William M. Thackeray
Die Geschichte von Pendennis, Band 1
William M. Thackeray

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Sechzehntes Kapitel

Der erste Teil dieser Geschichte schließt

Pens Benehmen bei dieser Angelegenheit war natürlich sehr bald in der Stadt herum und ärgerte seinen Freund Doktor Portman nicht wenig, wogegen es Major Pendennis nur Spaß machte. Was die gute Frau Pendennis betraf, so war sie fast außer sich, als sie von der Rauferei und Pens unchristlichem Betragen hörte. Alle Arten von Unglück, Unbequemlichkeit, Verbrechen und Verdruß schienen aus jenem Verhältnisse hervorzugehen, in das der unglückselige Knabe sich eingelassen hatte, und sie sehnte sich mehr denn je, ihn eine Weile von Chatteris weg zu sehen – gleichviel wo, nur entfernt von dem Frauenzimmer, das ihn in sein Elend gestürzt.

Pen nahm die Sache, als seine zärtliche Mutter ihm dies vorhielt und der Doktor ihn wegen seiner Heftigkeit und wilden Absichten ärgerlich abkanzelte, au grand sérieux mit dem fröhlichen Sinne und zugleich mit der Würde der Jugend auf, sagte, daß er keinem Menschen erlauben würde, ihn ins Gesicht zu beleidigen, ohne daß er seine Ehre selbst rächen würde, und appellierte an seinen Onkel, den er fragte, ob er als Gentleman anders gehandelt haben würde, als er, der die ihm zuteil gewordene Beleidigung geahndet und der gezüchtigten Person Satisfaktion angeboten hätte.

»Vous allez trop vite, gutes Herrchen,« sagte der 273 Onkel, etwas erstaunt, denn er selbst hatte seinem Neffen einige seiner eigenen Begriffe über den Ehrenpunkt beigebracht – altmodische Begriffe, die weit mehr nach dem Schlachtfelde und der Pistole schmeckten, als unsere jetzigen nüchternen Ansichten – »zwischen Männern von Welt habe ich nichts dagegen, aber zwischen zwei Schuljungen, da ist es ein lächerliches Ding, mein lieber Junge – ein höchst lächerliches.«

»Es ist äußerst gottlos und sieht meinem Sohne gar nicht ähnlich,« sagte Frau Pendennis mit Tränen in den Augen und voller Staunen über die Hartnäckigkeit des Knaben.

Pen küßte sie und sagte sehr großartig: »Frauen, liebe Mutter, verstehen nichts von diesen Sachen – ich legte meine Angelegenheit in Fokers Hände – ich konnte nicht anders handeln.«

Major Pendennis lächelte und zuckte mit den Achseln. Die jungen Leute machen wahrhaftig große Fortschritte, dachte er. Frau Pendennis erklärte, daß Foker ein entsetzlich gottloser kleiner Bösewicht wäre; und war überzeugt, daß er ihren lieben Jungen zum Bösen verleiten würde, wenn Pen mit ihm in dasselbe Colleg ginge. »Ich habe große Lust, ihn überhaupt nicht gehen zu lassen,« sagte sie, und hätte sie sich nicht erinnert, daß der Vater des jungen Menschen ihn stets für das Kollegiat bestimmt hatte, in dem er seine eigene kurze Ausbildung genossen, so würde die zärtliche Mutter sehr wahrscheinlich ein Veto gegen seinen Besuch der Universität eingelegt haben.

Daß er aber dorthin abgehen sollte, und zwar schon den nächsten Oktober, war unter all den Autoritäten 274 bereits abgemacht, die über das Wohlergehen des Knaben zu entscheiden hatten. Foker hatte versprochen, ihn in die richtige Gesellschaft einzuführen, und Major Pendennis legte einen großen Wert auf Pens Einführung in collegialisches Leben und Treiben durch diesen bewundernswerten jungen Mann. »Herr Foker kennt die allerbesten jungen Leute auf der Universität,« sagte der Major, »und Pen wird dort durch ihn Bekanntschaften machen, die ihm für das ganze Leben von höchstem Vorteil sein werden. Der junge Marquis von Plinlimmon ist dort, der älteste Sohn des Herzogs von St. David, Lord Magnus Charters ist dort, Lord Runnymedes Sohn, ein richtiger Cousin von Herrn Foker (Lady Runnymede, meine Liebe, wie Sie sich natürlich erinnern werden, hieß Lady Agatha Milton); Lady Agnes wird ihn sicher nach Longwood einladen, ohne über seine Intimität mit ihrem Sohne beunruhigt zu sein, der allerdings ein eigentümlicher und wunderlicher Kauz, aber doch auch ein sehr kluger und liebenswürdiger junger Mann ist, dem wir wahrhaftig wegen seines bewundernswerten Benehmens in der Affäre mit der Fotheringay allen möglichen Dank schulden; ich sehe also diese Bekanntschaft Pens, aus der eine Intimität mit diesem höchst amüsanten jungen Gentleman hervorging, als eine der allerglücklichsten Fügungen an, die ihm begegnen konnten.«

Helene seufzte und nahm an, der Major müsse das am besten verstehen. Herr Foker wäre allerdings in der unglückseligen Geschichte mit Fräulein Costigan sehr gefällig gewesen, und sie wäre ihm dankbar. Aber sie könnte auch wieder dabei ein düsteres Gefühl des 275 Unglücks nicht von sich abweisen, und all diese Zänkereien und Händel und all dies weltliche Treiben machten sie um das Schicksal ihres Knaben besorgt.

Doktor Portman war entschieden der Meinung, daß Pen ins Colleg gehen solle. Er hoffte, der Junge würde fleißig studieren und außerdem einen gebührenden Anteil an der besten Gesellschaft haben. Er war der Meinung, daß Pen sich auszeichnen würde; Smirke spräche mit hoher Anerkennung von seinen Fähigkeiten; er, der Doktor selbst, hätte ihn reden hören und gedacht, er machte es bemerkenswert gut. Daß er von Chatteris wegkommen müßte, war auf jeden Fall ein Hauptpunkt, und Pen, der durch die verschiedenen Zänkereien und Aergernisse, die um ihn herum entstanden waren, von seinem Privatkummer etwas abgelenkt war, sagte trübsinnig, er würde gehorchen.

Die Assisen kamen, die Wettrennen und die Vergnügungen zu Chatteris und als Folge davon das Zusammenströmen von Menschen während eines Teils der Monate August und September; Fräulein Fotheringay spielte noch immer und nahm während dieser Zeit von dem Publikum des Theaters zu Chatteris Abschied. Niemand schien sich um ihre Gegenwart oder ihren angekündigten Abgang sehr zu kümmern, ausgenommen die Personen, die wir erwähnt haben; auch konnten die Herrschaften der Umgegend, die auch Häuser in London hatten und die Fotheringay wahrscheinlich in der Hauptstadt ungeheuer bewunderten, woran sie sich dort gewöhnt hatten, weil die Mode ihr günstig gesinnt war, nicht das geringste Bemerkenswerte an der Schauspielerin finden, die an der kleinen 276 Bühne zu Chatteris spielte. Manches Genie und mancher Quacksalber hat darin vor und nach Fräulein Costigans Zeiten ein ähnliches Schicksal gehabt. Dieses wackere Frauenzimmer ertrug indessen die öffentliche Vernachlässigung und alle anderen Unannehmlichkeiten und Widerwärtigkeiten, die ihr etwa zustießen, mit ihrem gewöhnlichen Gleichmut, aß, trank, spielte, schlief mit der Regelmäßigkeit und dem Behagen, die bei Leuten ihres Temperaments üblich sind. Wieviel Kummer, Sorge und andere schädliche Aufregungen hält einem nicht eine gesunde Dummheit und lustige Dickhäutigkeit vom Leibe! Ich will damit nicht etwa sagen, daß Tugend nicht Tugend ist, weil sie nie versucht wurde, vom rechten Wege abzugehen, sondern nur, daß die Dummheit eine viel schönere Gottesgabe ist, als wir meinen, und daß manche Leute sehr glücklich sind, die die Natur mit einem guten Teil von diesem großen Gegenmittel gegen allen Schmerz bedacht hat.

Pen pflegte während dieser Saison im Theater zu Chatteris traurig aus- und einzugehen und zwar ziemlich viel, wie es ihm grade einfiel. Sein Treiben quälte seine Mutter nicht wenig, und ihre Angst würde sie oft zum Dazwischentreten veranlaßt haben, wenn nicht der Major sie fortwährend davon abgehalten und zur selben Zeit wieder ermutigt hätte; denn der schlaue Weltmann glaubte eine glückliche Wendung in Pens Krankheit wahrzunehmen. Es war nämlich der heftige Erguß von Versen, zusammen mit anderen Symptomen, die Pens Vormund und Arzt Beruhigung gewährten. Man konnte ihn in den verwachsenen Laubgängen von Versen übersprudeln oder diese zwischen seinen Zähnen 277 murmeln hören, wenn er abends mit seinen Hausgenossen zusammensaß. Als der Major eines Tages in Pens Abwesenheit im Hause umherstöberte, fand er ein großes Buch voll von Versen in des Knaben Arbeitszimmer. Da waren englische, aber auch lateinische; in darunter gesetzten Noten waren, wie in gelehrten Werken üblich, Zitate aus Klassikern gegeben. Er kann nicht sehr elend sein, dachte weise der Philosoph von Pall Mall, und er machte (vielleicht nicht ohne ein geheimes Gefühl der Enttäuschung bei ihr, denn sie liebte, wie andere sanfte Frauen, Romane) Pens Mutter darauf aufmerksam, daß der junge Herr während der letzten vierzehn Tage abends tüchtig hungrig zu Tische gekommen wäre und auch am Frühstückstische morgens einen recht anständigen Appetit gezeigt hätte. »Gott, ich wünschte, ich könnte es so,« sagte der Major, indem er trübselig an seine Verdauungspillen dachte. »Der Junge fängt auch an zu schlafen, verlassen Sie sich darauf.« Es war grausam, aber wahr.

Da er keine andere Seele hatte, der er sich anvertrauen konnte, so verdoppelte sich des Knaben Freundschaft für den Vikar, oder, besser gesagt, er wurde nie müde, Smirke zum Zuhörer seiner Herzensergüsse zu machen. Was ist ein Liebender ohne einen Vertrauten? Pen brauchte Herrn Smirke wie Corydon den Ulmenbaum, um seiner Geliebten Namen darin einzuschneiden. Er ließ ihn von dem Namen der schönen Amaryllis wiedertönen. Wenn jemand mit seinem Pfeifenspiel aufgehört hat, kümmert er sich nicht mehr viel um die Pfeife, aber Pen dachte, er fühle eine große Freundschaft für Smirke, weil er seine Liebe und seinen 278 Kummer in seines Erziehers Ohr ausseufzen konnte, und Smirke hatte seine eigenen Gründe, warum er immer bereit war, dem Ruf des Knaben Folge zu leisten.

Der arme Vikar war natürlich sehr unglücklich, wenn er an die geplante Abreise seines Zöglings dachte. Wenn Arthur fortginge, würde Smirkes Beschäftigung und sein Glück ebenfalls dahin sein. Welchen Vorwand konnte er für einen täglichen Besuch in Fairoaks finden, um das freundliche Wort oder den gütigen Blick von der Dame dort zu empfinden, die dem Vikar ebenso notwendige Bedürfnisse waren, als das frugale Essen, das Frau Frisby ihm täglich vorsetzte? Wenn Arthur fort war, so konnte er nur noch wie ein anderer Bekannter Besuche machen; die kleine Laura nahm ihn für das Abhören des Katechismus nicht mehr als einmal wöchentlich in Anspruch; er hatte sich dem Efeu gleich um Fairoaks gerankt, er litt bei dem Gedanken, den Ort, an dem er angewurzelt, verlieren zu müssen. Sollte er sich gegen die Witwe aussprechen und vor ihr auf die Knie fallen? Er dachte nach, ob in ihrem Wesen irgendein Anzeichen läge, das seinen Hoffnungen schmeichelte. Sie hatte seine Predigt vor drei Wochen gelobt, sie hatte ihm außerordentlich freundlich für die Melone gedankt, die er ihr zu einem kleinen Mittagsmahle geschenkt, das sie gegeben; sie hatte ihm ihre ewige Dankbarkeit für seine Güte gegen Arthur versichert, und als er erklärt hatte, daß seine Liebe und Zuneigung zu diesem lieben Knaben ohne Grenzen wären, hatte sie in schwärmerischer Weise geantwortet, die ihre eigene tiefe Dankbarkeit und 279 Hochachtung vor allen Freunden ihres Sohnes ausdrückte. – Sollte er mit der Sprache herausrücken? Oder sollte er noch warten? Wenn er sprach und sie ihn ausschlug, so war es ihm ein entsetzlicher Gedanke, daß die Tür von Fairoaks ihm für ewig verschlossen sein würde; und hinter jener Tür lag ja für Smirke die ganze Welt.

Also, freundlicher Leser, wir sehen, daß jedermann in dieser Welt seinen eigenen Kummer und seine eigenen Angelegenheiten hat, durch die er mehr niedergeworfen oder beschäftigt wird, als durch die Angelegenheiten oder Kümmernisse irgendeiner anderen Person. Während Frau Pendennis sich beruhigt, daß sie ihren Sohn verlieren werde und ihn nicht mehr so ängstlich behüten könne, als er noch in Mutters Nest war, von wo aus er jetzt seinen Flug in die große Welt unternehmen soll; während des Majors große Seele sich abnagt und härmt, innerlich gequält von dem Gedanken, was für vornehme Gesellschaften jetzt in London gegeben werden mögen und wie er ohne diese verfluchten Geschichten, die ihn hier in dem erbärmlichen kleinen Loch auf dem Lande festhalten, jetzt in den Blicken von Herzögen und Herzoginnen sich sonnen könnte; während Pen zwischen seiner Leidenschaft und einem angenehmeren Gefühle, das ihm allerdings noch unbewußt ist, aber doch schon beträchtlich mit ins Gewicht fällt, nämlich seiner Sehnsucht, die Welt zu sehen, hin- und hergeworfen wird – hat Herr Smirke auch seinen privaten Kummer, der an seinem Bette lauert und hinter ihm auf dem Pony sitzt, und er ist nicht glücklicher, als wir anderen. Wie einsam stehen 280 wir in der Welt! Wie selbstsüchtig und verschlossen ist jeder einzige! Du und dein Weib, ihr habt vierzig Jahre lang Seite an Seite geschlafen und bildet euch ein, ein Herz und eine Seele zu sein. – Pah, schreit sie etwa, wenn du die Gicht hast, oder kannst du nicht schlafen, wenn sie Zahnweh hat? Deine harmlose Tochter, die ganz Unschuld und nur ihre Mutter und ihr Klavierspiel zu lieben scheint, denkt an nichts von beidem, sondern an den jungen Leutnant, mit dem sie beim letzten Ball tanzte; dein ehrlicher offener Knabe, der eben aus der Schule zurückgekehrt ist, spekuliert heimlich auf das Geld, das du ihm geben wirst, und denkt an die Schulden, die er beim Konditor gemacht hat. Die alte Großmutter, die murmelnd in ihrem Winkel sitzt und in wenigen Monaten in eine andere Welt übersiedeln wird, hat auch eine bestimmte Sache oder Sorge, die nur sie kümmert, und ihr eigenes Herz; wahrscheinlich denkt sie fünfzig Jahre zurück, an jene Nacht, wo sie solches Aufsehen machte und mit dem Kapitän den Kotillon tanzte, ehe dein Vater um sie anhielt, oder auch, was für ein einfältiges kleines überschätztes Geschöpf doch deine Frau ist und wie abgeschmackt vernarrt du in sie bist! Und deine Frau – o philosophischer Leser, antworte und sage es, – erzählst du ihr alles? Ach, mein Herr, etwas ganz Verschiedenes wogt unter Ihrem und meinem Hute hin und her – alle Dinge der Natur sind verschieden für einen jeden; das Weib, das wir ansehen, hat nicht dieselben Gesichtszüge für jeden, das Gericht, das wir essen, hat nicht denselben Geschmack für den einen wie für den anderen; Sie und ich sind nichts als ein paar 281 unendliche Einsamkeiten mit einigen Nebeneilanden, die sich mehr oder weniger nahe bei uns befinden. – Wir wollen aber zu dem einsamen Smirke zurückkehren.

Smirke hatte eine einzige Vertraute seiner Leidenschaft – das allerunverständigste Frauenzimmer, das sich Frau Frisby nannte. Wie sie Frau Frisby wurde, weiß niemand; sie hatte als Fräulein Frisby Clavering verlassen, um in London das Putzmachen zu erlernen. Sie behauptete, sich in Paris, während ihres Aufenthalts dort, diese Würde erworben zu haben. Aber wie hätte der französische König, selbst beim besten Willen, ihr einen solchen Titel verleihen können? Wir wollen indessen diesem Geheimnis nicht weiter nachforschen. Genug, sie ging von Hause als dickbäckiges, frisches, junges Mädel weg und kehrte ziemlich verlebt, mit einem Madonnenscheitel und melancholischem Gesicht wieder; sie kaufte das Geschäft der verstorbenen Frau Harbottle für ein Butterbrot, nahm ihre alte Mutter zu sich ins Haus, war sehr gut zu den Armen, ging fleißig zur Kirche und hatte den allerbesten Charakter. Aber niemand in ganz Clavering, selbst nicht Frau Portman, las so viele Romane, als Frau Frisby. Sie hatte vollauf Zeit zu diesem Vergnügen, denn in der Tat beschäftigten sie sehr wenig Leute außer den Insassen der Pfarrei und des Gutes Fairoaks; und durch ein fortwährendes Lesen solcher Geschichten (die in den Tagen, von denen wir schreiben, keineswegs so moralisch oder erbaulich waren wie heutzutage) war sie so lächerlich empfindsam geworden, daß das Leben in ihren Augen nichts als eine ungeheure Liebesgeschichte war und sie niemals zwei Leute 282 zusammensehen konnte, ohne sich einzubilden, eins wäre für das andere gestorben.

Eines Tages nach Frau Pendennis' Besuch bei dem Vikar, den wir vor langer Zeit erwähnten, setzte es sich Frau Frisby in den Kopf, daß Herr Smirke in die Witwe verliebt wäre, und sie tat alles, was in ihren Kräften stand, um diese Leidenschaft auf beiden Seiten anzufachen. Frau Pendennis sah sie allerdings nur sehr selten, ausgenommen auf der Straße oder in ihrem Kirchenstuhle. Die Dame bedurfte der Putzmacherin sehr selten, sie machte sich ihre Kleider und Hauben meist selbst; aber bei den seltenen Gelegenheiten, wo Frau Frisby entweder Besuche von Frau Pendennis empfing oder in Fairoaks ihre Aufwartung machte, unterließ sie nie, die Witwe mit Lobreden auf den Vikar zu unterhalten, indem sie auseinandersetzte, was für ein engelsguter Mann er doch wäre, wie sanft, wie fleißig, wie einsam für sich lebend, und sie pflegte sich darüber zu wundern, daß sich keine Frau seiner erbarme.

Helene lachte über diese sentimentalen Bemerkungen und wunderte sich ihrerseits darüber, daß Frau Frisby selbst kein Mitgefühl mit ihrem Mieter empfände und ihn nicht tröstete. Frau Frisby schüttelte ihre Madonnenstirn. »Mong cure a boco souffare« sagte sie und legte die Hand auf den Teil, den sie als ihr Herz bezeichnete. »Il est more en Espang, Madame,« sagte sie mit einem Seufzer. Sie war stolz auf ihre Vertrautheit mit der französischen Sprache und sprach sie mit mehr Geläufigkeit als Richtigkeit. Frau Pendennis lag nichts daran, in die Geheimnisse dieses 283 verwundeten Herzens einzudringen; außer gegen ihre wenigen näheren Bekannten war sie eine zurückhaltende und vielleicht sogar eine sehr stolze Frau; sie sah den Erzieher ihres Sohnes nur als einen Diener dieses jungen Prinzen an, den man als einen Geistlichen allerdings mit Respekt behandeln, aber als einen vom Hause Pendennis Abhängigen stets in ehrerbietiger Entfernung von sich halten müßte. Auch waren ihr Frau Frisbys beständige Anspielungen auf den Vikar durchaus nicht besonders angenehm. Es erforderte wahrlich einen sehr geistreichen sentimentalen Blick, um herauszufinden, daß die Witwe heimlich ein Auge auf Herrn Smirke geworfen hätte, welch verderblichen Irrtum Frau Frisby aber nichtsdestoweniger beibehielt.

Ihr Mieter war dagegen viel geneigter, über diesen Gegenstand seiner sanftherzigen Wirtin Rede zu stehen. Jedesmal wenn sie den Vikar bei Frau Pendennis gelobt hatte, kam sie von der letzteren mit der Nachricht heim, die Witwe hätte ihn auch gelobt. »Etre soul an monde est bien onneeyong,« pflegte sie mit einem Blicke auf ein gedrucktes Bild zu sagen, das ihr Zimmer schmückte und einen französischen Karabinier in einem grünen Rock und einem Messingküraß darstellte. Verlassen Sie sich darauf, wenn Master Pendennis ins Colleg geht, so wird seine Ma sich sehr einsam fühlen. Sie ist noch ganz jung. Man würde sie kaum für fünfundzwanzig halten. »Monsieur le Cury, song cure est touchy - j'ong suis sure - Je conny cela biang - Ally Monsieur Smirke!«

Er errötete sanft; er seufzte; er hoffte; er 284 fürchtete; er zweifelte; er gab sich manchmal der wonnevollen Idee hin – sein Vergnügen war, in Frau Frisbys Zimmer zu sitzen und über besagten Gegenstand zu reden, wobei, da der größte Teil der Unterhaltung von der Putzmacherin auf französisch geführt wurde und ihre alte Mutter auch noch taub war, diese betagte alte Frau (die früher Haushälterin, Frau und Witwe eines Haushofmeisters in Clavering gewesen war) kaum eine Silbe von ihrem Geschwätz verstehen konnte.

Als Major Pendennis dem Erzieher seines Neffen die Ankündigung machte, daß der junge Mensch im Oktober ins Colleg gehen sollte und also sein Zögling Herrn Smirkes wertvoller Dienstleistungen nicht mehr bedürfe, für welche Leistungen der Major, der so großartig wie ein Lord sprach, sich als außerordentlich dankbar bekannte und Herrn Smirke bat, über seinen Einfluß in irgendeiner Weise verfügen zu wollen, – da fühlte der Vikar, daß der kritische Augenblick für ihn gekommen sei, und er wurde von jenen schweren Qualen gefoltert und gemartert, die eine derartige Gelegenheit stets mit sich bringt.

Und nun, wo Arthur fortgehen sollte, war Helenes Herz etwas weicher gegen den Vikar gestimmt, vor dem sie sich bisher zurückgezogen hatte, weil sie vielleicht seine Absichten erriet. Sie dachte daran, wie ungemein höflich Herr Smirke gewesen war, wie er ihr Kommissionen besorgt hatte, wie er ihr Bücher brachte und Noten abschrieb, wie er der kleinen Laura so manche Dinge gelehrt und ihr soviel freundliche Geschenke gemacht hatte. Ihr Herz schlug wegen ihrer Undankbarkeit gegen den Vikar, schlug so sehr, daß sie eines 285 Nachmittags, als er mit Pen aus dem Arbeitszimmer hinunterkam und vor seinem Fortgehen in dem Vorsaal herumschlenderte, herauskam, ihm mit leicht errötendem Gesicht die Hand reichte und ihn bat, in ihr Empfangszimmer zu kommen, wo sie ihn, wie sie sagte, so lange nicht gesehen hätte. Und da es ein recht gutes Mittagessen an jenem Tage gab, so lud sie Herrn Smirke ein, daran teilzunehmen, und wir können sicher sein, daß er nur zu glücklich war, eine so wundervolle Einladung anzunehmen.

Helene war während des Essens außerordentlich freundlich und liebenswürdig zu Herrn Smirke; sie verdoppelte ihre Aufmerksamkeiten, vielleicht weil Major Pendennis sich gegen den Erzieher seines Neffen sehr von oben herab und sehr reserviert benahm. Als Pendennis Smirke aufforderte, Wein zu trinken, redete er ihn in einer so herablassenden Weise an, als ob er ein Fürst wäre, der mit einem kleinen Vasallen spräche, so daß selbst Pen darüber lachte, obwohl er seinerseits auch eine solche Anlage besaß, sich ebenso eingebildet zu benehmen wie die meisten jungen Leute.

Aber Smirke kümmerte sich nicht um die impertinente Art des Majors, so lange seine Wirtin freundlich zu ihm war; er verbrachte eine köstliche Zeit an ihrer Seite am Tische und strengte alle seine gesellschaftlichen Talente an, um ihr zu gefallen, indem er sowohl in geistlichem als auch weltlichem Tone mit ihr sprach, bald über den Bazar von weiblichen Handarbeiten, bald über die große Versammlung der Missionsfreunde, bald über den letzten neuen Roman und über die ausgezeichnete Predigt des Bischofs, bald über die 286 vornehmen Gesellschaften in London, – den Bericht hatte er in der Zeitung gelesen – kurz, er vernachlässigte keinen Kunstgriff, durch den ein junger Geistlicher, der sowohl heitere als ernste Gaben, Geschmack für Vornehmheit, eine untadelige Aufführung und ein empfindliches Herz besitzt, es versuchen wird, sich der Person, an die ihn seine Neigung fesselt, angenehm zu machen.

Major Pendennis kam sehr bald, nachdem seine Schwägerin und die kleine Laura hinausgegangen waren, gähnend aus dem Speisezimmer.

Nun war Arthur nicht wenig stolz auf das Privileg, die Schlüssel zum Keller in seiner Verwahrung zu haben, und weil er daran dachte, daß wahrscheinlich nur noch sehr wenige Diners stattfinden würden, an denen er und sein teurer Freund Smirke teilnehmen könnten, so hatte er einen reichlichen Vorrat von Claret für den Durst der Tischgesellschaft heraufbefördert; und als die älteren Personen mit Klein-Laura ihn verließen, begann er mit dem Vikar dem Wein recht tapfer zuzusprechen.

Eine Flasche gab bald den Geist auf, eine andere hatte sich schon halb verblutet, ehe die beiden Zechbrüder viel mehr als eine halbe Stunde zusammengewesen waren. Pen hatte mit hohlem Lachen und dumpfer Stimme ein großes Glas auf die Falschheit der Weiber getrunken und sardonisch bemerkt, daß die Flasche auf jeden Fall eine Geliebte wäre, die niemanden täuschte und sicher ihren Mann stets willkommen hieße. Smirke sagte sanft, daß er seinerseits wohl Frauen kenne, die ganz Wahrheit und Zärtlichkeit wären, und 287 indem er seine Augen nach der Decke emporrichtete und einen tiefen Seufzer tat, als ob er irgendeinen unaussprechlich teuren Namen anrufen wollte, hob er sein Glas in die Höhe und trank es aus, und das rosige Naß begann seinen Widerschein auf seinem Gesichte auszustrahlen.

Pen las ihm dann in aller Eile ein paar Verse vor, die er diesen Morgen gemacht hatte, in denen er sich selbst darüber belehrte, daß ein Weib, das seine Liebe getäuscht, nicht würdig sein könnte, sie zu gewinnen, daß er im Erwachen aus seinem tollen Liebesfieber begriffen wäre, sie natürlich unter diesen Umständen verlassen und sich von einer herzlosen Betrügerin trennen würde, damit ein Name, der einst im Lande wohl geklungen, wieder darin gehört werden könnte, und daß, obwohl er nie wieder der glückliche und sorglose Knabe sein könnte, der er noch vor wenigen Monaten war, und obwohl sein Herz nie wieder zu werden vermöchte, was es gewesen, ehe die Leidenschaft es erfüllt und der Gram es ihm beinahe gebrochen, und obwohl ihm für seine Person der Tod ebenso willkommen wie das Leben wäre, und er nicht zögern würde, sich von dem letzteren zu trennen, wenn ihn nicht die Liebe zu einem gütigen Wesen davon abhielt, dessen Glück mit dem seinen verbunden wäre, – daß er doch zu zeigen hoffe, er wäre ein Mann, würdig seines Stammes, und die Falsche würde eines Tages zur Erkenntnis kommen, wie groß der Schatz und wie edel das Herz wäre, das sie zurückgestoßen.

Pen also, der ein erregbarer Mensch war, schleuderte diese Verse in seiner vollen wohltönenden Stimme 288 hervor, die vor Bewegtheit zitterte, als unser junger Poet sprach. Er errötete tief, als er in diesem aufgeregten Zustande war, und seine großen, ehrlichen, grauen Augen waren ebenfalls Beweise eines offenen, herzlichen und männlichen Gefühls, daß Fräulein Costigan, wenn sie überhaupt ein Herz besaß, sich unbedingt davon gerührt fühlen mußte; aber höchstwahrscheinlich war sie, wie er meinte, der Zuneigung ganz und gar unwürdig, die er an sie verschwendet hatte.

Der sentimentale Smirke wurde von derselben Bewegtheit erfaßt, die seinen jungen Freund entflammt hatte. Er ergriff Pens Hand über den Desserttellern und Weingläsern. Er sagte, die Verse wären herrlich, Pen wäre ein Dichter, ein großer Dichter, und würde wahrscheinlich, wenn der Himmel es wollte, eine große Laufbahn in der Welt haben. »Gehen Sie hin und seien Sie glücklich, teurer Arthur,« rief er aus, »die Wunden, an denen Sie jetzt leiden, sind nur vorübergehend, und gerade der Gram, den Sie jetzt ertragen, wird Ihr Herz läutern und stärken. Ich habe immer die höchsten und glänzendsten Dinge von Ihnen prophezeit, sobald Sie nur noch einige Fehler und Charakterschwachheiten ablegen, die Ihnen jetzt noch anhängen. Aber Sie werden diese überwinden, mein lieber Junge, Sie werden sie überwinden; und wenn Sie einst berühmt und gefeiert sein werden, was nach meiner Ueberzeugung sicher geschehen wird, werden Sie sich dann auch ein bißchen Ihres alten Lehrers und der glücklichen einstigen Tage Ihrer Jugend erinnern?«

Pen schwor es mit nochmaligem Händeschütteln 289 über die Gläser und Aprikosen weg. »Ich werde es nie vergessen, Smirke, wie gütig Sie zu mir gewesen sind,« sagte er. »Sie sind mein bester Freund.«

»Bin ich das wirklich, Arthur?« sagte Smirke und sah ihn durch seine Brillengläser groß an, und sein Herz begann so zu schlagen, daß er meinte, Pen müßte es fast klopfen hören.

»Mein bester Freund, mein Freund für ewig,« sagte Pen. »Gott segne dich, alter Knabe,« und damit trank er das letzte Glas der zweiten Flasche des famosen Weines aus, den sein Vater niedergelegt, den sein Onkel gekauft und den Lord Levant eingeführt hatte, und der nun wie ein gleichgültiger Sklave seinem gegenwärtigen Besitzer Vergnügen bereitete und seinem jungen Herrn Erquickung gab.

»Wir wollen noch eine Flasche trinken, alter Knabe,« sagte Pen, »Donnerwetter, das wollen wir. Hurra! – Claret wie Wasser getrunken. Mein Onkel erzählte mir, daß er Sheridan bei Brookes fünf Flaschen und dazu noch eine Flasche Maras trinken sah. Dies hier ist einer der feinsten Weine Englands, sagt er. So ist's auch, weiß Gott! Keiner kommt ihm gleich. Nunc vino pellite curas - cras ingens iterabimus aeq- fülle dein Glas, alter Smirke, ein Oxhoft davon wird dir nichts anhaben.« Und Herr Pen fing an, das Trinklied aus dem »Freischütz« anzustimmen. Die Speisezimmertüren standen offen, und seine Mutter wandelte langsam draußen auf dem Rasen, während die kleine Laura sich die untergehende Sonne ansah. Die wohlklingenden frischen Töne des Knaben drangen zu 290 der Witwe hin. Es erfreute ihr gütiges Herz, ihn singen zu hören.

»Sie – Sie trinken zu viel Wein, Arthur,« sagte Herr Smirke sanft, »Sie regen sich zu sehr auf.«

»Nein,« sagte Pen, »Frauen machen Kopfschmerzen, aber dieser hier nicht. Fülle dein Glas, alter Junge, und laß uns trinken. Höre, Smirke, mein Junge, laß uns auf sie trinken, deine ›sie‹, meine ich, nicht meine, um die ich mich, das schwöre ich, nicht mehr bekümmere, nein, keinen Pfifferling mehr, nein, nicht die Spur, nein, nicht so viel wie um ein Glas Wein. Erzähle mir was von der Dame, Smirke; ich habe dich oft nach ihr seufzen sehen.«

»Oh!« sagte Smirke, und sein schönes Cambriavorhemd und die glänzenden Knöpfchen hoben sich von der Erregung, die seinen sanften und leidenden Busen durchwogte.

»Oh, was für ein Seufzer!« schrie Pen, der sehr lustig wurde; »fülle ein, mein Junge, und trinke auf sie; du kannst einen Toast nicht zurückweisen, kein Gentleman tut das. Hier, auf ihre Gesundheit und auf dein Glück, und möge sie bald Frau Smirke sein.«

»Sagen Sie wirklich so?« sagte Smirke, durch und durch zitternd. »Sagen Sie ganz wirklich so, Arthur?«

»Ich tue es, natürlich tue ich es. Heraus damit. Hier, auf die Gesundheit und das Glück Frau Smirkes: Hip, Hip, Hurra!«

Smirke stürzte konvulsivisch sein Glas Wein herunter, während Pen seins über dem Kopf schwenkte und sein Hurra so laut schrie, daß seine Mutter und Laura draußen auf dem Rasen sich wunderten, und sein 291 Onkel, der im Gesellschaftszimmer über seiner Zeitung einnickte, aufschreckte und zu sich selbst sagte: »Der Junge trinkt zuviel!« Smirke setzte sein Glas nieder.

»Ich nehme das Omen an,« stotterte der rotgewordene Vikar hervor. »O, mein teurer Arthur, Sie – Sie kennen sie –«

»Was – Mira Portman? Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen; sie hat zwar eine verteufelt dicke Taille, aber ich wünsche Ihnen doch viel Vergnügen, alter Junge.«

»O, Arthur!« stöhnte der Vikar abermals und schüttelte sprachlos das Haupt.

»Bitte um Verzeihung – bedauere, wenn ich Sie beleidigt haben sollte – aber sie hat wahrhaftig eine dicke Taille, wissen Sie – eine teuflisch dicke Taille,« fuhr Pen fort. Die dritte Flasche begann augenscheinlich auf den jungen Gentleman einzuwirken.

»Es ist nicht Fräulein Portman,« sagte der andere mit einer Stimme, als ob er im Todeskampf läge.

»Ist es jemand in Chatteris oder in Clapham? Irgend jemand von hier? Nein – es ist doch nicht etwa die alte Pybus? Es kann doch auch nicht Fräulein Rolt in der Faktorei sein – sie ist ja erst vierzehn.«

»Es ist jemand, der ziemlich viel älter ist als ich, Pen,« schrie der Vikar, sah zu seinem Freunde auf und schlug dann schuldbewußt seine Augen auf seinen Teller nieder.

Pen brach in ein Gelächter aus. »Es ist Frau Frisby, Donnerwetter, es ist Frau Frisby. Madame Frib, bei den unsterblichen Göttern!« 292

Der Vikar konnte nicht länger an sich halten. »O Pen,« rief er aus, »wie können Sie denken, daß irgendeines von diesen – von diesen mehr als gewöhnlichen Wesen, die Sie erwähnt haben – irgendeinen Einfluß auf dies Herz haben konnte, wo ich doch tagtäglich die Vollkommenheit vor Augen zu haben gewohnt war! Ich mag von Sinnen, ich mag wahnsinnig ehrgeizig, mag unverschämt sein – aber zwei Jahre lang ist mein Herz nur von einem einzigen Bilde voll gewesen und hat keine andere Göttin gekannt. Habe ich Sie nicht wie einen Sohn geliebt, Arthur? – sagen Sie selbst, hat Charles Smirke Sie nicht wie einen Sohn geliebt?«

»Ja, alter Junge, Sie sind sehr gut zu mir gewesen,« sagte Pen, dessen Zuneigung zu seinem Lehrer jedoch nicht im entferntesten kindlicher Art war.

»Meine Mittel,« platzte Smirke heraus, »sind, ich gestehe es zu, gegenwärtig etwas beschränkt, und meine Mutter ist nicht so freigebig, als zu wünschen wäre, aber was sie besitzt, wird bei ihrem Tode mir gehören. Würde sie hören, daß ich eine Dame von Stande und Vermögen heiratete, so würde meine Mutter schon freigebig sein, sicherlich würde sie freigebig sein. Alles was ich habe oder später ererben werde – und das sind zum allermindesten fünfhundert Pfund jährlich – würde ich ihr hinterlassen, und – und – und Ihnen – das heißt –«

»Was zum Teufel meinen Sie denn eigentlich? Und was habe ich mit Ihrem Gelde zu tun?« schrie Pen in höchstem Erstaunen.

»Arthur, Arthur!« rief der andere ganz außer sich; 293 »Sie sagen, ich sei Ihr teuerster Freund, lassen Sie mich Ihnen noch mehr sein! O, können Sie denn nicht begreifen, daß das engelsgleiche Wesen, das ich liebe – die reinste, die beste der Frauen – keine andere ist als Ihr lieber, lieber Engel von einer Mutter.«

»Meine Mutter!« schrie Arthur, indem er aufsprang und augenblicklich nüchtern war. »Pah! Da schlag der Teufel drein, Smirke, Sie müssen verrückt sein – sie ist sieben oder acht Jahre älter als Sie.«

»Finden Sie darin ein Hindernis?« schrie Smirke kläglich und spielte dabei natürlich auf den ebenfalls älteren Gegenstand von Pens eigener Leidenschaft an.

Der junge Mensch fühlte den Hieb und wurde ganz rot. »Die Fälle sind sich nicht gleich, Smirke,« sagte er, »und diese Anspielung konnte man sich ersparen. Ein Mann mag seinen eigenen Rang vergessen und irgendein beliebiges Weib dazu erheben, aber erlauben Sie mir zu sagen, daß unsere Stellungen im Leben sehr verschieden sind.«

»Wie meinen Sie das, lieber Arthur?« unterbrach ihn der Vikar traurig und duckte sich zusammen, weil er fühlte, daß nun sein Urteilsspruch herauskam.

»Meinen?« sagte Arthur. »Ich meine, was ich sage. Mein Hauslehrer, verstehen Sie wohl, hat kein Recht, einer Dame von der Lebensstellung meiner Mutter einen Heiratsantrag zu machen. Es ist dies ein Vertrauensbruch! Ich sage, es ist eine große Freiheit, die Sie sich herausnehmen, Smirke – es ist eine – Wahrhaftig!«

»O Arthur!« begann der Vikar mit gefalteten 294 Händen und verstörtem Gesicht zu schreien; aber Arthur stampfte abermals mit dem Fuße auf und begann an der Klingel zu ziehen. »Wir wollen keinen Wein mehr bringen lassen. Wir werden Kaffee trinken, bitte,« sagte er mit majestätischer Miene, und als der alte Kellermeister auf das Klingelzeichen eintrat, hieß ihn Arthur den Kaffee servieren.

John sagte, er habe ihn soeben ins Gesellschaftszimmer gebracht, wo sein Onkel nach Master Arthurs Gesellschaft verlange, und dabei sah der alte Mann die drei geleerten Claretflaschen verwundert an. Smirke sagte, er glaube, er täte – täte besser daran, nicht ins Gesellschaftszimmer zu gehen, worauf Arthur hochmütig erwiderte: »Wie es Ihnen beliebt,« und Herrn Smirkes Pferd vorzuführen befahl. Der arme Bursche sagte, er wüßte den Weg zum Stalle und wollte seinen Pony selbst holen, ging in den Vorsaal, zog traurig seinen Rock an und setzte sich den Hut auf, Pen folgte ihm unbedeckten Hauptes. Helene ging noch immer beim Sonnenuntergang auf dem weichen Rasen auf und ab, und der Vikar zog seinen Hut, verbeugte sich zum Lebewohl, ging nach der Tür, die zu dem Stall führte, und sah die beiden nicht mehr. Smirke kannte den Weg zum Stalle, wie er sagte, gut genug. Er knöpfte und knöpfte an den Sattelgurten herum, die Pen endlich für ihn festschnallte, den Zügel anlegte und den Pony in den Hof führte. Der Knabe war gerührt durch den Kummer, der sich auf des anderen Gesicht ausprägte, als er aufstieg. Pen streckte ihm die Hand entgegen, und Smirke drückte sie ihm schweigend.

»Hören Sie, Smirke,« sagte er mit bewegter 295 Stimme, »vergeben Sie mir, wenn ich irgendwie hart zu Ihnen gesprochen – denn Sie sind immer sehr, sehr gütig zu mir gewesen. Aber es kann ja nicht sein, alter Junge, es kann ja nicht sein. Seien Sie ein Mann! Gott segne Sie!«

Smirke nickte schweigend mit dem Kopfe und ritt aus dem Gittertor des Gutes; Pen sah ihm ein paar Minuten nach, bis er unten am Wege verschwand und das Klappern der Pferdehufe nach und nach aufhörte. Helene wandelte auch jetzt noch immer auf dem Rasen herum und wartete auf die Rückkehr des Knaben; sie strich ihm das Haar aus der Stirn und küßte sie zärtlich. Sie war besorgt, daß er zuviel Wein getrunken haben könnte. Warum Herr Smirke fortgegangen wäre, ohne den Kaffee zu nehmen?

Er sah sie mit Augen an, die von froher Laune strahlten; »Smirke ist nicht wohl,« sagte er lachend. Lange Zeit hatte Helene den Knaben nicht so lustig gesehen. Er legte seinen Arm um ihre Taille und ging mit ihr den Weg vor dem Hause auf und ab. Laura fing an, an dem Fenster des Gesellschaftszimmers zu trommeln, zu winken und zu lachen. »Kommt doch herein, ihr beiden,« rief Master Pendennis, »euer Kaffee wird ja ganz kalt.«

Als Laura zu Bett gegangen war, platzte Pen, der ganz voll von seinem Geheimnis war, damit heraus und beschrieb die traurige, aber doch auch spaßhafte Szene, die sich zugetragen. Helene hörte es mit fortwährendem Erröten, welches ihrem bleichen Gesicht sehr gut stand, und mit einer Verlegenheit, an der sich Pen boshafterweise ergötzte. 296

»Verdammt, die Unverschämtheit dieses Kerls!« sagte Major Pendennis und ergriff seine Kerze; »bis wie weit wird sich die Eingebildetheit dieser Leute noch versteigen?« Pen und seine Mutter hatten an diesem Abend noch ein langes Gespräch, voll von Liebe, Vertrauen und Lachen, und der Knabe schlief diese Nacht gesünder und erwachte danach mit leichterem Herzen, als es seit vielen Monaten geschehen war.

Ehe der große Herr Dolphin Chatteris verließ, schloß er nicht nur ein vorteilhaftes Engagement mit Fräulein Fotheringay ab, sondern er ließ ihr freigebigerweise auch eine Summe Geldes zurück, um irgend welche Schulden zu bezahlen, die die kleine Familie während ihres Aufenthaltes an diesem Orte gemacht haben mochte und die, vorzüglich durch die eigene Oekonomie und wirtschaftliche Einteilung der Dame, nicht von Bedeutung waren. Die kleine Rechnung bei dem Spirituosenverkäufer, die Major Pendennis abgemacht hatte, war die wichtigste von Kapitän Costigans Schulden, und wenn auch der Kapitän einmal davon gesprochen hatte, daß er das Geld auf Heller und Pfennig zurückbezahlen wollte, so schien es doch keineswegs, daß er diese seine Drohung ausführte, auch forderten ihn die Gesetze der Ehre nicht im geringsten auf, diese Drohung wahr zu machen.

Als Fräulein Costigan alle ausstehenden Rechnungen bis zum letzten Schilling bezahlt hatte, händigte sie den Ueberschuß ihrem Vater ein, der sich in Beweisen der Gastfreundschaft gegen all seine Freunde schier erschöpfte, und den kleinen Creeds mehr Aepfel und Pfefferkuchen als je gab, so daß die Witwe Creed ihren 297 Mieter für alle Zeiten verehrungsvoll in der Erinnerung behielt, und die Kleinen bitterlich weinten, als er fortging; mit einem Wort, er verwaltete das Geld mit so viel Geschick, daß es nach kurzer Zeit völlig vertan war, und er auf Herrn Dolphin für die zur Zeit ihrer Abreise für die Reisekosten benötigte Summe Geld erheben mußte.

Nun wurde in einem Gasthofe der Hauptstadt der Grafschaft von einer Gesellschaft Herren, die sich selbst die Buccaniers nannten, eine wöchentliche Zusammenkunft festlichen, ja selbst lärmenden Charakters gehalten. Einige der erlesensten Geister von Chatteris gehörten zu diesem lustigen Klub. Graves, der Apotheker (ein besserer Geselle als er steckte nie eine Pfeife in den Mund und rauchte sie), Smert, der talentvolle und humoristische Porträtmaler der High-Street, Croker, ein ausgezeichneter Auktionator, und der unvergleichliche Hicks, seit dreiundzwanzig Jahren der würdige Herausgeber der Grafschaftszeitung und des Chatteris Champion, waren unter der Mannschaft der Buccaniers, denen sich auch der Direktor Bingley Sonnabend abends gern zugesellte, falls er dazu Erlaubnis von seiner Gemahlin erhielt.

Costigan war auch gelegentlich Buccanier gewesen. Aber da es bei ihm an der Pünktlichkeit der Zahlungen mangelte, so war er letzthin aus der Gesellschaft ausgeschlossen worden, wo er unangenehmen Bemerkungen von Seiten des Wirtes ausgesetzt war, welcher sagte, daß ein Buccanier, der seine Munition nicht zahlte, durchaus unwürdig wäre, ein Seeräuber zu heißen. Aber als es den »Nieren«, wie sich die Klubmitglieder 298 selbst familiär nannten, bekannt wurde, daß Fräulein Fotheringay ein glänzendes Engagement abgeschlossen hätte, fand in bezug auf Kapitän Costigan eine große Revolution der Meinungen im Klub statt. Solly, der Herr Wirt der ›Traube‹, erzählte den Leuten in dem Zimmer der Buccaniers eines Abends, wie anständig sich der Kapitän benommen; er hätte überall die Runde gemacht und alle »seine Bären in Chatteris abgebunden«, einschließlich seiner Zeche von drei Pfund vierzehn Schilling hier, und erklärte laut, daß Cos ein guter Bursche, ein grundehrenwerter Gentleman wäre, was er, Solly, immer gesagt hätte, und so wirkte er schließlich auf die Gemüter der Buccaniers ein, dem Kapitän ein Abschiedsmahl zu geben.

Das Bankett fand in der letzten Nacht von Costigans Aufenthalt in Chatteris statt und wurde in Sollys gewohnter Weise aufgetragen. Ein so gutes und echt altenglisches Essen, als nur je auf einem Tische dampfte, war von Frau Solly bereitet worden, und etwa achtzehn Herren setzten sich an der festlichen Tafel nieder. Herr Jubber (der berühmte Schnitthändler aus der High-Street) führte den Vorsitz und hatte den ausgezeichneten Gast des Klubs zu seiner Rechten. Der talentvolle und ausdauernde Hicks versah bei dieser Gelegenheit das Amt des Croupiers; die meisten der Herren vom Klub waren anwesend, und Herr H. Foker, Esquire, und Spavin, Esquire, Freunde des Kapitäns Costigan, waren ebenfalls Teilnehmer der Festlichkeit. Nachdem der Tisch abgeräumt worden war, sagte der Vorsitzende: »Costigan, da ist Wein, wenn es Ihnen gefällig ist,« aber da der Kapitän Punsch 299 vorzog, so wurde dieses Naß durch Akklamation erwählt, und nachdem das »Non Nobis« mit bewundernswerter Kraft von den Herren Bingley, Hicks und Bullby (vom Kathedralenchor) – ein jovialerer Geist hob nie ein Glas und leerte nie eine Bowle – gesungen worden war, brachte der Vorsitzende die Gesundheit des »Königs« aus, die mit der Loyalität der Bürger von Chatteris getrunken wurde, und dann schlug er ohne weiteren Umschweif vor, auf das Wohl ihres Freundes, des »Kapitäns Costigan«, zu trinken.

Nachdem das begeisterte Hochrufen, das durch das alte Chatteris dröhnte, sich gelegt hatte, stand Kapitän Costigan zur Entgegnung auf und hielt eine zwanzig Minuten lange Rede, bei der er verschiedene Male von seinen Gefühlen überwältigt wurde.

Der höfliche Kapitän sagte, man müßte ihm seine unzusammenhängende Rede verzeihen, denn sein Herz wäre zu voll, um sprechen zu können. Er verließe eine wegen ihrer Antike, ihrer Gastfreundschaft, der Schönheit ihrer Frauen, der Treue ihrer Männer und der Großmut und Jovialität der Leute gefeierte Stadt. (Hochrufen.) Er ginge aus der alten und ehrwürdigen Stadt fort, an die er, solange ihm nur das Gedächtnis bliebe, niemals ohne das zärtlichste Gefühl denken würde, er ginge nach einer Hauptstadt, wo die Talente seiner Tochter vollen Spielraum haben würden, und wo er wie ein Schutzengel über sie wachen würde. Er würde niemals vergessen, daß sie in Chatteris die Geschicklichkeit erworben, die sie nun in einer anderen Sphäre ausüben würde; und in ihrem Namen und seinem eigenen danke Jack Costigan ihnen und wünsche 300 ihnen Gottes Segen. Die Rede des trefflichen Offiziers wurde mit brausenden Hochrufen aufgenommen.

Herr Hicks, der Croupier, brachte in glänzender, kraftvoller Rede Fräulein Fotheringays Gesundheit aus.

Kapitän Costigan dankte in einer Rede voll Gefühl und Beredsamkeit.

Herr Jubber brachte einen Toast auf das Drama und das Theater von Chatteris aus, und Herr Bingley wollte sich eben als Vertreter desselben erheben, als ihn Kapitän Costigan davon zurückhielt, er, der lange Zeit mit dem Theater zu Chatteris in Verbindung stände und zugleich im Namen seiner Tochter, der Gesellschaft danken wollte. Er erzählte ihnen, daß er in Gibraltar und in Malta in Garnison gelegen und bei der Einnahme Vlissingens dabei gewesen wäre. Der Herzog von York wäre ein Gönner des Dramas; er hätte die Ehre gehabt, oft mit Sr. Kgl. Hoheit und dem Herzog von Kent zu speisen, und ersterer wäre mit Recht der Soldatenfreund genannt worden (Hochrufe).

Dann wurde ein Hoch auf die Armee ausgebracht, und Kapitän Costigan dankte auch dafür. Im Laufe der Nacht sang er seine wohlbekannten Lieder, »Der Deserteur«, »Der Shan Van Voght«, »Das kleine Schweinchen unter dem Bett« und »Das Tal von Avoca«. Der Abend war ein großer Triumph für ihn – er ging aber zu Ende. Alle Triumphe und alle Abende enden. Und am nächsten Tage, nachdem Fräulein Costigan Abschied von all ihren Freunden genommen und sich mit Fräulein Rouncy versöhnt hatte, der sie ein Halsband und ein weißes Atlaskleid als Geschenk 301 daließ – am nächsten Tage also hatten sie und ihr Vater Plätze in der Postkutsche und fuhren an den Toren von Fairoaks vorbei – Pendennis sah sie nicht mehr.

Tom Smith, der Kutscher, zeigte Herrn Costigan, der auf dem Bocke saß und nach Grog duftete, Fairoaks, und der Kapitän meinte, es wäre ein ärmliches Gütchen, und fügte hinzu: »Da sollten Sie mal Schloß Costigan in der Grafschaft Mayo sehen, mein Junge,« – worauf Tom sagte, daß er das wirklich sehr gerne sehen möchte.

Sie waren fort, und Pen hatte sie nicht mehr gesehen! Er erfuhr von ihrer Abreise erst durch die Ankündigung in der Grafschaftszeitung vom nächsten Tage und galoppierte augenblicklich nach Chatteris herüber, um sich von der Wahrheit dieser Nachricht zu überzeugen. Sie waren wirklich fort. Ein Zettel mit »Wohnung zu vermieten« war an dem lieben, kleinen, vertrauten Fenster angebracht. Er stürzte ins Zimmer hinauf und überflog es mit den Augen. Er saß lange, lange Zeit auf dem alten Sitze am Fenster, von wo man Ausblick auf des Dekans Garten hatte und wo er so oft mit Emilie zusammen hinausgesehen hatte. Er ging mit einer Art Scheu in ihr kleines leeres Schlafzimmer. Es war sauber gefegt und schon für die neuen Ankömmlinge zurechtgemacht. Der Spiegel, der ihr schönes Gesicht zurückgestrahlt hatte, war für ihre Nachfolgerin glänzend bereit. Die Vorhänge lagen viereckig zusammengefaltet auf dem kleinen Bette; er warf sich darauf nieder und grub sein Haupt in die leeren Kissen.

Laura hatte eine Geldbörse gehäkelt, in die seine 302 Mutter einige Sovereigns gesteckt hatte, und Pen hatte sie erst heute morgen auf seinem Ankleidetische gefunden. Er gab einen davon dem kleinen Bedienten, der den Costigans aufzuwarten pflegte, und den zweiten den Kindern, weil sie sagten, sie hätten sie sehr lieb. Es waren nur einige Monate seitdem vergangen, aber doch schienen es viele, viele Jahre zu sein, seit er zum ersten Male in dieses Zimmer getreten war! Er fühlte, es war alles vorbei. Schon, daß er die Kutsche mit ihr nicht bemerkt, hatte etwas Verhängnisvolles in sich. Verlassen, müde, tief elend und allein fühlte sich der arme Junge.

Seine Mutter sah es ihm sofort an, als er heimkam, daß sie weg war. Er war nun ebenso eifrig wie andere Leute in der Nähe von Chatteris darauf bedacht, fortzugehen. Der arme Smirke wünschte aus dem Gesichtskreis der Sirene von einer Witwe zu kommen; Foker fing an zu denken, daß er genug von Baymouth hätte und daß ein paar Tischgesellschaften in St. Bonifaz nicht unangenehm sein würden. Und Major Pendennis sehnte sich fortzukommen und ein bißchen auf die Fasanenjagd zu Stillbrook zu gehen und alle Langweiligkeiten des Dorfes loszuwerden. Die Witwe und Laura machten sich nervös an die Vorbereitungen für Pens Ausrüstung und füllten Koffer auf Koffer mit seinen Büchern und seiner Wäsche. Helene schrieb Karten mit dem Namen Arthur Pendennis, Esq., die, wie es sich gehörte, auf die Kisten genagelt wurden, und auf welche sie und Laura mit tränenvollen, traurigen Augen blickten. Erst lange, lange Zeit, nachdem er gegangen, erinnerte sich Pen, wie treu und zärtlich die 303 Neigung dieser beiden gewesen und wie selbstsüchtig sein eigenes Benehmen war.

Bald kommt eine Nacht, wo mit widerhallendem Hörnerschall und strahlenden Lampen am Tore von Fairoaks die Postkutsche hält, auf deren Dach Pens und seines Onkels Gepäck plaziert werden, in die beide gleich nachher einsteigen. Helene und Laura stehen an der Immergrünhecke, ihre Gestalten sind von den Wagenlampen beleuchtet, der Schaffner schreit: »Alles in Ordnung,« und im nächsten Augenblick rasselt die Kutsche fort; die Lichter verschwinden, und Helenes Herz und Gebete gehen mit ihnen. Ihre frommen Segenswünsche folgen dem scheidenden Knaben. Er hat das heimatliche Nest verlassen, in dem er sich warm und geborgen fühlte, und wohin er nach seinem allerersten Fluge schon blutend und verwundet zurückgekehrt war; es treibt ihn, wieder fortzugehen und seine rastlosen Schwingen zu versuchen.

Wie einsam das Haus ohne ihn aussieht! Die zusammengeschnürten Koffer und Bücherkisten stehen dort in seinem leeren Arbeitszimmer. Laura bittet um die Erlaubnis, in Helenes Zimmer schlafen zu dürfen, und als sie sich dort in Schlaf geweint hat, geht die Mutter leise in Pens leeres Zimmer und kniet an dem Bett nieder, das der Mond bescheint, und betet dort für ihren Knaben, wie nur Mütter zu beten verstehen. Und er weiß, daß ihre reinen Segenswünsche ihm folgen, während er schon meilenweit von ihr entfernt ist. 304



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