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Vierzehntes Kapitel

Im gelobten Land

Novemberregen schlug gegen die Scheiben. Es war recht unwirtlich in den Straßen. Man sah nichts als dahineilende, triefende Regenschirme. Die Sperlinge, naß und frierend, duckten sich zitternd unter den Dachgesimsen und an den Mauervorsprüngen der Häuser. Ein feister, grauer Spatz hatte in der Fensternische des großen Redaktionsgebäudes Unterschlupf gesucht. Dort saß er wenigstens einigermaßen im Trockenen und äugte mit seinen schwarzen Äuglein angelegentlich zum Fenster hinein.

Wo blieb denn heute sein Frühstück? Er war gewöhnt, die Brotkrümel pünktlich hingestreut zu bekommen. Potzkuckuck noch eins, sein blondes Bäckermädel machte ja noch gar keine Anstalten, ihren Pflichten nachzukommen. Das saß gemütlich im warmen Zimmer und dachte augenscheinlich nicht daran, wie es jemandem zumute war, der fror und hungerte. Einen großen Stoß Briefe hatte es auf der Schreibtischplatte vor sich liegen. Die öffnete es, las, sortierte, machte Notizen und schrieb die Eingänge in ein großes Register. Wirklich, ein recht gemütliches Zimmer war es, in das der frierende Sperling blickte. Rote Ledermöbel hoben sich geschmackvoll von graublauen Tapeten. Der runde Eichentisch war mit Zeitungen und Zeitschriften bedeckt. Eine zierliche kleine Schreibmaschine stand auf der roten Lederplatte des großen Schreibtisches, der viel zu wuchtig erschien für das zierliche blonde Ding, das sich da in den bequemen Schreibsessel vor ihm schmiegte. Eine elektrische Lampe mit grünem Schirm beleuchtete hell das rosige Gesicht, die krausen Goldhaare, die tief über die Briefe geneigt waren. Freilich, der graue, mürrische Novembermorgen, der mit dem Spatz zugleich durch das Fenster schaute, gab nicht genug Licht zur Arbeit. Allenthalben blitzten die elektrischen Flammen aus den vielen, vielen Fenstern des großen Baus in das graue Dämmerlicht hinaus. Die kleine Hand da drin am Schreibtisch griff nach dem letzten Brief, so – der hungrige Sperling atmete erleichtert auf. Nun würde sie gleich das Päckchen mit dem weißen Papier aus der Ledermappe ziehen. Er putzte sich bereits den Schnabel im Vorgeschmack der zu erwartenden Herrlichkeiten.

In der Tat, der graue kleine Geselle da draußen schien recht vertraut mit den Gepflogenheiten seines Bäckermädels. Nachdem der letzte Brief gelesen, eingeräumt und eingetragen war, erschien das weiße Frühstückepäckchen auf der Bildfläche. Aber ehe noch die Brote ausgepackt waren, tat sich die Tür zum Nebenzimmer auf. Ein Herr in den mittleren Jahren mit graumeliertem Bart, einen goldenen Kneifer vor den kurzsichtigen Augen, trat eiligst, verschiedene Manuskripte in der Hand, ein.

»Fräulein Steffen, bitte, gleich an die Schreibmaschine.«

Trotzdem der Spatz durch das fast geschlossene Doppelfenster diese Worte nicht verstehen konnte, bemerkte er mit Mißbilligung ihre Wirkung. Das ersehnte Frühstückspäckchen verschwand wieder. Sein Bäckermädel rückte die Schreibmaschine zurecht, und da sprangen die Finger auch schon, wie wild geworden, durcheinander. Vorläufig gab es hier nichts zu holen, das war klar. Denn die Wangen der jungen Schreiberin glühten vor Eifer, und der im Zimmer Auf- und Abschreitende schien noch lange nicht mit seinem Diktat zu Ende.

Ob man es vielleicht ein Haus weiter am nächsten Fenster versuchte? Ach, der Sperling kannte sie alle in dem großen Gebäude. Da war auch nicht einer, der daran dachte, sein Frühstück mit den armen, hungrigen Vögeln draußen zu teilen. Nicht mal der kleine Setzerlehrling, der im Sommer sein Krümelpapier zum Fenster hinauswarf, mochte jetzt Kälte und Nässe in den warmen Raum hineinlassen. Nein, es half nichts, er mußte warten, wenn der Magen ihm auch noch so schief hing.

Die Geduld des kleinen Gastes da draußen wurde auf eine starke Probe gestellt. Ein weißer Bogen nach dem anderen wurde in die Schreibmaschine gespannt. Und als schließlich die Mädchenfinger mit den blödsinnigen Herumhopsen innehielten, mußte sich der arme Spatz wieder den Schnabel wischen. Der kurzsichtige Herr hielt der jungen Sekretärin mit lebhaften Gesten noch Vorträge. Bald wies er auf ein Buch, bald auf einen leeren Bogen. Jetzt nickte er, dann nickte sie, nun nickten sie alle beide. Lilli Steffen hatte es begriffen, daß sie zum erstenmal, nach den Angaben des Herrn Doktors, eine Bücherbesprechung für die Zeitung verfassen sollte. Oh, wie stolz sie aussah! Wie die braunen Augen strahlten! Ja, natürlich, sie würde schon damit fertig werden. In drei bis vier Tagen konnte sie das Buch gelesen und die Kritik geschrieben haben. Nein, nein, nicht zu lang, ganz kurz und sachlich; sie wußte schon, worauf es ihm ankam.

Der Redakteur nickte befriedigt und wandte sich zum Gehen. In der Tür machte er zum großen Ärger des hungrigen Spatzen nochmals halt.

Wieder sprach er, wies auf den einen Stoß der von der Sekretärin sortierten Briefe und nahm den anderen mit sich.

Empfahl er sich denn noch nicht? Empört plusterte der Spatz sein nasses Gefieder auf. Nein, der Herr Doktor wünschte noch, heute von keinem Menschen gestört zu werden, wer auch käme. Er hätte heute vormittag angestrengt zu arbeiten.

Nun endlich schlug die Tür hinter seiner etwas nach vorn geneigten Gestalt zu. Aber wenn der kleine graue Besuch da draußen dachte, daß die Lilli nun eiligst nach ihrem Futterpäckchen greifen und auch ihn dabei nicht vergessen würde, dann irrte er sich gründlich. Ganz versunken stand das blonde Mädchen da. Geraume Weile. Dann reckte es plötzlich beide Arme in die Höhe und vollführte zum größten Entsetzen des kleinen Zuschauers draußen einen Luftsprung.

Himmel, war seine Freundin nicht ganz richtig im Kopf? Soviel verstand er doch auch von der Menschenwelt, daß er wußte, daß erwachsene Menschen für gewöhnlich nicht wie die Vögel in die Luft flogen. Der dumme Sperling ahnte ja nicht, daß die Lilli Steffen heute zum erstenmal einen selbständigen Schritt in das Dichterland machen sollte. Daß Doktor Schmidt, ihr Vorgesetzter, ihr soeben zum erstenmal, als ein Zeichen seines Vertrauens, eine Arbeit überließ, die eigenes Denken und persönliches Verständnis erforderte. Er wollte erproben, ob sie ihn allmählich bei der Bücherkritik entlasten könnte. Und damit noch nicht genug. Der Stoß Postsachen, den er zurückgelassen, sollte sie selbständig prüfen, was sich davon zur Erwerbung eignete. Es handelte sich um Einsendungen für die Kinderbeilage, die alle Woche einmal erschien. Lilli war selig, daß sie sich in den sechs Wochen ihres neuen Berufes bereits soweit das Vertrauen des Herrn Doktors erworben hatte. Und gerade die Kinderzeitung, die er als »Onkel Anton« redigierte, machte ihr ganz besondere Freude. Ja, sie hatte sich sogar schon öfters auf dem heimlichen Wunsch ertappt, daran mitzuarbeiten. Aber das blieb natürlich nur ein unbescheidener Wunsch. Nein, nein, sie wollte ganz zufrieden sein mit ihrer Sekretärintätigkeit und gar keinen Größenwahnsinn haben.

Nun war es aber auch wirklich höchste Zeit zu frühstücken. Nicht nur der ungnädige Spatz war dieser Ansicht; auch Lillis Magen meldete sich.

Das weiße Päckchen wurde diesmal ohne Zwischenfall ausgewickelt, das Fenster geöffnet. Noch ehe Lilli selbst ihren Hunger befriedigt, streute sie dem kleinen Kostgänger sein Teil.

»Armes Kerlchen, du hast heute lange warten müssen.« Zutraulich hüpfte das nasse, graue Federknäuel näher. »O Gott, so durchkältet, du zitterst ja förmlich, du armer, kleiner Wicht. Soll ich dich mit in das warme Zimmer nehmen?« Voller Mitleid hielt Lilli Steffen dem Spatz diese Ansprache. Das Herz war ihr so warm im Mitgefühl, daß sie selbst Nässe und Kälte, die durch das geöffnete Fenster schlug, nicht empfand. Aber als Lilli jetzt die Hand ausstreckte, um den Frierenden hineinzuholen, flatterte der Spatz ängstlich davon. Bei aller Freundschaft, seine Freiheit ließ er sich nicht rauben. Lieber im Unwetter frieren und hungern, als gefangen im warmen Zimmer sitzen. Das war seine Vagabundenphilosophie.

Erst als das Fenster fest geschlossen war und seine junge Freundin wieder den Blondkopf über den Schreibtisch neigte, wagte Lillis Gast sein unterbrochenes Mahl fortzusetzen. Aber sie hatte jetzt keine Zeit mehr, nach ihm zu schauen. Da gab es so viel zu erledigen, daß die Zeit bis drei Uhr mittags selten zu allem ausreichte. Zunächst mußten die von Doktor Schmidt in die Schreibmaschine diktierten Artikel sorgsam durchgesehen und sofort in Druck gegeben werden. Daß nur nirgends ein Fehler übersehen wurde. Lilli drückte auf den Knopf am Schreibtisch. Ein kleiner, livrierter Geist mit einem frischen Jungengesicht erschien auf ihr Klingeln und trug die Manuskripte in die Druckerei. Halt – hier war ja noch ein Zettelchen, mit einer aktuellen Notiz, die noch heute in das Abendblatt hineinmußte. Lilli ging persönlich, um dieselbe noch nachträglich einzufügen. Sie war jetzt in dem vornehmen, weitläufigen Pressebau, in dem sie im Anfang kaum zu atmen gewagt hatte, schon ganz zu Hause. Hie und da wurde ihr auch ein Gruß von einem eilig Vorbeistürmenden. Doktor Schmidts neue Sekretärin, die ebenso liebenswürdig wie anmutig war, erfreute sich allgemeiner Beliebtheit unter seinen Kollegen. Durch Gänge und Korridore, kreuz und quer, bald treppauf, bald treppab bis zu der im Quergebäude gelegenen Druckerei, aus der ohrenbetäubendes Maschinengerassel und wenig angenehmer Duft von Druckerschwärze schlug. Was hatte solche kleine Notiz, bis sie mit der Abendzigarre zugleich genossen wurde, für einen langen, vielfach gewundenen Weg zurückzulegen. Das gewaltige Räderwerk eines großen Zeitungsbetriebes, das sich der jungen Lilli hier auf Schritt und Tritt offenbarte, fesselte sie ungemein. Ach, wie war sie glücklich, daß sie, wenn auch nur ein winziges Spulchen an dieser gewaltigen Maschine, die Tausende täglich mit geistiger Nahrung versorgte, sein durfte. Langsamer schritt sie zurück. Blieb hier an einer Tür stehen, studierte dort den Namen des in diesem Reiche Herrschenden. Da war manch ein bekannter Name darunter, der einen guten Klang in der Literaturwelt hatte.

Plötzlich fuhr Lilli, wie von einer Tarantel gestochen, zurück. Sie war sichtlich etwas bleicher. Die Tür, vor der sie stand, zeigte ein weißes harmloses Schild. »Doktor Hans Rabe« war darauf zu lesen.

Also hier war's. Hier hatte er seinen Sitz, der von ihr noch immer mit innigster Abneigung Bedachte. Lilli mußte über sich selbst lächeln. Wie sich solche Abneigung einnisten konnte! Längst hatte sie es doch erkannt, wie wenig ein Redakteur oftmals mit der Ablehnung einer Arbeit zu tun hatte. Am Ende hatte er ihr Mannskript damals gar nicht einmal selbst in die Hände bekommen; irgend eine Sekretärin hatte das Schwert der ablehnenden Kritik gegen sie gezückt. Versandte sie doch selbst jetzt täglich dutzendweise diese verhängnisvollen Karten, von denen ihr damals eine solchen Schmerz zufügte. Was konnte nicht alles der Grund für die Rücksendung gewesen sein. Überangebot, daß bereits ähnliches erschienen, oder auch nur rein äußerliche Gründe, zu großer oder zu geringer Umfang. Und trotzdem – trotzdem Lilli inzwischen einsichtig geworden war, das Unbehagen, das sich mit dem Namen »Rabe« für sie verknüpfte, bestand noch immer. Der Unglücksrabe hatte ihr nun mal die erste große Enttäuschung zugefügt. Das vergaß sie nicht.

Die Tür öffnete sich. Lilli sprang zurück. Ein kleines Männchen mit grauschwarzem Haarschopf richtete seine scharfen Augen unter buschigen Brauen durchdringend auf das erschreckte Mädchen.

»Zu wem wollen Sie?« Das klang wenig freundlich.

»Zu – zu Doktor Schmidt,« stotterte Lilli in ihrer grenzenlosen Verlegenheit.

»Falsch – ganz falsch hier – im entgegengesetzten Flügel – – –« Damit rannte er an ihr vorüber.

Also so sah er aus! Das war Doktor Rabe! Eigentlich noch abstoßender, als sie ihn sich vorgestellt hatte.

Hans Huckebein, der Unglücksrabe. Lilli mußte plötzlich hell auflachen, als ihr diese Bezeichnung, die für das kleine schwarze Männchen so trefflich paßte, einfiel.

Wie gut, daß sie nie etwas mit ihm zu tun haben würde. Ordentlich geborgen kam sie sich vor, als sie wieder in ihrem hübschen Zimmer saß, dem Vorraum zu Doktor Schmidts Redaktion.

Nun flink an die Kartothek. Die hatte sie in ziemlich vernachlässigtem Zustande vorgefunden. Denn ihre Vorgängerin hatte wohl zuletzt mehr an ihre Aussteuer gedacht, als an die ihr obliegenden Pflichten.

Emsig machte sich Lilli an diese ziemlich trockene Arbeit. Sie war ihr von der Sparkasse her vertraut. Aber mit wieviel größerem Interesse ordnete sie hier die Karten alphabetisch. Hing doch jeder Name mit irgend einem literarischen Erzeugnis zusammen.

Nicht lange blieb Lilli ungestört. Es klopfte. Auf ihr Herein erschien der kleine livrierte Geist. Er brachte ihr eine Besuchskarte. »Theophil Buttermilch, Dichter«, war darauf zu lesen.

»Herr Doktor Schmidt ist heute nicht zu sprechen. Er hat unaufschiebbare Arbeit,« erklärte Lilli dem Jungen.

Der verschwand.

Lilli ging wieder an ihre Kartothek. Kaum hatte sie sich aufs neue darin vertieft, klopfte es schon wieder.

Die kleine Livree schob sich ein wenig verlegen zur Tür herein. Der Herr wolle sich durchaus nicht abweisen lassen, er müsse Doktor Schmidt unbedingt sprechen, sagte er. Da folgte auch der Besucher dem Jungen schon auf dem Fuße.

Ein wenig erstaunt ob solcher Unverfrorenheit, trat Lilli ihm entgegen. Ein elend aussehender Jüngling mit langen, strähnigen Haaren, der Dichtertolle. Aus der Tasche seines recht schäbig aussehenden Mantels lugte eine weiße Rolle. Den »Dolch im Gewande« pflegte Doktor Schmidt diese aus der Tasche jäh hervorgezogenen Manuskripte zu benennen.

Lillis Mitteilung, daß der Redakteur heute nicht gestört zu werden wünsche, regte den Dichter ungemein auf. Er fuhr sich durch die perückenartigen Haare, raste im Zimmer umher und blieb dann drohend vor Lilli stehen.

»Mich wird er empfangen – er wird!« rief er augenrollend mit theatralischer Handbewegung.

»Kennt Doktor Schmidt Sie denn persönlich?« Ein wenig zaghaft sah Lilli diesem ungewöhnlichen Treiben zu.

»Ob er mich kennt – mich? Theophil Buttermilch? Wer kennt Theophil Buttermilch nicht?«

»Ich,« dachte Lilli und kam sich recht ungebildet vor.

»Hören Sie, mein Fräulein, ich verspreche Ihnen ein Freibillett zu meiner Premiere, wenn Sie mir eine Unterredung mit Herrn Doktor Schmidt ermöglichen.«

Ein Premierenbillett – Lilli war noch nie in einer Erstaufführung gewesen. Aber ihre Pflicht war, heute jeden Besuch abzuweisen, da durften persönliche Wünsche nicht mitsprechen.

»Es geht beim besten Willen nicht. Vielleicht unterrichten Sie mich über die Angelegenheit, daß ich Herrn Doktor Schmidt darüber berichten kann,« schlug sie freundlich vor.

»Sie?« Ein mitleidiges Lächeln. »Sie, als Interpretin meines gewaltigen antiken Stückes? Ich will eine Szene daraus in einer Tageszeitung veröffentlichen. Die Theaterdirektoren sollen sehen, welche dichterische Kraft darin steckt, sie sollen sich um die Uraufführung meines Werkes reißen. Aber es eilt. Es eilt sehr. Es eilt ungeheuer!« Wieder wildes Augenrollen.

Lilli Steffen kämpfte mit sich. Ein Dichter, ein wirklicher Dichter stand vor ihr. Zum erstenmal in ihrem Leben lernte sie einen berühmten Dichter kennen. Sie war ganz Bewunderung. Denn die Besucher, die bisher in die Redaktion gekommen, waren doch nur Schriftsteller oder Zeitungsschreiber gewesen. Ja, Lilli Steffen kämpfte lebhaft mit sich, ob sie wohl bei Herrn Theophil Buttermilch eine Ausnahme machen dürfe. Nicht wegen des in Aussicht gestellten Premierenbilletts. O nein, um dem Werke eines Dichters den Weg in die Öffentlichkeit bahnen zu helfen.

»Ich werde fragen, ob Herr Doktor im Hinblick auf die wichtige Angelegenheit – – –« Sie schritt zu der Verbindungstür.

»Oh, ich habe es gewußt, daß Sie wahre Größe richtig zu würdigen verstehen werden, mein Fräulein,« rief Theophil Buttermilch hinter ihr drein.

Doktor Schmidt schien nicht erbaut von der Unterbrechung. »Was gibt's, Fräulein Steffen?«

»Ach, Herr Doktor, ein berühmter Dichter ist da. Er will eine Szene aus seinem neuesten Werk in unserer Zeitung veröffentlichen lassen, die Sache eilt sehr.« Lilli war ganz aufgeregt.

»Ein berühmter Dichter? Wer ist es? Hauptmann oder – – –«

»Nein, einer von den Jungen.«

»Ah, Hasenclever am Ende.«

»Nein, Theophil Buttermilch.« Lilli sprach den Namen voll Andacht aus.

»Was – Buttermilch? Unbekannte Größe. Deshalb brauchten Sie mich nicht zu stören, Fräulein Steffen.« Der Herr Doktor wandte sich wieder seinen Schreibereien zu.

Empörend, wie schwer das Genie es hatte, sich durchzusetzen. Weil der Name noch nicht bekannt war, hatte man kein Interesse für das Dichterwerk. Sie mußte für die wahre Kunst noch eine Lanze brechen.

»Ach, Herr Doktor, nur einen Augenblick. Der junge Dichter macht einen sehr bedeutenden Eindruck. Vielleicht können wir einem Genie den Weg in die Öffentlichkeit bahnen. Darf Herr Buttermilch nicht – – –«

»Kleine Idealistin! Na, meinetwegen, lassen Sie ihn rein.« Die liebenswürdige Fürsprecherin hatte gesiegt.

Erhobenen Hauptes schritt Theophil Buttermilch an Lilli vorüber, die sich mit dem gleichen erhobenen Gefühl an die Arbeit zurückbegab, wahre Dichtergröße richtig erkannt zu haben.

Die Audienz dauerte nicht lange. Der Dichter Theophil Buttermilch war schneller wieder draußen, als er hineingekommen war. Das Manuskript lugte nicht mehr aus seiner Manteltasche. Trotzdem sah der Dichter niedergeschlagen aus.

Ein Doppelklingelzeichen. Das galt Lilli. Sie begab sich zu Doktor Schmidt.

»Wie ich's mir vorher gedacht habe; Bettelei. Vorschuß auf die künftige Seligkeit, Abdruck oder Dichtertantiemen. Sie, kindliches Gemüt, lassen sich da was vorschwatzen. Hier ist das Manuskript, er war nicht dazu zu bewegen, es wieder mitzunehmen. Aber Sie können unmöglich verlangen, daß ich das durchackere. Suppen Sie die Buttermilch, die Sie sich eingebrockt haben, gefälligst selber aus, Fräulein Steffen.« Doktor Schmidt pflegte mit seiner hübschen Sekretärin öfters mal einen Scherz zu machen.

Lilli nahm die Rolle an sich. Sie, die sonst so gern und herzlich lachen konnte, hatte heute nicht einmal ein Lächeln für den Scherz. Sie war mit dem Herrn Vorgesetzten heute gar nicht einverstanden, das Fräulein Sekretärin.

Wie konnte er es nur »Bettelei« nennen, wenn der Dichter um Vorschuß gebeten hatte. Elend genug sah er aus, der Ärmste. Und hatten nicht viele Dichter in Armut und unter Entbehrungen ihr Bestes gegeben? Sie brannte darauf, das Heldendrama des Herrn Theophil Buttermilch zu lesen. Sie war überzeugt davon, daß sie ihm den Weg zur Berühmtheit würde bahnen helfen. Oh, war sie stolz darauf, daß ein Dichterschicksal in ihre Hände gelegt worden war.

Während der Redaktionsstunden kam Lilli nicht dazu, das Manuskript zu lesen. Da mußten soundsoviele Karten adressiert werden, daß man von dem freundlichst eingesandten Mannskript leider keinen Gebrauch machen könnte, oder aber, daß man es zum Abdruck erwerben wolle. Das war durchaus keine einförmige Tätigkeit. Mit jeder Karte wanderte Lillis geschäftige Phantasie mit, erlebte hier die Enttäuschung auslösende Abweisung mit dem Empfänger, triumphierte dort in freudigem Stolz und Genugtuung. Und dazwischen meldete die kleine Livree einen Besuch nach dem anderen, dem Lilli Rede und Antwort zu stehen hatte. Denn nach der Erfahrung mit Herrn Theophil Buttermilch wagte sie es nicht, Doktor Schmidt noch einmal zu stören. Nein, über einförmige Tätigkeit konnte sich Lilli Steffen hier nicht beklagen. Da kam der eilige Berichterstatter, die Mitarbeiter, die regelmäßig ihren Beitrag einreichten, und diejenigen, die den ersten Vorstoß wagten. Für alle hatte die junge Sekretärin Verständnis und ein freundliches Wort. Nicht am wenigsten für ein junges Mädchen, das schüchtern sein Geistesprodukt, lyrische Gedichte, anbot.

»Unsere Zeitung ist nicht die richtige Stelle dafür, wir bringen gar keine Lyrik. Vielleicht versuchen Sie es mal an einer der vielen Zeitschriften hier in unserem Verlage,« riet Lilli mit Interesse.

»Ich bin schon überall herum.« Ganz entmutigt klang es.

Wie gern hätte Lilli die Gedichte dabehalten. Aber sie durfte der Verfasserin nicht unnütze Hoffnungen machen. Das waren die Dornen, welche die Rosenwege im Dichterland besäumten. Die kluge Mutter hatte recht gehabt, daß sie ihre Lilli davor bewahren wollte. Und trotzdem, nie hatte Lilli so stark den Wunsch gehabt, selbst produktiv zu sein, wie in den sechs Wochen hier in der Redaktion. Der Bazill geistigen Schaffens, der dort in der Luft lag, hatte sich wohl auch bei ihr eingenistet. Der »stumme Diener« oben im Mansardenstübchen, Lillis Schreibtisch, wurde fleißig des Abends benutzt. Bogen um Bogen wurde dort beschrieben und in das Geheimfach verbannt. Denn etwas einzureichen, nein, dazu brachte Lilli nie wieder den Mut auf. Meistens waren es Märchen, Kindergeschichten, auch mal ein übermütiges Gedicht für die kleine Welt. Trotzdem Lilli jetzt Feuilletons, Plaudereien und Skizzen genug in die Hände bekam, selten nur fühlte sie sich zu ähnlichen Geistesprodukten angeregt. Ihre Phantasie lustwandelte meist im Kinderreich.

Vater ahnte hin und wieder etwas von diesen Ausflügen. Aber er tat, als ob er nichts merke, wenn abends das Lämpchen noch lange aus Lillis Mansardenstube durch die Ritzen der grünen Fensterläden blinzelte. Wenn sein Kind einen Vertrauten brauchte, würde es schon von selbst zu ihm kommen. Die Mutter war weniger einverstanden mit der »unnützen Lichtverschwendung«. Auch schlief das Mädel sich nicht genügend aus. Da Lilli aber niemals frischer ausgesehen und nie heiterer Stimmung gewesen war wie in den letzten Wochen durch die sie befriedigende Tätigkeit, schwieg auch Frau Mieze dazu.

Die junge Sekretärin war für heute mit ihrer Redaktionstätigkeit fertig. Die Manuskripte für die Kinderzeitung, die sie durchlesen sollte, das Buch, über das eine kurze Kritik verfaßt werden mußte, und das Buttermilchdrama lagen bereits in ihrer braunen Aktenmappe. Lilli stülpte die schwarze Samtkappe über das glänzende Blondhaar.

»Fräulein Steffen – ach, wie gut, daß Sie noch da sind.« Doktor Schmidt steckte den Kopf zur Tür herein. »Haben Sie wohl noch ein Viertelstündchen für mich Zeit?«

»Aber natürlich!« Lilli hatte bereits die Mütze wieder abgesetzt. Mit gezücktem Bleistift erwartete sie das Stenogramm. Kein Gedanke des Bedauerns kam ihr über die Verzögerung. Ungeteiltes Interesse brachte sie allem, was mit der Presse zusammenhing, entgegen. Ja, solch eine brauchbare Sekretärin konnte man sich suchen.

Vier Uhr schlug es von der Jerusalemer Kirche, als Lilli endlich unter dem noch immer sprühenden Novembernaß dahineilte. Sie hatte gut noch zwanzig Minuten täglich bis zum Wannseebahnhof zu Fuß zurückzulegen, denn zweimal fahren, nein, das konnte man sich jetzt bei den hohen Fahrpreisen nicht gestatten.

Wie gemütlich warm das Wohnzimmer sie daheim nach der grauen Feuchtigkeit draußen empfing. Man konnte, der großen Kohlenknappheit wegen, nur ein Zimmer heizen. Alles scharte sich um den Familientisch unter der großen Hängelampe. Der Vater stellte seinen Leitfaden für Kunstgeschichte, den er demnächst herausgeben wollte, zusammen, Mutter saß über einer Flickarbeit, Ludwig büffelte zum Vorexamen, Margot schwitzte über einem Aufsatz, und Schnauzel lag faul am warmen Ofen und besah sich inwendig.

Mit allgemeiner Freude wurde Lilli empfangen. Sie brachte jetzt während der Sintflut wie die Taube Nachricht aus der Welt draußen. Denn Doktor Steffen durfte bei diesem Wetter nicht ausgehen. Seine Hoffnung, zu Oktober wieder seine Lehrtätigkeit am Gymnasium übernehmen zu können, hatte sich nicht erfüllt. Trotzdem sein Gesundheitszustand bedeutend besser geworden war, hatte der Arzt es ihm zur Pflicht gemacht, nur bei windstillem, sonnigem Wetter das Haus zu verlassen. Die nebligen Novembertage waren Gift für ihn. Niemand, nicht einmal Frau Mieze ahnte, wie schwer es dem Oberlehrer wurde, den Urlaub noch auf ein halbes Jahr zu verlängern. Er lebte und webte nun mal im Schulleben mit seinen Jungen. Zwar war er genügend beschäftigt. Vorbereitungszirkel zum Gymnasium fanden vormittags in dem Wohnzimmer statt. Sowohl Jungen wie Mädels fanden sich ein. Ja, aus Berlin kamen sie sogar täglich heraus, um den fördernden Unterricht bei dem anregenden Lehrer zu genießen. Das waren meist angehende Abiturientinnen, die sich als sogenannte »Wilde« privatim für das Examen vorbereiteten. Öfters dachte Doktor Steffen, wenn er die jungen, lernbegierigen Dinger so vor sich sitzen sah, es sei doch eigentlich recht schade, daß er sein Liliputchen, das einen so offenen Kopf besaß, nicht auch dabei hatte. Aber kam sie dann nachmittags nach Haus, klaräugig und erfüllt von allem, was der Vormittag in der Redaktion Anregendes gebracht hatte, dann mußte er sich doch sagen, daß Lilli dort auf dem richtigen Platz war. Nach dem Wunsch seiner Frau verband sie jetzt das Praktische mit geistiger Arbeit.

Auch heute hatte Lilli einen ganzen Sack Neuigkeiten.

»Brrr, ist das ein Wetter! Aber hier ist es schön mollig. Ebenso warm wie bei uns in der Redaktion. Da sparen sie nicht mit den Kohlen. Ach, war das heute fein. Denkt mal, eine Bücherkritik soll ich schreiben, und die Manuskripte für die Kinderbeilage darf ich selbständig prüfen. Doch nett von Doktor Schmidt, nicht? Und ein richtiger Dichter ist heute bei uns gewesen, er verehrt mir ein Freibillett zu seiner Premiere.« Das stille Zimmer war plötzlich voll Leben.

»Wie heißt er denn?« fragten der Vater und Ludwig interessiert, während Mutter mehr Interesse dafür zeigte, ob Lilli auch keine nassen Füße habe.

»Buttermilch heißt er – – –« Allgemeines Gelächter unterbrach Lilli. Selbst Schnauzel beteiligte sich daran blaffend.

»Ihr braucht gar nicht zu lachen.« Dabei lachte Lilli selber am meisten. »Theophil Buttermilch wird sicherlich mal eine große Berühmtheit. Sein Wohl und Wehe ist in meine Hand gegeben. Hier habe ich sein antikes Heldendrama. Ich soll darüber zu Gericht sitzen.« Sie bemühte sich vergeblich, eine würdige Richtermiene aufzusetzen.

»Weißt du was, Lilli, laß lieber Vater das Ding lesen. Der versteht mehr von antiken Heldendramen als du,« meinte Ludwig neckend.

»Geht nicht – Amtsgeheimnis.« Lilli warf sich ungeheuer in die Brust. »Außerdem kommt es dabei weniger auf Sachkenntnis an als auf Gefühl und Stimmung, die ich als junger Mensch entschieden besser nachempfinden kann. So'n Dichterwerk ist keine Maschinenkonstruktion, Ludwig –«

»Leider nicht. Sonst wären die meisten logischer und klarer. Aber von der Buttermilch wirst du nicht satt werden, Lilli. Ich rate dir, lieber deine heiße Suppe zu essen.«

Margot, das Nesthäkchen, hatte bereits den dampfenden Teller auf Lillis Platz gestellt. Sie ging Mutter schon recht nett zur Hand mit ihren zwölf Jahren und versprach, tüchtig und gewandt zu werden. Seit dem Sommeraufenthalte in Schweden war das Kind groß und kräftig geworden. Noch heute schwelgte Margot in der Rückerinnerung an die herrliche Zeit dort und konnte den nächsten Sommer, für den sie ganz bestimmt wieder eingeladen worden war, nicht erwarten. Eigentlich betrachtete sie ihren Aufenthalt daheim nur als Gastrolle.

Heute hatte sie noch einen besonderen Grund, die große Schwester liebevoll zu versorgen, eigentlich einen eigensüchtigen. Margot konnte und konnte mit ihrem Aufsatz nicht zurechtkommen. Sie hatte nichts von Lillis Fabuliertalent geerbt, sondern besaß mehr die klare, praktische Art der Mutter und Ludwigs.

Vater spielte bei all seiner sonstigen Güte nicht den Retter in der Not. Lieber sollte sie die Arbeit verhauen, als sich mit fremden Federn zu schmücken. Margots ganze Zuversicht gipfelte in Lilli, die sich sicherlich ihrer Bedrängnis annehmen würde.

Vorläufig mußte Margot sich gedulden. Der Vater ließ sich mit dem Interesse, das er stets für jedes seiner Kinder zeigte, ganz genau von Lillis heutiger Tätigkeit berichten. Die Mutter schlug vor, das Buch, das sie kritisieren sollte, des Abends vorzulesen. Da es bereits erschienen war, war ja eine Verletzung des »Amtsgeheimnisses« dabei nicht zu befürchten.

»Hast du denn schon deinen Brief vom Lumpenprinzeßchen gelesen, Lilli?« Margot drängte, endlich an den Aufsatz zu kommen.

»Einen Brief von Ingeborg? Ja, das sind ihre charakteristischen Schriftzüge. Wie mit der Mistforke geschrieben, so sieht die Adresse aus.« Lachend öffnete Lilli das ziemlich unsaubere Schreiben.

Das Lumpenprinzeßchen hatte eine Heimat in Ostpreußen gefunden. Die Bäuerin, zu der es als Ferienkind gekommen war, hatte das kleine heimatlose Ding nicht wieder fortgelassen. Du lieber Himmel, elf Jungen und Mädel krabbelten auf dem großen Bauernhof herum zwischen zwei bis sechzehn Jahren. Was kam es da auf eins mehr an. Mochte das Dutzend immerhin voll werden. Und es war eine Freude, wie das spillerige Ding sich bei dem gesunden Landaufenthalt herausgemacht hatte. Die zurückkehrende Lena konnte nicht genug davon berichten. Lilli war glücklich, daß das Schicksal ihres kleinen Schützlings, in das sie als gute Fee eingegriffen, sich so erfreulich gestaltete. Auch jetzt entzifferte sie mit größtem Interesse die schwierige Handschrift.

»Liehbe Lieli« stand da. »Ich Mus Dier wihder Mal Schreihben. Gästern habe Ich eine Kuh gemolken aber das Biehst wollte Mir Stoßen. Sonst gäht es Mich Guht. In die Schuhle können Wir jätzt nich wägen Schneeh. Au, liecht der hier Hoch. Mit die Kinder ferdrage Ich Mir guht. Aber am Liehbsten habe Ich unser Neuhgepornes Kelpchen. Daß habe ich fast so Liehb wie Dir. Mutter dänke mal Ich derf Mutter zu die Beuerin sagen Mutter sagt Ich hette schon Backen wie 'n Weihnachtsappel. Wie gäht es Dich und Marjotten. Schreihbe bald.

Deine Ingeborg.«

»Na, ihren Namen kann sie wenigstens richtig schreiben.« Lilli lachte Tränen über den Brief. Sie mußte ihr Vorlesen fortwährend unterbrechen.

»Schriftstellerin braucht sie ja nicht gerade zu werden. Kühe melken zu lernen, ist wichtiger für sie, als einen orthographischen Brief zu schreiben,« sagte Ludwig lachend.

»Ich wünschte, es schneite bei uns auch so doll statt des Regengepladders, und ich brauchte nicht in die olle Schule zu gehen.« Der tiefe Stoßseufzer galt dem noch nicht über den Anfangssatz herausgekommenen Aufsatz.

»Kleiner Faulpelz,« drohte der Vater. Er vertiefte sich wieder in seine Kunstgeschichte, Mutter in Ludwigs Unterhosen.

Margot blinzte, zupfte, winkte. Endlich wurde die große Schwester aufmerksam. Eine zärtliche Umarmung sagte deutlich, daß schnelle Hilfe not tat.

Bald saßen denn auch die beiden Schwestern, angetan mit Wintermänteln, am stummen Diener im Mansardenstübchen droben. Denn dort sah man seinen Atem. Bitterkalt war's.

»Was sehe ich auf meinem Schulweg?« hieß das Aufsatzthema.

»Aber Margot, das ist doch kinderleicht. Seitenlang könnte ich darüber schreiben,« meinte Lilli.

»Ach, nur vier Seiten, Lillichen, mehr brauchen wir nicht. Wie soll ich anfangen?«

»Du hast ja schon den Anfang.«

»Ja, aber der ist gar nicht schön: ›Mein Schulweg ist sehr langweilig‹. Es gibt aber auch gar nichts Besonderes zu sehen. Morgens früh ist es jetzt noch so dunkel, daß man überhaupt nichts sieht.«

»Nein, Margot, das ist wirklich nicht schön. Und es stimmt auch gar nicht. Wir wollen mal zusammen überlegen, was du alles unterwegs beobachtest. Also erstens, wer gibt dir jeden Morgen das Geleit bis zum Bahnhof?«

»Schnauzel. Ja, soll ich mit Schnauzel anfangen?«

»Find' ich ganz ulkig. Also: Mein treuer Begleiter auf dem Schulweg bis zum Bahnhof Schlachtensee ist unser Dackel. Er ist recht betrübt, daß ich in die Schule gehe. Wenn der Zug einfährt, heult er mit der Lokomotive um die Wette.«

»Au ja, fein! Weiter, Lilli!«

»Aber, Margot, du sollst doch den Aufsatz machen, nicht ich.«

»Ich bin nun mal zu dämlich dazu. Ach, bitte, bitte, weiter, liebe süße, einzige Lilli. Meine Hände sind schon ganz klamm.«

»Du erdrückst mich ja, Margot. Was siehst du hier draußen auf dem Wege bis zum Bahnhof?« Lilli versuchte, das Schwesterchen auf Gedanken zu bringen.

»Nichts – höchstens Regenpfützen.«

»Du siehst doch hier auch Häuser und Gärten. Was tun die Gärten jetzt?«

Margot machte ein dummes Gesicht und kaute am Federhalter.

»Die welken Blätter zittern. Sie frieren, nicht wahr, und beben vor Kälte im Winde. Häuser und Gärten liegen verschlafen da. Erst auf dem Bahnhof erwacht das Leben wieder. Was siehst du dort täglich?«

»Den Kriegsinvaliden mit der Mundharmonika.«

»Schön; kannst du von dem nichts erzählen?«

»Er sagt immer ›Gott vergelt's, kleines Fräulein‹, wenn ich ihm etwas von meinem Frühstück schenke.«

»Gut! Was nun weiter?«

»Weiter weiß ich aber nun wirklich nichts.«

»Oh, du weißt noch eine ganze Menge. Mit wem fährst du denn immer zusammen?«

»Mit der Ursel, richtig, mit der Ursel. Ja, Ursel und Schnauzel, die müssen beide in meinen Aufsatz rein.«

»Es fahren doch noch mehr Leute mit.«

»Ja, der alte Herr Professor, der mir neulich Schokolade geschenkt hat. Und dann die Marktfrauen mit ihren großen Kiepen und die Herren, die alle ins Geschäft gehen, und – und – nun ist's zu Ende.«

»Nein, nun fängt's erst an, Margot. Wie sieht's in Berlin aus, wenn der Zug einfährt?«

»Wie in 'ner Maikäferschachtel; alles krabbelt durcheinander. Und keiner hat Zeit, auf den armen blinden Mann mit den Streichhölzern zu achten. Aber der Zeitungsfrau kauft jeder was ab. Und das Schönste auf meinem Schulweg ist das Bonbongeschäft an der Ecke. Da stehe ich immer eine ganze Weile und suche mir aus, was ich mir kaufen werde, wenn ich erst groß bin. Aber an dem Schlächterladen bleibe ich auch stehen. Da hängt so 'ne große Wurst wie in Schweden.«

»Nun kommen die Wagen heran, Margot. Was beobachtest du auf dem Straßendamm?«

»Elektrische, die sind knüppeldick voll. Und manchmal auch Autos. Da sitzen aber bloß Kriegsgewinnler drin. Und Schlächterwagen sehe ich und Müllwagen, und auch Droschken. Und denn – und denn – – –«

»Also hier hockt ihr! Dacht' ich mir's doch, daß in Kompanie der Aufsatz verfaßt wird. Der Kopf raucht euch ja trotz der Kälte, Kinder.« Ludwig stöberte die Vertieften auf.

»Ach, Ludwig, geh wieder 'raus!« Margot versuchte, den langen Bruder hinauszudrängen.

»Boxen kann das kleine Ding wie ein Junge.« Ludwig hielt ihr die muskulösen Arme fest. »Du sollst Brot holen, Margot, und Margarine, sonst haben wir heute abend nichts zu schmieren.«

»Ach je, ich will doch meinen Aufsatz machen.« Die Kleine weinte fast.

»Aber Maus, der ist ja beinahe fertig.«

»Was?« Margot schaute die große Schwester an, als ob sie an ihrem Verstande zweifelte. »Drei Sätze habe ich erst geschrieben.«

»Ich aber umso mehr. Alles, was du mir erzählt hast, was du unterwegs siehst, habe ich heimlich mit stenographiert. Morgen diktiere ich es dir, dann hast du den Aufsatz selbst gemacht.«

»Au fein! Ach, meine liebe, süße Lilli, wenn ich dich nicht hätte!« Plötzlich war wieder Sonnenschein.

»Und mich, du Schlingel?« Ludwig packte sie bei den Ohren.

»Ach, dich! Du kannst ja keine Aufsätze machen.«

»Aber Puppenmöbel, Schiffchen und Drachen. Das ist doch auch was wert, denk' ich. Komm mit 'runter ins warme Zimmer, Lilli, hier oben friert einem der Verstand ein,« rief Ludwig noch von der Treppe zurück.

»Ich komme bald nach.« Lilli wollte die Weihestunde, das Heldendrama eines Dichters als erste zu lesen, still für sich genießen. Sie holte das Buttermilchsche Manuskript. Die Schrift war recht unleserlich. Aber sie hatte sich allmählich schon daran gewöhnt, verworrene Schriftzüge zu entziffern. Den Sinn des antiken Dramas ›Die Erynnien‹ von Theophil Buttermilch zu entziffern, war aber noch ungleich schwieriger. Lilli las ein, zwei, drei Seiten. Sie las sie noch einmal und zum drittenmal, da war sie noch gerade so klug oder so dumm wie zuvor. »Das ist ja Blödsinn.« Sie versuchte sich aufs neue hineinzufinden.

»Der Mensch ist ja völlig übergeschnappt!« Das Werk bestand zum größten Teil aus abgerissenen Ausrufen und Gedankenstrichen.

Die Zeit verrann. Lillis Nasenspitze wurde rosenrot und die Hände blau. Da rief Mutter zum Glück zum Abendbrot.

»Kind, du holst dir was da oben!«

»Ach, mir ist brühheiß geworden bei Herrn Buttermilchs ›Erynnien‹. Ich habe alle ihre Qualen mit durchkosten müssen,« entgegnete Lilli lachend.

»Taugt das Ding denn was?« erkundigte sich der Vater.

»Vielleicht – wenn man's nur verstehen könnte. Mit dem Premierenbillett ist's sicher Essig. Eines aber habe ich jedenfalls heute gelernt: Es ist noch lange nicht jeder ein Dichter, der Theophil heißt und lange Haare trägt.«


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