Ludwig Tieck
Die Geschichte von den Haimonskindern
Ludwig Tieck

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Erstes Bild

Die Pracht des Königs Karl.

Um Pfingsten hielt König Karl, dem man den Zunamen des Großen beigelegt hat, gewöhnlich in Paris ein großes Fest. Allda erschienen alle Herren, Baronen und Fürsten, und goldne und silberne Geschirre standen auf den Tafeln, und eine schöne Musik klang durch die Gemächer. Es war bei diesem Feste alles versammelt, was man nur Prächtiges sehn mochte.

Der König saß in allem seinem Schmuck, mit seiner glänzenden Krone am Tische, um ihn her seine Freunde, die Ritterschaft und die Damen, junge Edelleute warteten auf, damit es nirgends, weder an Speise noch an Trank, fehlen möchte.

Bei diesem Feste war auch Haimon, Graf von Dordone, gegenwärtig, ein angesehener und tapferer Rittersmann, der in allem Kriegswesen überaus erfahren war, so daß auch jedermann Achtung vor ihm hatte. Mit ihm war zugleich da sein Schwestersohn Hugo, ein Jüngling von schönem Angesicht und langen goldgelben Haaren. Dieser näherte sich mit freundlichem und ehrerbietigen Anstande dem Könige, und sagte ihm, daß der Graf Haimon auch gegenwärtig sei; er erinnerte ihn, daß der Graf der einzige wäre, der keine Wohltat von Seiner Majestät genossen hätte, er möchte ihn wenigstens mit den Gütern wiederbelehnen, die dem Grafen gehörten, und die er ihm aus Ungnade entzogen hätte.

Über diese Anrede ward König Karl sehr ergrimmt; er antwortete: daß er dem Grafen Haimon nie in etwas willfahren wolle. Hugo sagte hierauf sehr ernsthaft, daß jedes redliche Gemüt das Betragen des Königs tadeln müsse. Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, so sprang Karl auf, zog sein Schwert und hieb den Jüngling nieder, daß er sogleich tot blieb. Alles geriet in die größte Verwirrung, Ritter und Edle sprangen auf, die Tische fielen über den Haufen, die Musik verstummte, und die Spielleute entflohen, kurz, aus der größten Freude entstand plötzlich die größte Traurigkeit.


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