelegentlich zu den Fenstern im Erdgeschoß hin. Draußen am Gartengitter hockte es unter der Rotdornhecke. Stundenlang spähte es bereits mit altklugen Augen durch die grüne Wildnis, das kleine, unscheinbare Ding. So, jetzt atmete es erleichtert auf und richtete sich aus seiner gebückten Stellung empor. Schritte kamen durch das Gärtchen, Stimmen wurden laut.

»Also vielen herzlichen Dank, Fräulein Gemoll –«

»Und daß Sie morgen für Kaffee sorgen wollen zum Empfang, ist reizend von Ihnen – – –«

»Keine Ursache, gar keine Ursache. Macht mir nur Freude, na, jachen.«

Vorüber ging's an den beiden Steinputten, die so dumm und stumm dastanden, als hätten sie niemals neugierig durch das Efeugerank den beiden jungen Mädchen bei ihrer Arbeit zugeschaut.

»Wenigstens fahren wir heute, wo du zum letztenmal in dein Haus am Wannsee zurückkehrst, nochmal beide zusammen heim, meine Ilse.« Lilli nahm zärtlich den Arm der Freundin.

Da schob es sich zwischen sie und ihre Vornahme – eine kleine, nicht allzu saubere Kinderhand. »Nimm mir mit, Lilli, ja, nimm mir wieder mit nach Haus.« Eine leise bittende, etwas ängstliche Stimme.

»Ingeborg – um Himmels willen – wie kommst du denn hierher? Wo ist Tante Gretchen, die dich zu sich holen wollte!« rief Lilli erschreckt.

»Wegjelaufen bin ick ihr. Ick will bei dich bleiben, Lilli, ja, behalte mir doch! Du bist die einzige, die mir lieb hat.« Das kam noch viel leiser heraus.

»Aber Ingeborg, wie schrecklich unrecht, daß du Tante Gretchen, die sich deiner annehmen will, in solche Unruhe versetzest. Wie soll sie dich da wohl liebgewinnen? Und ich kann dich auch nicht mehr liebhaben, wenn du so unartig bist.«

»Na, denn behalte mir wenigstens.« Ingeborg schien schon damit zufrieden.

»Es geht beim besten Willen nicht, mein Kind.« Lilli war von der beinahe hündischen Anhänglichkeit der Kleinen ganz gerührt. »Ich bin ja von früh morgens bis nachmittags spät nicht daheim. Aber Sonntags bin ich den ganzen Tag da. Wenn du brav bist und Tante Gretchen folgst, darfst du jeden Sonntag zu uns herauskommen. Ja, wollen wir es so machen?«

»Ne,« erklärte Ingeborg. »Ick will lieber jeden Tag bis spät nachmittags auf dir warten.«

»Ja, dann habe ich dich nicht mehr lieb, Ingeborg,« sagte Lilli bestimmt und schritt, da sämtliche Geschäfte des Feiertags wegen geschlossen waren, auf ein Gasthaus zu, um Tante Gretchen telephonisch Kunde von Ingeborgs Verbleib zu geben.

Leises Zupfen an ihrem Kleid hemmte Lillis Schritt. »Na denn – denn bringe mir man zu Tante Gretchen.« Weinerlich klang's. »Aber jeden Sonntag darf ich wieder zu dich kommen, ja?«

»Wenn Tante Gretchen mit dir zufrieden ist, ganz gewiß.«

Bald meldete das Telephon Onkel Martin, daß das entlaufene Pflegekind sich angefunden habe, und daß es jetzt unter Lillis Bedeckung in seine neue Heimat zurückgebracht werden würde.

Tante Gretchen war bereits zum zweitenmal nach Schlachtensee hinausgefahren, in der Annahme, daß Ingeborg dorthin zurückgekehrt sei. Onkel Martin aber meinte mit Galgenhumor: »Kommt nur, Ehrenpforten sind bereits gebaut zum Empfange Ihrer Gnaden der kleinen Lumpenprinzessin. Ich muß aber noch in den Frack schlüpfen, um die Begrüßungsrede würdig zu halten. Eines sage ich dir aber, Liliputchen – Onkelliebe geht noch über Mutterliebe, sonst könnte sie dieser Probe, die du über mich verhängst, nicht standhalten.«

Lachend hängte Lilli den Hörer an und nahm Abschied von Ilse, denn ihre Wege trennten sich nun doch.

Nachdenklich blickte Ilse in die verdämmernde Landschaft hinaus, die am Zuge dahinglitt. Wie reich war sie doch noch im Vergleich zu der kleinen Lumpenprinzessin, die sich nach ein wenig Liebe sehnte.


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