Auguste Supper
Die Mädchen vom Marienhof
Auguste Supper

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Schluß

Ende Januar war's und bitter kalt.

Am frühen, kaum aufsteigenden Morgen trat Hannes Baldenius aus dem Haus, um hinüber nach Kolbenhart zum Schmied zu gehen.

Daß er zum Schmied wollte, das wußte er später noch mit Bestimmtheit. Aber was er bei ihm zu tun hatte, das fiel ihm nicht mehr ein. Vielleicht, weil diese ganze Sache mit dem Schmied nur ein Vorwand derjenigen Macht war, die wollte, daß Hannes in den Januarmorgen hinausgehe.

So klar stand jene Frühe vor seiner Seele, als sei sie eingeschmiedet worden und nie mehr zu verwischen.

Da war die vor Frost knirschende Straße, auf der er noch ein wenig schlaftrunken dahinschritt, sich nicht so recht bewußt, ob er in den Abend oder in den Morgen hineinwandere.

Da war ferner, als er aus dem noch dämmerigen 307 Wald hinaustrat, das weite, stille Feld, das stumpf und erstorben dalag.

Ein eisiger Nordost schlug ihm entgegen, so daß er den Mantel enger um sich ziehen und flüchtig denken mußte, die vergangene Nacht sei nicht gut gewesen für Wild und Vögel.

Wild und Vögel – weiter dachte er nicht.

Wie Erfrorene, die ermattet hingesunken und mitleidig verhüllt worden sind, lagen da und dort die Steinriegel unter der Schneedecke.

Aber ihm fiel nichts Böses dabei ein.

Den noch fahlen, wolkenlosen Himmel säumte draußen am Horizont ein schmaler dunkler Gürtel von Kälte und Dunst. Als winziges, um seinen nächtlichen Glanz gebrachtes Wölkchen stand der Mond noch droben.

Wenn Hannes das alles wußte, warum fiel ihm dann nicht mehr ein, was er beim Schmied wollte?

Etwas ganz Unwichtiges konnte es ja nicht gewesen sein, sonst hätte er sich bei so scharfer Kälte doch nicht in der ersten Morgenfrühe auf den Weg gemacht.

Andererseits konnte es nichts Dringliches gewesen sein, sonst hätte er bei dem eisigen Frühgang den kürzesten Weg genommen und wäre nicht in der Richtung nach der großen Eiche abgezweigt.

Der großen Eiche, unter der gut lieben und gut sterben sein sollte – –

Am Waldrand, dem Hannes jetzt wieder nahe kam, war der Schnee flach und verharscht.

Männertritte sah man darin und kleine Flocken und Häufchen Heu. Hannes begriff, daß da eine der 308 Futterstellen in der Nähe sein müsse, wo Forstmeister Halldorf, sein künftiger Schwager, das Wild füttern ließ.

Aber wenn er diesen einfachen Sachverhalt auch durchschaute – irgend etwas beunruhigte ihn doch.

War es wohl dies, daß das umhergestreute Heu ihn an jenen fernen Tag erinnerte, da der Werkmeister vom Marienhof abgezogen war? Damals war auch im ganzen Hofraum Heu verstreut gewesen, zum Ärgernis für den sparsamen und ordnungsliebenden Hannes.

Er stand und schaute sich um. Aber er sah eigentlich nicht den Waldsaum; er sah jenen fernen Tag.

So vieles im Leben sinkt unter wie Blei; aber was man mit Gewalt aus dem Gedächtnis streichen möchte, das schwimmt immer oben. Wie Farbe, die durch jede Tünche schlägt, sind manche Tage. Des Pächters Abzugstag war von dieser Sorte.

Häßliche Auftritte hatte es da noch gegeben, so sehr Hannes an sich hielt und sein gutes Recht von dem bösartigen Mann vergewaltigen ließ.

Aber das schlimmste war das Gehen der Ria gewesen.

Vielleicht hatte sie von Marie Abschied genommen. Hannes fragte die Schwester nicht darum.

Aber ihm war sie ausgewichen wie einem Feind.

Und doch spürte er, wie sie an jenem Tage litt. Er spürte, was es für dieses Mädchen, für diese unbäuerliche, echte Bäuerin sein mußte, von der Scholle zu scheiden, die sie, als sie noch fast ein Kind war, betreut hatte.

Ja, von der Treue der Ria hatte der Hof sein Leben gefristet, das war Hannes nie so klar gewesen wie an 309 dem Tag, da er sie aus ihrer Heimat verdrängte, ohne helfen zu können.

Jetzt hauste sie mit ihrem Vater drüben im »Grünen Baum« hinter Bittwangen, und eine fremde Magd hatte Einzug gehalten auf dem Marienhof.

Immer noch stand Hannes im Schnee und blickte umher und wußte nicht, daß es unerträgliche Sehnsucht nach der Tapferen war, die ihn auf einmal so elend machte.

Hinter dem dunklen Gürtel am Horizont draußen stieg jetzt strahlenlos in mächtigem Halbrund die Sonne empor.

Eisiger wehte der Wind und trieb dem schauenden Mann das Wasser in die Augen.

Aber er blinzelte nicht. Der Sonne einmal ins Gesicht zu sehen, das war ihm die paar Tränen wert.

Ein feines Erröten lief über den fernen Dunststreifen. Er verlor an Masse, wurde durchscheinend und zart, ja, er wurde jetzt ein dünner Schleier von Glanz und Feuer, der die in königlicher Gelassenheit höher steigende Herrin der Erde und des Tages heraufgeleitete.

Eine kleine Weile später fing rings der Schnee zu funkeln an, als seien Diamanten ausgestreut.

Aus dem hoffnungslosen Grau der Frühe war plötzlich strahlende Erwartung neuer Daseinsfreude geworden.

Jetzt war der himmlische Feuerball schon so in Flammen gehüllt, daß man den Blick nicht mehr ungestraft zu ihm erheben konnte. Hannes wischte sich das Wasser aus den Augen und schritt weiter, der großen Eiche zu.

Die Futterstelle mußte jetzt ganz in der Nähe sein, den 310 Spuren nach. Wildfährten liefen kreuz und quer, und dazwischen Männertritte.

In einem Haufen Heu dort drüben lag etwas Graues. Oder etwas Braunes? Hannes konnte sich über die Farbe nicht schlüssig werden.

Aha, dachte er, da hat ein Sonnenbruder den Kittel gewechselt. Er wird beim Fechten in Kolbenhart einen besseren herausgeschlagen und den schlechten hiergelassen haben.

Hannes fand, daß das töricht gewesen sei von dem Landstreicher. Der hätte doch bei der grimmigen Kälte den neu erbettelten über den alten ziehen sollen!

Im Näherschreiten aber sah – nein, spürte – Hannes, daß das braune oder graue Ding kein weggeworfener Kittel war.

Eine Pferdedecke schien es zu sein, eine von jener rauhen, groben Sorte, die man in der letzten Kriegszeit draußen hatte, als es daheim keine rechte Wolle und keinen rechten Glauben mehr gab.

Er schauerte zusammen. Seine Beine zögerten. Sie schienen etwas zu wittern, schienen die vorwärts drängende Neugier durch eine dunkle Warnung zurückhalten zu wollen.

Jetzt flog ein Rabe von dem grauen oder braunen Ding in die Höhe. Mit kurzem schimpfendem Schrei ließ er sich auf der großen Eiche nieder und äugte aus den kahlen Ästen nach Hannes. Der tat noch ein paar Schritte.

In wilden Schlägen klopfte plötzlich sein Herz. Seine 311 Hände schoben sich vor, als wollten sie etwas Ungeheuerliches nicht heranlassen.

Dann beugte er sich scheu und langsam über den Toten, der auf der Pferdedecke lag.

Durch den entblätterten Baum fand ein Sonnenstrahl den Weg.

Bis an den Leichnam kroch er heran, und der eisige Wind kam mit und bewegte die wirren Haarsträhnen des unbedeckten Kopfes.

Hannes schaute auf und sagte bleichen Mundes ins Weite hinein: »Ria, jetzt ist dein Vater tot.« –

Er sagte es nicht befreit; er sagte es nicht triumphierend. Es brach aus einer schweren Erschütterung heraus.

Dann kniete er zu dem grausigen Fund und blickte in das Gesicht des Erfrorenen.

Wie aus bläulichem, grobkörnigem Stein schien es geformt. In den Linien gut, aber aus schlechtem, verwittertem Material.

Der Geruch von Alkohol wehte darüber.

Daß das Haar über der steinernen Stirn sich im Wind bewegte, wirkte unbehaglich, fast geschmacklos. Es sah aus, als hätte man dem Kopf einer Statue eine Perücke übergestülpt.

Jetzt zuckte der Betrachtende zurück.

Einen Strick hatte der Tote um den Hals.

Aber bald sah Hannes, daß dieser Strick an diesem Sterben gänzlich unbeteiligt war. Eine letzte Geste, würdig dieses Mannes.

Er hatte sich den neuen hänfenen Strick um den Hals gelegt mit der gleichen Verlogenheit, wie er den 312 Gartenzaun flickte. Vielleicht hatte er sich damit warmhalten, auf jeden Fall aber nicht sich hängen wollen.

Hannes nahm mit großer Selbstüberwindung den Strick und steckte ihn in die Tasche seines Mantels.

Ria, dachte er dabei, das ist der letzte, der einzige Dienst, den ich um deinetwillen deinem Vater noch leisten kann.

Langsam stand er auf. Er mußte doch nach Kolbenhart zum Schmied! Aber wie er sich auch besann – es fiel ihm nicht ein, was er dort zu tun hatte.

Ein Gefühl überkam ihn, als sei er nur hier herausgegangen, um diesem Toten ein wenig Gesellschaft zu leisten in seiner schaurigen Einsamkeit. Um dem windbewegtem Haar zu lauschen, das von einem verdorbenen Leben zu erzählen schien.

»Sei still«, murmelte er unwillkürlich, »du hast jetzt nicht mehr nötig, vor Menschen zu beichten.«

Sonnenlicht tastete an dem Erstarrten herum. Hannes fand, daß das unheimlich war. Wurde der Mann jetzt auf Herz und Nieren geprüft?

Geprüft von einem Licht, von einem Auge, dem nichts zu verbergen ist? –

Ach, dachte Hannes, zu was urteilen, verurteilen, richten wir Sterblichen? – Es geht ja doch alles ganz von selbst. Alle Gerechtigkeit ist schon zutiefst in die Konstruktion der Welt eingebaut – –

Er wandte sich ab und ging. Schon draußen am Waldrand, kehrte er noch einmal zurück und bedeckte, so gut es ging, den Toten mit der Pferdedecke, auf der er gestorben war. 313

Der Rabe auf der Eiche krächzte, als könne er dieses Tun nur verdammen.

 

Querfeldein über das hartgefrorene Feld schritt Hannes. Er wußte selbst nicht recht, wo er landen wollte und was sein Plan sei.

Am liebsten wäre er hinübergewandert zum »Grünen Baum« hinter Bittwangen, zu dieser Schwelle, die er körperlich noch nie und im Geist schon so viele, so ungezählte Male überschritten hatte, um bei Ria Einkehr zu halten.

Aber jetzt, in dieser Morgenstunde und mit dieser Botschaft, ging das nicht.

Es war eine Gefahr dabei, vor der er zurückscheute. Hatte er unter den Augen des Lebenden nicht mit der Tochter reden mögen, so war ihm jetzt, als sei es eine Entwürdigung für die nun Elternlose und Einsame, wenn gerade er ihr die Botschaft von dem Tod im Wald bringe.

Hätte es nicht sein können, daß er in ihren oder sie in seinen Augen etwas gelesen, in der Stimme etwas vernommen hätte, was wie Befleckung war? – Und nie hatte Hannes so, wie in dieser Stunde, die leidenschaftliche Sehnsucht gehabt nach Reinheit, nach Sauberkeit.

Er kam auf den Weg hinaus und wußte sich noch immer keinen Rat.

Er verwünschte im stillen das Verhängnis, das gerade ihn vor die harte Aufgabe stellte, das laut werden zu lassen und ans Licht zu bringen, was die Nacht und der Wald schweigend gehütet hatten. 314

Auf einmal fiel ihm Schultheiß Roser ein, und er atmete auf. Der Mann war ihm schon so oft Nothelfer gewesen, zu ihm würde er auch diesmal gehen.

 

Der Krämer von Kolbenhart, der vielerfahrene Mann, hatte alles kommen sehen.

Im halbdunklen Laden ging die Schelle öfter als sonst.

Weil der Schreinersfritz, wie alle Leute seines Schlages, der sicheren Überzeugung war, daß die Toten die ungefährlichsten und am wenigsten zu fürchtenden Wesen seien, so tat er sich dem Werkmeister und seinem Ende gegenüber keinen Zwang an.

Beim Krämer war des Erfrorenen letzte Station gewesen, ehe er zur allerletzten in Nacht und Kälte hinausschritt.

Aus dem »Löwen« herüber war er gekommen und hatte eine Pferdedecke und einen hänfenen Strick gekauft, um am andern Tag eine Kuh zu Markt zu führen.

Am andern Tag! – Welch eine Vermessenheit, am Abend vom anderen Tag zu reden! Aber ohne Vermessenheit läßt sich schließlich kein Schritt auf Erden tun. Ohne sie müßte alles stocken wie eine jäh abgestoppte Maschine.

Daß der Werkmeister dann vom Weg abgekommen und sich bei der großen Eiche auf die Pferdedecke ins Futterheu gelegt hatte, das konnte sich der Krämer nur damit erklären, daß zur Zeit im »Löwen« das Bier ein ganz hinterhältiges, ja ein giftiges Gesöff sei, das keiner ertrage.

Einen andern Grund fand man beim besten Willen nicht, denn im »Grünen Baum« ging das Geschäft, und 315 die Schulden, die er beim Krämer hatte, drückte den Werkmeister nicht.

Auch die Pferdedecke und den Strick hatte er auf Borg genommen. Den Strick hätte der Schreinersfritz als unbenützt allenfalls zurücknehmen können; aber er war nicht zu finden gewesen. Der Werkmeister mochte ihn im Rausch verloren haben.

»Hoffentlich«, so meinte lachend der Krämer, »findet ihn einer, der das Hängen noch nötiger hat als der Werkmeister.«

Der Schultheiß Roser war eben eingetreten.

»Er ist schon gefunden«, sagte er in den lauschenden Kreis hinein, »auf deiner Baumwiese am Weiher habe ich zwei Apfelbäume damit angebunden. Sie waren schon ganz krumm und verdorben.«

Der Krämer reckte sich. »Das sind meine Sachen.«

»Ganz richtig«, entgegnete ruhig der Kleine, »für seine Sachen muß man sorgen, nicht für die der andern.«

Als der Schultheiß wieder gegangen war, deutete der Krämer hinter ihm her. »Hab' ich's nicht gesagt? Gerade der hat den Strick finden müssen.«

 

Im stillen Häuschen des Schultheißen lebte die Ria. Vielleicht lebte sie gar nicht so richtig, sondern war von einer Art Winterschlaf umfangen wie so manches Geschöpf, dem des Schöpfers Gnade erlaubt, halb oder ganz bewußtlos über eine böse Zeit hinwegzukommen.

Sie war tätig von früh bis spät, und doch konnte sie nie recht wach werden. 316

Wie ein müder Soldat auf überlangem Marsch tat sie ihre Schritte, aufrechterhalten durch harte Zucht und Selbstzucht, die immer kann, was sie soll.

Aber wie solch ein übermüdeter Soldat wußte sie auch wie im Traum, daß der Marsch nicht in alle Ewigkeit hinein fortgehen werde.

Daß einmal ein Signal, ein Kommando erklingen müsse, das allem Schweren ein Ende machen und ein köstliches Ausruhen bringen werde.

Irgend jemand hatte ihr das erzählt in einer Stunde, die tief in ihr schlief und von der sie zehrte.

In stillen Nächten, wenn sie schlaflos lag, lauschte sie ins Dunkel, und ihr Herz fing zu klopfen an.

Das Signal meinte sie zu hören, den Ruf vom Marienhof herüber, von der Scholle, zu der sie gehörte.

Einmal würde nach langem Winter die Erde wieder im Frühlingslicht, im Glanz des Sommers stehen.

Dann war auch der leuchtende Tag da für die Mädchen vom Marienhof. –

 

Ostern 1931.

 


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