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Die Alexandrowa Sloboda

Der Weg von Moskau bis zur Troitzka-Lawra, einem berühmten Mönchskloster aus dem 13. Jahrhundert, und von dort bis zur Sloboda bot ein äußerst bewegtes Bild.

Unaufhörlich sprengten Boten des Zaren und Opritschniks hin und her, große Gruppen von Menschen aller Stände zogen zur Pilgerfahrt; Falkenjäger aus der Sloboda ritten in die Dörfer der Umgegend, um lebende Tauben zu holen; hoch oben auf schwerbeladenem Wagen sitzend oder ihrem Gefährt zu Pferde voranreitend, bewegten sich Scharen von Kaufleuten langsam und mühselig vorwärts; ganze Banden von Gauklern und Spielleuten mit Gudoks, Woluinkas und Balalaikas Der Gudok ist eine dreisaitige Geige; die Woluinka eine Art Dudelsack und die typisch russische Balalaika eine langhalsige Gitarre, die mit zwei bis drei Saiten bespannt wird. bevölkerten die Straße. Sie waren meist bunt gekleidet und führten abgerichtete Bären mit sich, sangen allerlei Lieder und bettelten die wohlhabenden Reisenden und Wallfahrer an.

»Habt doch Erbarmen mit uns, ihr Herren!« riefen sie in allen Tonarten. »Gott der Herr hat euch reichlich mit Hab und Gut gesegnet, uns aber hat er befohlen, uns kümmerlich von euren milden Gaben zu nähren. So laßt uns arme, geplagte Leute nicht verhungern, ihr lieben Herren!«

»Ach unsere Väter, unsere lieben Wohltäter!« klagten wieder andere, am Wegrand stehend, mit wehleidiger, singender Stimme. »Der Herr schenke euch Gesundheit und ein langes Leben! Er geleite euch sicher und ungefährdet bis zur Troitzka-Lawra!«

Wieder andere würzten ihre Reden mit allerlei derben Späßen und Wortspielen, so daß manch ein Reisender den launigen Witz mit einer größeren Münze belohnte. Oft kam es zu blutigen Schlägereien zwischen den Gauklern und Scharen von zerlumpten Bettlern, die aus Städten und Dörfern nach der Sloboda strömten, um die reichlichen Almosen, die der Zar verteilen ließ, einzuheimsen. Auch Märchenerzähler und blinde Guslaspieler, die Guslas Die Gusla ist eine liegende, mit Drahtsaiten bespannte Harfe von vier Oktaven. um die Schulter gehängt, einer an den andern geklammert, zogen den Weg entlang.

All dies Volk lärmte und sang, schimpfte und fluchte laut durcheinander; Pferde wieherten; Bären brummten vor sich hin.

Der Weg führte durch dichten Wald. Trotz der großen Menschenmengen, die ihn täglich bevölkerten, kam es nicht selten vor, daß bis auf die Zähne bewaffnete Räuberbanden aus dem Dickicht hervorbrachen, die Kaufleute überfielen und vollständig ausplünderten.

In der Troitzka-Lawra angekommen, ging Sserebrjanyi zur Beichte und Kommunion. Der Abt erteilte ihm den Segen, wie einem, der in den gewissen Tod geht.

Etwa drei Werst von der Sloboda entfernt stand ein Wachtposten, der alle Fremden anhielt. Auch Sserebrjanyi und seine Leute mußten sich einem genauen Verhör über den Zweck ihrer Reise unterwerfen: dann nahm ihnen der Hauptmann des Postens die Waffen ab und gab ihnen vier berittene Opritschniks mit, die die Reisenden bis in die Sloboda geleiten sollten.

 

In jenem furchtbaren Palast – so lesen wir in den Geschichtswerken jener Zeit – widmete Iwan den größten Teil des Tages dem Gottesdienst, um durch unentwegte Andacht und Bußübungen seine Seele zu beruhigen. Er hatte sogar seinen Palast in ein Kloster verwandelt, ja er wählte unter seinen Opritschniks dreihundert der wildesten aus, nannte sie Brüder und bezeichnete sich selbst als ihren Abt, Fürst Afanaßij Wjasemskij als Kellermeister und Maljuta Skuratoff als Pater Sakristan; er ließ sie schwarze Mönchskutten und Kapuzen anlegen, unter denen goldgestickte, zobelverbrämte Kaftans hervorblickten; dann schrieb er ihnen strenge Klosterregeln vor und ging ihnen selbst in der gewissenhaften Erfüllung derselben voran. Um vier Uhr morgens pflegte er mit seinen Söhnen und Maljuta Skuratoff den Glockenturm zu besteigen, um zur Frühmesse zu läuten; dann eilten die Brüder zur Kirche; jeder, der nicht erschien, wurde mit achttägiger Kerkerhaft bestraft. Der Gottesdienst dauerte bis sechs oder sieben Uhr morgens. Der Zar sang, las und betete mit solcher Andacht und schlug so inbrünstig bei den tiefen Verneigungen vor den Heiligenbildern mit dem Kopfe auf den Boden auf, daß sich auf seiner Stirn rote Male bildeten. Um acht Uhr versammelten sich wieder alle, um die zweite Messe zu hören, um zehn Uhr setzten sich die Brüder zu Tisch, während Iwan stehend mit lauter Stimme geistliche Ermahnungen vorlas.

Mittlerweile aßen sich die Brüder nach Herzenslust satt und sprachen auch eifrig den Getränken zu; ein jeder Tag wurde wie ein Fest gefeiert; weder an Wein noch an Met wurde gespart; die Reste des Mahles aber wurden auf den großen Platz vor den Palast hinausgetragen, wo sich die schon darauf lauernden Bettler gierig auf die Speisen stürzten. Der Zar selbst, also der Abt, pflegte später zu speisen und unterhielt sich jetzt mit seinen Günstlingen über religiöse Fragen, ruhte dann ein wenig, oder begab sich von hier direkt in den Kerker, um der Folter irgend eines Unglücklichen beizuwohnen. Es schien, als wenn dieses entsetzliche Schauspiel ihn ergötzte, denn meist kehrte er von dort mit dem Ausdruck herzlicher Befriedigung zurück und pflegte dann leutseliger und huldvoller als sonst mit seinen Günstlingen zu scherzen und zu plaudern.

Um acht Uhr fand die Vesper statt, um zehn Uhr begab sich Iwan in sein Schlafgemach, in dem meist blinde Erzähler seiner harrten, um ihm Märchen und Geschichten vorzutragen; er hörte ihren Erzählungen zu, bis er einschlummerte; allein nur kurze Zeit währte seine Ruhe, denn um Mitternacht erhob er sich bereits wieder, um den neuen Tag durch Beten einzuleiten. Manchmal berichtete man ihm in der Kirche über allerlei Staatsangelegenheiten, ja oft erteilte er gerade die grausamsten Befehle während der Messen.

Die Einförmigkeit dieses klösterlichen Lebens unterbrach er durch Rundfahrten; er besichtigte dann nahe und entferntere Klöster, inspizierte die Festungen an den Grenzen seines Landes, stellte in Wäldern und in der weiten Steppe wilden Tieren nach und huldigte mit besonderem Vergnügen der Bärenjagd. Dabei aber befaßte er sich auch jetzt noch mit Staatsgeschäften, weil die bevollmächtigten Regenten des Reiches, die Bojaren, nichts ohne sein Einverständnis unternehmen durften.

 

Als Sserebrjanyi in die Sloboda einzog, sah er, daß der Palast oder das Kloster des Zaren von den übrigen Gebäuden durch einen tiefen Graben und einen hohen Wall getrennt war.

Der bezaubernde Anblick, den der Palast mit den vielgestaltigen farbigen und goldglänzenden Kuppeln, Türmen und Zinnen und die herrliche Kathedrale der Mutter Gottes boten, verscheuchte für einen Augenblick die trüben Gedanken, die den Fürsten während des ganzen Weges verfolgt hatten.

Bald aber sollte ein abstoßendes Schauspiel ihn wieder allzu deutlich an seine Lage erinnern. Der Weg führte an einigen Galgen vorüber, die in Reih und Glied einer hinter dem andern aufgestellt waren. Auch die Blöcke mit Beilen standen bereit. Die schwarz angestrichenen Balken waren so fest und stark gebaut, daß man nur zu gut erkennen konnte, daß sie nicht für wenige Tage ihren Zweck erfüllen sollten, sondern auf lange Jahre berechnet waren.

Sserebrjanyi vermochte es nicht, seine innere Erregung zu verbergen, als sie an dieser Stätte des Grauens vorbeizogen. Entsetzen spiegelte sich in seinen Zügen wider. Die begleitenden Opritschniks bemerkten es und brachen in höhnisches Gelächter aus.

»Ja, Bojar, das sind unsere Schaukeln!« sagte einer von ihnen, auf die Galgen weisend. »Es scheint, daß sie dir sehr gefallen, weil du die Augen gar nicht von ihnen losreißen kannst.«

Micheitsch, der hinterdrein ritt, erwiderte nichts darauf, fing nur an bedeutungsvoll vor sich hinzupfeifen und den Kopf nachdenklich hin und her zu wiegen.

Als sie bis zum Wall herangekommen waren, stiegen sie von den Pferden und banden die Tiere an Pfählen fest, in die zu diesem Zweck starke Eisenringe eingelassen waren. Dann traten sie auf einen großen Hof, auf dem es von Bettlern wimmelte. Diese beteten mit lauter Stimme, sangen Psalmen und entblößten widerliche Wunden und Schwären. Der Haushofmeister des Zaren stand auf der breiten Freitreppe des Palastes und verteilte im Namen Iwans Geldspenden und Eßwaren unter sie.

Von Zeit zu Zeit schritten auf dem Hofe Opritschniks auf und ab; andere saßen auf den den Platz umgebenden Bänken, spielten Schach oder würfelten. Wieder andere hatten einen Kreis gebildet und spielten Swaika, wobei sie jedesmal in schallendes Gelächter ausbrachen, wenn der Verlierende einen tiefgesteckten Rettich mit dem Munde aus der Erde herausziehen mußte.

Die glänzende Kleidung der Opritschniks stand in schroffstem Gegensatz zu den Lumpen der Bettler: die Leibwächter des Zaren waren in gleißende Gewänder gehüllt, die ebenso wie die Kopfbedeckung aus Sammet oder Brokat bestanden und mit Perlen und Edelsteinen geschmückt waren, so daß sich diese Gestalten wie wandelnde Ornamente zu dem zauberhaft schönen Palast ausnahmen, mit dem sie ein Ganzes zu bilden schienen.

Einer der Opritschniks lenkte besonders Sserebrjanyis Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein junger Mensch von etwa zwanzig Jahren, von einer außergewöhnlichen Schönheit, die durch einen unangenehm dreisten Gesichtsausdruck stark beeinträchtigt wurde. Er war noch kostbarer gekleidet als die anderen und trug, entgegen der allgemeinen Sitte jener Zeit, das Haar lang, und in seinem bartlosen Gesicht wie überhaupt in seinem ganzen Gebaren drückte sich etwas unmännlich Lässiges aus. Das Verhalten der anderen ihm gegenüber mutete etwas seltsam an. Sie redeten mit ihm wie mit einem Menschen ihresgleichen und erwiesen ihm keine besondere Ehrerbietung; wenn er aber an eine der Gruppen herantrat, so rückten die Opritschniks sofort auseinander, und diejenigen, die auf den Bänken gesessen hatten, erhoben sich und boten ihm ihren Platz an. Es schien, als wenn sie sich vor ihm in acht nehmen wollten oder ihn fürchteten. Als er Sserebrjanyi und Micheitsch gewahr wurde, maß er sie mit einem hochmütigen Blick, winkte die Opritschniks heran, die die Fremden in die Sloboda geleitet hatten und schien sich nach ihrem Namen zu erkundigen, blinzelte dann abermals zu Sserebrjanyi herüber und flüsterte mit einem boshaften Lächeln leise seinen Gefährten etwas zu. Diese traten darauf lachend nach den verschiedensten Seiten auseinander; er selbst stieg die Freitreppe empor, blieb, den Ellenbogen auf das Geländer gestützt, oben stehen und fuhr fort, Nikita Romanowitsch mit spöttischen Blicken zu mustern. Plötzlich brach unter den Bettlern eine wilde Panik aus. Die dichte Menschenmenge drängte hastig nach der Seite, an der der Fürst stand, so daß dieser von dem Ansturm fast zu Boden gestürzt wäre.

Alles stob laut aufschreiend auseinander; Entsetzen spiegelte sich in allen Gesichtern wider.

Ein ungeheurer Bär jagte in großen Sätzen hinter den Unglücklichen her. In einem Augenblick war der riesige Hof menschenleer, nur der Fürst war stehengeblieben. Der Gedanke an Flucht war ihm nicht gekommen, stand er doch nicht zum erstenmal so Aug' in Aug' einem Bären gegenüber. Er wollte zur Waffe greifen, als der Bär im Begriff war, mit zurückgelegten Ohren auf ihn loszuspringen, – erst da erinnerte er sich, daß er sein gutes Schwert vor dem Einzug in die Sloboda hatte abliefern müssen.

Der junge Opritschnik, der von der Treppe aus dem Schauspiel zusah, lachte belustigt auf.

»Ja, ja«, höhnte er, »such' du nur nach deinem Schwert!«

Ein einziger Hieb der Bärentatze hatte den Fürsten zu Boden geschleudert, ein zweiter mußte ihm unweigerlich den Schädel zermalmen, aber zu seinem großen Erstaunen fühlte er diesen Schlag nicht, sondern spürte nur, daß ein warmer Blutstrahl an ihm herunterrieselte.

»Steh auf, Bojar«, sprach eine Stimme neben ihm, und eine Hand streckte sich ihm hilfsbereit entgegen.

Der Fürst richtete sich auf und erblickte vor sich einen jungen Opritschnik, den er vorher nicht bemerkt hatte. Er mochte etwa siebzehn Jahre zählen und hielt ein bluttriefendes Schwert in der Hand. Der Bär lag mit gespaltenem Schädel auf dem Rücken und verendete nach kurzen Zuckungen zu seinen Füßen.

Der Opritschnik schien sich weiter nichts auf seine Tat zugute zu halten und wollte sich entfernen, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß der Bär den Fürsten nicht verletzt hatte, als Sserebrjanyi ihm nachrief:

»Tapferer Jüngling, sage mir doch deinen Namen, damit ich weiß, für wen ich zu Gott beten soll!«

»Was hast du von meinem Namen, Bojar«, erwiderte der Opritschnik trübe, »wahrlich, ich hänge nicht weiter an ihm!«

Diese seltsame Antwort verwunderte Sserebrjanyi, aber sein Retter hatte sich bereits entfernt.

»Ach, Väterchen Nikita Romanowitsch!« rief Micheitsch, der herzutrat und mit seinem Rockschoß eifrig seinem Herrn das Blut abwischte, »hab' ich eine Angst ausgestanden! Ich hab' immerfort den Bären zu reizen versucht, damit er von dir ablassen und sich auf mich stürzen sollte, als dieser wackere Jüngling – Gott schenke ihm dafür ein langes Leben – ihm den Schädel entzweischlug. Das alles hat jener Milchbart angestiftet, der mit den öligen Augen, der sich dort oben auf der Treppe herumräkelt! Der Teufel soll ihn holen, den Schurken! Wohin sind wir nur geraten?« fuhr er seufzend mit leiser Stimme fort. »Hat man je so etwas gehört, daß man mitten auf dem Hofe des Zaren Bären herumlaufen läßt?«

Wohl hatte Micheitsch mit seiner Bemerkung durchaus recht, aber die Sloboda hatte nun eben ihre ganz besonderen Sitten. Weil der Zar dem Tierkampf huldigte, wurden immer für eine Bärenhatz einige dieser Tiere in eisernen Zwingern gehalten. Von Zeit zu Zeit ließen der Zar oder die Opritschniks einen Bären aus dem Käfig, hetzten ihn auf die Menschen los und ergötzten sich an dem Entsetzen, das sein Erscheinen hervorrief. Verstümmelte der Bär einen Menschen, so entschädigte ihn der Zar mit Geld, zerfleischte er aber den Unglücklichen ganz, so wurde das Geld unter seine Verwandten verteilt und sein Name mit denjenigen der anderen Opfer des Zornes oder der Belustigung des Zaren in das Totenregister eingetragen, damit auch für sein Seelenheil in den Klöstern Messen gelesen wurden.

Kurz nach diesem Vorfall traten zwei Lakaien aus dem Palast des Zaren auf Sserebrjanyi zu, um ihm auszurichten, daß ihn der Zar vom Fenster aus beobachtet hätte und zu wissen wünsche, wer er sei. Nachdem sie Iwan den Namen des Fürsten mitgeteilt hatten, kamen sie zu Sserebrjanyi zurück und meldeten, daß sich der Zar nach seiner Gesundheit erkundigen und ihn zu seiner Tafel entbieten ließe.


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