William M. Thackeray
Die Geschichte von Pendennis, Band 1
William M. Thackeray

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Fünfzehntes Kapitel

Das glückliche Dorf

Solange bis der Feind sich gänzlich vom Platze zurückgezogen hätte, war Major Pendennis entschlossen, zu Fairoaks in Garnison zu verbleiben. Er schien Pens Verhalten nicht zu beobachten oder den Handlungen seines Neffen irgendwelchen Zügel anzulegen, aber er richtete es trotzdem so ein, daß er den Jungen beständig unter seinen Augen oder denen seiner Agenten hatte, und Jung-Arthurs Kommen und Gehen war seinem wachsamen Vormunde ganz wohl bekannt.

Vermutlich ist kaum irgend jemand, der diesen oder einen anderen Roman liest, und der nicht ein oder das andere Mal durch das Schicksal, Umstände, Falschheit der Weiber oder seine eigene Schuld in der Liebe betrogen worden ist. Möge dieser wackere Freund sich an 252 seine eignen Gefühle bei solchen Umständen erinnern und sie anwenden, um Pens elenden Zustand zu illustrieren. Ach! was für ewig lange Nächte und Fieberqualen! Ach! was für tolle Wünsche brandeten gegen irgendeinen Felsblock an, mit dem ihnen Widerwille oder Gleichgültigkeit den Weg versperrte, und wurden von dem harten Granit, ohne Eindruck zu machen, wieder zurückgeschleudert! Könnte heute Abend eine Liste gemacht werden von all den Seufzern, Gedanken, Verwünschungen der schlaflos sich herumwälzenden Verliebten in London, was für ein Katalog würde das sein! Ich möchte wissen, wieviel vom Hundert der männlichen Bevölkerung der Metropole um zwei oder drei Uhr morgens wach im Bette liegen und die mit traurigem Glockenschlag vorüberschleichenden Stunden zählen, sich von der linken auf die rechte Seite wälzen, ruhelos, sehnsuchtsvoll und herzkrank? Was für eine Marter! Ich habe nie gehört, daß ein Mann vor Liebe gestorben ist, gewiß nicht, aber ich habe einen gekannt, der zwölf Stein wog und durch eine unglückliche Leidenschaft bis auf neun Stein herabkam, so daß man sagen kann, ziemlich ein ganzes Viertel von ihm sei vor Liebe vergangen, und das ist kein kleiner Teil. Er ist in der Folge wieder auf sein altes Gewicht heraufgekommen – und ist jetzt vielleicht dicker als je; sehr wahrscheinlich hat irgendein neues Verhältnis sich um sein Herz und seine Rippen gelegt, so daß es ihnen wohl ergeht, und auch der junge Pen wird ein Mann sein und sich wie die anderen unseres Geschlechtes zu trösten wissen. Wir sagen dies, damit nicht etwa die Damen geneigt sein möchten, ihn voreilig zu 253 bedauern oder in Anbetracht seiner Klagen ernstliche Unruhe zu empfinden. Seine Mutter tat dies, aber was wird mütterliche Zärtlichkeit nicht fürchten oder erfinden? »Verlassen Sie sich darauf, meine Gute,« pflegte Major Pendennis galant zu ihr zu sagen, »der Junge wird sich davon schon erholen. Sobald wir sie aus dem Lande bekommen, wollen wir ihn irgendwohin bringen und ihm ein bißchen vom Leben zeigen. Inzwischen beruhigen Sie sich über ihn. Die Hälfte des Schmerzes eines jungen Burschen über den Verlust einer Frau entspringt mehr aus Eitelkeit, als aus Zuneigung. Von einem Frauenzimmer aufgegeben zu werden, ist höllisch fatal und was nicht noch! Das ist sicher, aber sehen Sie nur zu, wie leicht wir sie verlassen.«

Frau Pendennis wußte davon nichts. Diese Art von Erfahrung war durchaus nicht in den Gesichtskreis der einfachen Dame gekommen. Ja, ihr gefiel nicht einmal der Gegenstand, und sie sprach auch nicht gern davon; ihr Herz hatte sein eigenes kleines Teil Mißgeschick für sich gehabt, und sie hatte es ertragen, und die Wunde war geheilt; vielleicht hatte sie auch nicht viel Geduld mit anderer Leute Leidenschaften, ausgenommen natürlich die Arthurs, dessen Leiden sie zu ihrem eigenen machte, so daß sie sehr wahrscheinlich von dem Schmerz und der Qual des Knaben viel mehr fühlte, als Pen selbst zu ertragen hatte. Und sie beobachtete ihn während seines gegenwärtigen Kummers mit einem eifersüchtigen schweigenden Mitgefühl, obschon er, wie gesagt, nicht mit ihr über seinen unglücklichen Zustand sprach. 254

Dem Major mußte nicht geringer Ruhm zugestanden werden, daß er durch seine Nachsicht einen höchst anerkennenswerten Grad von Liebe zu seiner Familie an den Tag gelegt hatte. Das Leben in Fairoaks war für einen Mann äußerst langweilig, dem die Hälfte der Londoner Häuser offenstanden, und der daran gewöhnt war, seine Verbeugung abends in drei oder vier Gesellschaftszimmern zu machen. Dann und wann ein Mittagessen bei Doktor Portman oder einem benachbarten Gutsbesitzer, ein langweiliges Puffspiel mit der Witwe, die ihr Aeußerstes tat, um ihn zu unterhalten; das waren seine Hauptvergnügungen. Sehnsüchtig erwartete er immer die Ankunft des Briefbeutels und las jedes Wort der Abendzeitung. Er doktorte unablässig an sich herum, eine Zeitlang ruhiges Leben, meinte er, würde ihm nach den Londoner Banketten gut bekommen. Er kleidete sich morgens und abends auf das sorgfältigste an und promenierte regelmäßig den Gang auf der Terrasse auf und ab. In dieser Weise also, mit seinem Spazierstock, seiner Toilette, seinem Medizinkasten, seinem Puffspiel und seinen Zeitungen verteidigte sich dieser würdige und welterfahrene Philosoph gegen die Langeweile, und wenn Major Pendennis damit auch nicht jede Stunde, die Gott werden ließ, mehr Erfolg hatte als die Bienen an der Gartenmauer der Witwe, so vertrieb er sich doch eine Stunde nach der anderen, so gut es ging, und machte sich seine Gefangenschaft wenigstens erträglich.

Pen setzte sich auch dann und wann abends ans Puffbrett oder horchte an Sommerabenden der ungekünstelten Musik seiner Mutter zu; aber er war sehr 255 ruhelos und elend trotz alledem. Man sah ihn oft schon vor Sonnenaufgang aufstehen und hinunter nach einem Karpfenteiche in Clavering Park wandern, einem düstern Weiher, von unzähligen flüsternden Binsen und grünen Erlen umgeben, wo sich zu den Zeiten des Großvaters des Baronets ein Milchmädchen ertränkt hatte, deren Geist dort noch umgehen sollte. Aber Pen ertränkte sich nicht, wie seine Mutter dies vielleicht für seine Absicht hielt. Er ging gern dorthin, um zu fischen, in Muße zu sinnen und zu träumen, während die Flut in den kleinen Strudeln des Weihers zitterte und die Fische um ihn herum zappelten. Wenn einer anbiß, war er überglücklich, und so brachte er gelegentlich Karpfen, Schleie und Aale nach Hause, die der Major auf die Weise kochte, wie es auf dem Kontinent üblich ist.

An diesem Weiher unter einem Baume, der sein Lieblingsplätzchen war, machte Pen eine Anzahl Gedichte, die auf seinen Zustand paßten, über die er Tage nachher errötete und sich wunderte, wie er je solchen Unsinn sich ausgedacht haben könnte. Und was den Baum betrifft, so tat er in ein Astloch desselben, in welches er seine zinnerne Büchse mit dem Fischköder und andre Bedürfnisse eines Anglers zu stellen pflegte, später – aber wir greifen ja vor. Genug, er schrieb Gedichte und erleichterte sich dabei sehr. Wenn Kummer oder Leidenschaft eines Mannes an diesem Punkt angelangt sind, so mögen sie laut sein, aber sie sind nicht mehr sehr schwer. Wenn ein Gentleman sich den Kopf zerbricht, um einen Reim auf Sorgen ausfindig zu machen, außer Borgen und Morgen, so ist sein 256 Herzensweh dem Ende näher, als er selbst denkt. So war es bei Pen. Er hatte seine Hitze- und Kälteanfälle, seine trübsinnigen und launenhaften Tage, Zeiten reiner Entsagung und Verzweiflung und gelegentliche wilde Paroxysmen der Wut und des Sehnens, bei welchen Anfällen Rebekka gesattelt und in wildem Galopp im Lande oder nach Chatteris umhergejagt wurde und ihr Reiter auf ihrem Rücken wild gestikulierte und Fuhrleute und Chausseewärter in Erstaunen versetzte, indem er im Vorüberreiten den Namen der Falschen laut in die Luft hinausschrie.

Herr Foker wurde während dieser Periode ein sehr häufiger und willkommener Besucher in Fairoaks, wo seine gute Laune und seine närrischen Einfälle den Major und Pendennis stets amüsierten, während sie die Witwe und die kleine Laura nicht wenig in Erstaunen versetzten. Sein Tandem machte auf dem Marktplatz zu Clavering großes Aufsehen, wo er damit einen Marktstand umwarf und Frau Pybus' Pudel eins über sein geschornes Hinterteil versetzte und im »Schilde von Clavering« ein Glas Himbeerschnaps trank. Die gesamten Honoratioren des kleinen Ortes erkundigten sich, wer er war, und schlugen seinen Namen in ihrem Adelslexikon nach. Der war aber so jung und ihre Bücher so alt, daß sein Name in den meisten ihrer Bände nicht stand, und seine Mama, jetzt eine gealterte Dame, figurierte dort unter der Nachkommenschaft des Earl von Rosherville noch als Lady Agnes Milton. Aber sein Name, sein Reichtum und sein vornehmes Herkommen waren schnell in ganz Clavering bekannt, wie man sich auch darauf verlassen kann, daß das kurze 257 Verhältnis des armen Pen mit der Schauspielerin in Chatteris ebenfalls ziemlich offen durchgehechelt wurde.

Wenn man von der Londoner Straße, wo sie an dem Tor von Fairoaks vorüberläuft, nach der kleinen alten Stadt Clavering St. Mary hinüberschaut und den reißenden und helleuchtenden Brawl sich vor der Stadt abwärtsschlängeln, die Wälder von Clavering Park umsäumen und den altertümlichen Kirchturm und die spitzen Giebel der Häuser unter Bäumen und alten Mauern aufsteigen sieht, hinter denen ein leuchtender Hintergrund von sonnenbeschienenen Hügeln allmählich aufsteigt, die sich von Clavering westwärts nach der See erstrecken – so scheint der Ort so lustig und gemütlich, daß mancher Reisende von dem Dache des Wagens aus sich dorthin gesehnt und gedacht haben mag, wie gern er in einem solch ruhigen, freundlichen Eckchen einst am Ende des Lebenskampfes Zuflucht suchen würde. Tom Smith, der auf der Eilkutsche Postillon war, pflegte oft auf einen Baum nahe am Flusse zu zeigen, der eine schöne Aussicht auf die Kirche und Stadt darbot, und seinem Gefährten auf dem Bocke mitzuteilen, daß »Künstler dorthin kämen und die Kirche von dem Baume abmalten. – Es war mal eine Abtei, Herr,« – und es ist in der Tat eine prächtige Aussicht, die ich Herrn Stanfield oder Herrn Roberts für ihren nächsten Ausflug empfehlen will.

Wie Konstantinopel, vom Bosporus aus gesehen, wie Frau Rougemont in ihrer Loge von der entgegengesetzten Seite des Hauses betrachtet, wie mancher Gegenstand, dem wir im Laufe des Lebens nachjagen und ihn bewundern, ehe wir ihn erlangt haben, ist 258 Clavering von der Ferne viel hübscher als bei näherer Bekanntschaft. Das Städtchen, das sich ein paar hundert Schritt ab so lieblich ausnimmt, sieht nahebei sehr öde und traurig aus. Mit Ausnahme der Markttage ist niemand auf den Straßen. Das Klappern von ein Paar Holzschuhen dröhnt durch den halben Ort, und das Kreischen des rostigen alten Wirtshausschildes am »Schilde von Clavering« kann man hören, ohne durch ein anderes Geräusch gestört zu werden. Kein Ball ist dort in den Gesellschaftsräumen gegeben worden, seit die Freiwilligen von Clavering ihrem Obersten, dem alten Sir Francis Clavering, einen gaben, und die Stallgebäude, die einst einen großen Teil jenes glänzenden, jetzt aber eingegangenen Regiments beherbergten, stehen traurig und leer da, außer an Donnerstagen, wo die Pächter dort ausspannen und ihre auf die Seite gekippten Karren und Gigs dem Orte einen schwachen Schein von Leben geben, oder bei Untergerichtssitzungen, wo die Beamten sich in den ehemaligen Spielzimmern versammeln.

Auf der Südseite des Marktes erhebt sich die Kirche mit ihren großen grauen Türmen, deren zartes, gemeißeltes Schnörkelwerk die Sonne bestrahlt, die die Schatten der gewaltigen Strebepfeiler vertieft, die glitzernden Fenster vergoldet und die Wetterfahnen wie flackernde Flammen erscheinen läßt. Das Bild der Kirchenpatronin war vor Jahrhunderten aus der Säulenhalle geschleppt worden, diejenigen der Heiligenstatuen, die in dieser Zeit frommer Zerstörung im Bereich von Steinen und Hämmern gewesen waren, sind fuß- und kopflos, und von denen, die außerhalb dieses 259 Gefechts gestanden hatten, weiß nur Doktor Portman Namen und Geschichte, denn sein Vikar, Herr Smirke, ist kein großer Altertumsforscher, und Herr Simcoe (Gatte der ehrenwerten Frau Simcoe), der Pfründner und Architekt der Filialkapelle in der unteren Stadt, hält sie für den Greuel der Verwüstung.

Das Pfarrhaus ist ein stämmiges breitschultriges Ziegelhaus aus der Regierungszeit der Königin Anna. Es steht mit der Kirche und dem Markte durch verschiedene Tore in Verbindung und befindet sich am Anfang der Yew-tree-Straße, wo die Gelehrtenschule (Se. Ehrwürden Wapshot), ferner die Yew-tree Cottage (Fräulein Flather), des Fleischers Schlachthaus, eine alte Scheune oder ein Brauhaus aus den Zeiten der Abtei, endlich das Institut der Fräulein Finucane für junge Damen sich befinden. Die beiden Schulen hatten ihre Sitze früher oben zu beiden Seiten der Orgel, bis die Abteikirche durch den Abfall der Gemeinde, die in die Ketzerpredigten in der unteren Stadt verlockt wurde, ziemlich leer wurde und der Doktor Fräulein Finucane veranlaßte, ihre hübsche kleine Herde herunterzubringen, so daß die Hüte der jungen Damen das fast ganz unbesetzte Kirchenschiff leidlich gefüllt erscheinen ließen. Niemand ist in dem großen Kirchenstuhl der Familie Clavering, mit Ausnahme der Standbilder der verstorbenen Baronets und ihrer Gemahlinnen; da ist Sir Poyntz Clavering, Ritter und Baronet, der mit seinem starken glatten Barte seiner Ehefrau gegenüber kniet, die eine steife Halskrause trägt, ferner ist da eine sehr starke Dame, Lady Rebecca Clavering in Hochrelief, die von zwei kleinen blauädrigen 260 Engeln, die eine ziemliche anstrengende Arbeit zu haben scheinen, zum Himmel getragen wird usw. Wie gut erinnerte sich Pen im späteren Leben noch dieser Bildnisse, und wie oft in seiner Jugend grübelte er über sie nach, wenn der Doktor seine Predigt von der Kanzel rollen ließ und Smirkes sanftes Haupt mit der Locke auf der Stirn hinter dem großen Gebetbuch auf dem Pulte hervorsah!

Die Leutchen in Fairoaks blieben der alten Kirche treu; ihre Dienstleute hatten einen Betstuhl inne, ebenso die des Doktors, die Wapshots und die aus dem Institut des Fräulein Finucane, drei Mägde und ein sehr hübscher junger Mann in einer Livree. Die Familie der Wapshot war zahlreich und rechtgläubig. Glanders und seine Kinder gingen regelmäßig zur Kirche, ebenso einer der Apotheker. Frau Pybus ging abwechselnd bald in die Kirche der Unterstadt, bald in die Abtei; die Armenschule nebst ihren Familien kamen natürlich ebenfalls; Wapshots Knaben machten einen recht anständigen Lärm, polterten mit den Füßen, wenn sie in die Kirche hinein und die steile Orgeltreppe hinaufmarschierten, und schneuzten sich tüchtig die Nasen während des Gottesdienstes. Kurz, die Gemeinde sah für diese bösen Zeiten so gut wie möglich aus. Die Abteikirche hatte einen prächtigen Altarschrein, viele Wappenschilder und heraldisch verzierte Grabsteine. Der Doktor gab einen großen Teil seines Einkommens für die Verschönerung seines Lieblingsortes aus; er hatte ihn mit einem prächtigen gemalten, in den Niederlanden gekauften Fenster versehen und mit einer Orgel, die für eine Kathedrale großartig genug war. 261

Aber trotz der Orgel und des Fensters, ja höchstwahrscheinlich grade wegen des letzteren, das aus einem Orte papistischer Gottesverehrung kam und über und über mit götzendienerischem Bilderschmuck bedeckt war, machte die neue Kirche Claverings auf die anstößigste Weise vor der Nase der Orthodoxie Fortschritte, und viele von der Gemeinde des Doktors desertierten zu Herrn Simcoe und seiner ehrenwerten Frau Gemahlin. Ihre Anstrengungen hatten sogar den Ebenezer der Methodisten dicht neben ihnen gelichtet, welches Gebäude vor Simcoes Ankunft so voll zu sein pflegte, daß man die Rücken der Versammelten sich aus den Bogenfenstern derselben herausquetschen sehen konnte. Herrn Simcoes Traktätchen flatterten in die Türen aller Hütten, deren Bewohner dem Doktor zugehörten, und wurden so begierig angenommen, wie die Armensuppe der würdigen Frau Portman, mit deren Qualität das unverschämte Volk nicht zufrieden sein wollte. Mit den Leuten in der Bandfabrik, die am Wehr des Brawl lag und um die die untere Stadt herumging, konnten die Orthodoxen sich durchaus nicht vertragen. Das sanfte Fräulein Mira war durch die ungestüme Frau Simcoe und ihre weiblichen Adjutanten aus der Gesellschaft verdrängt worden. Ach, es war eine schwere Bürde für die Frau Doktor, zu sehen, wie ihres Mannes Gemeinde dahinschwand, bei den wenigen Gelegenheiten, wo sie zusammentrafen, der Frau eines Mannes, der anerkanntermaßen kein rechtgläubiger Geistlicher war, den Vorrang lassen zu müssen, bloß weil sie die Tochter eines irischen Pairs war, zu wissen, daß es eine Partei in Clavering gab, in ihrem 262 eigenen Städtchen Clavering, auf welche ihr Doktor ein gutes Teil mehr verwendet, als das Einkommen seiner Stelle betrug, eine Partei, die ihn haßte, bloß weil er sein Robberchen beim Whist machte, und ihn für einen Heiden erklärte, weil er manchmal ins Theater ging. In ihrem Kummer bat sie ihn, das Schauspiel und den Robber aufzugeben; in der Tat konnten sie kaum noch jemand zu Tische bekommen, so schrecklich war das Geschrei gegen den Sport. Aber der Doktor erklärte, daß er tun würde, was er für Recht hielte, und was der große und gute Georg der Dritte getan hätte (dessen Kaplan er gewesen war); und was das Aufgeben des Whists beträfe, nur weil jenes alberne Volk dagegen schrie, so würde er lieber bis ans Ende seiner Tage Strohmann spielen mit seiner Frau und Mira, als diesen verächtlichen Verfolgungen nachgeben.

Von den beiden Familien, die Eigentümer der Fabrik waren (die den Brawl seines Charakters als Forellenbach beraubt und all das Unglück über die Stadt gebracht hatte), ging der ältere Teilhaber, Herr Rolt, in den Ebenezer, der jüngere, Herr Barker, in die neue Kirche. Mit einem Worte, die Leute lebten an diesem kleinen Orte weit uneiniger miteinander, als es in London die Nachbarn tun, und in dem Leseklub, den der kluge und stets versöhnungsbereite Pendennis gestiftet hatte und der ein neutrales Territorium hatte sein sollen, entstand solcher Unfriede, daß man bald kaum irgend jemand im Lesezimmer sah, außer Smirke, der, obwohl er immer so ziemlich im Frieden mit der Partei Simcoe stand, doch eine Vorliebe für 263 belletristische Literatur und leichte weltliche Sachen besaß; ferner der alten Glanders, dessen weißen Kopf und stachligen Schnurrbart man dann und wann am Fenster sah, und natürlich die kleine Frau Pybus, die auf jedermanns Briefe sah, wenn die Post sie brachte (denn das Lesezimmer von Clavering befand sich, wie alle Welt weiß, in Bakers Buchhandlung, London Street, früher Hog Lane), und jede Anzeige in der Zeitung las.

Nun kann man sich vorstellen, welche ungeheure Sensation in dieser liebenswürdigen kleinen Gemeinde entstand, als die Nachricht von Herrn Pens kurzer Liebesgeschichte in Chatteris dort bekannt wurde. Sie wurde von Haus zu Haus getragen und bildete den Gesprächsgegenstand an hochkirchlichen, niederkirchlichen und garnichtkirchlichen Tischen; sie wurde zwischen dem Fräulein Finucane und ihren Lehrern erörtert und unseres Wissens höchstwahrscheinlich von den jungen Damen in ihren Schlafzimmern besprochen; Wapshots dicke Jungen hatten ebenfalls ihre Version von der Geschichte und beguckten Pen neugierig, wenn er in seinem Kirchenstuhle saß, oder wiesen spöttisch mit Fingern auf ihn, wenn er durch Chatteris ging. Sie haßten ihn stets und nannten ihn nur Lord Pendennis, weil er keine Corduroyshosen trug, wie sie, ein Pferd ritt und sich die Miene eines Stutzers gab.

Und wenn wir die Wahrheit gestehen müssen, so war es Frau Portman selbst, die die Haupterzählerin von Pens Liebesgeschichte war. Was immer auch für Redereien diese offenherzige Dame hörte, sie teilte sie sicherlich ihren Nachbarn mit, und nachdem sie durch den kleinen Skandal zu Chatteris in den Besitz von 264 Pens Geheimnis gelangt war, wußte der arme Dr. Portman, daß es den nächsten Tag schon in dem Kirchspiele herum sein würde, dessen Pfarrer er war. Und so kam es tatsächlich; die ganze Gesellschaft dort wußte die Legende; man wußte sie im Zeitungszimmer, bei der Putzmacherin, im Schuhladen, im großen Warenhause an der Ecke des Marktplatzes, bei Frau Pybus, bei den Glanders, in der Soiree der ehrenwerten Frau Simcoe, in der Fabrik, ja selbst durch die Mühle floß die Geschichte in wenigen Stunden, und die Tollheit des jungen Arthur Pendennis war in jedermanns Munde.

Alle Bekannten des Doktor Portman schrien ihn darum an, als er den nächsten Tag auf die Straße herauskam. Der arme Gottesmann wußte, daß seine Betsy die Quelle des Gerüchtes war und seufzte im Geiste darüber. Nun, nun, in ein paar Tagen würde es doch erledigt sein, und es war gut, daß die Stadt die Geschichte wahrheitsgemäß erfuhr. Was die Leutchen von Clavering von Frau Pendennis hielten, die ihren Sohn so verderben ließe, und von dem frühreifen jungen Schlingel von Arthur dachten, der es gewagt, einer Schauspielerin die Heirat anzutragen, braucht hier nicht erst gesagt zu werden. Wenn unter irgendwelchen Leuten in unserem Lande Hochmut existiert – und wir haben sicherlich genug davon – so gibt es sicher keinen tiefer sitzenden, als den der alten halbvornehmen Weiber in kleinen Städten. »Gütiger Himmel,« hörte man schreien, »wie verblendet ist die Mutter mit diesem dreisten, hochnäsigen Bengel, der sich auf seinem Vollblutpferde Aussehen und Wesen eines Lords gibt, für 265 den unsere Gesellschaft nicht gut genug ist, und der eine abscheulich angemalte Komödiantin aus einer Schaubude heiraten wollte, wo er höchstwahrscheinlich selber den Marktschreier machen will. Wenn der liebe, gute Herr Pendennis gelebt hätte, so würde dieser Skandal niemals passiert sein.«

Wahrscheinlich würde er das nicht sein, aber wir hätten uns dann auch nicht mit dem Erzählen von Pens Geschichte beschäftigen können. Es war richtig, daß er vor den Leuten von Clavering einen Lord nachahmte. Von Natur hochmütig und unbekümmert über das Urteil der Menschen, war ihm ihr Geschnatter und Geschwätz über Kleinigkeiten, ebenso die niedere Stellung, die sie in der Welt einnahmen, zuwider, und er zeigte ihnen die Verachtung, die er nicht verbergen konnte. Der Doktor und der Vikar waren die einzigen Leute, die an Pen Anteil nahmen – sogar Frau Portman nahm an dem allgemeinen mißgünstigen Gerede über ihn und seine Mutter, die Witwe, teil, die ihren Kopf in der Gesellschaft des Städtchens so hoch trug und infolgedessen mit Nasenrümpfen angesehen wurde, weil sie sich wirklich mit den großen Familien der Grafschaft auf eine Stufe zu stellen versuchte. Sie, wahrhaftig! Frau Barker in der Fabrik nimmt viermal soviel Fleisch vom Schlächter, als nach Fairoaks kommt, mit all ihrem Großtun.

Usw. usw. usw.; möge sich der Leser selbst die Einzelheiten nach seinem Belieben und seiner Erfahrung mit solchem kleinstädtischen Geschwätz ausfüllen. Das Gesagte wird hinreichen, um zu zeigen, wie es kam, daß eine gute Frau, die nur einzig und allein an Erfüllung 266 ihrer Pflichten gegen ihren Nächsten und ihre Kinder dachte, und ein ehrlicher, braver, ungestümer Junge, der aber voll des Guten war und jedem lebenden Wesen das Beste wünschte, Feinde und Verleumder unter Leuten fanden, über denen sie selbst hoch standen und denen sie nie etwas Böses getan hatten. Die Köter von Clavering kläfften rings um das Haus von Fairoaks und waren glücklich, Pen endlich einmal herunterreißen zu können.

Doktor Portman und Smirke hüteten sich beide, die Witwe von dem beständigen Zischeln der Verleumdung, die den armen Pen verfolgte, zu unterrichten, obgleich Glanders, der ein Freund des Hauses war, ihn auf dem laufenden hielt. Man kann sich denken, wie groß seine Entrüstung war; gab es denn aber irgend jemand im Städtchen, den er hätte zur Rechenschaft ziehen können? Bald fingen einige Spaßvögel an: »Fotheringay für immer!« und andere sarkastische Anspielungen auf Vorfälle der jüngst vergangenen Zeit mit Kreide an das Hoftor von Fairoaks zu schreiben. Ein anderer brachte einen ungeheuer großen Theaterzettel von Chatteris und klebte ihn eines Abends dort an. Als Pen einmal gelegentlich durch die Unterstadt ritt, kam es ihm vor, als ob die Fabrikjungen ihn verspotteten, und als er schließlich durch die Gittertür des Doktors in den Kirchhof hinein ging, wo mehrere von Wapshots Jungen herumlungerten, warf sich der dickste von ihnen, ein junger Herr von etwa zwanzig Jahren und Sohn eines benachbarten kleinen Landedelmannes, der eigentlich nicht recht wußte, ob er mit Herrn Wapshot an einem Tische sitzen könnte, in theatralischer 267 Haltung in der Nähe eines neuaufgeworfenen Grabes nieder und begann Hamlets Verse an Ophelia mit einem scheußlichen Grinsen zu Pen hin zu wiederholen.

Der junge Mensch geriet darüber in eine solche Wut, daß er mit einem Aufschrei, der einem Fluche sehr ähnlich war, auf Meister Hobnell zustürzte, ihm mit seiner Reitgerte einen rasenden Hieb quer übers Gesicht versetzte, dieselbe dann wegwarf und dem feigen Lump zurief, sich zu verteidigen, und im Augenblick darauf dem erschrockenen jungen Lümmel einen solchen Schlag versetzte, daß er in das Grab hineinpurzelte, das auf einen ganz anderen Bewohner wartete.

Dann brüllte er mit geballten Fäusten und mit vor Wut und Zorn zuckendem Gesichte den Genossen Herrn Hobnells, die ihn nach Luft schnappend umstanden, zu, sie sollten es sagen, wenn einer von den Lumpenkerlen mit ihm anbinden wolle. Aber sie blieben ihm brummend vom Leibe und zogen sich zurück, als Doktor Portman an seinem Pförtchen erschien und Herr Hobnell mit jämmerlich blutender Nase und Lippe wieder aus dem Grabe hervorkam.

Pen warf einen Blick tödlicher Verachtung auf die Jungen, die ihren Rückzug nach ihrer Seite des Kirchhofs bewerkstelligten, und ging wieder durch das Pförtchen des Doktors, wo er von diesem Gentleman befragt wurde. Der junge Mensch war so aufgeregt, daß er kaum sprechen konnte. Seine Stimme ging in ein Schluchzen über, als er antwortete: »Dieser feige Lümmel beleidigte mich, Herr,« und der Doktor ließ den Fluch ungerügt und respektierte die Aufregung des ehrlichen leidenden jungen Herzens. 268

Pendennis der Aeltere, der wie ein echter Weltmann große und beständige Furcht vor der Meinung seiner lieben Mitmenschen hatte, war außerordentlich ärgerlich über den dummen kleinen Sturm, der in Chatteris blies und Master Pens guten Ruf hin und her wehte. Doktor Portman und Kapitän Glanders hatten die Angriffe der gesamten Gesellschaft von Chatteris auf den jungen Taugenichts auszuhalten, der als ein Ungeheuer von Ruchlosigkeit galt. Pen sagte über die Prügelei auf dem Kirchhofe zu Hause nicht das geringste, aber er ging hinüber nach Baymouth und holte sich Rat bei seinem Freunde Harry Foker Esq., der sofort mit seiner »Spritze« nach dem »Schilde von Clavering« fuhr, von wo er seinen Schafskopf mit einem Billet an Thomas Hobnell Esq., bei dem ehrwürdigen J. Wapshot wohnhaft, und einer mündlichen Botschaft sandte, ihm Bescheid zu geben, wann er diesen Gentleman erwarten dürfe.

Schafskopf brachte die Nachricht zurück, daß das Billet von Herrn Hobnell geöffnet und einem halben Dutzend dicker Jungen vorgelesen worden wäre, auf die es großen Eindruck zu machen schien, und daß Herr Hobnell nach einigem Beraten und Lachen gesagt hätte, er wollte eine Antwort nach der Nachmittagsschule, die die Glocke eben einläutete, schicken; und da kam Herr Wapshot gerade in seinem Magisterkittel heraus. Schafskopf war nämlich in der akademischen Kleidertracht wohlbewandert, da er Herrn Foker in St. Bonifaz aufgewartet hatte.

Herr Foker ging inzwischen aus und sah sich die Merkwürdigkeiten Claverings an; aber da er keinen 269 Geschmack an der Architektur fand, so zog Doktor Portmans schöne Kirche seine Aufmerksamkeit auf sich, und er meinte, der Turm wäre so verschimmelt, wie ein alter Stiltonkäse. Er ging die Straßen hinab und sah sich die wenigen Läden dort an; er sah Kapitän Glanders am Fenster des Lesezimmers, und als er diesen Gentleman ordentlich in Augenschein genommen, nickte er mit seinem Kopfe nach ihm hin, als Zeichen, daß er mit ihm zufrieden wäre; er fragte mit einer Miene größten Interesses beim Fleischer nach den Fleischpreisen und wann der nächste Schlachttag wäre. Er quetschte seine kleine Nase gegen Frau Frisbys Schaufenster, um zu sehen, ob dort zufällig in ihrem Atelier ein hübsches Lehrmädchen wäre; aber es gab da kein Gesicht, das hübscher gewesen wäre, als das der Puppe oder des Putzkopfes, der im Fenster stand und das französische Hütchen trug, höchstens das von Frau Frisby selbst, die im Wohnzimmer über der Lektüre eines Romans in dunklen Umrissen sichtbar war. Dieser Gegenstand war aber nicht interessant genug, um Herrn Foker sehr lange bei seiner Betrachtung weilen zu lassen, und nachdem er so die Stadt und die Gasthausställe völlig in Augenschein genommen hatte, in denen sich außer einem einzigen alten Paar Postmähren, die sich mit dem Transport der umwohnenden kleinen Edelleute nach den einheimischen Schmäusen ärmlich durchschleppten, kein einziges Stück Vieh befand, wollte sich Herr Foker eben ganz der Langeweile überlassen, als endlich ein Bote von Herrn Hobnell gemeldet wurde.

Es war niemand anders als Herr Wapshot selbst, der mit einer Miene großer Entrüstung und Pens 270 Botschaft in der Hand hereinkam und Herrn Foker fragte, wie er es habe wagen können, eine so unchristliche Botschaft wie eine Herausforderung einem Knaben seiner Schule zu überbringen.

In der Tat hatte Pen seinem Gegner vom vergangenen Tage geschrieben und ihm darin gesagt, daß, wenn er nach der Züchtigung, die seine Unverschämtheit reichlich verdient hätte, sich noch geneigt fühlte, die Genugtuung zu fordern, die anständige Männer sich zu geben pflegten, so sei Herr Arthur Pendennis' Freund, Herr Harry Foker, bevollmächtigt, die nötigen Anordnungen zur Zufriedenstellung des Herrn Hobnell zu treffen.

»Und so schickte er Sie denn zu mir mit der Antwort, nicht wahr, mein Herr?« sagte Herr Foker, der den Schulmeister in seinem schwarzen Rocke und geistlichen Anzug von oben bis unten ansah.

»Wenn er diese ruchlose Herausforderung angenommen hätte, so würde ich ihn durchgeprügelt haben,« sagte Herr Wapshot und warf Herrn Foker einen Blick zu, der zu sagen schien: und ich möchte Sie sehr gern auch durchprügeln.

»Außerordentlich freundlich von Ihnen, wahrhaftig,« sagte Pens Gesandter. »Ich sagte meinem Freunde gleich, daß ich nicht an das Losgehen des anderen glaubte,« fuhr er mit sehr würdevoller Stimme fort. »Er zieht es wohl vor, durchgepaukt zu werden, statt zu pauken, mein Herr. Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten, Herr? – Habe nicht die Ehre, Ihren Namen zu kennen.«

»Mein Name ist Wapshot, junger Herr, und ich 271 bin Rektor der Gelehrtenschule dieser Stadt,« schrie der andere, »und ich brauche Ihre Erfrischungen nicht, mein Herr, ich danke Ihnen und habe auch keine Lust, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Ich habe die Ihre wahrhaftig auch nicht gesucht,« entgegnete Herr Foker. »In Geschäften dieser Art, sehen Sie, da halte ich es für ein Elend, daß die Geistlichkeit zum Schiedsrichter aufgerufen wird, aber über den Geschmack läßt sich ja nicht streiten, mein Herr.«

»Und ich halte es für ein Elend, daß Knaben so leichtsinnig vom Begehen einer Mordtat reden, mein Herr,« brüllte der Schulmeister, »und wenn ich Sie in meiner Schule hätte –«

»Dann würden Sie mich vermutlich eines Besseren belehren, mein Herr,« sagte Herr Foker mit einer Verbeugung. »Ich danke Ihnen, mein Herr. Ich habe meine Erziehung leider beendet und werde nicht zur Schule zurückkehren, mein Herr; sollte ich es indes doch tun, so werde ich mich Ihres freundlichen Anerbietens erinnern, mein Herr. John, führe diesen Gentleman die Treppe hinunter – und, natürlich, wenn es dem Herrn Hobnell Spaß macht, durchgepaukt zu werden, so können wir nichts dagegen haben, mein Herr, und ich werde sehr glücklich sein, ihm damit zu dienen, sobald er uns in den Weg kommt.«

Hiermit komplimentierte der junge Mensch den älteren Gentleman zur Tür hinaus, worauf er sich niedersetzte und ein Billet an Pen schrieb, in welchem er den letzteren davon benachrichtigte, daß Herr Hobnell nicht zur Paukerei geneigt sei und die Prügel einstecken wollte, die Pen ihm verabfolgt hatte. 272



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