Ludwig Tieck
Die Geschichte von den Haimonskindern
Ludwig Tieck

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Neuntes Bild

Reinolds Brüder kommen in Gefangenschaft.

Als eines Tages Reinold mit seinen Brüdern zu Tische saß, ward er plötzlich traurig und ließ den Kopf sinken, so daß sich alle über ihn wunderten. Adelhart fragte ihn, was ihm fehle, und Reinold antwortete: »Lieben Brüder, ich muß mich gar sehr über euch wundern, daß keiner von euch an unsre vielgeliebte Mutter denkt. Ich habe sie nun in sieben Jahren nicht gesehn, und weiß nicht, wie es ihr geht, wie sie aussieht, ob sie in der Zeit nicht schon zum öftern krank gewesen ist. Sie denkt vielleicht oft an uns, und ich muß euch sagen, ich habe keine Ruhe, bis ich gen Pirlapont gereiset bin, und sie wieder mit Augen gesehn habe.'

Die Brüder erschraken, und suchten ihm diesen Vorsatz auszureden, weil eine solche Reise töricht und gefährlich wäre: denn Aja und Haimon hatten schwören müssen, die Kinder gefänglich auszuliefern, wenn sie sie je in die Hände bekämen.

»Was ist das Leben«, rief Reinold, »wenn wir unsre liebsten Wünsche nicht erfüllen sollen? Und ich sage euch, daß ich doch sterbe, wenn ich meine Mutter nicht zu sehn bekomme, ich mag nun hinziehn, oder nicht.«

Da wurden die Brüder traurig, weil sie sahen, daß er seinen Sinn fest darauf gesetzt hatte, und daß kein Ausreden etwas fruchten würde. Sie gingen daher fort, und im nächsten Walde begegneten ihnen vier Pilgrime, in der Pilgerkleidung und mit Palmzweigen in den Händen. Mit diesen verwechselten die Ritter die Kleider und kamen so an die Tore von Pirlapont. Aber die Tore waren verschlossen, und als sie deshalb anklopften, fragte der Torhüter von den Zinnen der Burg, wer da sei? »Wir sind vier Pilgrime«, antwortete Reinold, »wir sind viele merkwürdige Städte durchwandert, und kommen nun hieher, und haben großen Hunger und Durst; bitten deshalb, Ihr wollet uns einlassen.«

»Hier ist viel Jammer im Hause«, antwortete der Torhüter, »weil wir gestern die Zeitung bekommen haben, daß die vier Söhne Haimons in gefänglicher Haft von König Karl gekommen sind.«

»Ich bitte Euch um dieser vier Herren willen«, antwortete Reinold, »daß Ihr uns einlassen wollet.«

Der Torhüter sprach: »Wenn Ihr nicht einen so langen Bart trüget, möchte ich Euch fast selber für den stolzen Reinold ansehn«; und somit stieg er hinunter und öffnete ihnen das Tor.

Sie gingen zu ihrer Mutter als Pilgrime, und baten um eine Mahlzeit, weil sie eine weite Reise gemacht hätten. Sie saßen nun zu Tische, und Reinold betrachtete seine Mutter sehr genau, endlich bat er sie, ihm auch einen Trunk Wein zu geben, weil er lange keinen guten Wein getrunken habe. Die Mutter holte ihm selber eine Kanne mit Wein aus dem Keller, und schenkte ihm ein. Reinolds Herz ward fröhlich, da er seine Mutter selber ihm einschenken sah, und trank über die Maßen, so daß er ordentlicherweise betrunken ward. Er taumelte umher und begehrte einen Becher nach dem andern, so daß sich Frau Aja über den lustigen Pilgrim verwundern mußte. Er ließ sich immer noch mehr Wein einschenken, so daß sich wohl ihrer vier davon hätten satt trinken mögen, dann taumelte er umher, und sagte zu seiner Mutter: »Nun gebt mir noch einen Becher und ich will meinem Vetter Karl nichts achten.« Adelhart erschrak, als er diese Worte hörte, er wollte seinen Bruder anstoßen, um ihn zu warnen, aber Reinold, der trunken war, fiel gleich der Länge nach in den Saal hin. Die Mutter warf sich auf ihn nieder, und umhalsete ihn, und wollte vor Freuden gar nicht wieder von ihm lassen, so daß sie Adelhart endlich vom Boden aufheben mußte; dann umarmte sie auch die übrigen Söhne.

Es war aber einer im Saal zugegen, der dem Könige Karl sehr günstig war, er ging daher zu Frau Aja und sagte: »Gedenket Eures Eides, und liefert nun Eure Kinder Eurem Bruder aus, der auf Euch ergrimmt ist; wo es aber nicht geschieht, will ich selbst nach Hofe reiten, und anzeigen, daß sie sich hier befinden.« – Als Aja diese Worte hörte, fing sie bitterlich an zu weinen, und klagte: »O du arger und gottloser Verräter, hast du so lange mein Brot gegessen, und darfst nun dergleichen Reden gegen mich führen? Und wenn mein Bruder auch noch viel ergrimmter wäre, so will ich ihm dennoch meine Kinder nicht ausliefern.«

Der Verräter lief hierauf zum Grafen Haimon, und gebrauchte gegen ihn dieselben Worte, aber Haimon erwischte von ungefähr einen tüchtigen Prügel, und schlug damit den Verräter zu Boden, und sagte: »Nun darf ich doch versichert sein, daß du es nicht bei Hofe anzeigen wirst.« Dann ging Graf Haimon zu seinen Edlen und versammelte sie und viel Volks, daß sie ihm seine Kinder sollten fangen helfen, damit er sie seinem Eide gemäß ausliefern könne.

Die Brüder sahen die Macht auf sich zukommen, und waren in großen Ängsten, sie wußten sich nicht zu raten, aber endlich trugen sie den trunknen und schlafenden Reinold in ein Gemach, wo sie ihn verschlossen, dann nahmen sie ihre Waffen zur Hand, und widersetzten sich dem Volke des Grafen, das eindrang, um sie gefangenzunehmen. Der Streit dauerte länger als einen Tag, denn die Brüder gebrauchten sich sehr tapfer, und schlugen viel Volks darnieder.

Reinold erwachte nun wieder und war nüchtern, er sah Bedrängnis seiner Brüder, und eilte sogleich hinzu, um ihnen beizustehn. Er sprang sogleich in das Volk hinein, wo es am dicksten stand, und vor seinem guten Schwerte stürzte alles nieder und entfloh; worauf Haimon sagte: »Ich sehe wohl, daß meine Kinder diesmal werden ungefangen bleiben, denn Reinold hält sich besser, als alle zusammen.« Reinold kam in Wut und drang auf seinen Vater ein, um ihn niederzuhauen; als Adelhart das gewahr ward, eilte er auf ihn zu und hielt ihn zurück. »Laß mich nur«, rief Reinold aus, »ich will ihn lehren seine Kinder fangen.« – Aber Adelhart sagte: »Bedenke, Bruder, daß man dann bis in die spätesten Zeiten von uns, als von Bösewichtern sprechen wird, daß kein edles Gemüt mit uns wird Gemeinschaft pflegen wollen; nein, es ist schändlich, lieber Bruder, und gegen die Religion, warum willst du den Vater töten? Es ist ja sonst noch Volks genug da, das du umbringen kannst.«

Reinold sah die Worte seines Bruders ein, und ließ von seinem Vorhaben ab, aber er wütete desto ärger gegen die übrigen, so daß alles umkam oder flohe, und sich ihm sein Vater gefangen geben mußte. Reinold nahm nunmehr seinen Vater und band ihn rücklings auf sein Pferd, dann gab er den Zügel einem Knaben in die Hand, der es so an den Hof des Königs Karl führen mußte. Der Torhüter am königlichen Palaste verwunderte sich sehr, als er den Grafen so ankommen sah; er fragte erstaunt: »Wer ist so kühn, Herr Graf, daß er es wagen darf, Euch als ein Präsent an den Hof zu schicken?« »Ach, das haben mir meine Kinder getan«, antwortete Haimon, darum, daß ich sie habe fangen wollen.«

König Karl ward ungemein betrübt, als er diese Nachricht empfing, er brachte schnell eine Macht zusammen, um die Brüder zu belagern und sie in seine Gewalt zu bekommen.

Reinold sah, wie sich die Scharen versammelten, und ward in seinem Gemüte sehr betrübt. Er stand auf der Zinne der Burg und sah wie das feindliche Heer seine Gezelte aufschlug, um ihn und seine Brüder zu belagern. Er ging zu seiner Mutter und fragte sie, ob sie keinen Rat wüßte, denn nun wäre an kein Entrinnen mehr zu denken, er müßte sich dem König gefangen geben. Frau Aja weinte, da sie ihren tapfern Sohn so reden hörte, er war der Jüngste und ihr der Liebste, und sie gedachte, daß er noch am ersten seine Brüder retten könne, wenn sie ihm zur Flucht behülflich wäre. Sie ließ ihn daher sein Pilgerkleid wieder anziehn, dann schaffte sie ihn heimlich zu einer verborgenen Tür hinaus, und so entkam Reinold.

Die übrigen Brüder aber waren in der größten Betrübnis, denn sie fürchteten sich sehr vor König Karl, besonders da sie jetzt ihren Bruder Reinold nicht mehr bei sich hatten. Die Mutter schlug ihnen vor, barfüßig und in wollenen Hemden in das Lager des Königs zu gehn, und fußfällig um Verzeihung zu bitten; sie folgten ihrem Rate, und stellten sich vor König Karl, ihren Feind. Karl war sehr ergrimmt, und fragte gleich nach Reinold; sie sagten daß er entwischt sei, worüber der König noch mehr aufgebracht wurde, und schwur, sie alle hängen zu lassen, wenn der Reinold erst zur Gesellschaft hinzugekommen wäre.

Reinold war indessen auf Montalban angelangt, und voller schwermütigen Gedanken. Er warf sich vor, daß er an der Reise seiner Brüder schuld sei, und sie jetzt feigherzigerweise verlassen habe. Er bestieg sein Roß Bayart und beschloß sie zu erretten. So ritt er mit diesem Gedanken bis vor die Stadt Paris, wo er im Wald stillehielt, und bemerkte, daß ihm ein Jüngling nachgekommen sei, der in seinen Diensten war. »Bist du nachgekommen, mich zu verraten?« rief Reinold. »Wie sollt ich«, antwortete der Jüngling, »zu einer so schändlichen Absicht einen so weiten Weg zurückgelegt haben? Nein, ich bin Euer Diener und Ihr könnt meiner vielleicht gebrauchen.«

»Gut«, sagte Reinold, »so sollst du ein Abgesandter von mir an König Karl sein, doch sieh dich ja gut vor, daß du dir einen guten Bürgen setzen lässest, denn du sollst ihm harte Worte überbringen. Sage ihm von meinetwegen, daß ich es weiß, daß meine Brüder in seiner Haft sind, aber er solle sich wohl vorsehen, ihnen einiges Leid zuzufügen. Wir sind alle erbötig Sr. Majestät treu und ehrlich zu dienen, auch in wollenen Hemden und barfüßig demütigst um Verzeihung zu bitten, aber er soll sie freilassen, und uns in seine Dienste nehmen. Will er sie aber nicht los und ledig geben, so sag ihm nur, wollt ich meine ganze Macht daran strecken, und nicht eher ruhen und rasten, bis ich ihm so, wie dem Könige Karlmann getan hätte.«

Der Jüngling wollte gehn, aber Reinold rief ihn zurück. »Nein«, sagte er, »Gott bewahre meinen Arm, daß ich Seine Majestät, meinen König und Vetter umbringen sollte; das sei fern von mir, denn es wäre ein grausames und unmenschliches Beginnen. Aber sage mir meine Botschaft gut und verständig, daß er meine Brüder soll freigeben und daß wir ihm treu dienen wollen, aber er muß uns vergeben; will er aber meine Brüder hängen lassen, so will ich meine ganze Macht daran strecken und es soll ihm dann nimmermehr gut gehn.«

Der Bote verfügte sich nun in die Stadt, und ging an den Hof zu König Karl, wo er seinen Auftrag ausrichtete. Er ließ sich aber vorher den König Karl selber zum Bürgen setzen, daß er frei zurückkönne, und es war gut, daß er es getan hatte, denn König Karl wurde ungemein ergrimmt über Reinold und seinen Abgesandten, so daß er ihn gewiß würde habe hängen lassen, wenn er ihm nicht so sichere Bürgschaft zugesagt hätte.

Reinold wartete im Walde auf seinen Boten, er war vom Pferde gestiegen und ging unter den Bäumen auf und ab, sein Pferd hatte er an einen Stamm gebunden. Indem er so wartete und über das Schicksal seiner Brüder nachdachte, überfiel ihn eine Schläfrigkeit. Er legte sich nieder, und ehe er es noch bemerkte, war er unter dem Rauschen der alten Bäume fest eingeschlafen. Indem bekam Bayart ein Gelüste nach dem frischen Grase, weil er hungrig war, er schüttelte sich also so lange, bis er vom Baume los war, dann ging er nach seiner Lust auf der Weide, weil er seinen Herrn schlafen sah. Dreißig Bauerknechte waren von ohngefähr im Walde, wo sie Holz fällten, diese wurden das Roß Bayart gewahr und erkannten es sogleich, daß es Reinolds Pferd sei. Sie machten den Plan, das Roß zu fangen, und umgaben es mit Bäumen und Zweigen von allen Seiten, so daß es nicht davonkommen konnte. Dann banden sie es und führten es nach Paris. Karl war erfreut, daß er das Roß erobert hatte, er schenkte es sogleich dem Grafen Roland, der sich im Herzen heimlich darüber betrübte, daß man es seinem Vetter Reinold entwendet hatte.

Reinold erwachte und sah, daß sein treues Roß fort war, er suchte es lange im Walde und war überaus bekümmert. Als er es aber nicht wiederfand, ward sein Jammer groß, er zog den Harnisch aus und warf ihn ins Gebüsch, ebenso sein Schwert und seinen Schild. »Wohl bin ich nun wie ein Tor bestraft«, rief er aus, »ich Unglückseliger! der ich dem Könige Karl so große Worte sagen lasse, und nun nichts davon ins Werk richten kann. Was für Macht soll ich nun daran strecken, um sie zu befreien? Bayart ist mir gestohlen, und ich möchte hier im wilden Walde lieber gleich umkommen, denn meine Brüder sind verloren, und ich kann gar nichts tun um sie zu erretten.«

Solche Klagen trieb Reinold und warf sich dann auf den Boden und machte die wunderlichen Gebärden eines Menschen, der in Verzweiflung ist.


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