William M. Thackeray
Die Geschichte von Pendennis, Band 1
William M. Thackeray

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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Neue Gesichter

Die Bewohner von Fairoaks lebten in düsterer schläfriger Stimmung dies eintönige Leben hin, während das große Haus auf dem Hügel am anderen Ufer des Flusses Brawl den Schlummer, in dem es während des Lebens von zwei Generationen seiner Herren gelegen, abschüttelte und außerordentliche Zeichen wiedererwachter Lebendigkeit gab.

Grade um die Zeit von Pens kleinem Mißgeschick, wo er durch den Kummer, den dieses Unglück in ihm hervorrief, so von allem abgezogen war, daß er von Ereignissen, die Personen betrafen, die ihn weniger als Arthur Pendennis interessierten, keine Notiz nahm, erschien in den Provinzialblättern eine Ankündigung, die wenigstens in der Grafschaft und in allen Städten, Dörfern, Schlössern, Landhäusern und Pfarren viele Meilen weit in der Runde um Clavering Park kein 397 geringes Aufsehen machte. Auf dem Wochenmarkte von Clavering, auf dem Jahrmarkte von Cackleby, bei den Gerichtssitzungen von Chatteris, auf dem Wege nach Gooseberry Green, wenn des Junkers Kutsche dem einspännigen Rumpelkasten des Vikars begegnete, und die Leute in den beiden Gefährten auf der Straße anhielten, um sich zu unterhalten, an der Kirchtüre von Tinkleton, wenn die Glocke im Sonnenschein bimmelte und die weißen Weiberjacken und roten Röcke truppweis über die grüne Gemeindewiese zur sonntäglichen Gottesverehrung kamen, in hundert Gesellschaften der Umgegend hieß es, Clavering Park sollte wieder bewohnt werden.

Etwa fünf Jahre zuvor hatten die Zeitungen der Grafschaft die zu Florenz bei der britischen Gesandtschaft vollzogene Vermählung von Francis Clavering Esquire, dem einzigen Sohne von Sir Francis Clavering, Baronet, von Clavering Park, mit Jemima Augusta, der Tochter Samuel Snells aus Kalkutta, Esquire, und Witwe des verstorbenen J. Amory Esquire, angezeigt. Zu dieser Zeit ging in der Grafschaft die Rede, daß Clavering, der auf viele Jahre zugrunde gerichtet gewesen, eine Witwe aus Indien mit einigem Vermögen geheiratet habe. Einige von den Herrschaften der Gegend hatten das neuvermählte Paar zu Gesicht bekommen. Die Kickleburys, die nach Italien reisten, hatten sie gesehen. Clavering bewohnte den Palast Poggi in Florenz, gab Gesellschaften und lebte großartig, konnte aber durchaus nicht nach England kommen. Ein anderes Jahr war der junge Peregrine von Cackleby, der eine lange Ferienreise machte, bei den 398 Claverings eingekehrt, die Schloß Schinkenstein am Mummelsee bewohnten. Zu Rom, zu Lucca, in Nizza, in den Bädern und Spielhöllen des Rheins und Belgiens konnte der, den es interessierte, gelegentlich von dem trefflichen Paare hören, und Gerüchte von ihnen kamen, wie von Winden hergeweht, zu dem Stammsitze von Clavering.

Ihr letzter Aufenthaltsort war Paris, wo sie mit großem Glanze und höchst prächtig gelebt zu haben schienen, nachdem die Nachricht von dem Tode von Samuel Snell, Esquire, von Kalkutta, seine verwaiste Tochter in Europa erreicht hatte.

Von Sir Francis Claverings früherem Leben kann nur wenig gesagt werden, was diesem würdigen Baronet zur Empfehlung gereichte. Als der Sohn eines Schulden halber Geflüchteten, der in einem düsteren alten Schlosse in der Nähe von Brügge hauste, hatte dieser Gentleman einen schwachen Versuch gemacht, sich im Leben in die Höhe zu bringen, indem er eine Offizierstelle in einem Dragonerregiment annahm, war jedoch gleich im Anfange damit gescheitert. Geschäftchen am Spieltische hatten schnellstens seinen Ruin herbeigeführt; nach ein paar Jahren im Heere war er gezwungen gewesen, sein Offizierspatent zu verkaufen, hatte einige Zeit in Ihrer Majestät Schuldgefängnis, dem Fleet, verbracht und war dann nach Ostende hinübergeschifft, um sich dem gichtbrüchigen Verwandten, seinem Vater, zuzugesellen. Und in Belgien, Frankreich und Deutschland konnte man eine Zeitlang diesen heruntergekommenen und verdorbenen Tunichtgut in Billardzimmern und Bädern herumlungern 399 und lauern, in Spielhäusern pointieren, auf Gasthofsbällen tanzen und mit anderer Leute Pferden Hindernisrennen reiten sehen.

Es war in einem Gasthause zu Lausanne, wo Francis Clavering das tat, was er seinen glücklichen Wurf nannte, nämlich die Witwe Amory, die erst vor kurzer Zeit aus Kalkutta heimgekehrt war, zu heiraten. Sein Vater starb bald nachher, und infolge seines Ablebens wurde seine Frau Lady Clavering. Dieser Titel entzückte Herrn Snell aus Kalkutta so sehr, daß er das Jahreseinkommen seiner Tochter verdoppelte und, als er selbst bald nachher starb, ihr und ihren Kindern ein Vermögen hinterließ, dessen Höhe, wenn das Gerücht nicht übertrieb, in der Tat sehr glänzend war.

Vor dieser Zeit waren keine dem Rufe der Lady Clavering ungünstigen Berichte im Umlaufe, aber man hatte doch auch keine besonders günstige Meinung von Ihrer Ladyschaft. Die beste englische Gesellschaft im Auslande nahm Anstand, ihre Bekanntschaft zu machen; ihre Sitten waren nicht die feinsten, ihre Herkunft war beklagenswert niedrig und zweifelhaft. Leute, die in Ostindien gelebt hatten, wie man sie in den meisten von Engländern frequentierten Städten des Kontinents in beträchtlicher Anzahl findet, sprachen mit großer Verachtung von dem übelberüchtigten alten Advokaten und Indigoschmuggler, ihrem Vater, und ebenso von Amory, ihrem ersten Gatten, der auf dem Indienfahrer, auf welchem Fräulein Snell ihrem Vater nach Kalkutta nachgereist war, Steuermann gewesen. Weder Vater noch Tochter hatten Zutritt zur guten Gesellschaft von Kalkutta gehabt oder jemals im 400 Gouvernementshause etwas von sich hören lassen. Der alte Sir Jasper Rogers, der Oberrichter zu Kalkutta gewesen war, hatte einmal zu seiner Frau gesagt, daß er eine sonderbare Geschichte von Lady Claverings erstem Manne erzählen könne; aber zum größten Aerger Lady Rogers und der jungen Damen, seiner Töchter, konnte man den alten Richter nie dazu bringen, sein Geheimnis zu enthüllen.

Sie waren indessen allesamt nur gar zu froh, zu Lady Claverings Gesellschaften geladen zu werden, als Ihre Ladyschaft das Hotel Bouilli in der Rue de Grenelle in Paris mietete und in der vornehmen Welt dort während des Winters 183* zu strahlen anfing. Der Faubourg St. Germain gewährte ihr Zutritt. Viscount Bagwig, unser ausgezeichneter Gesandter, erwies ihr besondere Aufmerksamkeit. Die Prinzen der Familie frequentierten ihre Salons. Die in der französischen Hauptstadt residierenden englischen Damen, die wegen ihrer Kühle des Urteils bekannt waren, die tugendhafte Lady Elderbury, die strenge Lady Rockminster, die verehrungswürdige Gräfin Southdown – Leute, die, mit einem Worte, wegen ihrer Sittenstrenge bekannt und von wahrhaft blendender Moral waren, erkannten sie an und empfingen sie; einen so großen und wohltätigen Einfluß hatte der Besitz von zehn- (einige sagten zwanzig-) tausend Pfund jährlicher Rente auf den Charakter und Ruf Lady Claverings. Und ihre Freigebigkeit und Wohltätigkeit waren auch wirklich ohne Grenzen. Jedermann (der nämlich zur guten Gesellschaft gehörte), der eine wohltätige Idee hatte, war sicher, ihre Börse offen zu finden. Die frommen 401 französischen Damen bekamen Geld von ihr zur Unterstützung ihrer Schulen und Klöster; sie unterzeichnete, ohne erst lange zu fragen, die Sammellisten für den armenischen Patriarchen, für Vater Barbarossa, der nach Europa kam, um Geld für sein Kloster auf dem Berge Athos zu sammeln, für die Baptistenmission zu Quashyboo und die orthodoxe Niederlassung zu Feefawfoo, der größesten und wildesten der Kannibaleninseln. Und man erinnerte sich recht wohl, wie an demselben Tage, wo Madame de Cricri von ihr fünf Napoleons zur Unterstützung der armen verfolgten Jesuiten bekam, die damals in Frankreich in sehr schlechtem Geruche standen, Lady Budelight sie in ihre Subskriptionsliste für Seine Hochwürden J. Ramshorn eintrug, der eine Traumerscheinung gehabt hätte, die ihm auftrug, den Papst zu Rom zu bekehren. Und überdies gab Ihre Ladyschaft zum Besten der weltlich Gesinnten die schönsten Diners und die größten Bälle und Soupers, die während dieser Jahreszeit in Paris stattfanden.

Und während dieser Zeit mußte auch die gutmütige Dame einen Ausgleich mit den Gläubigern ihres Gatten in England zustande gebracht haben, denn Sir Francis erschien wieder in seinem Heimatlande, ohne Furcht, eingesteckt zu werden, wurde in der Morgenpost und dem Grafschaftsblatte als in Mivarts Hotel abgestiegen aufgeführt; und eines Tages sah die erschrockene alte Haushälterin in Clavering House einen Wagen mit vier Pferden die lange Allee hinaufrollen und vor den moosüberwachsenen Stufen, der öden melancholischen Säulenhalle gegenüber, stillhalten. 402

Drei Herren befanden sich im Wagen, der offen war. Auf dem Rücksitz hatte unser alter Bekannter, Herr Tatham aus Chatteris seinen Platz, während auf den Ehrenplätzen ein schöner stattlicher Herr mit einem großen Schnurr- und Backenbart, in einem Pelz mit Verschnürungen, und neben ihm ein bleicher schwächlicher Mann saß, der sehr langsam aus dem Wagen herausstieg, als der kleine Advokat und der Herr im Pelz lustig herausgesprungen waren.

Sie gingen die große moosbewachsene Treppe zur Tür der Halle hinauf, und ein fremdländischer Diener mit Ohrringen und einer goldbetreßten Mütze zog kräftig an dem großen Klingelgriffe, der sich an dem obersten, mit Bildhauerarbeit verzierten Tor befand. Man hörte die Glocke laut durch das große düstere Haus läuten. Bald vernahm man Schritte auf dem Marmorboden der Halle drinnen, die Türen öffneten sich, und endlich erschienen mit ehrerbietiger Verbeugung Frau Blenkinsop, die Haushälterin, Polly, ihr weiblicher Adjutant, und Smart, der Hauswart.

Dieser strich sich das Bündel heufarbenen Haares aus seiner sonnverbrannten Stirn, schlug mit seiner linken Ferse aus, als ob dort ein Hund wäre, der ihn in die Wade bisse, und duckte seinen Kopf zu einer Verbeugung. Die alte Frau Blenkinsop führte einen Knix aus. Die kleine Polly, ihr Adjutant, machte ebenfalls einen Knix und ebenfalls mehrere Verbeugungen schnell hintereinander, und Frau Blenkinsop rief mit großer Bewegtheit aus: »Willkommen in Clavering, Sir Francis. Es tut meinen armen Augen gut, noch einmal jemand von der Familie zu sehen.« 403

Diese Rede und die Begrüßungen waren allesamt an den großen Herrn im Pelz mit Verschnürungen gerichtet, der seinen Hut so prächtig auf einer Seite trug und seinen Schnurrbart so majestätisch drehte. Aber der brach in ein Gelächter aus und sagte: »Sie haben das falsche Pferd gesattelt, altes Dämchen – ich bin nicht Sir Francis Clavering, der gekommen ist, die Hallen seiner Ahnen wiederzubesuchen. Freunde und Vasallen! Seht dort euren rechtmäßigen Herrn!«

Damit zeigte er mit seiner Hand auf den bleichen, schwächlichen Herrn, welcher sagte: »Sei kein Esel, Ned.«

»Ja, Frau Blenkinsop, ich bin Sir Francis Clavering, ich erinnere mich Ihrer ganz gut. Kannten mich wohl nicht wieder? – Wie gehts?« Damit ergriff er die zitternde Hand der alten Frau und nickte ihr ziemlich freundlich in das erstaunte Gesicht.

Frau Blenkinsop erklärte auf ihr Gewissen, daß sie Sir Francis überall erkannt haben würde, daß er das leibhaftige Ebenbild seines Vaters, Sir Francis, wäre und auch Sir Johns, der vordem gestorben wäre.

»O ja – danke – natürlich – sehr verbunden – usw.« sagte Sir Francis, der seine Blicke unstät durch die Halle schweifen ließ. »Schauerliches altes Nest, nicht wahr, Ned? Hab es nur einmal gesehen, als mein Hofmeister sich mit meinem Großvater zankte, im Jahre zweiundzwanzig.«

»Schauerlich? – Schön! – das wahre Schloß von Otranto! – Die Geheimnisse Udolphos, beim Zeus!« sagte die als Ned angeredete Person. »Was 404 für ein Feuerherd! Einen Elefanten könnte man darauf braten. Prächtige geschnitzte Galerie! Von Inigo Jones, bei Gott! Ich wette fünf gegen zwei, sie ist von Inigo Jones.«

»Der obere Teil ist von Inigo Jones, der untere wurde durch den hervorragenden holländischen Architekten, Vanderputty, zu der Zeit Georgs des Ersten auf Anordnung Sir Richards, des vierten Baronets, umgeändert,« sagte die Haushälterin.

»Ach wirklich, bei Gott, du kennst doch alles, Ned,« sagte der Baronet.

»Ich kenne einiges, Frank,« antwortete Ned. »Ich weiß, daß der über dem Kaminsims kein Synders ist – ich wette drei gegen eins, es ist eine Kopie. Wir wollen es wieder herstellen, mein Junge. Ein Klex Firnis, und es wird wieder wundervoll vorkommen. Der alte Bursche da im roten Gewande ist vermutlich Sir Richard?« »Sheriff der Grafschaft und Mitglied des Parlaments zur Regierungszeit der Königin Anna,« sagte die Haushälterin, die sich über das Wissen des Fremden wunderte; »das zur Rechten ist Theodosia, die Gemahlin Harbottles, des zweiten Baronets, gemalt von Lely als Venus, die Göttin der Schönheit, – ihr Sohn Gregorius, der dritte Baronet, neben ihr als Cupido, der Gott der Liebe, mit Bogen und Pfeilen; das an der nächsten Tafel in der Wand ist Sir Rupert, von Karl dem Ersten zum Bannerherren ernannt, dessen Besitztum von Oliver Cromwell konfisziert worden ist.«

»Danke – nichts weiter, Frau Blenkinsop,« sagte der Baronet. »Wir wollen uns selbst hier umsehen. 405 Frosch, gib mir eine Zigarre. Wollen Sie auch eine, Herr Tatham?«

Der kleine Herr Tatham versuchte eine Zigarre, die ihm Sir Francis Courier eingehändigt hatte, und über welcher der Anwalt erschrecklich pustete. »Brauchen nicht mit uns zu kommen, Frau Blenkinsop. Wie heißt er gleich – Sie da – Smart – füttern Sie die Pferde und waschen Sie ihnen die Mäuler. Werden uns nicht lange aufhalten. Kommen Sie, Strong; ich kenne den Weg, ich war zweiundzwanzig hier, als es mit meinem Großvater zu Ende ging.« Und Sir Francis und Kapitän Strong, – denn das war der Name und Titel des Freundes von Sir Francis – schritten aus der Halle in die Empfangszimmer und überließen es der verblüfften Frau Blenkinsop, durch eine Nebentür zu verschwinden, die in ihre Zimmer führte, jetzt die einzig bewohnbaren Räume des lange unbewohnten Schlosses.

Es war ein Platz von solcher Ausdehnung, daß es kein Pächter ermöglichen konnte, darauf zu leben. Sir Francis und sein Freund gingen von Zimmer zu Zimmer, bewunderten deren Ausdehnung und ihre öde und verlassene Größe. Zur rechten Seite der Hallentür lagen die Salons und Empfangsräume, auf der anderen Seite das eichengetäfelte Zimmer, das Wohnzimmer, das große Eßzimmer und die Bibliothek, wo Pen in alter Zeit Bücher gefunden hatte. Um drei Seiten der Halle lief eine Galerie; durch diese und die damit in Verbindung stehenden Gänge kam man zu den herrschaftlichen Schlafzimmern, von denen viele sehr stattlich waren und Zeichen von Glanz zur Schau 406 trugen. Im zweiten Stockwerke war ein wahres Labyrinth von kleinen unbequemen Bodenstübchen, bestimmt für die Dienerschaft der vornehmen Leute, die dieses Schloß bewohnten, als es zuerst erbaut worden war; und ich kenne kein erfreulicheres Zeichen der fortgeschrittenen Menschenfreundlichkeit unserer jetzigen Zeiten, als wenn ich die Baulichkeiten, die jetzt für die Domestiken eingerichtet sind, mit denen unserer Vorfahren vergleiche und sehe, um wieviel besser jetzt für Bediente und sonstige Arme gesorgt ist als in den Zeiten wo Mylord und Mylady unter goldenen Betthimmeln schliefen und ihre Dienstboten über ihnen nicht so luftig und reinlich lagen, als jetzt die Ställe sind.

Die beiden Herren wanderten treppauf und treppab im Hause herum, wobei der Besitzer des Hauses sehr schweigsam und nicht eben vergnügt war, es zu besitzen, wogegen der Kapitän, sein Freund, die Räume mit soviel Interesse und Eifer untersuchte, daß man ihn für den Herrn und den anderen bloß für den gleichgültigen Beschauer des Platzes hätte halten können. »Ich sehe ganz Kapitales darin – ganz Kapitales,« rief der Kapitän aus. »Weiß Gott, überlassen Sie es mir, und ich mache Ihnen mit wenig Kosten den Stolz des ganzen Landes daraus. Was für ein Theater können wir hier in der Bibliothek haben, wenn wir den Vorhang zwischen den beiden Säulen anbringen, die den Raum teilen! Was für ein famoses Zimmer für einen Ball! Es wird die gute Gesellschaft der ganzen Grafschaft fassen. Wir werden die Tapeten aus Ihrem zweiten Salon in der Rue de Grenelle in das Morgenwohnzimmer hängen, und das eichengetäfelte Zimmer putzen 407 wir mit den mittelalterlichen Schreinen und Harnischen aus. Harnische sehen auf dunklem Eichengetäfel prächtig aus, und auf dem Quai Voltaire ist ein venetianisches Glas, das bis aufs kleinste auf diesen hohen Kaminsims passen wird. Der große Salon bekommt natürlich weiß und carmoisin, das große Gesellschaftszimmer gelbe Seide und das kleine lichtblau mit Spitze darüber – nicht wahr?«

»Ich erinnere mich, daß mich mein alter Hofmeister einmal in diesem kleinen Zimmer durchgeprügelt hat,« sagte Sir Francis würdevoll; »er hat mich nie leiden mögen, mein alter Hofmeister.«

»Zitz ist dann, meine ich, wohl das passendste für Myladys Zimmer – das heißt da, wo man hinaufkommt, die Zimmerflucht nach Süden, das Schlafzimmer, das Wohnzimmer und das Toilettenzimmer. Wir breiten ein Zeltdach über den Balkon. Wo wollen Sie Ihre Zimmer haben?«

»Verlege meine in den nördlichen Flügel,« sagte der Baronet gähnend, »und außerhalb des Bereichs von Fräulein Amorys verdammtem Flügel. Ich kann es nicht aushalten. Sie paukt vom Morgen bis in die Nacht darauf herum.«

Der Kapitän brach in ein Gelächter aus. Er setzte die ganze weitere Einrichtung des Hauses bei ihrem Gange durch dasselbe fest, und als die Promenade beendet war, gingen sie in das Zimmer des Haushofmeisters, das jetzt Frau Blenkinsop bewohnte, wo Herr Tatham saß und über einem Plane des Gutes brütete, und wo die alte Haushälterin zu Ehren ihres Herrn und Meisters ein Frühstück zurechtgemacht hatte. 408

Dann inspizierten sie Küche und Ställe, für welche beide sich Sir Francis ziemlich interessierte. Kapitän Strong wollte auch die Gärten in Augenschein nehmen; aber der Baronet sagte: »Verd– Gärten und solche Dinger!«und fuhr schließlich von dem Hause grade so gleichgültig weg, als er in dasselbe eingetreten war, und an diesem selben Abend erfuhren die Leute von Clavering, daß Sir Francis Clavering dem Park einen Besuch gemacht hatte und in der Grafschaft wohnen wollte.

Als diese Tatsache in Chatteris bekannt wurde, gerieten alle Leute an dem Orte in Bewegung. Die hohe und niedere Kirche, Kapitäne auf Halbsold, alte Jungfern und Witwen, benachbarte sporttreibende Gutsbesitzer, Pächter, Handelsleute und Leute aus der Fabrik – kurz, die ganze Bevölkerung in dem kleinen Orte und um ihn herum. Die Nachricht kam nach Fairoaks und wurde von den Damen dort und von Herrn Pen mit einiger Aufregung vernommen. »Frau Pybus sagt, in der Familie sei ein sehr hübsches Mädchen, Arthur,« sagte Laura, die in diesem Punkte so gütig und nachdenklich war, als es Frauen gewöhnlich sind, »ein Fräulein Amory, Lady Claverings Tochter aus erster Ehe. Natürlich wirst du dich sofort in sie verlieben, wenn sie ankommt.«

Helene schrie: »Schwatz doch keinen Unsinn, Laura.« Pen lachte und sagte: »Gut, dafür ist ein junger Sir Francis für dich da.«

»Er ist erst vier Jahr alt,« entgegnete Fräulein Laura. »Aber ich werde mich mit dem hübschen Offizier, dem Freunde von Sir Francis, trösten. Er war 409 am letzten Sonntag im Kirchenstuhl zu Clavering, und sein Schnurrbart war wundervoll.«

In der Tat war die Anzahl der Familienglieder von Sir Francis (die in den vorhergehenden Zeilen erwähnt worden sind) ziemlich schnell in der Stadt bekannt und ebenso alles andere, soweit es menschliche Mühe und Scharfsinn in bezug auf seinen Haushalt herauszurechnen vermochte. Die Parkallee und die Felder waren jetzt an den Sommerabenden mit Leuten aus der Stadt bedeckt, die bis zu dem großen Hause hinaufgingen, auf dem Gute umherspähten und die Verbesserungen kritisierten, die dort stattfanden. Ladungen auf Ladungen von Möbeln kamen in zahllosen Frachtwagen von Chatteris und London an, aber so zahllos diese auch waren, es war nicht ein Wagen darunter, von dem Kapitän Glanders nicht gewußt, was er enthielt und dessen Gepäck er nicht nach dem Hause im Park hinauf eskortiert hätte.

Er und Kapitän Edward Strong hatten während dieser Zeit genaue Bekanntschaft gemacht. Der jüngere Kapitän hatte zu Clavering ganz dieselbe Wohnung inne, die der friedliche Smirke dereinst bewohnt hatte, und er stand sich mit Frau Frisby, seiner Wirtin, sowie mit dem ganzen Städtchen recht vortrefflich. Der Kapitän war von Person und Kleidung eine prächtige Erscheinung, von frischer Farbe, blauäugig, mit schwarzem Schnurrbart, breiter Brust, athletisch – eine leichte Neigung zur Fülle tat seiner angenehmen hübschen Figur keinen Eintrag – ein tapferer Soldat bot dem Feinde nie eine breitere Brust. Wenn er die High Street zu Clavering hinabschritt, den Hut auf eine 410 Seite gesetzt, mit dem Stocke auf das Pflaster aufstoßend oder ihn in Ausübung militärischer Hiebe oder soldatischer Manöver um sich schwang – wobei sein fröhliches Lachen durch die sonst stille Straße drang, – so war er dem Orte so willkommen wie Sonnenschein und eine Augenweide für jeden seiner Einwohner.

Am ersten Markttage schon kannte er jedes hübsche Mädchen auf dem Markte; er hatte seinen Spaß mit allen Frauenzimmern, sprach ein Wort mit den Pächtern über ihre Vorräte und speiste in der Agrikulturgesellschaft im »Schilde« zu Clavering, wo er sie alle mit seinen Witzen und Scherzen bis zum Totlachen unterhielt. »Weiß Gott, ein netter Mensch das, weiß Gott, das ist wahr,« war die allgemeine Ansicht der Herrschaften in Stulpstiefeln über ihn. Er gab einem halben Schock derselben die Hand, als sie auf ihren alten Mähren aus dem Hof des Gasthauses hinausritten, und schwenkte ihnen prachtvoll mit seinem Hute zu, während er vor dem Tor seine Zigarre rauchte. Im Laufe des Abends war er Stammgast am Schenktische der Frau Wirtin, wußte, wieviel Pacht der Wirt zahlte, wieviel Acker er bestellte, wieviel Malz er in sein Doppelbier tat, und ob er manchmal ein Tröpfchen unversteuerten Branntwein von Baymouth oder den Fischerdörfern an der Küste bezog.

Er hatte zuerst versucht, im Schlosse zu leben, aber es war so eintönig, daß er es nicht aushalten konnte. »Ich bin ein Geschöpf, das für die Geselligkeit geboren ist,« sagte er zu Kapitän Glanders. »Ich bin hierhergekommen, um aufzupassen, daß Claverings Haus in Ordnung gebracht wird, denn, unter uns gesagt, Frank 411 hat keine Energie, Herr, keine Energie, er hat kein richtiges Herz dafür, Herr (damit ließ er seinen eignen Brustkasten aufschwellen); aber ich muß geselligen Verkehr haben. Die alte Frau Blenkinsop geht um sieben Uhr schlafen und nimmt Polly mit. Niemand als ich und der Schloßgeist war während der ersten beiden Nächte in dem großen Hause, und ich muß gestehen, Herr, ich liebe Gesellschaft; die meisten alten Soldaten tun das.«

Glanders fragte Strong, wo er gedient hätte. Kapitän Strong wirbelte seinen Schnurrbart und sagte lachend, daß der andere auch beinahe fragen könnte, wo er nicht gedient hätte. »Ich begann als Kadett bei den ungarischen Ulanen, verließ, als der griechische Unabhängigkeitskrieg ausbrach, diese Stelle infolge eines Streits mit meinem Kommandeur, war dann unter den Sieben, die aus Missolunghi entkamen und wurde im Alter von siebzehn Jahren mit einem von Botzaris Brandern in die Luft geschleudert. Ich will Ihnen mein Erlöserkreuz zeigen, wenn Sie heute Abend in mein Logis hinüberkommen und ein Glas Grog mit mir trinken wollen, Kapitän. Ich habe etliche von diesen Dingern in meinem Pulte. Ich habe den weißen Adlerorden Polens, Skrzynecki gab ihn mir (er sprach Skrzyneckis Namen mit wundervoller Genauigkeit und Feinheit aus) auf dem Felde von Ostrolenka. Ich war Leutnant im vierten Regiment, Kapitän, und wir marschierten durch Diebitschs Linien, schwupp, durch nach Preußen hinein, ohne einen Schuß abzufeuern. Ach, Kapitän, das war eine übelgeleitete Sache. Ich empfing diese Wunde hier an der Seite des Königs 412 vor Oporto, wo er diesen Wechselreitern des Herrn Pedro gehörig heimgezahlt haben würde, wenn Bourmont meinem Rate gefolgt wäre; dann diente ich in Spanien bei den königlichen Truppen bis zum Tode meines lieben Freundes Zumalacarreguy, bis ich sah, daß das Spiel vorbei war, und meinen Bratspieß an die Wand hing, Kapitän. Alava bot mir ein Regiment an, aber ich konnte nicht – verdammt, ich konnte nicht – und nun, Herr kennen Sie den Ned Strong – im Ausland nennen sie mich den Chevalier Strong – so gut wie er sich selber kennt.«

Auf diese Art kam fast jedermann in Clavering zu Ned Strongs Bekanntschaft. Er erzählte es Frau Frisby, er erzählte es dem Wirt des Georg, er erzählte es Baker im Lesezimmer, er erzählte es Frau Glanders und deren Töchtern bei Tische, und schließlich erzählte er es auch Herrn Arthur Pendennis, der, als er eines Tages gähnend von Clavering hereinkam, den Chevalier Strong in Gesellschaft des Kapitän Glanders traf, der sich über diese neue Bekanntschaft freute.

Noch ehe viele Tage vorüber waren, war Kapitän Strong in Helenes Gesellschaftszimmer grade so zu Hause wie in der ersten Etage von Frau Frisby, und das eintönige Haus wurde durch seine gute Laune und sein unaufhörlich fließendes Geplauder recht heiter. Die beiden Frauen hatten nie zuvor einen solchen Mann gesehen. Er wußte tausend Geschichten von Schlachten und Gefahren, die ihr Interesse erweckten, von gefangenen Griechinnen, polnischen Schönheiten und spanischen Nonnen. Er konnte hunderte von Liedern in einem halben Dutzend Sprachen singen und pflegte sich 413 ans Piano zu setzen und sie mit voller männlicher Stimme zu trällern. Beide Damen fanden ihn entzückend; und das war er auch, obwohl sie bis jetzt nicht viel Auswahl in Männergesellschaft gehabt und im Laufe ihres beiderseitigen Lebens nur wenige dieses Geschlechts, außer dem alten Portman, dem Major und Herrn Pen, der sicher ein Genie war, gesehen hatten; aber Genies sind auch meist ziemlich fade und langweilig zu Hause.

Und Kapitän Strong machte seine neuen Freunde zu Fairoaks nicht nur mit seiner eigenen Biographie, sondern auch mit der ganzen Geschichte der jetzt nach Clavering kommenden Familie bekannt. Er hatte die Heirat zwischen seinem Freunde Frank und der Witwe Amory zustande gebracht. Sie brauchte einen Rang in der Gesellschaft, und er brauchte Geld. Welche Verbindung konnte passender sein? Er organisierte dieselbe, er machte diese beiden Leute glücklich. Es war keine besonders romantische Neigung zwischen ihnen; die Witwe war weder in dem Alter noch eine für Romantik geeignete Persönlichkeit, und Sir Francis kümmerte sich, wenn er nur sein Billardspielchen und sein Essen hatte, um nicht viel anderes. Aber sie waren so glücklich, wie Leute nur sein konnten. Clavering konnte an den Ort und in das Land, wo er geboren war, heimkehren, das Vermögen seiner Frau würde alle seine Schulden bezahlen, und sein Sohn und Erbe würde einer der ersten Männer im Lande sein.

»Und Fräulein Amory?« fragte Laura. Laura war ungewöhnlich neugierig auf Fräulein Amory.

Strong lachte. »O, Fräulein Amory ist eine Muse 414 – Fräulein Amory ist ein Mysterium – Fräulein Amory ist eine demme incomprise.« »Was ist das?« fragte die einfache Frau Pendennis, aber der Chevalier gab ihr keine Antwort; vielleicht konnte er ihr auch keine geben. »Fräulein Amory malt, Fräulein Amory schreibt Gedichte, Fräulein Amory komponiert Musik, Fräulein Amory reitet wie Diana Vernon. Fräulein Amory ist, mit einem Wort, ohne gleichen.«

»Ich hasse kluge Frauen,« sagte Pen.

»Danke schön,« meinte Laura. Ihrerseits war sie sicher, daß Fräulein Amory sie bezaubern würde, und sie sehnte sich inständig, solche Freundin zu besitzen. Dabei sah sie Pen voll ins Gesicht, als ob jedes Wort, was die kleine Heuchlerin sagte, so wahr wie das Evangelium wäre.

So wurde denn ein freundschaftliches Verhältnis zwischen der Familie von Fairoaks und ihren reichen Nachbarn im Park schon im voraus eingeleitet und vorbereitet, und Pen und Laura waren auf ihre Antwort gerade ebenso begierig, wie die allerneugierigsten Leute von Clavering. Ein Londoner, der alle Tage neue Gesichter zu sehen bekommt und angähnt, mag über die Begierde lächeln, mit der Leute auf dem Lande einen Besucher erwarten. Ein Londoner Kind kommt unter sie, und seine Wirte auf dem Dorfe erinnern sich seiner noch jahrelang, nachdem es sie verlassen und höchstwahrscheinlich vergessen hat, indem es von der ungeheuren Londoner See weit hinweggeflutet worden ist. Aber die Inselbewohner erinnern sich des Schiffers, auch wenn er schon lange hinweggesegelt ist, und können uns erzählen, was er sagte, wie er aussah und 415 wie er lachte. Kurz, die Ankunft eines neuen Gesichts ist auf dem Lande ein Ereignis, von dessen Wichtigkeit wir keinen Begriff haben, die wir nicht wissen und nicht zu wissen brauchen, wer in der nächsten Tür wohnt.

Als die Maler und Tapezierer ihr Werk im Schlosse vollendet und es unter Kapitän Strongs Oberaufsicht so verschönt hatten, daß er wohl auf seinen Geschmack stolz sein konnte, zeigte dieser Gentleman an, daß er nach London, wo die ganze Familie inzwischen angelangt wäre, gehen und eiligst zurückkehren würde, um sie in ihr neueingerichtetes Haus einzuführen.

Mehrere Dienstboten gingen vor ihnen her. Wagen kamen zur See an und wurden von Baymouth durch Pferde herbeigeschafft, die unter der Obhut von Reitknechten und Kutschern schon vorher eingetroffen waren. Eines Tages brachte die Eilkutsche auf ihrem Decksitze zwei große und melancholisch aussehende Männer, die an dem Parktor nebst ihrem Gepäck abgesetzt wurden und die die Herren Frederic und James, Bediente aus der Hauptstadt, waren, die keine Einwendung dagegen hatten, auf dem Lande zu leben, und ihren Staat nebst dem übrigen Zubehör der freiherrlich Claveringschen Dienerschaft mit sich brachten.

Eines anderen Tages setzte die Post am Tor einen ausländischen Herrn ab, der mit einer Menge Löckchen und Ketten geschmückt war. Er machte einen großen Lärm an der Tür der Pförtnerwohnung mit der Frau des Türhüters (die, eine Bauersfrau aus dem Westen des Landes, sein Englisch oder gascognisches Französisch nicht verstand), weil keine Kutsche auf ihn 416 wartete, um ihn nach dem noch eine Stunde entfernten Schlosse zu fahren, und weil er in seinem erschöpften Zustande und seinen lackierten Stiefeln nicht noch ganze Meilen weit gehen könnte. Es war Herr Alcide Mirobolant, früher Küchenchef Sr. Hoheit des Herzogs von Borodino, Sr. Eminenz des Kardinals Beccafico und gegenwärtig Chef der mündlichen Angelegenheiten des Baronets Sir Clavering. Monsieur Mirobolants Bibliothek, Gemälde und Piano waren unter der Obhut eines intelligenten jungen Engländers, seines Adjutanten, schon vorher angelangt. Außer dem Letztgenannten stand ihm noch eine gelernte Köchin zur Seite, die ebenfalls aus London war und untergeordnete Küchenmägde unter ihrem Befehle hatte.

Er speiste nicht im Zimmer des Haushofmeisters, sondern nahm sein Mahl in der Einsamkeit seiner eigenen Gemächer ein, wo er zu seiner Privatbedienung eine besondere Magd hatte. Es war ein großartiger Anblick, ihn in seinem Schlafrocke ein Menu komponieren zu sehen. Er setzte sich stets dazu und spielte eine Zeitlang vorher Piano. Wenn er unterbrochen wurde, so remonstrierte er pathetisch. Jeder große Künstler, sagte er, bedürfe der Einsamkeit, um seine Werke zur Vollendung zu bringen.

Aber wir greifen der Entwicklung der Dinge in der Fülle unserer Liebe und Achtung für Monsieur Mirobolant vor und bringen ihn vor der Zeit auf die Bühne.

Der Chevalier Strong hatte seine Hand in allen Engagements der Londoner Dienstboten und schien tatsächlich der eigentliche Herr des Hauses zu sein. Es 417 gab wirklich Leute im Hause, die sagten, er wäre der Haushofmeister, mit dem bloßen Unterschiede, daß er mit der Herrschaft speiste. Wie dem aber auch sei, er wußte sich Respekt zu verschaffen, und zwei der durchaus nicht unbequemsten Zimmer des Hauses wurden für seinen besonderen Gebrauch bestimmt.

Er wandelte endlich auf der Terrasse hin und her, als der ereignisvolle Tag gekommen war, wo, unter ungeheurem Glockengeläut der Kirche zu Clavering, auf der eine Fahne flatterte, eine offene Karosse und einer jener Reisewagen oder Familienarchen, wie sie nur die Liebe eines Engländers zu seiner Sprößlingsschaft erfinden konnte, in schnellem Laufe mit schäumenden Pferden durch die Parktore und nach der Freitreppe zur Halle fuhren. Die beiden Flügel der geschnitzten Tür flogen auf. Zwei höhere Offizianten in schwarz, die beiden vorerwähnten großen und melancholischen Herren, die jetzt in Livree waren und gepuderte Perücken trugen, warteten mit den Landdomestiken, die zu ihrer Hilfe da waren, in der Halle und verbeugten sich wie schlanke Ulmen, wenn im Park die herbstlichen Winde wehen. Durch dieses Spalier passierte Sir Francis Clavering mit höchst gleichgültigem Gesichte, dann Lady Clavering mit einem Paar glänzender schwarzer Augen und gutmütigen Zügen, sehr anmutig trippelnd und nickend, dann der junge Herr Francis Clavering, der sich an seiner Mutter Rock festhielt (und die Prozession zum Anhalten brachte, weil er den längsten Bedienten anstarrte, dessen Aussehen den jungen Gentleman höchlichst zu verwundern schien), und Fräulein Blandy, Master Francis' Gouvernante, und Fräulein Amory, 418 Ihrer Ladyschaft Tochter, am Arme Kapitän Strongs. Es war Sommer, aber Feuer des Willkomms prasselten im Kamin der großen Halle und in den Zimmern, die die Familie einnehmen sollte.

Monsieur Mirobolant hatte sich den Aufzug hinter einer der Linden der großen Allee angesehen. »Elle est là«, sagte er und legte seine mit Juwelen geschmückte Hand auf seine reichgestickte, mit Glasknöpfen verzierte Weste. »Je t'ai vue, je te bènis, o ma sylphide, o mon ange!« und er schlüpfte wieder ins Dickicht und kehrte zu seinen Tiegeln und Bratpfannen zurück.

Am nächsten Sonntag kam dieselbe Gesellschaft, die soeben in Clavering Park erschienen, in die Kirche und ergriff öffentlich Besitz von dem alten Kirchenstuhl, wo so viele von den Ahnen des Barons gebetet hatten und jetzt im Bilde knieten. Es gab ein solches Rennen und Drängen, um die neuen Herrschaften zu sehen, daß die niedrige Kirche zum Verdruß ihres Pastors leer stand, und als die stattliche Karosse mit den Grauschimmeln und dem Kutscher in silberweißer Perücke und den feierlichen Bedienten hinten drauf nach der alten Kirchhofspforte herangefahren kam, war dort ein solches Gedränge von Leuten, wie man seit langer langer Zeit nicht gesehen. Kapitän Strong kannte alle Welt und grüßte für die ganze Gesellschaft. Die Landleute meinten, Mylady wäre allerdings nicht schön, aber ungemein hübsch gekleidet – und das war sie in der Tat – mit den prächtigsten Schals, den schönsten Pelissen, dem wundervollsten Hut mit Blumen und geschmückt mit einer Unmasse von Ringen, Kameen, Brochen, 419 Ketten, Ohrgehängen und anderem namenlosen Tand, Bändern von jeder Breite und jeder Farbe des Regenbogens, die an ihrer Person leuchteten. Fräulein Amory erschien in matter Taubenfarbe, wie eine Vestalin, während Master Francis in dem damals sehr beliebten Kostüme Rob Roy Macgregors, eines berühmten geächteten Hochländers, erschien. Der Baronet war nicht lebhafter als gewöhnlich; er besaß eine glückliche Geistesabwesenheit, die ihn befähigte, zu einem Diner, einem Totenbette, einer Predigt oder einer Hochzeit mit derselben gleichgültig heiteren Miene zu kommen.

Ein Betstuhl für die Dienerschaft von Clavering wurde von dieser eingenommen, und die entzückte Gemeinde sah die Herren aus London mit »Mehl auf ihren Köpfen« und den wundersamen Kutscher mit seiner silbergrauen Perücke in diesem Betstuhle Platz nehmen, nachdem letzterer seine Pferde im »Schilde zu Clavering« in den Stall gebracht.

Im Verlaufe des Gottesdienstes begann Master Francis im Betstuhl ein solches Gekreisch zu machen, daß Frederic, der längste von den Bedienten, von seinem Herrn herbeigewinkt wurde, aufstand, hinging und den jungen Herrn Francis hinaustrug, der laut brüllte und ihn auf den Kopf schlug, daß der Puder im Kreise wie Weihrauchwolken davon herabflog. Er gab auch nicht eher Ruhe, als bis man ihn auf den Kutschbock gesetzt hatte, wo er mit Johns Peitsche auf die Pferde tippte.

»Sie sehen, der kleine Bengel ist nie vorher in einer Kirche gewesen, Fräulein Bell,« wandte sich der 420 Baron in schleppendem Tone an eine junge Dame, die bei ihm einen Besuch abstattete; »kein Wunder, daß er Spektakel macht, ich gehe in der Stadt niemals in die Kirche, aber ich halte es für richtig, auf dem Lande ein gutes Beispiel zu geben – und dergleichen mehr.«

Fräulein Bell lachte und sagte: »Der kleine Junge hat kein besonders gutes Beispiel gegeben.«

»Mein Gott, ich weiß wirklich nicht,« sagte der Baronet. »Es ist doch nicht so schlimm. Wenn er etwas haben will, so schreit Francis allemal, und wenn er schreit, so bekommt er es.«

Hier begann das in Rede stehende Kind nach dem Inhalt einer Schüssel mit Süßigkeiten, die auf dem Frühstückstische stand, zu heulen, und indem es mit der Hand quer übers Tischtuch fuhr, stieß es ein Glas Wein über die beste Weste des einen der gegenwärtigen Gäste, des Herrn Arthur Pendennis, der sich sehr ärgerte, daß er so lächerlich aussehen mußte und daß sein fleckenloses Cambrirhemd vorn mit Wein bespritzt war.

»Wir verziehen ihn so,« sagte Lady Clavering zu Frau Pendennis, indem sie einen zärtlichen Blick auf den Cherub warf, dessen Hände und Gesicht nun über und über mit jener Art Schaum bedeckt waren, der in das Backwerk, meringes à la crême genannt, gefüllt wird.

»Mein Gott, ich hatte ganz recht,« sagte der Baronet. »Er hat geschrien und es bekommen, wie Sie sehen. Es ist schon gut, Frank, alter Junge.«

»Sir Francis ist ein sehr gewissenhafter Vater,« wisperte Fräulein Amory. »Meinen Sie das nicht auch, Fräulein Bell? Ich will Sie nicht Fräulein 421 Bell – ich will Sie Laura nennen. Ich bewunderte Sie schon in der Kirche. Ihr Kleid war nicht gut gemacht, auch war Ihr Hut nicht ganz nach der neuesten Mode. Aber Sie haben so hübsche graue Augen und solch eine liebliche Farbe.«

»Ich danke Ihnen,« sagte Fräulein Bell lachend.

»Ihr Cousin ist hübsch und denkt auch so. Er fühlt sich ungemütlich. Er hat noch nichts von der Welt gesehen. Hat er Genie? Hat er schon gelitten? Eine Dame, ein kleines Frauenzimmer in einem zerknüllten Seidenkleide und Samtschuhen – ein Fräulein Phybus – kam hierher und sagte, er hätte schon gelitten. Auch ich habe gelitten, und Sie, Laura, ist Ihr Herz schon einmal gerührt worden?«

Laura sagte »Nein!«, aber sie errötete vielleicht ein bißchen bei dem Gedanken oder der Frage, so daß jene sagte:

»Ah, Laura! ich sehe alles. Es ist der hübsche Cousin. Erzählen Sie mir alles. Ich liebe Sie schon wie eine Schwester.«

»Sie sind sehr freundlich,« sagte Fräulein Bell lächelnd, »und – und man muß zugeben, daß es eine sehr schnelle Neigung ist.«

»Alle Neigungen sind so. Es ist Elektrizität – ein plötzliches Aufflammen. Es ist etwas Augenblickliches. Ich wußte, daß ich Sie lieben würde von dem Augenblicke an, wo ich Sie zum erstenmal sah. Fühlen Sie das nicht selbst?«

»Noch nicht,« sagte Laura; »aber ich werde es wahrscheinlich, wenn ich es versuche.« 422

»So nennen Sie mich denn auch bei meinem Vornamen.«

»Aber ich kenne ihn ja gar nicht,« rief Laura aus.

»Mein Name ist Blanche – ist es nicht ein hübscher Name? Nennen Sie mich bei demselben.«

»Blanche – sehr hübsch, wirklich!«

»Während Mama sich dort mit jener freundlich aussehenden Dame unterhält, – wie ist sie denn mit Ihnen verwandt? Sie muß einst schön gewesen sein, ist aber schon ziemlich passée, sie trägt keine guten Handschuhe, aber sie hat eine hübsche Hand – während Mama also mit ihr spricht, kommen Sie mit in mein Zimmer, mein eigenes, eigenstes Zimmerchen. Es ist ein herziges Zimmerchen, wenn es auch dieses abscheuliche Geschöpf, der Kapitän Strong, eingerichtet hat. Sie sind entzückt von ihm? Er sagt, Sie wären es, aber ich weiß es besser, es ist der schöne Cousin. Ja – er hat schöne Augen. Ich liebe die Blonden für gewöhnlich nicht. Denn ich bin selbst blond, – ich bin Blanche und blond,« – und sie besah sich ihr Gesichtchen und zog ein Mäulchen im Spiegel, hielt auch niemals inne, um Lauras Antwort auf die Fragen, die sie gestellt hatte, zu hören.

Blanche war blond und einer Sylphe ähnlich. Sie hatte lichtes Haar mit grünlichen Reflexen darin. Aber sie hatte dunkle Augenbrauen. Sie besaß lange schwarze Augenwimpern, die wunderschöne braune Augen verschleierten. Sie hatte eine so zarte Taille, daß es ein wahres Wunder war, und solche schmalen kleinen Füßchen, daß man hätte denken mögen, das Gras würde sich unter ihnen kaum biegen. Ihre Lippen waren von der 423 Farbe zarter Rosenknospen, und ihre Stimme tönte melodisch zwischen zwei Reihen der niedlichsten kleinen Perlenzähne, die man je gesehen, hindurch. Sie zeigte sie sehr oft, denn sie waren sehr hübsch. Sie lächelte immer, und ihr Lächeln ließ nicht nur ihre Zähne wundervoll sehen, sondern brachte auch zwei niedliche kleine rosige Grübchen zum Vorschein, die in jeder Wange saßen.

Sie zeigte Laura ihre Zeichnungen, die sie für bezaubernd hielt. Sie spielte ihr ein paar von ihren Walzern gewandt und glänzend vor, und Laura war noch mehr entzückt. Dann las sie ihr ein paar Gedichte in französischer und englischer Sprache vor, die sie ebenfalls selbst verfaßt hatte und verschlossen in ihrem kleinen Buch, ihrem lieben kleinen Buch aufbewahrte; es war in blauen Sammet gebunden, mit vergoldetem Schlößchen, und in Gold war der Titel »Meine Tränen« darauf gedruckt.

»Meine Tränen! – ist das nicht ein hübscher Name?« fuhr die junge Dame fort, die mit allem, was sie tat, zufrieden war und wirklich alles recht hübsch tat. Laura gab es zu. Sie hatte nie zuvor etwas dem Aehnliches gesehen, etwas so Liebliches, so Vollkommenes, so Zerbrechliches und Hübsches, das so melodisch sprach und durch ein so hübsches Zimmerchen trippelte, mit soviel hübschen Büchern, Gemälden, Blumen um sich herum. Das ehrliche und gutherzige Landmädchen vergaß über ihrer Bewunderung sogar Neid und Eifersucht.

»Wahrhaftig, Blanche,« sagte sie, »es ist alles hübsch im Zimmer, aber du bist das Hübscheste von 424 allem.« Blanche lächelte, sah in den Spiegel, stand auf, ergriff Lauras beide Hände und küßte sie, setzte sich dann ans Piano und trällerte ein kleines Liedchen heraus.

Die Intimität zwischen den jungen Damen wuchs wie Jacks Bohnenranke in einer einzigen Nacht bis in den Himmel hinein. Die großen Bedienten gingen beständig mit kleinen rosa Billetts nach Fairoaks, wo ein hübsches Küchenmädchen war, die diese Herren vielleicht vergessen ließ, was für ein unbedeutender Ort es war. Fräulein Amory schickte Noten oder einen neuen Roman oder ein Bild aus dem »Journal des Modes« an Laura, oder Myladys Empfehlungen langten zusammen mit Blumen und Früchten an, oder Fräulein Amory bat und flehte Fräulein Bell an, zu Tisch zu kommen, und die liebe Frau Pendennis auch, wenn sie sich wohl genug fühle, und auch Herrn Arthur, wenn eine so langweilige Gesellschaft nicht zu einfältig für ihn wäre; oder sie schickte auch einen Ponywagen für Frau Pendennis und wollte keine Ablehnung gelten lassen.

Weder Arthur noch Laura wollten aber auch ablehnen. Und Helene, die in der Tat etwas leidend war, war froh, daß die beiden ein Vergnügen haben sollten und pflegte sie beim Weggehen zärtlich anzublicken und in ihrem Herzen zu beten, daß Gott sie nicht eher abrufen möge, bis diese beiden Wesen, die sie am meisten in der Welt liebte, vereint seien. Wenn sie dann hinausgingen und über die Brücke wandelten, so dachte sie zurück an Sommerabende vor fünfundzwanzig Jahren, wo auch sie ihre kurze Blütezeit von Liebe und Glück gehabt hatte. Jetzt war das alles vorüber. Der Mond 425 schaute aus dem purpurnen Himmel und die Sterne blinkten dort gerade so, wie sie dereinst an den Abenden geblinkt hatten, deren sie sich nur zu wohl erinnerte. Er lag weitweg im Grabe, und die Wogen rollten zwischen ihnen beiden. Großer Gott! wie gut sie sich seines letzten Blickes beim Abschied erinnerte. Er schaute ihr über lange Jahre hinweg so traurig und deutlich entgegen wie damals.

So fanden denn Herr Pen und Fräulein Laura, daß die Gesellschaft zu Clavering Park eine ungemein angenehme Unterhaltung an Sommerabenden gewährte. Blanche gestand, daß sie für Laura schwärmte, und höchstwahrscheinlich war Herr Pen von Blanche entzückt. Seine gute Laune kehrte zurück, er lachte und schwatzte, daß Laura sich schließlich darüber wunderte. Es war nicht derselbe Pen, der in seiner Jagdjacke im Wohnzimmer zu Fairoaks gegähnt hatte und jetzt munter, schneidig, lächelnd und schön gekleidet in Lady Claverings Gesellschaftszimmer erschien. Bisweilen musizierten sie. Laura hatte einen lieblichen Kontraalt und sang mit Blanche zusammen, die den besten Unterricht auf dem ganzen Festlande genossen hatte und ganz glücklich war, die Lehrerin ihrer Freundin abgeben zu dürfen. Bisweilen nahm auch Herr Pen an diesen Konzerten Anteil, häufiger noch aber warf er zärtliche Blicke auf Fräulein Blanche, wenn sie sang. Manchmal machten sie auch einen Rundgesang, bei dem Kapitän Strongs Brustkasten gewaltige Dienste leistete und einen ungeheuren Baß ausströmte, auf den er nicht wenig stolz war.

»Guter Kerl, der Strong – nicht wahr, Fräulein 426 Bell?« pflegte Sir Francis oft zu ihr zu sagen. »Spielt Ecarté mit Lady Clavering – spielt Ihnen alles mögliche – Würfel, Pianoforte und auch Cribbage, wenn es Ihnen Spaß macht. Wie lange glauben Sie wohl, daß er nun schon bei mir ist? Er kam auf eine Woche mit seinem Reisesacke, und, bei Gott, jetzt ist er schon drei Jahre hier. Guter Kerl, nicht wahr? Weiß aber nicht, wo er einen Schilling herkriegt, weiß es bei Gott nicht, Fräulein Laura.«

Und doch bezahlte der Chevalier, wenn er an Lady Clavering Geld verlor, jedesmal, und wenn er drei Jahre bei seinem Freund lebte, so bezahlte er auch dafür – mit guter Laune, mit Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit, mit tausend kleinen Diensten, durch die er sich angenehm machte. Welcher Gentleman konnte sich einen besseren Freund wünschen, als einen Mann, der stets guter Laune, niemals verdrießlich und allzeit bereit war, jeden nur möglichen Auftrag für seinen Gönner auszuführen, ob derselbe nun darin bestand, ein Lied zu singen oder einem Advokaten entgegenzutreten oder ein Duell auszufechten oder einen Kapaun zu zerlegen. Obschon Laura und Pen für gewöhnlich zusammen nach Clavering Park gingen, so machte doch Herr Pen auch manchmal allein einen Spaziergang dorthin, von dem er ihr nichts erzählte. Er ging im Brawl fischen, der durch den Park fließt und nicht sehr weit von der Gartenmauer vorüberläuft; und durch das wunderbarste Zusammentreffen ging denn auch Fräulein Amory aus (die nach ihren Blumen gesehen hatte), und war natürlich ganz verwundert, Herrn Pen fischen zu sehen. 427

Ich möchte wissen, was für Forellen Pen fing, während die junge Dame zusah, oder ob Fräulein Blanche selbst der hübsche kleine Fisch war, der um seinen Köder spielte und den Herr Pen zu fangen versuchte.

Was Fräulein Blanche betrifft, so hatte sie ein gütiges Herz, und da sie nach ihrem eigenen Geständnis selbst im Laufe ihres kurzen Lebens und in ihren Erfahrungen viel »gelitten« hatte, – ei, so mußte sie ja wohl auch Mitleid für andere Leute mit zartbesaiteten Seelen fühlen, wie Pen, der auch gelitten hatte. Ihre Liebe für Laura und die liebe Frau Pendennis verdoppelte sich; wenn sie nicht im Parke waren, so war sie nicht eher froh, bis sie selbst bei ihnen in Fairoaks war. Sie spielte mit Laura Klavier, sie las Französisch und Deutsch mit ihr, und Herr Pen las auch Französisch und Deutsch mit ihnen zusammen. Er übersetzte gefühlvolle Balladen von Schiller und Goethe für die Damen in englische Verse, und Blanche schloß »Meine Tränen« für ihn auf und teilte ihm einige von den klagenden Ergüssen ihrer eigenen zarten Muse mit.

Es schien aus diesen Gedichten, daß das junge Geschöpf schon entsetzlich gelitten haben mußte. Sie war mit der Idee des Selbstmords vertraut. Zu wiederholten Malen sehnte sie sich nach dem Tode. Eine verwelkte Rose flößte ihr solchen Kummer ein, daß man hätte denken mögen, sie müsse vor Schmerz darüber umkommen. Es war merkwürdig, wie ein junges Geschöpf soviel gelitten haben konnte, woher sie die Gelegenheit bekommen, einen solchen Ozean an 428 Verzweiflung und Leidenschaft in sich anzusammeln (wie ihn ein weggelaufener Junge in sich hat, der zur See gehen will), wie sie endlich, nachdem sie die Ausfahrt gewagt, mit dem Leben davongekommen. Was für ein Talent zum Weinen mußte sie haben, daß sie so viele »Tränen« in ihrem Buche ausströmen konnte.

Sie waren allerdings nicht sehr salzig, diese Tränen von Fräulein Blanche, das ist wahr; aber Pen, der ihre Verse las, meinte, daß sie für eine Dame recht gut wären; er schrieb selbst einige Verse für sie. Seine Verse waren heftig und leidenschaftlich, und er schrieb nicht nur Verse, sondern – o, der Betrüger! er änderte und feilte auch ältere Poesien, die sich in seinem Besitze fanden und von ihm für ein gewisses Fräulein Emilie Fotheringay ursprünglich verfaßt waren, auf den Taufnamen Fräulein Blanche Amory passend um.



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