Auguste Supper
Die Mädchen vom Marienhof
Auguste Supper

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Zehntes Kapitel

Viele Arten von Einsamkeiten gibt es.

Solche, die in unirdischem Glanz erstrahlen, und andere, die dunkler sind als jede sternenlose Nacht.

Einsamkeiten, die mit ihrer zuströmenden Fülle das Herz fast sprengen, und andere, die vor grenzenloser Armut stöhnen machen.

Einsamkeiten, die Flügel zu unendlichen Weiten schenken, und andere, die schon den nächsten Schritt in Ungewißheit und Dunkel hüllen.

Es war keine von den guten Einsamkeiten, in der Hannes, als die Männer gegangen, bei der Lampe saß.

Bücher und Tabellen hatte er vor sich auf den Tisch gehäuft; aber er konnte nicht arbeiten.

Grinste nicht jedes Blatt, jede Buchseite: Zeichne nur Linien und Kreise, schreibe Ziffern und Buchstaben! Die Hand, die alles auswischen kann, ist immer gezückt. –

Finsteren Blicks, den Bleistift in der Hand, schaute Hannes müßig nach dem Flügel hinüber, der in seiner blanken Schwärze wie etwas Drohendes im Zimmer stand.

Umsonst hatte Hannes, als die Träger gegangen, im ganzen Haus nach der Schwester gerufen und gesucht. Sie war offenbar in die frühe Nacht hinausgelaufen wie ein ungezogenes Kind, dem etwas gegen den Wunsch gegangen ist.

Ärgerlich warf er den Bleistift weg und stieß den Stuhl zurück. Ein Wort von ihr, und man hätte das Instrument nicht vom Wagen geladen! Warum immer 246 diese Unberechenbarkeiten? Dieses kindische Gebaren, das sie früher so gar nicht an sich gehabt hatte! –

Unmutig ging er um das schwarze, fremde Ding herum, das durch sein wuchtendes Dasein den vertrauten Raum so veränderte.

War es ein Feind? –

Man war jetzt dem Nachbar ohne Zweifel Dank schuldig.

Aber so, wie sich Marie der großen Aufmerksamkeit gegenüber benahm, fiel es dem Bruder schwer, dankbar zu sein.

Immer hatte er geglaubt, mehr als jeder andere Mensch, sogar den Vater nicht ausgenommen, das Vertrauen der Schwester und den Schlüssel zu ihrem Wesen zu besitzen.

Sein Einfluß auf sie war schon der heimliche Stolz seiner Jugend gewesen. Vor allerlei Umwegen und Enttäuschungen, die ihrer Leidenschaftlichkeit drohten, hatte er sie zu bewahren gewußt. Immer hatte er zur rechten Zeit gespürt, warum und wo Nüchternheit not tat, und Marie hatte sich seiner Führung nie versagt.

War sie nicht auch bedenkenlos, ja begeistert mitgegangen in das neue Leben auf dem Marienhof, in dieses Leben der Einsamkeit und Arbeit hinein? –

Tapfer hatte sie die neuen, die ungewohnten Pflichten übernommen, ein wackerer Kamerad.

Und nun war sie auf einmal nicht mehr zu erkennen. –

Hannes schlug jetzt den Deckel des Flügels auf. Er konnte die Starre des schwarzen Kastens fast nicht mehr ertragen. Der matte Schimmer der elfenbeinernen Tasten 247 schien den fremden Eindringling in dem stillen Raum heimischer zu machen.

Hannes nahm einen Stuhl und suchte die paar Akkorde, die paar einfachen Tonfolgen zusammen, die seine karge, von der Schwester ihm eingetrichterte Kunstfertigkeit zustande brachte. Aber als ihm da unter den ungelenken Fingern die vollen Klänge des kostbaren Instruments entgegenschwangen, hörte er erschrocken wieder auf. Es hatte ihn etwas angerührt, eine Ahnung von der schlummernden Macht, von der Gefahr, vor der Marie sich fürchtete, der sie so starrsinnig und verstört zu entgehen suchte.

Er verstand sein Gefühl nicht; er wußte nur, daß er fröstelte, daß ihm unbehaglich war.

Das Licht löschend, ging er aus dem Zimmer und die finstere Treppe hinab.

Es war zunächst noch nicht Angst um Marie, was ihn aus dem Haus trieb. Er ging auch nicht auf die Suche nach ihr.

Er wollte nur einen späten Gang tun, wie oft, wenn ihn etwas umtrieb. Längst hatte er die Erfahrung gemacht, daß draußen sich alles viel leichter entwirrte, viel rascher auf den rechten Maßstab zurückgebracht werden konnte.

Die Kälte der Spätherbstnacht, die schon an Winternächte gemahnte, konnte ihm in seinem Soldatenrock wenig anhaben.

Langsam ging er die Straße entlang, und die anfängliche Dunkelheit milderte sich, je länger er ausschritt, in 248 ein weiches Grau, in das sich der Waldsaum als dunkle Linie eingrub.

Unwirklich still war es. Das Knirschen der eigenen Tritte klang wie ein Frevel im Heiligtum. Sogar der selten ruhende Wind war einmal eingeschlafen.

Hannes dachte daran, daß auf dieser verlassenen und verwahrlosten Straße schon vor vielen Jahrhunderten Menschenfüße gewandert oder im soldatischen Schritt der geschlossenen Kohorten marschiert waren.

Dieses Hinschauen auf das Gleiten der Zeitenwellen wollte ihn eben ruhig machen, da schlich durch die unwirkliche Stille die Angst um ihn herum, die große Bangigkeit um Marie.

Die Schwester – wo atmete sie in diesem Augenblick, wo schaute sie in die Dunkelheit? –

Schon wollte er ihren Namen rufen, da befiel ihn eine tiefe Scheu, das Meer der Stille aufzurühren. Es war ihm, als könne dieser Ruf, wenn er einmal laut geworden, nirgends mehr zur Ruhe kommen.

Rascher schritt er aus, ohne ein Ziel zu wissen.

Er kam jetzt an jenen Wegzeiger, wo es links nach Bittwangen, rechts nach Kolbenhart geht.

Der aufgereckte Pfahl stieg drohend aus dem Grau. Er schien zu sagen: Wohin du dich auch wenden magst – dem, was auf dich wartet, entgehst du nicht.

Hannes blieb stehen. Er dachte nach, welches sein Weg sein müßte. Ein aufgestörtes Horchen, ein fast scheues Hinauslauschen in die Ferne bannte ihn an den Platz.

Auf einmal war die Nacht nicht mehr stumm.

Irgendwo der Hall von Tritten. 249

Dem Mann fing das Herz schwer zu klopfen an.

Dann eine Enttäuschung. Das war nicht der Tritt der Marie.

So fest und ruhig schritt die nicht. So schritt kein Mädchen, das nicht mit sich fertig wurde.

Hannes trat vom Weg zurück an den Waldsaum, dessen Dunkel ihn verschlang. Stumm ragte unweit der immer wache Wegweiser.

Das Herz des Lauschenden wollte nicht Ruhe geben.

Jetzt das heisere, zerdrückte Kläffen, wie es des Pächters schwarzer Spitzer an sich hatte, dieser lebenserfahrene Hund, den Hannes bewunderte, weil er zwischen seiner jungen, stillen Herrin und seinem lauten, tyrannischen Herrn so klug zu lavieren wußte.

Angestrengter horchte der Mann. Kam die Ria von Kolbenhart oder von Bittwangen? Hatte sie sich vielleicht wieder von Verdun erzählen lassen, von diesem verfluchten Verdun, von dem zu reden man nach des Meisters Meinung nie fertig werden konnte? –

Der Hall der Tritte kam von Kolbenhart.

Der Lauschende atmete tief. Es erschien ihm plötzlich nicht ritterlich, das Mädchen gleichsam vom Hinterhalt aus zu überwachen. Dann fiel ihm seine Angst wieder ein, die er einen Augenblick vergessen gehabt hatte.

Sollte er Ria nach der Schwester fragen? Sie einweihen in seine Sorgen um sie? –

Ein Widerstreben war in ihm. Nicht nur um seiner selbst und um der Schwester, sondern auch um Rias willen. 250

Schleppte die nicht genug an ihren eigenen Angelegenheiten?

So wog er ab, und mittlerweile kamen die Tritte so nahe, daß er sich nicht mehr hervorzutreten getraute, aus Angst, das Mädchen zu erschrecken.

Auf einmal schnupperte vor seinen Füßen der Hund. Er wollte ihm leise zureden; aber schon kläffte das Tier wie toll, lief auf die Straße und lärmte herüber.

Die Schritte hielten an. Nach einer Weile klang Rias Stimme auf.

»Dummkopf«, sagte sie ruhig zu dem Hund, »das ist doch der Wegweiser. Ein netter Beschützer bist du. Auf die Ria wartet keiner im Wald.«

Einen Augenblick schwieg der Hund. Dann legte er kräftiger los, mit der Zähigkeit dessen, der sich im Recht weiß.

»Komm!« rief das Mädchen, und ihre Schritte klangen wieder auf, »komm, des Werkmeisters Ria ist sicher wie glühend Eisen, das auch keiner anrührt. Ich bin nicht die Marie.«

Hannes hörte jedes Wort in der weittragenden, unendlichen Stille. Es war ihm, als breche aus qualmendem Rauch endlich die Flamme, die die Lage beleuchtete.

Er sprang ohne weiteres Überlegen auf die Straße. In das Hundekläffen hinein rief er hinter dem Mädchen her: »Ria, Fräulein Ria!«

Wenn die Einsame erschrak, so stieß sie doch keinen Schrei aus, ergriff nicht die Flucht.

Daß sie die Hände auf die Brust preßte und einen starren Blick hatte, konnte der Mann nicht sehen. 251

Er ging auf die Wartende zu. Das Gefühl überkam ihn, der Schatten auf der nächtlichen Straße sei nicht die Ria Horch, sondern das Schicksal selbst, das ihn hier in der Dunkelheit stellen wollte.

Gewaltsam riß er sich zusammen. »So spät noch unterwegs?« fragte er und erschrak vor der eigenen Stimme.

Wie aus weiter Ferne her kam die Antwort zu ihm: »Ich war bei Schultheiß Roser.«

Hannes faßte Tritt mit der Weiterschreitenden. Er wunderte sich, daß es noch so einfache Dinge auf der Welt gab wie das Trittfassen.

»Der ist jetzt allein«, sagte er verloren.

Und plötzlich faßte er mit hartem Griff den Arm des Mädchens.

»Was ist mit meiner Marie?« –

Sie standen. Es wurde unheimlich still. Auch der Hund knurrte nicht mehr.

Da riß sich die Ria los und trat weg. »Fragen Sie sie doch! Schon lange hätten Sie sie fragen müssen.« Eine dunkle Angst quoll aus den Worten.

Da verließ den Mann die Besinnung. Er riß das Mädchen fast brutal zu sich her. »Dich frag ich jetzt, dich! Weich mir nicht aus!«

Wie ein Spuk zog es an Ria vorüber, daß es sie einmal gelüstet hatte, nach dem Rat der Melle den Schweigsamen gesprächig zu machen, indem sie ihm sagte: Die Marie läßt sich im Wald vom Forstmeister in den Arm nehmen.

Sie zwang ein heißes Auflodern hinunter und machte sich frei. 252

»Haben Sie mir eigentlich aufgelauert wie ein Wegelagerer?« fragte sie hart, »es war sonst immer sicher da oben.«

Hannes gab dem wieder knurrenden Hund einen Tritt, als könne er sich dadurch von Unerträglichem befreien.

»Ria«, stieß er hervor, »meine Schwester – was ist denn –?«

Noch weiter wegtretend, sagte sie erstickt: »Ich bin kein Aufpasser. Sie fragt nach mir nichts mehr.«

Hörte der Mann den Unterton einer schmerzlichen Klage? Der tief Erregte wurde ruhiger.

»Ria«, bat er, »wollen Sie mir nicht helfen?«

»Helfen«, kam es laut zurück, »helfen kann da niemand.«

Hannes atmete schwer. »Sie wissen mehr als ich.« –

»Fragen Sie Marie«, kam es tonlos.

Er lachte kurz und bitter auf. »Mir steht sie schon lange nicht mehr Rede. Ich habe keine Macht mehr über sie. Vorhin ist sie in die Nacht hinausgelaufen, weil –«

Er stockte. Wußte er denn selbst den Grund? –

»Fortgelaufen ist sie?« fragte bang das Mädchen.

»Ja, sie treibt sich in der Nacht umher.«

Es wurde wieder beängstigend still.

»Weiß sie, daß die Melle fort ist und der Forstmeister?« kam es dann ganz schwer.

Hannes schwieg. Es war ihm, als hätte der Blitz neben ihm eingeschlagen und hätte ihn gelähmt.

»Der Schuft«, sagte er dumpf nach langer Zeit.

»Nein«, schrie Ria auf, »er ist nicht mit der Melle fort; aber sie meint das.« 253

Wie war's doch, als Hannes aus einer Betäubung aufwachte, von der er meinte, sie habe unendlich lange gedauert? –

Ach ja, auf der nächtlichen Straße, unweit vom Wegweiser, stand er, und neben ihm schluchzte ganz leise die Ria.

Folternd klangen die Stimmen in ihm: Warum warst du so furchtbar blind, warum sahst du nirgends Zusammenhänge, und diese Ria, diese Fremde, durchschaute alles und wußte alles!

»Was tun wir jetzt?« fragte er gequält und rauh in die Nacht hinein und schämte sich bitter, daß er, der Bruder, so fragen mußte.

Da verstummte das leise Schluchzen.

»Suchen«, sagte Ria kurz.

Suchen, schwang es in Hannes, suchen! Verlorenes sucht man, Verlorenes – –

»Wo?« fragte er mutlos.

Das Mädchen schien sich zu besinnen. »Erst gehen wir auf den Kirchhof«, sagte sie dann.

Stumm schritten sie aus. Erst nach langer Zeit fiel es Hannes ein zu fragen: »Auf den Kirchhof – bei Nacht –?«

Leis und schwer sagte neben ihm eine Stimme: »Ich bin auch schon bei Nacht dort gewesen.«

Er stöhnte. Kein Wort fiel ihm ein.

Sie mußten eine Strecke durch den Wald. Wie eine Schlucht unter grauschwarzer Decke war der Weg. –

In so manchem Nachtmarsch draußen hatte Hannes mit starkem Willen gegen ein Schwindelgefühl ankämpfen 254 müssen, das so viele befällt, wenn die Dinge der Sichtbarkeit ihren Maßstab nicht mehr herleihen.

Heute taumelte er vorwärts wie ein Betrunkener.

Der Schritt neben ihm aber klang sicher, als sei er auch der Nacht gewöhnt und gewachsen.

Einmal fragte Hannes: »Wann hat's angefangen?«

»An Jakobi schon, glaube ich«, entgegnete Ria leise, als sei sie keinen Augenblick im Zweifel, was gemeint war.

»Da starb unser Vater«, murmelte Hannes gequält. –

Nach langer Zeit warf das Mädchen mit scheuer Stimme hin: »Wenn das kommt, gibt's kein Aufhalten.«

Der Mann blieb jäh stehen. »Wer sagt das?« stieß er rauh hervor, »fürs Kommen kann keiner; aber aufhalten –«

Er schritt wieder weiter, ohne auszureden.

Vor dem Wald wurde es viel heller. Es war fast, als ob man den Mond hinter der grauen Himmelsdecke spüre, oder sahen die Augen jetzt schärfer?

Fremd blickte Hannes sich um. Er begriff gar nicht gleich, wo er war.

Dann tauchte die Friedhofsecke als dunkler Streifen im Gelände auf. Dem Mann wurden die Füße schwer.

»Ich hab' den Schlüssel«, murmelte Ria.

Sie schloß die Pforte auf. Zwei entblätterte Ahornbäume hüteten den Eingang. Ein dunkler Weg führte zwischen die Gräberreihen hinein.

Dürres Laub raschelte, als Schatten tauchten die Kreuze, die Steine auf.

Hannes meinte einen strengen Einspruch zu spüren 255 gegen die Ruhestörung. Aber dann verstummte dieser Protest, wurde Einverständnis.

Hatte eine qualvolle Angst, die Schwester hier außen zu finden, dem Mann seither das Herz bedrückt, so wünschte er jetzt fast, Marie möchte wie die Ria den Mut aufgebracht haben, gerade an diesen Ort zu den Stillgewordenen und Stillmachenden zu flüchten.

Sein Wunsch wurde nicht erfüllt.

Marie war nicht auf des Vaters Hügel, war nicht auf dem Friedhof.

Lautlos gingen die zwei.

Weit weg von der Tannenhecke fand sich der Hund wieder bei ihnen ein.

»Warum ging der Spitzer nicht mit hinein?« fragte Hannes verloren.

»Der geht da nie mit«, antwortete leis das Mädchen, und nach einer Weile hart: »Er hat Angst. Tiere haben da Angst. Es geht ihnen zu gut – besser als uns –«

Der Waldrand tauchte wieder auf. »Wohin jetzt?« fragte stehenbleibend der Mann in verstörter Ratlosigkeit.

»Gleich sind wir bei der großen Eiche«, murmelte Ria wie aufmunternd.

Sie schritten aus. Hannes grübelte. Mit der großen Eiche hatte es eine Bewandtnis! Ach ja – dort war der Schulmeister Horch »an denen schwarzen Blatteren« gestorben.

Jetzt nicht davon reden! Es kann nichts Gutes dabei herauskommen!

»Warum dorthin?« fragte er halb unwillig.

Ria blieb stumm. 256

»Warum gerade dorthin?« kam es noch einmal und jetzt erregt.

Das Mädchen stand und sagte still: »Dort ist sie mit ihm gesessen.«

»Ach so –«, murmelte Hannes.

Sie drangen tiefer in den Wald ein. Es wurde dunkler, und für den Mann begann wieder der Kampf mit dem Schwindelgefühl. Um sich darüber wegzubringen, fing er zu sprechen an:

»Ist sie schon alt, die Eiche?«

»Ja«, sagte Ria, »es heißt, sie stamme aus Hohenstaufen-Zeiten.«

»Das hat Ihnen wohl Ihr Großvater, der Schullehrer, gesagt?«

»Meine Mutter.«

»Wußte die solche Sachen?«

»Solche und andere«, kam es kurz.

»Welche anderen?« fragte Hannes zäh, um das Schweigen nicht wieder aufkommen zu lassen.

Ria gab lange keine Antwort. Dann sagte sie: »Vielerlei. Auch daß es von der großen Eiche heißt, wo gut lieben sei, da sei gut sterben.«

Ach, das ist's, dachte Hannes benommen, deshalb also ist jener Schulmeister da herausgegangen, um an »denen schwarzen Blatteren« gerade hier zu sterben. –

Sie stolperten jetzt über allerlei Bodenerhöhungen dahin, Ria immer voraus, als sei sie trotz der Dunkelheit ihrer Sache sicher.

Auf einmal blieb sie stehen. »Marie«, rief sie halblaut. 257

»Sind wir da?« würgte Hannes hervor, und er spürte eine qualvolle Hilflosigkeit, als sei er an Händen und Füßen gefesselt. Das Mädchen lockte leise den Hund, den man im dürren Laub wühlen hörte. –

Suchen hieß sie ihn.

Hannes hätte aufschreien mögen und wagte doch nicht zu atmen.

Man hörte das schnuppernde Suchen des Hundes im Laub.

Konnte das eifrige Tier nicht jeden Augenblick Laut geben, zum Zeichen, daß es auf das Ungeheuerliche gestoßen sei, das aus der Dunkelheit zu glotzen schien? –

Das Warten auf den Einschlag der Granaten im nachtschwarzen Unterstand war nicht unerträglicher gewesen als das Horchen auf des Spitzers leises Geschnupper.

Dann kam eine grenzenlose Schwere und Stille. Der Hund schien seine Arbeit aufgegeben zu haben; man hörte ihn nicht mehr.

Von der Finsternis umschlossen, durch die Finsternis getrennt, standen die zwei dicht beieinander. Erregt bis ins Innerste, fühlten sie nicht mehr, daß eines sich ans andere lehnte, als sei da Halt in der Qual dieser Augenblicke.

Plötzlich ein Ton.

Ein ganz ferner, ganz unwirklicher und unglaublicher Ton.

Weither kam er, weithin riß er mit. Hinaus aus dem tödlichen Warten, aus der zerreibenden Angst.

Musik. Der Flügel! 258

Vielleicht nie in den Jahrhunderten, seit der Marienhof drüben und die große Eiche hier standen, war ein Klang dieser Art über die nächtliche Höhe hingezogen, getragen von der unendlichen Stille.

»Marie«, stieß Hannes hervor, und es klang nach dem Erlebten fast wie ein Jubelruf.

Eine aufs höchste gesteigerte, unerträglich gewordene Spannung brach in den beiden Menschen zusammen und riß mit, was in dem Manne Besinnung und Wille, in dem Mädchen der Stolz und die Not aufgerichtet und hochgehalten hatten.

Sie lagen sich in den Armen und küßten sich wie die Trunkenen oder die Verschmachtenden.

Die Nacht, sie, die alle Schrecken und alle Seligkeiten kennt und schirmt, legte den dunklen Mantel mit gleicher Gelassenheit nun um zwei Erlöste wie eben noch um zwei Gemarterte. –

Sie kamen hinaus an den Waldsaum, geführt von dem Spiel der Marie, das dort herüberflutete, wo mit dunklen Umrissen der Marienhof im Grau der Nacht lag.

Plötzlich verstummten die Klänge.

Da machte sich Ria aus des Mannes Arm los.

»Es ist zu Ende«, sagte sie still.

Er zog sie wieder an sich her und küßte sie.

»Es fängt ja erst an.«

In dem Stall drüben brüllten die Kühe.

Das Mädchen riß sich heftig los. Sie war wie verwandelt.

»Er sitzt noch im ›Löwen‹«, stieß sie hervor, »ich muß füttern.« 259

Hannes griff nach ihrer Hand. Er fühlte ihre zitternde Erregung.

»Ich helfe die«, sagte sie leise-

Sie lachte auf. »Mir kann man nicht helfen.«

»Komm«, bat er.

Sie riß ihre Hand los. »Daß er wieder meint, Sie wollen sich bei der Ria im Kuhstall bezahlt machen –«

Hannes versuchte den Arm um sie zu legen. Das Herz war ihm schwer von Leid.

Sie entzog sich ihm. »Nicht, nicht!« wehrte sie ab wie außer sich, »von des Werkmeisters Tochter kann keiner etwas wollen, der Ehre im Leib hat.«

Er starrte in die Nacht hinein. War das, was sie eben gesagt hatte, nicht genau das, was ihn Tag und Nacht quälte?

Mühselig suchte er nach einer Entgegnung.

Da sah er ihren Schatten enteilen.

Mit schweren Füßen ging er ins Haus und die Treppe empor. Eine Angst vor dem Zusammentreffen mit der Schwester lag jetzt wie Lähmung auf ihm.

Es brannte kein Licht im Zimmer. Im ersten Augenblick war ihm das recht.

Dann aber kam etwas Ungreifbares zu ihm her und ließ ihn jäh nach dem Lichtschalter tasten.

Im nächsten Augenblick kniete er am Boden neben einer reglosen, am Flügel zusammengebrochenen Gestalt.

Dann trug er mit der Kraft, die die Aufregung verleiht, die Schwester auf ihr Bett. Seine zitternden Hände ertasteten, daß das junge Herz noch schlug. – 260

Er stürzte die Treppe hinab, über den Hof nach dem Stall, wo Ria hantierte.

Was er hervorstieß, wußte er nicht.

In seine stürmende Erregung hinein fragte das Mädchen:

»Hat sie sich vergiftet?« –

Er starrte sie an. Das Wort schien Berge vor ihm aufzutürmen, die er nie gesehen hatte. Wie zur Abwehr hob er die Hand.

»Nein, nein.«

Ria ging vor ihm über den Hof. Am Brunnen wusch sie sich die Hände.

Wie im Traum und doch erregend deutlich sah er das alles, obgleich nur der schwache Schimmer des Stallichts herüberdrang.

Dann entkleidete und bettete Ria die Schwester, indes Hannes am Fenster stand und in die Nacht hinausstarrte.

»Sie müssen jetzt gehen und dem Arzt telephonieren«, sagte fremd und fern das Mädchen.

Hannes blickte sich um, als müsse er sich besinnen, ob er gemeint sei. Weggeschoben von den beiden fühlte er sich. Das erschreckend blasse Gesicht mit den geschlossenen Augen dort in dem weißen Bett schien zu sagen: Was willst du von mir? Geh doch auf den Speicher und sichte das alte Gerümpel und laß mich meiner Wege gehen!

Gefoltert von Angst, von Reue, von Gewissensbissen, deren Art er selbst nicht recht durchschaute, lief Hannes den nächtlichen Weg noch einmal, den er mit Ria gegangen. 261

Aber am Kirchhof ging's weiter, Kolbenhart zu. Dort im »Löwen« wollte er telephonieren.

Im »Löwen«, wo der Pächter noch saß und trank und Reden hielt, indes –

Hannes biß sich auf die Lippen. Seit er die Ria geküßt hatte, stand er anders zu dem Lumpen und der Lump zu ihm.

Was doch eine Stunde verändern kann!

Er sah sich um, als müsse er irgendeinen Ausweg finden. –

Und plötzlich stand er. –

Dort drüben, weit vor dem Dorfeingang, ist ein Fenster hell.

Dort im Forsthaus ist das nächstgelegene Telephon.

Die Gedanken jagten jetzt in dem Einsamen.

Warum denn nicht? Warum nicht dort hinüber, wenn doch vielleicht Minuten kostbar sind? –

Der Forstmeister ist ja fort.

Aber auch wenn er nicht fort wäre – hätte etwa er, Hannes Baldenius, diesen Nachbar zu scheuen, ihm auszuweichen? Müßte er ihn nicht vielmehr bei der nächsten Gelegenheit stellen, ihn Aug' in Auge fragen um das, was jetzt noch so furchtbar dunkel war? –

Trotz und Zorn brannten in Hannes auf, trieben ihn hinüber.

Der Ton der Klingel schrillte durch das Haus.

Oben öffnete sich ein Fenster.

Eine fremde Männerstimme fragte: »Ja – was ist los?« 262

Hannes schluckte. »Baldenius; darf ich rasch telephonieren?« rief er hinauf.

Eilende Schritte kamen die Treppe herab. Die Haustür wurde entriegelt. Ein Unbekannter tat auf und schien gar nicht überrascht.

»Bitte«, sagte er höflich, nach der Treppe weisend.

Hannes fühlte eine Entspannung, in der ferne Enttäuschung mitschwang. Benommen schritt er durch den Flur.

Hinter ihm sagte der andere: »Sie kommen vom Marienhof herüber? Ich kenne mich schon ein wenig aus. Forstassessor Frei, der Stellvertreter.«

Hannes wandte sich halb zurück. »Entschuldigen Sie mich, daß ich so spät einbreche.«

Der Mann lachte. »Spät ist das nur da oben vor der Welt draußen. Ich komme von der Stadt, da ist acht Uhr noch früh.«

Nichts im Haus rührte sich. Vielleicht war die Haushälterin schon zu Bett gegangen.

Hannes dachte es, und der andere, als müsse er Bescheid darauf geben, sagte im Hinaufsteigen: »Fräulein Karoline hat heute abend Urlaub. Sie ging mit dem Hund ins Dorf. Sie ist bei Hauptlehrers eingeladen.«

In Hannes war ein Verwundern, daß sich alles so einfach, so gemütlich entwickelte. Es war schärfster Kontrast zu der Welt, die er in sich trug.

Sie kamen in das Zimmer, aus dem das Licht in die Nacht hinausgeleuchtet hatte.

Höflich und ohne die Verstörtheit des späten Gastes zu spüren, fragte der Assessor: »Darf ich für Sie anrufen?« 263

Ehe Hannes eine Antwort geben konnte, schrillte der Apparat gellend auf, so daß die beiden sich wie erschrocken anblickten.

Dann trat der Assessor hinzu und nahm den Hörer ab. »Forstamt Kolbenhart –«

Benommen dachte Hannes: Was will denn da ein Dritter? Warum muß der zuerst das Wort haben? –

»Entschuldigen Sie«, sagte leise vom Apparat her der Forstmann und horchte dann mit einem Gesicht, als sei die Botschaft, die er auffing, nicht gut.

Es wurde lang gesprochen. Sehr lang. Selten warf der Hörende etwas ein und dann nur kurze, belanglose Worte.

Zuerst war in Hannes ein Fiebern der Ungeduld. Dann verebbte es langsam. Den lauschenden Mann betrachtete er.

Er hat ein gutes Gesicht, ging es ihm durch den Sinn, ein Gesicht, als liege ihm daran, alle verworrenen Dinge zu schlichten, für alle Schwierigkeiten eine Lösung zu finden.

Es gibt solche Leute. An der Front waren sie die Besten. Man wäre nicht ausgekommen ohne sie.

Immer noch sprach die unbekannte Stimme im Apparat, diese Stimme aus irgendeiner Ferne her.

Was schadet's, wenn ich hier untätig stehe, dachte Hannes weiter, die Sache der Marie wird doch geführt.

»Ja, gewiß«, sagte eben der Assessor ins Telephon.

Siehst du, raunte es in Hannes, er meint das auch, und der, mit dem er spricht, wird's wohl auch meinen. – 264

Endlich hängte der Mann ab.

Er sah bleich aus und blieb eine Zeitlang stumm.

Dann wandte er sich an Hannes. »Entschuldigen Sie nur. Es ist ein unglücklicher Zufall, daß Sie so lange warten mußten. Forstmeister Halldorf läutete an.«

Hannes blickte ihm ins Gesicht. Ich weiß, wollte er unwillkürlich sagen. Der andere, wie aus tiefer Erregung heraus, fuhr fort: »Es bleibt ja kein Geheimnis, und ich kann es Ihnen wohl sagen: die Frau ist jetzt tot. Sie muß noch furchtbar gelitten haben. Kannten Sie sie?«

Hannes schüttelte nur den Kopf. Um keinen Preis hätte er reden können.

»Es gab allerlei Dienstliches zu besprechen«, setzte der andere erklärend hinzu, »die Leiche soll überführt werden, der Forstmeister gab Anordnungen –«

Wie das Rauschen des Windes im Wald hörte Hannes das alles. Irgendeine Botschaft mußte es wohl sein; aber war es an ihm, sie in dieser Stunde zu deuten? –

»Darf ich jetzt für Sie anrufen?« fragte gefällig der Forstmann.

Hannes atmete tief. »Vielen Dank«, sagte er, »Sie dürfen sich nicht weiter für mich bemühen. Ich brauche den Arzt für meine Schwester.«

»Ach«, meinte der andere erschrocken, »und gerade da dieses Dazwischenkommen!«

Hannes machte einen Versuch zu lächeln. »Es wird wohl auch dazugehören«, sagte er still.

Dann rief er den Arzt. 265

 


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