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Eine seltsame Ehe

Wenn der Leser sich in Gedanken um dreihundert Jahre zurückversetzen und von hohem Glockenturme auf das damalige Moskau herniederblicken könnte, würde er wenig Ähnlichkeit mit der heutigen Stadt finden. An den Ufern der Moskwa, der Jausa und der Neglinna lag eine große Anzahl von meist durch die Zeit geschwärzten Holzhäusern, die mit einfachen Stroh- oder Schindeldächern bedeckt waren. Inmitten dieser dunklen Dächer zeichnete sich das leuchtende Rot und das blendende Weiß der Mauern des Kremlj besonders scharf ab, des Kitai-Gorod, und der anderen Befestigungen, die im Laufe der beiden vorhergehenden Jahrhunderte entstanden waren. Unzählige Kirchen hoben ihre goldglänzenden Kuppeln gen Himmel. Zwischen den einzelnen Häusern aber gewahrte man – großen gelben und grünen Flecken gleich – dichte Haine und Getreidefelder.

Über dem Moskwafluß lagen schwimmende Brücken, die stark ins Schwanken gerieten und vom Wasser überspült wurden, wenn schwere Fuhren darüber zogen oder Reiter über sie sprengten.

In der Jausa und der Neglinna drehten sich zu Dutzenden Mühlräder, eines hinter dem anderen, und gerade diese vielen Mühlen und Felder, Gärten und Haine mitten in der Stadt verliehen dem damaligen Moskau etwas ungemein Malerisches.

Einen besonders schönen Anblick boten die vielen Klöster, die mit ihren leuchtend weißen Umfassungsmauern und dem bunten Gewirr farbiger und goldschimmernder Türme und Kuppeln ein jedes wie eine besondere Stadt für sich wirkten.

Über dieses ganze Gewoge von Kirchen und Häusern, Hainen und Klöstern ragten stolz die Kirchen des Kremlj und die Kathedrale der heiligen Jungfrau empor, zu der Zar Iwan erst vor wenigen Jahren zur Erinnerung an die Einnahme der Stadt Kasan den Grundstein gelegt hatte und die man noch heute unter dem Namen Sankt Wassilij kennt.

Groß war der Jubel der Moskowiter, als endlich die Gerüste fielen, die die Kirche bisher noch den Blicken verborgen hatten. Nun stand sie in ihrem wunderbaren, eigenwilligen Glanze vor ihnen, glitzernd vor Gold und leuchtenden Farben, den Blick immer wieder durch die Vielgestaltigkeit ihrer Ornamente fesselnd.

Noch lange staunte das Volk dieses eigenartige Kunstwerk an, lobte Gott und pries den Zaren, der dem rechtgläubigen russischen Volk ein so herrliches Bauwerk geschenkt hatte. Von verschwenderischer Pracht waren auch die übrigen Kirchen Moskaus. Weder Geld noch Mühe hatten die Moskowiter gespart, um ihre Gotteshäuser glanzvoll zu gestalten. An den Außenwänden der Kirchen erblickte man Heiligenbilder in Menschengröße, überall blendeten kostbare Farben und Vergoldungen das Auge.

Soviel Liebe und Sorgfalt das russische Volk auf seine Gotteshäuser verwandte, so wenig gab es bei seinen Wohnstätten auf äußeren Prunk. Die Häuser waren fast alle einfach und gediegen aus Fichten- oder Eichenbalken gezimmert, die oft gar nicht einmal besonders mit Brettern verkleidet wurden, eingedenk des alten russischen Sprichwortes: ›Ist die Stube auch nicht gerade an Balken schön, so ist sie doch wenigstens schön an Piroggen.‹ Pasteten mit verschiedener Füllung. (Es kommt nicht so auf die äußere Schönheit der Stube an, als darauf, was man darin aufzutischen hat.)

Allein, das am Ufer der Moskwa gelegene Haus des Druschina Andrejewitsch Morosoff zeichnete sich durch besondere Pracht aus.

Die Eichenbohlen, aus denen es erbaut war, waren alle rund und ebenmäßig; die Eckbalken fein ineinandergefügt. Das ganze Gebäude hatte sogar drei Stockwerke, ohne die Mansardenräume zu rechnen.

Ein besonderes Vordach, das schräg über die hohe Freitreppe herabfiel, wurde von kunstvoll gemeißelten runden Säulen getragen, die mit fein ausgeführten Skulpturen geschmückt waren.

Die Fensterläden waren mit Blumen und Vögeln bemalt, und die Fenster selbst ließen das Licht des Tages nicht wie die meisten anderen Moskauer Häuser durch trübe Ochsenblasen, sondern durch durchsichtig klaren Glimmer eindringen.

Den geräumigen Hof umgaben die Wohnungen der Dienstleute, die Vorratsräume, die Darrkammern, ein Taubenhaus und ein besonders für sich erbautes Haus, das aus nur einem Gemach bestand und dem Bojaren während der heißen Sommermonate als Wohnraum diente. Von der einen Seite grenzte an den Hof eine steinerne Kapelle, an der anderen Seite ein großer Garten, der von einem Eichenzaun umgeben war, über den hinaus man schon von weitem schön bemalte und geschnitzte Schaukeln gewahrte.

Der stattliche Bojar Druschina Andrejewitsch, ein Mann von unerschütterlicher Sittenstrenge, hatte sich trotz seiner vorgeschrittenen Jahre erst vor kurzem mit der schönsten Moskowiterin verheiratet. Alles staunte, als die erst zwanzigjährige Jelena Dmitrijewna, Tochter des Hofbeamten Pleschtschejeff-Otschin, der bei Kasan gefallen war, ihm ihr Jawort gab. Wahrlich nicht einen solchen Mann hatten ihr die Moskauer Ehestifterinnen prophezeit!

Jelena war im blühendsten Alter, besaß aber weder Vater noch Mutter mehr, und zudem war Schönheit bei den wenig ehrenhaften Sitten der neuen Günstlinge des Zaren für ein junges Mädchen damals oft mehr ein Unglück als ein Glück!

Mit dem Augenblick, da Morosoff Jelena heimführte, stand sie unter seinem mächtigen Schutz, und ganz Moskau wußte, daß es keinem geraten war, den zu beleidigen, für den Druschina Andrejewitsch eintrat.

Manch einer der Günstlinge des Zaren hatte sich früher eifrig bemüht, ihr zu gefallen; keiner aber hatte so inständig um ihre Liebe geworben, wie Fürst Afanaßij Iwanowitsch Wjasemskij. Kostbare Geschenke hatte er ihr gesandt, in den Kirchen wußte er stets bis zu ihrer Nähe vorzudringen, auf wildem Roß jagte er an ihrem Hause vorbei, im Faustkampf zeichnete er sich aus, allein um ihren Beifall zu erregen – aber Afanaßij Iwanowitsch war kein Glück beschieden; die Ehestifterinnen brachten ihm seine kostbaren Geschenke wieder, und Jelena wandte sich voller Abscheu von ihm, wenn sie ihn zufällig erblickte.

Endlich war Afanaßij Iwanowitsch des langen Wartens müde, warf sich voller Grimm dem Zaren zu Füßen und beichtete ihm seinen Mißerfolg. Der Zar versprach selbst Ehestifterinnen zu Jelena Dmitrijewna zu schicken. Als diese erfuhr, was ihr bevorstand, begab sie sich mit ihrer alten Pflegerin in die Kirche, fiel vor dem Bilde der Mutter Gottes nieder, verneigte sich tief und weinte bitterlich.

In der Kirche war zuerst außer ihnen beiden niemand gewesen; als sich Jelena aber erhob und um sich blickte, stand vor ihr der Bojar Morosoff in einem grünseidenen Kaftan, über den er leicht einen Brokatmantel geworfen hatte.

»Weshalb weinst du, Jelena Dmitrijewna?« fragte er voll Anteilnahme.

Als Jelena den Bojaren erkannte, hellte sich ihr kummervolles Antlitz ein wenig auf. War er doch mit ihren Eltern eng befreundet gewesen und pflegte auch jetzt noch ihr mit Rat und Tat zur Seite zu stehen und liebte sie wie seine Tochter; Jelena aber blickte zu ihm auf wie zu einem Vater und vertraute ihm alles an, was sie bedrückte – nur einen einzigen Gedanken hatte sie ihm bisher verheimlicht, sich selbst zum Kummer, ihm zum Verderben.

Auch jetzt erwähnte sie auf Morosoffs Frage nichts von diesem einen Gedanken, sondern klagte ihm nur ihr Leid, weil die Ehestifterinnen des Zaren kommen würden, um sie zu zwingen, Wjasemskij zu heiraten.

»Jelena Dmitrijewna!« sprach darauf der Bojar, »sag' einmal, ist dir denn Wjasemskij wirklich so zuwider? Überleg' dir's gut! Ich weiß wohl, daß er bisher nicht den Weg zu deinem Herzen gefunden hat, aber soviel mir bekannt ist, gehört deine Liebe doch noch keinem anderen, und bis dahin ist ja so ein Mädchenherz wie Wachs; mach' dich nur erst einmal richtig mit dem Gedanken vertraut, vielleicht könntest du ihn doch noch mit der Zeit liebgewinnen!«

»Niemals!« antwortete Jelena, »nie werde ich ihn lieben können, eher möchte ich auf der Stelle sterben!«

Der Bojar blickte sie teilnahmsvoll an.

»Jelena Dmitrijewna«, sagte er zögernd, »es gibt ein Mittel, um dich zu retten. Hör' zu! Ich bin alt und grau, aber ich habe dich lieb wie mein eigenes Kind. Überleg' dir's wohl – Jelena, wärest du bereit, dein Geschick an das eines Greises zu binden?«

»Mit Freuden!« rief Jelena aus, sich Morosoff zu Füßen werfend.

Gerührt durch Jelenas unerwartete Bereitwilligkeit, hob er sie liebevoll auf und küßte sie auf die Stirn.

»Mein liebes Kind«, sagte er, »küsse dieses Kreuz hier, daß du mein greises Haupt nie entehren willst. Schwöre es hier vor dem Bilde des Erlösers!«

»Ich schwöre es!« flüsterte Jelena mit zitternder Stimme.

Bald darauf ließ der Bojar einen Geistlichen rufen, und in aller Eile wurde der Trauakt an ihnen vollzogen; als die Ehestifterinnen des Zaren zu Jelena kamen, war sie schon die Gattin des Druschina Andrejewitsch Morosoff.

Wohl war sie nicht aus Liebe seine Gattin geworden, aber sie hatte das Kreuz geküßt, daß sie ihm die Treue halten wollte und war fest entschlossen, den Eid heilig zu halten und gegen ihren Herrn auch nicht in Worten oder Gedanken zu sündigen.

Und weshalb sollte sie Druschina Andrejewitsch nicht auch liebgewinnen? Zwar war der Bojar nicht mehr jung an Jahren, aber der Herr hatte ihn gesegnet mit stattlichem Wuchs und Gesundheit, mit Kriegsruhm und unerschütterlicher Willenskraft, hatte ihm Dörfer und Gehöfte und weite Gartenanlagen jenseits der Moskwa geschenkt und Vorratskammern voller Gold und wertvollen Pelzen. Nur mit einem kostbaren Gut hatte der Herr den Bojaren nicht gesegnet – mit der Gunst seines Zaren. Als Zar Iwan Wassiljewitsch hörte, daß seine Ehestifterinnen zu spät gekommen waren, überkam ihn ein gewaltiger Zorn auf den Bojaren und er beschloß, Morosoff zu strafen. Er ließ ihn zu seiner Tafel laden und wies ihm einen Platz an nicht nur unter Wjasemskij, sondern sogar noch unter Boris Fjodorowitsch Godunoff, der damals noch kein hohes Amt bekleidete.

Eine solche Entehrung ertrug aber der stolze Bojar nicht; er stand mitten bei Tisch auf: »Es ziemt sich nicht für einen Morosoff, weniger zu gelten als ein Godunoff!« Da ergrimmte der Zar und untersagte dem alten Bojaren, vor seine Augen zu treten und befahl ihm, sein graues Haupt ungeschoren zu lassen, bis er ihn von der auferlegten Ungnade wieder befreien würde.

So entfernte sich Morosoff vom Hofe des Zaren und ging seitdem in ein Trauergewand gehüllt einher, den langen Bart ungeschoren, und die weißen Haare fielen lang und ungepflegt auf seine strengen und kummervollen Züge herab. Wohl war es dem Bojaren unsagbar schwer, die Augen seines Zaren nicht schauen zu dürfen, aber er hatte doch sein Geschlecht nicht entehrt, hatte nicht unter einem Godunoff gesessen!

Das Haus des Druschina Andrejewitsch war immer voller Gäste. Jeder, der ihn aufsuchte, wurde bereitwillig aufgenommen, so daß gute Bekannte und Fremde seine Gastfreundschaft gleich priesen. Einem jeden bot er ein freundliches Willkommen und entließ ihn mit kostbaren Gewändern und mit einem weisen Rat dazu. Keinen aber behandelte er so liebevoll, keinen beschenkte er so reich wie Jelena Dmitrijewna, seine junge Frau. Und diese war ihm dankbar für alle seine Güte und lag jeden Abend lange vor den Heiligenbildern auf den Knien, um inbrünstig für seine Gesundheit und sein Wohlergehen zu beten.

War es Sünde, daß bei den liebevollen Worten des Druschina Andrejewitsch, mitten im heißen Gebet vor den Heiligenbildern, wieder und immer wieder das Bild eines jungen Helden vor ihr auftauchte, der in silberglänzender Rüstung mit hocherhobenem Wojewodenstab auf fliegendem Schlachtroß ganze litauische Regimenter aufgelöst vor sich hertrieb? War es Sünde, daß die Gestalt jenes silbernen Fürsten sie überall verfolgte, im Hause und in der Kirche, bei Tage und bei Nacht und mit vorwurfsvoller Stimme zu sprechen schien: »Jelena, du hast dein Wort nicht gehalten, du hast nicht auf meine Rückkehr gewartet! Du hast deinen Schwur gebrochen ...« Am St. Johannistage des Jahres 1565 läuteten vom frühen Morgen an in ganz Moskau die Glocken. Nach Beendigung der zweiten Messe zerstreute sich das Volk. Jung und Alt trug Kränze, Blumen und Birkenreiser heim. Alles war bunt, lebhaft und froh. Allein um die Mittagszeit wurden die Straßen immer leerer, und bald war kaum ein einziger Mensch in ganz Moskau zu sehen. Eine Totenstille legte sich über die ganze Stadt, denn jetzt hielt das rechtgläubige russische Volk seine Mittagsruhe, und es gab wohl kaum einen, der Gottes Zorn dadurch auf sich geladen hätte, daß er sich jetzt auf den Straßen zeigte. Gott hat den Menschen und jeglicher Kreatur befohlen, um die mittägliche Zeit zu ruhen, und es erscheint dem frommen Russen als Sünde, wider dieses Gebot Gottes zu handeln, wenn nicht eine ganz besondere Notwendigkeit vorliegt.

So ruhte alles und Moskau glich einer toten Stadt. Nur aus der Baltschuga, einer erst kürzlich erbauten Schenke, drang Gejohle, Geschrei und Zank. Trotz der mittäglichen Stunde zechten dort Kriegsleute, fast alle jung und gut gekleidet. Sie hatten sich's nicht nur im Hause selbst bequem gemacht, sondern lagen auch auf dem Hof und sogar auf der Straße umher. Fast alle waren betrunken; einer, der auf der nackten Erde lag, hatte sich seinen Wein über den Rock gegossen; ein anderer versuchte mit heiserer Stimme in ein Lied seiner Genossen einzustimmen, brachte aber nur unverständliche, gurgelnde Laute hervor. Gesattelte Rosse standen am Tor. An jedem Sattel hingen Besen und Hundekopf.

In diesem Augenblick wurden zwei Reiter am anderen Ende der Straße sichtbar.

Der eine von ihnen, der einen roten Kaftan mit goldenen Quasten und eine weiße Brokatmütze trug, unter der dichte blonde Locken hervorfielen, wandte sich an seinen Begleiter.

»Micheitsch«, sagte er, »siehst du dort jene betrunkenen Leute?«

»Ich sehe, Bojar. Der Teufel soll sie doch wirklich holen! Wie sie sich gehen lassen, diese Zechbrüder!«

»Und siehst du auch, was sie da an den Sätteln haben?«

»Ja, ich sehe wieder jene Besen und Köterschnauzen, die jene Räuber gestern auch hatten. Es scheint, daß es wirklich Leute des Zaren sind, wenn sie hier direkt in Moskau so herumspazieren dürfen. Da haben wir uns ja etwas Schönes eingebrockt, Bojar!«

Sserebrjanyis Miene verfinsterte sich.

»Reite einmal vor, Micheitsch, und frage, wo der Bojar Morosoff wohnt!«

»Heda, ihr Leute, ehrenwerte Herren!« rief Micheitsch den Betrunkenen beim Heranreiten zu: »Wo wohnt hier der Bojar Druschina Andrejewitsch Morosoff?«

»Und wozu brauchst du zu wissen, wo dieser Hund wohnt?«

»Mein Bojar, Fürst Sserebrjanyi hat vom Feldherrn Fürsten Pronskij einen Brief an Morosoff zu überbringen!«

»Her mit dem Brief!«

»Was fällt dir ein? Was unterstehst du dich, du Teufels ... Bist du ganz von Sinnen? Was geht dich der Brief des Fürsten an?«

»Her mit dem Brief, du alter Kläffer! Auf der Stelle her damit! Wir wollen doch einmal sehen, ob dieser Morosoff nicht Verrat angezettelt hat und den Zaren hintergehen will!«

»Du Schurke!« schrie Micheitsch, jegliche Vorsicht, mit der er anfangs geredet hatte, vergessend, »glaubst du etwa, daß mein Herr mit Verrätern gemeinsame Sache macht!«

»Was? Jetzt fängst du hier auch noch zu schimpfen an? Hebt ihn aus dem Sattel, Burschen, fesselt ihn!«

In diesem Augenblick sprengte Sserebrjanyi selbst zu den Opritschniks heran.

»Zurück!« schrie er mit so gebieterischer Stimme, daß sie unwillkürlich innehielten.

»Wenn einer von euch sich untersteht, diesen Mann auch nur mit dem kleinen Finger anzurühren, dann spalte ich ihm den Schädel, und die übrigen werden sich vor dem Zaren zu verantworten haben!«

Die Opritschniks waren bestürzt, aber neue Kameraden eilten aus den Nebenstraßen herbei und umringten den Fürsten. Hitzige Worte fielen, einige hatten bereits das Schwert gezogen, und es wäre Nikita Romanowitsch wohl übel ergangen, wenn nicht in diesem Augenblick plötzlich ganz in der Nähe eine eigenartige Stimme ertönt wäre, die einen Psalm sang.

Alle Opritschniks blickten wie gebannt nach der Richtung, aus der die Stimme kam. Die Straße entlang schritt ein Mann von etwa vierzig Jahren, nur mit einem leinenen Hemd bekleidet. Auf seine Brust herab fielen an langen Ketten Kreuze aus Eisen, und in den Händen hielt er hölzerne Betschnüre. Sein bleiches Gesicht drückte unendliche Güte aus; auf seinen Lippen, die mit spärlichem Bart bedeckt waren, spielte ein Lächeln; die Augen blickten trübe und ziellos.

Als er Sserebrjanyi gewahr wurde, unterbrach er plötzlich seinen Psalm, schritt eilig auf ihn zu und blickte ihm direkt ins Gesicht.

»Du hier?« fragte er verwundert. »Was machst du hier unter diesen Leuten?«

Und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort zu singen: »Wohl dem, der nicht wandelt im Rate der Gottlosen ...«

Die Opritschniks waren in einer gewissen Ehrfurcht vor ihm zur Seite gewichen, aber er schenkte ihnen keinerlei Aufmerksamkeit und blickte wieder Sserebrjanyi an.

»Mikitka! Ach, Mikitka!« sagte er, den Kopf hin und her wiegend, »wo bist du hingeraten!«

Sserebrjanyi hatte diesen Menschen noch nie gesehen und war höchst erstaunt, daß er ihn beim Namen genannt hatte.

»Kennst du mich denn?« fragte er endlich.

Der Jurodiwyi An religiösen Verzückungen leidende Menschen, denen das russische Volk mit Ehrfurcht begegnete. lächelte.

»Du bist doch mein Bruder!« antwortete er, »ich habe dich gleich erkannt. Du bist ja auch ein Einfältiger im Geiste wie ich. Und Verstand hast du wohl auch kaum mehr als ich, wenn du dich unter diese Leute gewagt hast. Ich sehe ja deutlich dein Herz, bei dir da ist nämlich alles fein sauber, die nackte Wahrheit; wir sind beide Einfältige im Herrn. Aber jene«, fuhr er fort, auf die sie umgebende Menge weisend, »sind uns nicht verwandt, nein, brr – brr – –«

»Waßja!« sagte einer der Opritschniks, »brauchst du etwas, willst du Geld?«

»Nein, nein«, antwortete der Irre, »nein, von dir nehme ich nichts. Waßja will nichts von dir, aber dem Mikitka gib, was er von dir verlangt.«

»Mann Gottes«, sagte Sserebrjanyi, »ich fragte, wo der Bojar Morosoff wohnt.«

»Ach, du meinst den Druschinka. Das ist auch einer von uns. Das ist ein Gerechter! Nur sein Kopf ist ein bißchen unbeugsam, aber er wird sich doch bald beugen, nur daß er sich dann auch nicht mehr erheben wird.«

»Aber wo wohnt er denn?« wiederholte Sserebrjanyi freundlich.

»Das sage ich dir nicht«, erwiderte der Jurodiwyi fast zornig, »ich jedenfalls nicht, mögen es dir die anderen sagen! Ich will dich nicht in dein Verderben jagen!«

Nach diesen Worten entfernte er sich eilig, seinen unterbrochenen Psalm weitersingend.

Ohne den Sinn seiner Worte zu verstehen und mit langem Grübeln Zeit zu verlieren, wandte sich Sserebrjanyi wieder an die Opritschniks.

»Nun«, sagte er, »wollt ihr mir jetzt endlich sagen, wie ich das Haus Morosoffs finde?«

»Reite immer geradezu«, sagte einer von ihnen mit mürrischer Stimme, »und wenn du links umbiegst, mußt du direkt auf das Nest der alten Krähe stoßen.«

Während der Fürst sich mit Micheitsch entfernte, fingen die Opritschniks, die nur das Erscheinen des Jurodiwyi etwas besänftigt hatte, wieder zu lärmen und zu fluchen an.

»Heda!« schrie ihm einer nach, »richte Morosoff unseren untertänigsten Gruß aus und bestelle ihm, daß er sich ja fleißig auf den Galgen vorbereitet, er hat schon viel zu lange gelebt!«

»Na, und du kannst auch gleich deinen Strick drehen helfen«, brüllte ein anderer.

Sserebrjanyi aber achtete ihrer Schmähreden nicht.

Beim Weiterreiten trafen der Fürst und Micheitsch noch viele andere Opritschniks. Die meisten waren betrunken, andere erst auf dem Wege zur Schenke. Alle blickten frech drein, viele machten laut dreiste und rohe Bemerkungen über die beiden Reiter, so daß man aus ihrem ganzen Gebaren nur allzu deutlich sehen konnte, daß ihnen ihre Ausfälle immer ungestraft durchgingen.


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