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Die Märchenerzähler

Durch die Jagd ermüdet, hatte sich Iwan Wassiljewitsch früher als gewöhnlich in sein Schlafgemach zurückgezogen.

Bald erschien auch Maljuta mit den Kerkerschlüsseln.

Auf des Zaren Frage antwortete er, nichts besonderes sei vorgefallen, Sserebrjanyi wäre nur geständig, daß er in Moskau Morosoff verteidigt, sieben Opritschniks getötet und Wjasemskij schwer verwundet hätte.

»Aber«, fuhr Maljuta fort, »er will nicht zugeben, daß er einen Anschlag auf dein kostbares Leben gemacht hat, und auch über Morosoff will er nichts aussagen. Morgen nach der Frühmesse werde ich ihn der Hauptfolter unterziehen, und wenn er auch dann nichts angibt, so ist nichts weiter mit ihm anzufangen, und wir können wohl Schluß mit ihm machen.«

Iwan antwortete nicht. Maljuta wollte fortfahren, aber in diesem Augenblick trat die alte Mamka Onufrewna in das Schlafgemach.

»Väterchen«, sagte sie, »du hast heute früh zwei Blinde hergeschickt; es sollen Märchenerzähler sein, sie warten im Vorzimmer.«

Der Zar erinnerte sich seiner Begegnung und befahl, die Blinden zu rufen.

»Sage, Väterchen, kennst du sie denn auch?« fragte Onufrewna.

»Wieso?«

»Nun ja, wenn es nur wirklich Blinde sind!«

»Wie?« fragte Iwan verdutzt, und Mißtrauen bemächtigte sich seiner.

»Hör' auf mich, Herr!« fuhr die Alte fort. »Nimm dich vor diesen Märchenerzählern in acht; ich habe das Gefühl, daß sie nichts Gutes im Schilde führen; hüte dich, Väterchen, höre auf mich!«

»Ja, was weißt du denn von ihnen? Sprich!« sagte Iwan.

»Frage mich nicht, Väterchen. Mein Wissen drückt sich nicht in Worten aus; ich fühle es, daß es keine guten Menschen sind – weshalb – danach frage ich nicht. Ich habe noch keinen ohne Grund gewarnt. Wenn deine selige Mutter auf mich gehört hätte, so wäre sie vielleicht noch jetzt am Leben.«

Maljuta blickte die Alte voller Schrecken an.

»Was starrst du mich so an?« fragte sie. »Ja, du kannst nur unschuldiges Blut vergießen, aber einen schlechten Menschen erkennen, ist offenbar nicht deine Stärke. Für so etwas hast du keinen Spürsinn, du roter Hund!«

»Herr«, rief Maljuta aus, »gestatte mir, daß ich diese Leute foltern lasse. Ich will es sofort ermitteln, wer sie sind und von wem gesandt.«

»Nicht nötig«, versetzte Iwan. »Ich will sie schon selbst beobachten. Wo sind sie?«

»Dort hinter der Tür, Väterchen«, antwortete Onufrewna, »sie warten im Vorzimmer.«

»Maljuta, reich' mir den Ringpanzer von der Wand, und dann tue so, als gingest du nach Hause; wenn sie aber bei mir eingetreten sind, kehre ins Vorzimmer zurück und halte dich mit weiteren bewaffneten Leuten hinter der Tür verborgen; sowie ich rufe, stürzt herbei und ergreift die beiden. Onufrewna, gib mir den Eisenstock!«

Der Zar zog ein Panzerhemd an, warf ein schwarzes Chorgewand darüber, legte sich aufs Bett nieder und stellte den eisenbeschlagenen Stock, mit dem er vor kurzem dem Gesandten des Fürsten Kurbskij den Fuß durchbohrt hatte, neben sich.

»So, nun mögen sie kommen!« sagte er.

Maljuta legte die Schlüssel unter das Kopfkissen des Zaren und verließ mit der Mamka zusammen das Gemach, das durch die vor den Heiligenbildern brennenden Öllämpchen nur matt erleuchtet war. Der Zar lag müde auf seinem Bett.

»Kommt, ihr guten Leute«, sprach die Mamka, »der Zar hat's befohlen.«

Perstenj und Korschun traten ein, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend und sich mit den Händen vorwärts tastend.

Mit einem einzigen schnellen Blick hatte Perstenj das ganze Zimmer und die in ihm befindlichen Gegenstände überflogen.

Links von der Tür stand eine Ofenbank; in der anderen Ecke das Bett des Zaren; zwischen der Ofenbank und dem Bett befand sich in der Wand ein Fenster, das nie durch einen Laden verschlossen wurde, weil der Zar es liebte, daß die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne ungehindert in sein Schlafgemach fallen konnten. Jetzt blickte durch dieses Fenster der Mond, dessen silbernes Licht auf den bunten Kacheln der Ofenbank spielte.

»Schön' guten Abend, ihr Blinden, ihr listigen Gesellen aus Murom!« sprach der Zar, die Räuber unmerklich scharf ins Auge fassend.

»Möge unser erhabener Zar noch viele, viele Jahre regieren«, sagten Perstenj und Korschun, sich bis zur Erde verneigend.

»Möge die Mutter Gottes dir in allem beistehen und dir ihren Segen verleihen zu all deinem Tun, weil du uns, elenden Bettlern, die wir mühselig unsere Straße ziehen, kummervoll auf den Gewässern umherirren, ohne Gottes Welt zu schauen, vergönnst, vor dein lichtes Antlitz zu treten. Der heilige Peter und Paul mögen dich beschützen, der heilige Johann Chrysostomus, Rusjina und Demjan, die Wundertäter von Chutynsk und alle anderen Heiligen! Gott der Herr gewähre dir alles, was du erflehst und was du dir wünschst! Mögest du ewig in Gold gekleidet gehen, zu essen und zu trinken haben im Überfluß und des nachts erquickenden, süßen Schlummer finden! Deine Widersacher aber sollen von ewigem Hunger geplagt und von ewigem Durst gepeinigt werden und endlich ein qualvolles Ende finden!«

»Habt Dank, ihr Bettler!« erwiderte Iwan, nach wie vor die Räuber aufmerksam betrachtend. »Sagt, seid ihr schon lange erblindet?«

»Von Kindheit an, Väterchen Zar!« antwortete Perstenj, sich abermals tief verneigend, »von Jugend an sind wir beide erblindet. Ja, wir können uns gar nicht erinnern, je Gottes Sonne geschaut zu haben!«

»Und wer hat euch gelehrt, Lieder zu singen und Geschichten zu erzählen?«

»Gott der Herr selbst, Väterchen! Ja, Gott der Herr hat uns Mühseligen diese Gabe seit undenklichen Zeiten verliehen.«

»Wieso?« fragte Iwan.

»Unsere Väter erzählen«, antwortete Perstenj, »und die Bänkelsänger besingen es: In alten Zeiten, als Jesus Christus, unser Herr, gen Himmel gefahren war, da weinten und wehklagten die Blinden und die Lahmen, kurz die ganze von Gebrechen heimgesuchte Menschheit. ›Wohin gehst du, Jesus Christus, und läßt uns allein? Wer wird fortan für Speise und Trank sorgen?‹ Da aber sprach Jesus Christus, der Zar des Himmels: ›Ich will euch einen Berg von Gold geben, einen Fluß voll süßen Honigs, üppige Weinberge und erquickende Früchte, auf daß ihr gesättigt und getränkt, mit Kleidern und Schuhen ausgestattet seid und fortan keine Not mehr zu leiden braucht!‹ Da aber erwiderte Johannes: ›Ach, barmherziger Heiland! Gib ihnen weder Berge von Gold, noch Flüsse voll süßen Honigs, noch üppige Weinberge und erquickende Früchte. Sie werden sich diese Schätze nicht erhalten können: es werden Stärkere und Reichere kommen und ihnen diese Güter nehmen. Gewähre ihnen, Jesus Christus, du Zar des Himmels, die Gabe, köstliche Lieder zu singen, wunderbare Geschichten zu erzählen aus vergangenen Zeiten und von den Männern Gottes. So werden die Armen ihre Straße ziehen und ihr begnadeter Mund wird die Wunder der Vorzeit verkünden; ein jeder aber wird ihnen Speise und Trank reichen und ihnen warme Kleider und feste Wanderschuhe spenden.‹ Und da sprach Christus, der Zar des Himmels: ›Johannes, es geschehe, wie du gesagt! So sollen sie liebliche Lieder zur wunderbar tönenden Gusla singen und jeder, der ihnen zu essen und zu trinken gibt und ihnen Schutz bietet vor Unwetter und Gefahr, der soll einen Platz im Paradiese haben! Wahrlich, er wird dereinst die Pforten des Himmels nicht verschlossen finden!‹«

»Amen!« sprach Iwan. »Was für Geschichten könnt ihr denn erzählen?«

»Alle möglichen, Väterchen Zar, welche deine Gnaden nun gerade zu hören wünscht. Ich weiß zum Beispiel eine Geschichte von Jersch Jerschowitsch, dem Sohn des Schtschetinnikoff, dann eine von der Familie Semion, von der Schlange Gorynischtsch, von den selbst tönenden Guslas, vom Dobruinja Nikitisch, vom Akundin ...«

»Höre!« unterbrach ihn plötzlich Iwan. »Kannst nur du allein Geschichten erzählen? Weshalb ist denn der Alte da mit dir gekommen?«

Perstenj fiel es mit Schrecken ein, daß Korschun fast die ganze Zeit über den Mund nicht aufgetan hatte, und um ihn aus der für einen Geschichtenerzähler ungewöhnlichen Einsilbigkeit herauszulocken, schlug er plötzlich einen anderen Ton an und begann, indem er Korschun unmerklich mit dem Fuße anstieß, in scherzhaftem Neckton: »Der Alte da? – Nun, das ist mein Kamerad, Ameljka Gudock mit Namen. Sein Bart ist wohl lang, aber sein Verstand um so kürzer. Wenn ich erzähle, ob nun eine lustige und schnurrige oder ernste und traurige Geschichte, so klopft er mir höchstens wohlwollend auf die Schulter, wenn er zufrieden ist und lobt mich bisweilen ein bißchen, meist aber steht er da, tritt von einem Bein auf das andere und schweigt sich aus. Nicht wahr, Onkelchen Schnauzbart, alter Entenschnabel und Hahnenfuß? Wir beide kommen schon nicht unter die Räder!«

»Gewiß nicht!« versetzte Korschun, der sich wieder auf seine Rolle besann, »unser Becher ist stets voll guten Weins, so daß er beinahe überlauft, wir haben also vollauf zu tun, ihn bis zum Grunde zu leeren! Ja, ja, junger Onkel Hahnenschrei, da wir nun einmal unterwegs sind, wollen wir auch eine weite Reise machen!«

»Ai, ljuli tararach, die Ziegen tanzen auf dem Berge!« sang Perstenj, sich in den Füßen hin- und herwiegend. »Ja, ja, die Ziegen tanzen, die Fliegen kriechen hin und her und der Großmutter Joffrosinja tönt es dauernd im linken Ohr!«

»Ai, ljuljuschenjki ljuli!« fiel Korschun ein, sich ebenfalls hin- und herwiegend. »Ai, ljuljuschenjki ljuli! Der Krebs sitzt auf dem Trocknen fest. Das nimmt er aber nicht weiter schwer; pfeift sich eins und denkt: Wenn das Wasser wiederkommt, ist alle Angst vorbei!«

»Ach, Väterchen Zar«, schloß Perstenj mit einer tiefen Verbeugung: »Sieh uns nicht scheel an; das war noch keine Geschichte, sondern erst die Einleitung dazu.«

»Gut!« sagte Iwan gähnend, »ich habe solche Schnurren gern. Nun fangt aber mit der Geschichte von Akundin an, ihr Blinden; vielleicht kann ich dann besser einschlafen!«

»Die Geschichte von Akundin?« wiederholte Perstenj etwas verlegen, denn es fiel ihm ein, daß darin die geächtete Stadt Nowgorod verherrlicht wurde. »Von Akundin? – Väterchen Zar – das ist eine häßliche, eine bäurische Geschichte; die törichten Leute von Nowgorod haben sie erdacht, und dann bring ich sie, glaub' ich, nicht mehr recht zusammen!«

»Erzähle sie, Blinder!« rief Iwan in gebieterischem Tone aus: »Erzähle sie genau so, wie sie ist und wage auch nicht ein einziges Wort auszulassen!«

Und Iwan mußte innerlich lächeln über die schwierige Lage, in die er den Erzähler gebracht hatte.

Perstenj ärgerte sich im stillen, daß er selbst diese Geschichte vorgeschlagen hatte, entschloß sich aber, ohne genau zu wissen, wieweit sie Iwan bekannt war, sie zu erzählen, ohne etwas auszulassen.

»In jener alten Stadt«, begann er gesenkten Hauptes, »in jener Stadt, so man Nowgorod nennt, lebte einst ein Jüngling, Akundin genannt. Und jener Akundin braute weder Bier, noch brannte er Schnaps, noch trieb er irgendwelchen Handel, sondern er schlenderte den lieben langen Tag herum oder fuhr auf seinem Schiffchen auf dem Wolchow-Fluß spazieren. So setzte er sich auch eines Tages wieder in die fertig aufgetakelte Barke, legte die kleinen Ahornruder in die Eichenpflöcke und nahm selbst am Steuer Platz. Seine Barke aber treibt mit der Strömung den Wolchoff entlang und legt endlich am steilen Ufer an. Zur selben Zeit schleppt sich ein zitternder Krüppel am Flusse entlang. Er faßt Akundin bei den weißen Händen, zieht ihn mit sich auf einen Hügel; oben auf dem Hügel aber tut er seinen Mund auf und spricht also zu ihm:

›Siehst du dort an dem Oka-Fluß die Stadt Roßtilawlj? Sage mir, was dort in der Stadt vor sich geht, braver Jüngling!‹ – Akundin läßt seinen Blick über die weite Stadt Roßtilawlj schweifen und sieht zu seinem Entsetzen, daß ihr großes Unheil widerfahren zu sein scheint. Die treuen Kriegsmannen und Diener des jungen Fürsten Gleb Olegowitsch von Rjasanj sind ratlos auf dem Marktplatze versammelt. Sie wollen die Stadt mit den Waffen verteidigen, aber es gebricht ihnen an Kraft. Auf der Oka aber kommt ein noch nie gesehenes Ungeheuer geschwommen, die Riesenschlange Tugarin. Und jene Schlange Tugarin ist wohl an die dreihundert Klafter lang; mit ihrem Schwanze schlägt sie die feindlichen Kriegsscharen aus Rjasanj, mit dem Rücken aber trägt sie die steilen Ufer ab, und fordert wieder den alten Tribut.

Da ergreift der zitternde Krüppel Akundin bei den weißen Händen und spricht also zu ihm: ›O, du mein braver Jüngling, nenne mir deinen Namen!‹

Auf jene Frage aber erwidert Akundin also: ›Meine Heimat, das ist die tapfere Stadt Nowgorod; mein Name aber ist Akundin Akundinyitsch.‹

›So bist du also wirklich Akundin Akundinyitsch, auf den ich gewartet dreiunddreißig Jahre lang? So wisse denn, daß dein leiblicher Oheim vor dir steht, Samjatnja Putjatyitsch; mein Bruder Akundin Putjatyitsch aber war dein seliger Vater. Und hier hast du das verzauberte Schwert deines Erzeugers.‹ Noch hat der Greis nicht zu Ende gesprochen, da fühlt er, daß sein Ende herannaht; ja, daß er nun Abschied von der herrlichen Gotteswelt nehmen muß. Bevor er aber seinen Geist aufgibt, richtet er eine letzte Bitte an Akundin und spricht also: ›O, du mein geliebtes Kind, Akundin Akundinyitsch, höre! Wenn du wieder zurückkehrst in die ruhmreiche Stadt Nowgorod, dann verneige dich in meinem Namen vor ihr bis zur Erde und sprich: Gott der Herr möge dir, du herrliche Stadt Nowgorod, vergönnen, hundert und aberhundert Jahre zu blühen und zu gedeihen und deine tapferen Söhne mögen mit Glanz und Ruhm gekrönt werden! Mögest du, Nowgorod, ewig an Macht und Reichtum zunehmen und deine Bürger in Wohlstand und Reichtum verbleiben‹ ...«

»Genug!« unterbrach der Zar voller Zorn, in diesem Augenblick ganz vergessend, daß er den Geschichtenerzähler beobachten wollte, »erzähle etwas anderes!«

Perstenj stellte sich aufs äußerste erschreckt und sank zitternd in die Knie.

»Was für eine Geschichte befiehlst du, Väterchen Zar?« fragte er mit halb vorgetäuschter, halb wirklicher Angst. »Vielleicht die von der Hexe Jaga oder von Tschurila? Oder vom Johannes-See? Oder willst du lieber etwas Frommes hören?«

Iwan besann sich jetzt wieder darauf, daß er die Blinden nicht einschüchtern durfte; daher gähnte er ein paarmal laut und fragte mit bereits schläfriger Stimme:

»Was für fromme Geschichten weißt du zu erzählen, Blinder?«

»Nun, zum Beispiel die von dem heiligen Gottesmann Alexis oder vom Ritter St. Georg, oder vom heiligen Joseph oder vielleicht die vom Taubenbuch?«

»Gut!« sagte Iwan, dessen Augen bereits vor Müdigkeit zuzufallen schienen. »Es ist uns Sündern nützlich, den Tag mit einer frommen Geschichte zu beschließen!«

Perstenj räusperte sich wieder, richtete sich gerade auf und fing in singendem Tone an:

»Es zieht eine drohende Wolke über den Himmel, und diese drohende Wolke jagt ein Unwetter zusammen, und aus diesem Unwetter fällt das Buch der Tauben vom Himmel herab.

Um dieses Buch aber scharen sich vierzig Zaren und Zarensöhne; vierzig Könige und vierzig Königssöhne, vierzig Fürsten und vierzig Fürstensöhne, vierzig Priester und vierzig Priestersöhne, unzählige Bojaren und Kriegsleute, lauter gottesfürchtiges Volk. Unter ihnen waren fünf große Zaren, der Zar Issai, der Zar Wassilij, der Zar Konstantin, der Zar Wolodimir Wolodimiryitsch und endlich der weise Zar David.

Und also sprach der Zar Wolodimir: ›Wer von euch, liebe Brüder, ist des Lesens kundig? Wer vermag das Taubenbuch zu entziffern? Wer vermag uns zu sagen, woher die goldene Sonne kommt? Woher der junge Mond? Weshalb die Sterne zu leuchten begannen und das flammende Morgenrot? Weshalb die Stürme aufkamen und die dräuenden Wolken? Woher die schwarze Nacht kam und das ganze Menschengeschlecht, die Zaren und Bojaren, die Fürsten und das ganze gläubige Volk?‹

Hierauf verstummten alle Zaren; allein der weiseste aller Zaren, David, tat seinen Mund auf und sprach:

›Liebe Brüder, ich will euch das Buch der Tauben deuten. Wahrlich, es ist dies kein kleines Buch; es hat eine Länge von vierzig und eine Breite von zwanzig Klaftern; kein Mensch kann es aufheben, kein Mensch kann es in der Hand halten, kein menschliches Auge die Seiten ganz überschauen, keine Hand es durchblättern. Geschrieben aber hat das Buch der heilige Johannes; gelesen hat es der Prophet Jesaias; drei Jahre sind an ihm darüber vergangen und doch hat er nur drei Seiten gelesen. So vermag auch ich, liebe Brüder, dieses göttliche Buch nicht zu lesen. Das Buch hat sich selbst geöffnet, die Blätter sich selbst gewendet, die Worte sich selbst gelesen.

Ohne hineinzusehen sage ich euch, ihr lieben Brüder, so wie ich es aus alter Zeit, ja aus uralter Vorzeit im Ohre habe und im Herzen trage.

Es kommt die goldglänzende Sonne aus Gottes lichtstrahlendem Antlitz; der mildleuchtende junge Mond aus seiner Brust; die blinkenden Sterne aus seinen göttlichen Augen; das flammende Morgenrot aus seinen Lippen; die stürmischen Winde, sie sind sein Atem, die dräuenden Wolken seine Gedanken; die dunkeln Nächte der Saum seines Gewandes, das ganze Menschengeschlecht aber stammet von Adam; aus Adams Kopfe die Zaren, aus seinem Hirne die Fürsten und Bojaren, aus seinen Knien das rechtgläubige Volk. Von dort kommt auch das weibliche Geschlecht!‹

Da verneigten sich sämtliche Zaren vor David und sprachen: ›Habe Dank, du Zar des Lichtes, du weisester aller Zaren, David genannt. Noch eins tue uns kund: Welcher Zar steht über allen anderen Zaren der Welt? Welches Land ist der Länder Allmutter? Welches Meer steht über den Meeren, welcher Fluß über den Flüssen? Welcher Berg über den Bergen? Welche Stadt thront über den Städten?‹ ...«

Bei diesen Worten blinzelte Perstenj Iwan, der immer schläfriger wurde, verstohlen von der Seite an. Von Zeit zu Zeit schien er nur mühsam die Augen aufzuschlagen, um sie gleich wieder zu schließen. Aber jedesmal maß er die Erzähler mit einem durchdringenden, scharfen Blick.

Perstenj warf Korschun einen raschen Blick zu und fuhr fort: »Da sprach David, der weiseste aller Zaren: ›Auch das will ich euch kundtun, denn in dem Taubenbuch stehet also geschrieben: Es wird der weiße Lichtzar Zar sein über alle anderen Zaren, denn er glaubt fest an die heiligen Sakramente, an die Mutter Gottes und an die Ausgießung des Heiligen Geistes. Alle Völker werden sich ihm unterordnen, alle Zungen sich ihm beugen. Seine Macht erstreckt sich über die weite, weite Welt; ja, über das ganze Menschengeschlecht reicht seine heilige Zarenhand; und alle werden sich vor ihm neigen bis zur Erde, weil der weiße Lichtzar Zar über allen Zaren ist.

Das heilige Rußland aber ist der Länder Allmutter; denn in unzähligen Kirchen schart sich dort die gläubige Menschheit zusammen. Der Ozean aber ist der Vater aller Meere; aus seinen Gestaden stieg die heilige Kirche empor, in der die Gebeine des heiligen Clemens von Rom ruhen. Dieses Meer umspült die ganze Welt. Alle Flüsse der Welt münden in dieses eine Meer, den Vater Ozean. Der Jordan-Fluß ist aller Flüsse Mutter, denn in dem Allmutter-Jordan-Fluß hat Jesus Christus, der Zar des Himmels, die Taufe empfangen. Der Berg Tabor ist aller Berge Mutter, denn auf diesem heiligen Berge Tabor verwandelte sich Jesus Christus und erschien vor seinen Jüngern in seiner ganzen Herrlichkeit. Jerusalem ist die Stadt über allen Städten, denn diese Stadt liegt in der Mitte der Welt. In dieser Stadt aber ist eine Kirche für alle, alle Menschen; sie enthält das Grabmal des Herrn; dort ruhen seine Gebeine, und ewig steigt Weihrauch empor, ewig brennt die Lampe, die nimmer erlöschen wird.‹«

Perstenj schielte abermals zu Iwan hinüber. Seine Augen waren fest geschlossen, sein Atem ging regelmäßig. Der Schreckliche schien zu schlafen. Der Ataman stieß Korschun leise mit dem Ellenbogen an, der daraufhin vorsichtig zwei Schritte auf den Zaren zuging. Perstenj aber fuhr mit näselnder Stimme fort: »Und abermals verneigten sich alle Zaren vor ihm und sprachen also: ›Wir danken dir, du allweiser Zar David! Eines noch tue uns kund. Welcher Fisch ist der Vater aller Fische? Welcher Stein thront über allen Steinen? Welches Tier steht über allen Tieren? Welcher Baum über allen Bäumen? Welche Pflanze über allen Pflanzen?‹ Und also sprach David, der allweise Zar: ›Liebe Brüder, höret! Der Vater aller Fische ist der Walfisch, der Jestrafil-Vogel steht über allen Vögeln, denn er wohnt an den Ufern des lichtblauen Meeres; wenn er die Flügel regt, gerät das ganze Meer in Bewegung, die Schiffe aber werden überspült und gehen unter; und wenn der Vogel Jestrafil erwacht um die zweite Stunde nach Mitternacht, so fangen auf der ganzen weiten Welt die Hähne an zu krähen und auf der ganzen Erde beginnt es hell zu werden‹ ...«

Abermals warf Perstenj dem Zaren einen verstohlenen Blick zu. Iwan lag mit geschlossenen Augen da; der Mund war wie bei einem Schlafenden geöffnet.

In diesem Augenblick blickte Perstenj zum Fenster hin und bemerkte, daß die Kirche der Sloboda und die Dächer der benachbarten Gebäude von einer entfernten Feuersbrunst schwach beleuchtet waren.

Er stieß Korschun wieder leise an, der sich dem Bett des Zaren um einen weiteren Schritt näherte.

»Und dann«, fuhr Perstenj fort, »steht das Tier Indra über allen Tieren, es schreitet über das weite Erdenrund, wie die Sonne am Himmelsgewölbe kreist. Mit seinem mächtigen Horn wühlt es die Allmutter Erde auf und bereitet den tiefen Quellen ihre Bahn; es läßt die Bäche und Flüsse hervorsprudeln und reinigt die Quellen, auf daß die durstige Menschheit sich daran erquicken könne.

Der Alaturij ist der Stein über allen Steinen; denn auf dem schlohweißen Alaturijstein hat selbst Jesus Christus, der Zar des Himmels, geruht, als er mit seinen zwölf Aposteln sprach und sie im Glauben unterwies; ja, auf jenem Stein hat er sein Evangelium verkündet, von ihm aus sind die heiligen Bücher verbreitet worden über alle Lande, so weit die Erde reicht.

Der Zypressenbaum ist der Vater aller Bäume, denn aus seinem Holze wurde das Kreuz gezimmert, an dem Jesus Christus, unser Herr, zwischen zwei Schächern sein heiliges Leben aushauchte.

Der Weiderich aber ist die Pflanze über allen Pflanzen, denn als Christus an das Kreuz genagelt ward, trat die heilige Mutter Gottes zu ihrem gekreuzigten Sohne heran; aus ihren lichten Augen fielen Tränen zur Erde, und aus diesen reinen Muttertränen erwuchs die Mutter aller Pflanzen, der Weiderich; und aus der Wurzel dieses Krautes werden in Rußland viel wunderbare Kreuze geschnitzt, die die frommen Greise und demütigen Mönche auf dem Herzen tragen ...«

Hier seufzte Iwan Wassiljewitsch tief auf, ohne die Augen zu öffnen. Der Schein der Feuersbrunst wurde schärfer. Perstenj begann zu fürchten, daß die Aufregung unter den erschreckten Bewohnern zum Ausbruch kommen könnte, ehe sie die Schlüssel in Händen hatten. Damit der Zar aber nicht in seiner Stimme irgend eine Bewegung verspüren sollte, beschloß er, sich vorläufig noch nicht von der Stelle zu rühren und zwinkerte nur leise Korschun zu mit einem Blick erst auf die Feuersbrunst, dann auf den schlafenden Iwan und fuhr fort:

»Und abermals verneigten sich alle Zaren: ›Habe Dank, allweiser Zar David. Dir ward die köstliche Gabe zuteil, nach dem Gedächtnis zu erzählen, als hättest du immer ein weises Buch vor dir!‹ Darauf tat abermals Zar Wolodimir seinen Mund auf und sprach: ›Ach, allweiser Zar David, noch eines tue mir kund: In der letzten Nacht konnte ich den erquickenden Schlummer nicht finden, denn ich hatte schwere Träume. Es schien mir im Traum, als wenn sich zwei Tiere begegneten, ein schneeweißes und ein düstergraues; sie rangen miteinander, das weiße Tier aber ward Sieger über das graue.‹

Und der allweise Zar David tat seinen Mund auf und sprach: ›Lieber Bruder, Zar Wolodimir! Es waren nicht zwei Tiere, die miteinander rangen, sondern es war die schneeweiße Wahrheit und die düstergraue Lüge, die auf dem Boden des heiligen Rußlands miteinander kämpften. Die Wahrheit aber hat über die Lüge den Sieg davongetragen. Ja, die lichtweiße Wahrheit ging ein in Gottes ewiges Reich; die graue Lüge blieb auf Erden; wer aber hienieden der Wahrheit dient, der wird ihr nachfolgen ins Paradies, wer aber der Lüge frönet, dem sollen ewige Höllenqualen beschieden sein ...‹«

Hier hörte man Iwan leise schnarchen. Korschun streckte die Rechte nach dem Kopfkissen des Zaren aus; Perstenj näherte sich unmerklich dem Fenster und fuhr, um nicht durch das plötzliche Aussetzen der Stimme Iwan zu wecken, in einförmigem Tone mit seiner Geschichte fort:

»Und sämtliche Zaren verneigten sich abermals. ›Hab' Dank, allweiser Zar David. Eines noch tu uns kund: Welche Sünden werden vergeben werden und welche zur ewigen Verdammnis führen?‹ Und David, der allweise Zar, tat seinen Mund auf und sprach: ›Es sind drei Sünden, die zur ewigen Verdammnis führen: wer seinen Vater und seine Mutter beschimpft, wer seine Taufpaten entehrt und ...‹«

In diesem Augenblick öffnete der Zar plötzlich die Augen. Korschun zog hastig die Hand zurück – aber es war zu spät; sein Blick traf denjenigen Iwans. Einige Sekunden lang starrten sich beide wie gebannt regungslos an.

»Die dritte Sünde ist – wenn sich jemand als Bettler verkleidet und sich ins Schlafgemach des Zaren einschleicht!«

Und Iwan stieß seinen spitzen Eisenstock Korschun in die Brust. Der Räuber griff danach, wankte und stürzte zu Boden.

»Hilfe!« rief der Zar laut, die Eisenspitze seines Stockes wieder aus Korschuns Brust ziehend.

Die Opritschniks stürzten mit gezückten Waffen herein.

»Ergreift beide!« befahl Iwan. Wie ein wildes Tier stürzte sich Maljuta auf Perstenj, aber mit erstaunlicher Geschicklichkeit versetzte ihm der Ataman einen Stoß gegen den Leib, stieß mit dem Fuße den Fensterrahmen ein und sprang hinunter in den Garten.

»Sperrt den Garten ab! Fangt den Räuber! Schnell! Schnell!« brüllte Maljuta, sich vor Schmerz krümmend.

Inzwischen hatten die Opritschniks Korschun aufgehoben. Iwan stand in seinem schwarzen Gewand, unter dem das Panzerhemd hervorglitzerte, da, den Eisenstab in der zitternden Hand, und bohrte seinen starren Blick in den verwundeten Räuber.

Die verstörten Diener hielten die niedergebrannten Pechfackeln hoch in der Hand; durch das zerschlagene Fenster leuchtete die Feuersbrunst.

Die Sloboda kam in Bewegung; entferntes Alarmläuten ertönte. Von den Opritschniks gestützt, stand Korschun gesenkten Hauptes da, die Augenbrauen finster zusammengezogen. Große Blutflecken färbten sein Hemd.

»Blinder«, sagte der Zar, »sprich, was führtest du gegen mich im Schilde?«

»Es hat keinen Zweck, es zu leugnen«, antwortete Korschun, »ich hatte die Absicht, den Schlüssel zu deinem Schatze zu entwenden; dir selbst aber wollte ich nichts zuleide tun!«

»Wer hat dich hergeschickt? Wer sind deine Gefährten?«

Korschun blickte den Zaren fest und furchtlos an.

»O, du unser aller Hoffnung, du rechtgläubiger Zar! Als ich jung war, da sang ich das Lied: ›Rausche, o rausche, du ewig mütterlicher, feuchter Wald!‹ In jenem Lied aber fragt auch der Zar einen wackeren Burschen, mit wem er die Beute zu teilen pflegte. Der Jüngling aber sprach: ›Kameraden habe ich vier: mein erster Kamerad, das ist die schwarze Nacht, und mein zweiter Kamerad ...‹«

»Genug!« unterbrach ihn Maljuta. »Wir wollen doch sehen, was du uns vorbeten wirst, wenn wir dich erst auf den Wippgalgen heben, oder dich in die Winde stecken! Zum Teufel!« fuhr er fort, Korschun genauer betrachtend: »Ich habe doch schon irgendwo diesen alten Zottelbären gesehen!«

Korschun lachte bitter auf und verneigte sich höhnisch vor Maljuta.

»Wir hatten die Ehre, uns am Teufelssumpf zu treffen, Väterchen Maljuta, wenn du dich darauf besinnen kannst.«

»Chomjak!« unterbrach ihn Maljuta hastig, sich an seinen Reitknecht wendend. »Nimm den Alten und unterhalte dich etwas mit ihm, bitte ihn, dir gemütlich zu erzählen, was er bei seiner Gnaden zu suchen hatte. Ich komme gleich nach!«

»Komm, alter Besen!« höhnte Chomjak, Korschun am Kragen packend; »komm, komm, wir beide wollen in aller Freundschaft miteinander reden!«

»Halt!« rief Iwan erregt aus, »Maljuta nimm dir den Alten gut in acht, damit er mir nicht gleich bei der Folter drauf geht. Ich werde ihm erst noch eine Todesart ersinnen, wie sie noch nie dagewesen, noch nie gehört worden ist, eine Todesart, die dich selbst in Staunen versetzen wird, Herr Scharfrichter!«

»Na, bedanke dich beim Zaren, du alter Kläffer«, sagte Maljuta, Korschun einen Stoß versetzend; »du sollst sogar noch etwas am Leben bleiben. Heut nacht wollen wir dir erst die Knochen ein bißchen verrenken.«

Und mit Chomjak zusammen führte er den Räuber aus dem Schlafgemach des Zaren.

Inzwischen war es Perstenj in der allgemeinen Verwirrung gelungen, über den Gartenzaun zu klettern und bis zum Kerker zu gelangen. Der Platz war ganz menschenleer, weil alles nach der Brandstätte strömte. Sich vorsichtig an der Mauer entlangtastend, stieß Perstenj plötzlich mit dem Fuß an etwas Weiches, in dem er beim Bücken den Körper eines erschlagenen Menschen erkannte.

»Ataman!« flüsterte ihm plötzlich der rothaarige Sänger, der ihn am Morgen auf dem Wege in die Sloboda angehalten hatte, sich vorsichtig heranschleichend, zu. »Die Wache habe ich erledigt, gib schnell die Schlüssel her, damit wir den Kerker öffnen können; dann leb' wohl. Ich will sehen, was ich mit den anderen Kameraden beim Feuer ergattern kann! Wo ist denn Onkel Korschun?«

»In der Hand des Zaren«, antwortete Perstenj mit rauher Stimme. »Alles ist verloren! Hole die anderen zusammen und macht, daß ihr fortkommt. Still, wer ist das dort?«

»Ich bin es«, antwortete Mitjka, der bisher regungslos an die Mauer gedrückt gestanden hatte.

»Fort, du Narr! Trag' deine Beine weg von hier. Verlaß so schnell wie möglich die Sloboda! Wir treffen uns an der krummen Eiche.«

»Und der Fürst?« fragte Mitjka schlafmützig.

»Du Dummkopf, ich sage dir doch, es ist alles verloren. Den Alten haben sie gefaßt, aber die Schlüssel habe ich nicht.«

»Wer sagt dir denn, daß der Kerker verschlossen ist?«

»Wieso nicht verschlossen? Wer sollte ihn denn geöffnet haben?«

»Na, ich!«

»Du? Rede vernünftig, du Schwätzer!«

»Nun, wie ich so zum Kerker komme, steht keine Wache vor der Tür. Die liegt nämlich, alle Viere von sich gestreckt. Da denke ich, du wirst doch mal versuchen, ob die Tür so fest sitzt. Hebe nur etwas mit der Schulter an, und schon fliegt sie mitsamt allen Riegeln aus den Angeln.«

»Nicht möglich, du Narr!« rief Perstenj frohlockend aus. »Tatsächlich?« Und er ergriff Mitjka bei beiden Schläfen und küßte ihn herzhaft auf beide Wangen, wobei Mitjka ihm ebenfalls seine dicken Lippen schmatzend entgegenhielt und sich nachher kühllächelnd mit dem Ärmel abwischte.

»Komm jetzt mit mir, mein guter Junge! Und du, Balalaika, warte hier auf uns! Wenn einer kommt, so pfeife!«

Perstenj trat mit Mitjka in den Kerker. Hinter der ersten Tür waren noch zwei weitere, die aber noch leichter als die erste den Riesenkräften des stämmigen Burschen nachgaben.

»Fürst!« rief Perstenj, in das Verließ niedersteigend, »steh auf!«

Sserebrjanyi dachte, daß man ihn zur Hinrichtung holen wollte.

»Ist es denn schon Zeit?« fragte er, »oder kannst du das Morgengrauen nicht erwarten, Maljuta?«

»Ich bin nicht Maljuta«, antwortete Perstenj. »Ich bin der, den du einst vom Tode errettest hast. Steh auf, Fürst, die Zeit ist kostbar! Steh auf, ich befreie dich!«

»Wer bist du?« fragte Sserebrjanyi, »ich kenne deine Stimme nicht.«

»Das ist auch kein Wunder, Bojar. Wie solltest du dich auch meiner erinnern. Aber steh auf, wir haben keinen Augenblick zu verlieren.«

Sserebrjanyi antwortete nicht. Noch immer hielt er Perstenj für einen von Maljutas Henkern und nahm seine Worte für blutigen Hohn.

»Glaubst du mir nicht, Fürst?« fuhr der Ataman ärgerlich fort. »Denke an Medwedewka, an den Teufelssumpf. Ich bin Wanjucha Perstenj.«

Eine jähe Freude flammte in Sserebrjanyi auf mit der Vorstellung von Freiheit und Leben, Wäldern und Feldern, neuen Schlachten und bei dem lichten Bilde Jelenas, das mit neuer Kraft vor seinem Auge erstand. Schon war er von der Erde aufgesprungen, bereit, dem Befreier zu folgen, als er sich plötzlich auf den Eid besann, den er dem Zaren geleistet hatte. Sein Herz krampfte sich schmerzlich zusammen.

»Ich darf es nicht«, sagte er, »ich kann dir nicht folgen. Ich habe dem Zaren versprochen, mich nie seinem Willen zu entziehen; und wo auch immer sein Befehl mich erreichen würde, seiner Strafe gewärtig zu sein.«

»Fürst«, rief Perstenj erstaunt aus, »ich habe keine Zeit, lange mit dir zu verhandeln. Meine Leute warten. Jeder Augenblick kann uns den Kopf kosten. Morgen sollst du hingerichtet werden; noch ist es Zeit. Komm, folge uns schnell!«

»Ich darf nicht«, wiederholte Sserebrjanyi tonlos. »Ich habe auf mein Wort das Kreuz geküßt.«

»Bojar!« stieß Perstenj mit zornbebender Stimme hervor. »Spottest du meiner? Deinetwegen habe ich die Sloboda in Brand gesteckt, deinetwegen meinen treuesten Kameraden geopfert, deinetwegen müssen wir vielleicht alle daran glauben. Und du willst dennoch bleiben? Sollten wir für nichts und wider nichts gekommen sein? Treibst du mit uns Possen? Ich möchte wohl den sehen, der meiner zu spotten wagte. Sprich zum letzten Male: kommst du oder nicht?«

»Nein«, antwortete Nikita mit fester Stimme und sank auf den Boden des Kerkers zurück.

»Nein?« wiederholte Perstenj zähneknirschend. »Das soll dir nicht gelingen. Mitjka, pack ihn!«

Gleichzeitig stürzte sich der Ataman auf den Fürsten und knebelte ihn. »Jetzt wirst du uns nicht weiter dreinreden!« sagte er grimmig.

Mitjka packte den Fürsten mit beiden Armen und trug ihn wie ein kleines Kind aus dem Kerker.

»Schnell! Fort!« rief Perstenj.

Auf einer Straße kamen ihnen Opritschniks in den Weg.

»Wen tragt ihr da?« fragten sie.

»Einen Mann aus der Sloboda. Ein Balken hat ihn beim Feuer erschlagen«, antwortete Perstenj. »Wir bringen ihn in die Kapelle.«

Beim Verlassen der Sloboda hielt die Wache sie an. Sie wollten trotzdem vorbei. Die Wache tat schon den Mund auf, um zu rufen. Perstenj versetzte dem Mann einen Stoß, so daß er lautlos zusammenbrach. Ohne weitere Hindernisse trugen nun die Räuber den Fürsten mit sich fort.


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