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Ungewisses Schicksal

Nachdem Zar Iwan ganz Moskau durch dieses fürchterliche Schauspiel in Schrecken und Grauen versetzt hatte, wollte er sich gnädig und großmütig zeigen. Auf sein Geheiß wurden die Kerkertüren geöffnet und alle Gefangenen, die schon längst keine Begnadigung mehr erhofft hatten, wieder in Freiheit gesetzt, ja einige sogar mit kostbaren Geschenken entlassen. Es schien, als wenn aller Zorn und Grimm, der sich seit langem in ihm angehäuft hatte, sich durch die letzte blutige Genugtuung entladen hätte.

Nicht immer litt Iwan an Gewissensqualen, wenn er unschuldiges Blut vergossen hatte. Nur unter besonderen Vorbedingungen bemächtigten sie sich seiner Seele. Himmelserscheinungen, ein plötzlich einschlagender Donner, der Ausbruch schrecklicher Volksseuchen, pflegten seine empfindliche Einbildungskraft auf das äußerste zu erregen und bewirkten oft, daß er in öffentlicher Buße seine Sünden bereute. Blieben aber solche Zeichen aus, so schlummerte die Stimme des Gewissens in ihm. So war auch jetzt seine Seele ruhig. Empfand er doch nach jenem furchtbaren Massensterben eine unendliche Genugtuung – wie ein Hungernder, der sich nach langem Darben gesättigt fühlt.

 

In der Alexandrowa Sloboda aber bereitete sich inzwischen ein unerwartetes Ereignis vor. Godunoff, der nicht jener furchtbaren Hinrichtung beigewohnt, sondern schon am Tage zuvor des Zaren Erlaubnis eingeholt hatte, den litauischen Gesandten, die Moskau gerade verließen, das Geleit geben zu dürfen, war bereits in die Alexandrowa Sloboda zurückgekehrt, um dem Zaren dort einen festlichen Empfang zu bereiten, hatte schon alles angeordnet und in die Wege geleitet und saß nun geruhsam in seinem Wohnzimmer und vergegenwärtigte sich noch einmal die bunten Geschehnisse der letzten Tage, als ein eintretender Diener ihm meldete, daß Fürst Nikita Romanowitsch Sserebrjanyi ihn zu sprechen wünsche. Godunoff sprang verblüfft auf. War doch Sserebrjanyi beim Zaren in Ungnade, ja sogar zum Tode verurteilt worden und zudem noch heimlich aus dem Kerker entwichen. Jede Beziehung zu ihm konnte Boris den Kopf kosten. Aber dem Fürsten jetzt die Gastfreundschaft zu entziehen oder ihn womöglich dem Zaren auszuliefern, war unwürdig und unmöglich, ohne dadurch auch das Vertrauen des Volkes, an dem ihm so viel gelegen war, einzubüßen. So beschloß er, Sserebrjanyi wie immer mit aller Herzlichkeit aufzunehmen.

»Willkommen, lieber Fürst«, rief er aus, Nikita umarmend, »willkommen hier in meinem Hause! Komm, nimm Platz! Wie aber um alles in der Welt hast du dich nur entschließen können, in die Sloboda zurückzukehren? Aber wart', laß mich dich erst etwas bewirten, sicherlich bist du hungrig von der weiten Reise.«

Auf Godunoffs Anordnung wurde dem Fürsten eine Sakußka und ein Becher Wein gereicht.

»Sage, Fürst«, fragte Godunoff besorgt, »hat dich jemand gesehen, als du eben zu mir kamst?«

»Das kann ich dir nicht sagen«, antwortete Sserebrjanyi leichthin, »es mag schon sein, ich habe mich ja auch nicht hier eingeschlichen, sondern bin zu Pferde offen vor dein Haus geritten. Ich weiß doch, daß du nicht zu den Opritschniks hältst.«

Godunoffs Stirn bewölkte sich leicht.

»Boris Fjodoryitsch«, fuhr Sserebrjanyi in zutraulichem Tone fort, »ich komme nicht allein, mir folgen an die zweihundert Räuber von Rjasanj her.«

»Nicht möglich, Fürst!« rief Godunoff aus.

»Ja, sie warten hinter dem Schlagbaum«, fuhr Sserebrjanyi fort. »Wir alle wollen dem Zaren unsere schuldigen Köpfe anbieten, so mag er entscheiden, ob er uns hinrichten oder begnadigen will!«

»Ich habe gehört, Fürst, wie du dich gegen die Tataren geschlagen hast, aber weißt du denn überhaupt, was inzwischen hier alles vor sich gegangen ist?«

»Ich weiß es wohl«, erwiderte Nikita finster, »bei euch steht es schlimmer denn je. Gott möge dem Zaren verzeihen! Du aber begehst eine große Sünde, Boris Fjodoryitsch, daß du das alles mitansiehst, ohne ein offenes Wort zu wagen!«

»Ach, Nikita Romanyitsch! Du bist, wie ich sehe, ganz der alte geblieben! Was sollte ich dem Zaren sagen? Glaubst du etwa, er würde auf mich hören?«

»Und selbst, wenn er das nicht täte«, entgegnete Sserebrjanyi mit Nachdruck, »trotzdem wäre es deine Pflicht, zu sprechen! Von wem sollte er die Wahrheit erfahren, wenn nicht von dir?«

»Du tust mir wirklich unrecht, Nikita Romanyitsch, wenn du mich so scharf verurteilst. Der Zar läßt den hinrichten, auf den er einmal seinen Zorn gerichtet hat, und kein Mensch vermag ihn zu beeinflussen oder umzustimmen. Sieh, Morosoff hat es gewagt, ihm die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern, und dieser selbe Morosoff wurde hingerichtet, und auch allen anderen ist es nicht besser ergangen. Und du, Nikita Romanyitsch, scheinst selbst nicht allzusehr um deinen Kopf besorgt zu sein, wenn du es nach dem, was sich jüngst in Moskau zugetragen, fertiggebracht hast, in die Sloboda zurückzukehren.«

»Nun, Boris Fjodoryitsch«, erwiderte Sserebrjanyi, »seinem Schicksal kann man nicht entrinnen, und, ehrlich gesagt, ist mir das Leben auch zuwider; wahrlich, es sind jetzt keine glücklichen Zeiten im weiten Rußland!«

»Höre, Fürst! Du schonst deiner nicht; das ist wohl so deine Art, aber Gott scheint dich in seinen besonderen Schutz genommen zu haben. Wenn du auch noch so haarscharf am Verderben vorbeigingst, bis jetzt bist du noch immer mit heiler Haut davongekommen. Es muß dir wohl von Kindheit an so bestimmt sein, daß du dein Leben nicht so mir nichts dir nichts beschließen sollst. Wärst du eine einzige Woche früher zurückgekehrt, ich weiß nicht, was dann aus dir geworden wäre. Aber jetzt scheint mir deine Lage doch nicht so ganz hoffnungslos zu sein. Nur sieh zu, daß du dem Zaren nicht zu schnell unter die Augen kommst! Laß mich ihn erst auf alles vorbereiten!«

»Hab' Dank, Boris Fjodoryitsch! Mach' dir nur meinetwegen keine zu großen Sorgen, aber versuche, wenigstens den Räubern, die mit mir gekommen sind, aus dem Unglück zu helfen. Wenn es auch sündige Menschen gewesen sind, so haben sie wahrlich ihre Sünden abgebüßt.«

Godunoff blickte Nikita verwundert an.

»Ich begreif dich nicht, Fürst! Hast du denn solchen Kummer, daß dir das Leben so zuwider ist?«

»Vielleicht auch das, aber außerdem lohnt es sich jetzt auch nicht zu leben! Weißt du, Boris Fjodoryitsch, so oft kommt mir jetzt Kurbskij in den Sinn; dann grüble ich hin und her, und es wird mir vor mir selber angst; man möchte fast auch der Heimat entfliehen und selbst zu den Polen gehen, wenn es nicht gerade unsere grimmen Feinde wären.«

»Ja, auch mir geht es manchmal so, Fürst. Es bleiben einem jetzt eigentlich nur zwei Wege offen: entweder so zu handeln wie Kurbskij – auf ewig dem Vaterlande den Rücken kehren – oder es so zu machen wie ich – in der Nähe des Zaren bleiben und sich seine Gunst zu erhalten suchen. Du aber tust weder das eine noch das andere; den Zaren verlassen willst du nicht, aber zu ihm halten willst du auch nicht, das geht auf die Dauer nicht so weiter, Fürst! Für eines von beiden mußt du dich entscheiden. Wenn du die Heimat nicht aufgeben willst, so füge dich dem Willen des Zaren. Wenn er dann schließlich Gefallen an dir findet, wird er vielleicht selbst der Opritschnina überdrüssig. Sieh, wenn unser zum Beispiel zwei wären, so könnte einer immer den andern unterstützen. Heute würde ich ein Wort fallen lassen, morgen du, und so würde vielleicht ab und zu doch ein Körnchen Wahrheit in seine Seele dringen. Verzweifle doch nicht gleich an allem, Fürst. Laß doch die Opritschniks Opritschniks sein; sie werden sich schon mit der Zeit gegenseitig abtun. Zwei der schlimmsten sind schon nicht mehr, Baßmanoff und Wjasemskij. Gedulde dich nur noch eine kleine Weile, die ganze Opritschnina wird in sich selbst zerfallen.«

»Und was soll bis dahin geschehen?« fragte Sserebrjanyi.

»Bis dahin«, erwiderte Godunoff, bestrebt, nicht zu auffällig bei dem Gedanken zu verharren, den er in Sserebrjanyi wecken wollte, »nun, bis dahin könntest du, wenn der Zar dich begnadigt, meinetwegen wieder gegen die Tataren ins Feld ziehen. Dabei wird dir schon die Zeit nicht lang werden!«

»Ja«, sagte Nikita, »das ist noch das einzige, was uns geblieben ist, der Kampf gegen die Tataren.«

Godunoff unterhielt sich nun mit ihm über seine gewaltsame Entführung aus dem Kerker und über die Schlacht bei Rjasanj. Es war schon dunkel geworden, als sie noch immer in lebhaftem Gespräch hinter gefüllten Bechern saßen. Endlich erhob sich Sserebrjanyi.

»Leb' wohl, Bojar! Es ist spät geworden.«

»Wohin willst du jetzt noch, Nikita Romanyitsch? Bleibe bei mir zur Nacht. Morgen kommt der Zar wieder, und dann will ich ihn gleich von allem unterrichten.«

»Hab' herzlichen Dank, Fjodor Fjodoryitsch, aber ich kann nicht bleiben. Es ist Zeit, daß ich wieder zu meinen Leuten zurückkomme. Ich fürchte, daß sie sonst mit irgend jemandem ins Gehege kommen könnten. Vor den Spitzbuben hier heißt es auf der Hut sein. Wenn wir auch abseits im Walde gerastet haben, so könnte doch irgend eine Patrouille sie ausfindig machen.«

»Nun, dann leb' wohl solange, Nikita Romanyitsch! Seht zu, daß ihr dem Zaren nicht unter die Augen kommt, bevor ich dir Bescheid gebe. – Halt, Fürst! Geh nicht dort hinaus!« fuhr Godunoff fort, als er sah, daß Sserebrjanyi sich anschickte, die Haupttreppe hinunterzugehen, nahm ihn bei der Hand und führte ihn über eine Seitentreppe ins Freie. Er wartete, bis der Fürst sein Roß bestiegen und sich auf einem Seitenweg entfernt hatte und kehrte dann in sein Haus zurück, sichtlich erleichtert, daß Sserebrjanyi seiner Aufforderung, unter seinem Dache zu übernachten, nicht Folge geleistet hatte.

 

Am anderen Morgen hielt der Zar wie nach einem glänzenden Siege seinen feierlichen Einzug in die Sloboda.

Unaufhörlich Goida! Goida! rufend, geleitete ihn die Schar seiner Höflinge direkt bis vor den Palast.

Nur die alte Onufrewna empfing ihn mit Scheltworten.

»Du wilde Bestie«, grollte sie zornig, ihm auf der Treppe entgegenkommend, »daß dich die Erde noch nicht verschlungen hat, du reißendes Tier! Du riechst ja nach Blut, du Schlächter! Wie wagtest du es, dich nach deinem schändlichen Verbrechen in der Troitzka Lawra den Gebeinen des heiligen Ssergej zu nähern! Gottes Blitze werden dich vernichten mitsamt deinem ganzen Teufelsheer!«

Aber diesmal machten die Verwünschungen und Drohungen der Mamka keinen Eindruck auf Iwan. Draußen tobte weder Gewitter noch Sturm, sondern die Sonne stand strahlend am wolkenlosen Himmel; die bunten Türme, die vergoldeten Zinnen, die Kuppeln des Palastes leuchteten hell.

Ohne auf die Alte zu achten, begab sich Iwan in seine inneren Gemächer.

 

Boris Godunoff, der den Zaren genau beobachtet und festgestellt hatte, daß Iwan in aufgeräumter Stimmung zurückgekehrt war und sich gegen seine sonstige Gewohnheit nach dem Mittagsmahl zur Ruhe begeben wollte, folgte an diesem Tage dem Zaren ins Schlafgemach. Die hohe Gunst, die Iwan Godunoff offenkundig zuteil werden ließ, verlieh ihm dieses Recht, besonders wenn er mit seinem Herrn etwas zu besprechen hatte, was nicht jeder hören sollte. Im Schlafgemach des Zaren standen zwei Betten, eins aus nackten Brettern gefügt, auf dem Iwan Wassiljewitsch zu liegen pflegte, wenn bittere Reue ihn quälte, und ein zweites breiteres, das mit weichen Daunen, Seidenkissen und Fellen bedeckt war. Auf diesem Lager ruhte der Zar, wenn nichts seine Seele peinigte.

Godunoff wartete, bis Iwan Wassiljewitsch sich auf das weiche Federbett ausgestreckt hatte und vergewisserte sich dank dem ihm eigenen feinen Beobachtungsvermögen, dem auch nicht die kleinste Bewegung oder Veränderung in den Zügen des Zaren entging, daß außer einer Müdigkeit heute nichts in diesen Zügen lag; er begann daher ohne weitere Umschweife.

»Ist es dir bekannt, Zar, daß einer, den du zum Tode verurteilt, sich wieder eingefunden hat?«

»Wer denn?« fragte Iwan gähnend.

»Nun, Nikita Sserebrjanyi, jener selbe, der Wjasemskij, der dich nachher so schnöde verriet, durch Säbelhiebe verwundet hatte und daraufhin in den Kerker geworfen wurde!«

»Ach«, sagte Iwan, »haben sie endlich den Spatzen wieder? Wer hat ihn denn eingefangen?«

»Niemand, Herr! Er ist freiwillig gekommen und hat außerdem noch die Banditen mitgebracht, die unter seiner Führung die Tataren bei Rjasanj aufs Haupt geschlagen haben! Sie sind alle gekommen, um dir ihre sündigen Köpfe zu Füßen zu legen.«

»Sie scheinen sich also eines Besseren besonnen zu haben«, meinte Iwan. »Hast du sie gesehen?«

»Ja, Herr! Sserebrjanyi kam direkt zu mir, er dachte, daß deine Gnaden in der Sloboda weilte und wollte mich bitten, dich von allem zu unterrichten. Zuerst wollte ich sie durch deine Wachen festnehmen lassen, aber dann habe ich mir überlegt, daß Skuratoff am Ende glauben könnte, ich wollte mich in seine Angelegenheiten mischen. Außerdem war ich ja Sserebrjanyis vollkommen sicher, der nicht fortgegangen wäre, wo er sich dir aus freien Stücken gestellt hat.«

Godunoff sprach frei, ohne jede Verlegenheit, als wenn auch nicht der leiseste Schimmer von Verschlagenheit oder Berechnung in ihm wäre und er nicht die geringste persönliche Teilnahme an Sserebrjanyis Schicksal fühlte.

Der Zar gähnte noch einmal, ohne etwas zu erwidern. Boris, der jeden Zug seines Gesichtes genau beobachtete, konnte darin keinerlei Anzeichen eines wirklichen oder versteckten Zornes entdecken, es schien ihm vielmehr, daß dem Zaren Sserebrjanyis Handlungsweise, sich demütig seinem Willen zu beugen, offenkundig behagte.

Nachdem Godunoff ein wenig gewartet hatte, entschloß er sich, den Zaren zu einer entscheidenden Stellungnahme zu zwingen.

»Wie befiehlst du, Zar? Soll ich Maljuta rufen lassen?« fragte er endlich.

Iwan blickte Godunoff durchdringend an.

»Glaubst du etwa, daß ich ohne Blutvergießen nicht leben kann?« sagte er streng. »Verräter, die den Staat gefährden – das ist wohl etwas anderes als Nikita, der Afonjka verwundet hat. Und was die Banditen anbelangt, so will ich einmal sehen, wen ich hinrichten lasse und wer begnadigt werden soll. Sie mögen sich alle mit Nikita auf dem Hofe vor der großen Freitreppe einfinden. Wenn ich aus dem Schlafgemach komme, will ich sehen, was mit ihnen anzufangen ist.«

Godunoff wünschte dem Zaren eine angenehme Ruhe und entfernte sich mit einer tiefen Verbeugung.


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