Auguste Supper
Die Mädchen vom Marienhof
Auguste Supper

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Neuntes Kapitel

Langsam fing es an einzuwintern.

Man konnte nichts mehr dagegen sagen. Der schöne Spätsommer, der noch den Herbst in sich aufgesogen hatte, war lang genug verweilt und hatte beim Abschiednehmen immer wieder gezögert.

Dann sah er ein, daß seine Zeit vorüber war.

Über die Äcker der Höhe strich jetzt ein rauher Wind, und man erblickte nur noch selten Gespanne bei der Arbeit.

Da und dort war ein Letztes abzuräumen und einzuheimsen, oder eine späte Saat der müden Erde anzuvertrauen.

Den meisten Äckern aber sah man an, daß sie bereit waren für den Winter und fertig mit den Menschen und dem Dienst an ihnen und für sie.

Abgewendet, in sich versunken, nur noch mit den eigenen Dingen beschäftigt, lagen sie da unter dem grauen Himmel, und sie kümmerten sich, wie Schlafende, um nichts mehr, was außer ihnen war.

Die Raben taten sich zusammen. Im leichten Sommerdasein konnte man Gemeinschaft verschmähen. Das Darben aber, das Frieren ließ sich besser tragen, wenn man beieinander war und sah, daß alle darbten, alle froren.

Am Waldrand hinter den Kleeäckern streuten die alten Birnbäume ihr flammendes Laub zögernd und ungern auf die bereiften Schollen. Sie waren erfahren genug, zu wissen, daß das sein muß und zur ewigen Ordnung 212 gehört. Aber doch war für sie jedes Jahr ein leiser Schmerz, eine verhaltene Wehmut dabei, die nur nach und nach in Ruhe und Schlaftrunkenheit unterging.

Zum erstenmal sahen die Geschwister auf dem Marienhof so bewußt und nah das Vergehen und Sterben da draußen. War es vielleicht das, was ihnen so hart an die Herzen griff? – Verändert waren die zwei, gestreift von etwas, das Spuren ließ.

In der fernen Stadt setzte um diese Zeit jenes erhöhte Wachsein, jene stärkere Lebendigkeit und Betriebsamkeit ein, die man als Geistigkeit empfand und genoß.

Dort flüchtete man aus den kurzen trüben Tagen in die langen, strahlend erhellten Abende und spürte prickelnder und ausschließender als zu jeder anderen Zeit sein Menschentum.

Hier oben war das anders. Viel stärker war man da eingespannt in den natürlichen Ablauf des Jahres, viel brüderlicher war man aller Kreatur und ihrem Schicksal verbunden.

Hannes durchschaute das und genoß es. Er spürte besonders das stille Einigsein der Natur mit dem Vergehen und Sterben als eine heimliche Wohltat, als eine große Befreiung aus menschlicher Verzerrung. Er verstand jetzt auch, was er einmal den Schultheißen hatte sagen hören: daß ein Bauernsterben anders sei als ein Herrensterben. Aber dennoch war Hannes voll Unruhe, voll unklarer Besorgnis vor dem Winter und seiner Einsamkeit.

Vielleicht hing es mit der Schwester zusammen? Marie kam ihm oft vor wie ein Mensch, der in schweren 213 Nebel geraten ist und nicht mehr weiß, nach welcher Richtung er sich wenden soll.

Unausgeglichen, fremd, zwischen Leidenschaftlichkeit und Dumpfheit beängstigend pendelnd, erschreckte sie den Bruder, ohne daß er Grund und Abhilfe wußte.

»Marie«, schlug er einmal tastend vor, »ich werde jetzt Mutters Brillantbrosche verkaufen, damit du wieder zu deinem Flügel kommst.«

Sie starrte ihn eine Weile an. Dann senkte sie den Kopf tief über ihre Näharbeit und sagte: »Ich vergaß dir auszurichten, daß der Forstmeister den Bechstein bald schicken will.«

Hannes bekam unruhige Augen. »Wann sagte er dir das?«

Sie bückte sich nach ihrem Taschentuch. »Er nicht. Ein Waldarbeiter war da.«

»Wann?« fragte Hannes kurz und wußte, daß die Schwester log.

Sie schob ihren Stuhl zurück. »Ach, du! Das kann ich doch nicht mehr wissen; kürzlich halt.«

Das klang so gereizt, daß der Bruder erschrak. Langsam trat er näher. Streng fragte er: »Was hast du zurücksagen lassen?«

Sie warf die Arbeit weg und stand auf.

»Daß du nicht da seiest und daß ich dich erst fragen müsse. Oder ist das nicht wahr? Muß ich dich nicht bei allem erst fragen? –«

In schwerer Betroffenheit verharrte Hannes. Dann sah er ihr blasses, ihr verzerrtes Gesicht. 214

Jähes Mitleid stieg in ihm auf. »Kind, warum so erregt? Ich lasse dir doch freie Hand; ich –«

»Sag' nicht Kind!« schrie sie auf, »ich bin kein Kind, bin nicht dein Kind!«

Der Bruder ging aus dem Zimmer.

 

Schultheiß Roser schritt noch einsam hinter dem Pflug, als die Dämmerung schon am Waldsaum hockte.

Des Mannes Füße waren schwer; aber nicht allein von den feuchten Schollen, die sich daran hängten.

Er dachte an das Häuschen mit dem blitzbeschädigten Dachstock, dessen Stuben jetzt leer und still waren.

Leer und still, denn der meiste Hausrat war daraus fort, und fort war die Melle.

Zu ihrer Mutter in die Stadt geflohen.

»Hü-oh!« schrie der Mann seinem Gaul zu und packte den Pflugsterz fester. Kein Stein auf diesem steinigen Feld und keiner auf seinem Lebensacker sollte ihn noch aus der Furche bringen.

Ja, zu ihrer Mutter war die Melle und mit dem »Zuchtbeibringen«, das er sich ausgedacht, war es nichts und nichts mit dem Strohmattenflechten, das eine so ehrliche Winterarbeit abgegeben hätte.

Ließ sich einst Gottfried nicht halten, weil er seine Ehre gefährdet glaubte, so die Melle nicht, weil sie um ihre Freiheit bangte.

Ehre und Freiheit! Muß es immer Scherben geben um diese zwei?

Ein Brief war schon da von der Melle. 215

Das brachte sie nicht übers Herz, daß sie nicht schreiben würde.

»Hü-oh! Brauner! Bald ist's geschafft!« –

Ganz vergnügt lautete der Brief. Als Empfangsdame und Buchhalterin tue sie Dienst bei ihrer Mutter, die Maniküre und Pediküre der vornehmen Welt sei.

Die »vornehme Welt« hatte die Melle doppelt unterstrichen und noch Gänsefüßchen an das klingende Wort gemacht.

Man wußte nie, spottete sie ihrer selbst oder der anderen.

»Hist, Brauner! Wir müssen wenden!«

Ja, ja, wenden! Bei der vornehmen Welt muß einem heutzutag eine andere Sorte Menschen einfallen als früher. Melle, Melle, werde mir nur nicht zu vornehm!

Auf Besuch will sie kommen, wenn sie tüchtig Geld verdient hat.

Kleine, wenn's nur nicht zu spät ist bis dorthin! Bei dir und deiner Mutter geht's nicht schnell mit dem Geld-auf-Haufen-bringen. Um so schneller ist eine Furche versaut.

Nur einen Augenblick locker lassen, nur die Hand einmal vom Pflugsterz nehmen, und schon ist der Teufel los.

Niemand weiß das besser als ich.

Und nachher darf man – und wenn's hundertmal wahr wäre – nicht sagen: ich tat's, weil – oder ich tat's für –. Nichts da! Jede Tat ist nackt, da hilft auch der schönste Mantel nicht. Wenn der Apfel rot ist, gelten die Blätter, und wenn die Tat getan ist, die Gründe nichts mehr – und die Anstifter erst recht nicht. Das 216 Weib, deine Mutter, wischt jetzt wohl Hände und Mund an mir ab; aber davon werden ihre Hände und ihr Mund nicht so sauber, daß du gut bei ihr aufgehoben wärest.

Melle, Kleine – warum gingst du von mir? – –

»So, Brauner! Geschafft wär's für heut! Jetzt geht's heimwärts. Der Stall, in den du kommst, ist wenigstens nicht leer.«

Mit steifen Fingern schirrte der Mann den Gaul aus. Der Pflug blieb am Ackerrand stehen, umfriedet von uraltem Recht und Schutz. Neben seinem leise aufwiehernden Arbeitskameraden schritt der Schultheiß in den sinkenden Abend hinein.

Als er am Wald vorüberkam, war es, als falle ihm etwas ein. Er schlug dem Gaul auf den starken Hinterbacken.

»Brauner, die Häher machen mir wenigstens jetzt keine Sorgen mehr.«

Leis füllte der Nebel die dunkelnde Luft. Man wußte nicht, zog er von den Äckern herüber, oder hauchte ihn der Wald aus feuchter Tiefe heraus, oder sank er müd vom schweren Himmel herab.

Der Hufschlag des Gaules, die Tritte des Mannes wurden dumpfer. Die Luft wollte keinen Klang mehr tragen.

Auf einmal zuckte der Gaul und trat zur Seite. Ein kleiner Hund war ihm fast zwischen die Beine geraten.

Dann tauchte der Herr auf. Der Forstmeister.

Der Schultheiß grüßte. Der andere hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen. Wohl wegen der niebelnden Nässe. Er legte zwei Finger an den Hutrand. 217

Sie schritten aneinander vorbei.

Doch nein: Der Forstmeister blieb stehen.

Der Schultheiß verhielt den Gaul. Brrr –

Es blieb einen Augenblick still. Jene seltsame Stille, vor der sich die Zeit verkriecht.

Der Forstmeister fragte, und er erschrak vor seiner eigenen Stimme: »Nun ist sie also fort, Ihre Stieftochter?«

Der Kleine gab keine Antwort. Er hatte zu tun, um den Gaul zurückzuhalten. Stieftochter, dachte er; will er mir andeuten, daß ich wenig zu sagen habe? Daß mich die Melle nichts angeht? –

»Mir ist es leid«, fuhr der Forstmeister fort, »sie war eine flinke Schreiberin und hat rasch begriffen.«

Scharf entgegnete jetzt der andere: »Ja, begriffen hat die Melle leicht. Das Rechte und das Schlechte hat man ihr beibringen können in ein paar Sommerwochen.«

Der Forstmeister wendete den Kopf weg und blickte nach dem Wald. Man sah, wie seine Finger am Flintenriemen unruhig wurden. Auf einmal trat er einen Schritt näher.

»Sagen Sie frei heraus, was Sie meinen!«

Der Kleine schwieg. Dann kam's hart: »Das wissen Sie genau.«

Sie standen stumm und feindselig voreinander im wogenden Nebel.

Unterdrückt murmelte jetzt der Grüne: »Ich kann mir's ja denken – die bösen Mäuler – da oben schwatzt ja alles – –« 218

Er verlor den Faden. Man hörte seinen schweren Atem.

»Ja«, sagte hell der Schultheiß, »verborgen bleibt nichts.«

Der andere zuckte. »Das müssen Sie ja wissen.«

»Das weiß ich«, entgegnete mit großer Gelassenheit der Angegriffene.

War es dieser Ton, der auf einmal das Verkrampfte aus der ganzen Lage nahm? –

Der Forstmeister schob den Hut zurück.

»Werden Sie mir glauben oder nicht?« fragte er kurz und sachlich.

Der Kleine blickte auf: »Jetzt, ja«, entgegnete er trocken.

Langsam und eindringlich, als leiste er einen Schwur, sagte der Forstmeister halblaut: »Gespielt habe ich mit der Melle; aber verdorben habe ich die Melle nicht. Das ist so wahr, als ich, wie Ihr Sohn, an der Front stand.«

Es blieb fast erschreckend still. Sogar der Gaul, der seither den nassen Boden unruhig getreten hatte, stand reglos.

Nach langer Zeit murmelte der Schultheiß: »Den Schwur muß ich gelten lassen.«

Der andere blieb unbeweglich, und der Kleine fuhr fort: »Es gibt zweierlei Fronten. An der einen geht es so scheußlich zu wie an der anderen. Um die Melle hab' ich schon viel Angst gehabt und heut noch – –«

Der Forstmeister nahm den Hut ab und wischte sich die Stirne. Dann tat er ein paar Schritte auf seinem 219 Weg, kehrte wieder um und streckte dem Schultheißen die Hand hin. Der hob die seine. Er schaute sie an und sah, daß sie voll Erde, voll Schmutz der Arbeit war.

Groß und scharf blickte er dem Grünen ins Gesicht. –

»Und Sie meinen, so, wie sie ist?« sagte er hart, halb befehlend, halb fragend.

Der andere ergriff die Hand mit stummem Druck und ging.

 

In diesen Tagen bekam auch Ria einen Brief von der Melle. Es war so selten, daß Post für sie auf den Marienhof kam.

Der einzige Bruder ihrer Mutter, der als Gutsinspektor im fernen Ostpreußen lebte, schrieb ihr in Jahr und Tag einmal.

Sie stand am Gartenzaun, als ihr der Bote das Schreiben gab.

Rot und blaß wurde sie vor Überraschung, und auch der weißhaarige Träger konnte seine Neugier nur schlecht verhüllen.

»Schade«, sagte er scherzend, »mit der Maschine geschrieben. Ich wüßte sonst gleich, ob's vom Schatz ist oder nicht.«

Ria besah lange Aufschrift und Stempel. Dem Alten fast zu lange.

»Nun, wie steht's?« fragte er ermunternd.

Sie hob den Kopf. »Von der Melle«, sagte sie mit leisem Lächeln. 220

»Ach so, von der Melle!« Auch der Bote lächelte, als er davonschritt.

Ria las am Gartenzaun und spürte nicht, daß ihr dabei die Hände blau wurden vor Kälte, und daß der Wind an den Briefblättern zerrte.

Der warme Strom, der durch ihr einsames Herz ging, ließ Wind und Kälte vergessen.

Die Melle schrieb ja nicht nur ein paar abspeisende Worte, sie tat eher zuviel als zuwenig mit Erzählen.

Manchmal spielte ein leises Lächeln um den Mund der Lesenden. Vielleicht dann, wenn ihre ernste Seele eine Stelle ertastete, wo die Briefschreiberin ins Flunkern gekommen war.

Denn ohne dies ging's bei der Melle nicht. Es gehörte zu ihr wie das Trillern zu den Lerchen.

Sie hatte von tausend Herrlichkeiten der Stadt zu schreiben, die nur auf sie gewartet, nur mit ihr sich richtig erfüllt hatten.

Alles flog ihr zu, alles war beglückt, daß sie erschienen war.

Nicht gestorben möchte sie mehr in Kolbenhart sein, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen.

Ja, das Essen sei ein bißchen knapp in der Stadt. Aber sie, die Melle, finde immer, so viel sie brauche. Und dann bessere Sachen als Kartoffeln. Aus denen habe sie sich nie viel gemacht, das werde Ria ja wissen.

Die lasse sie gern dem Marienhof und dem Herrn Baldenius und seiner schönen Schwester.

Schön sei die ja; aber doch auch recht hochmütig. 221 Manchmal habe sie ja nett sein können; aber eben doch immer stolz.

Auf was eigentlich? Es gebe immer noch Leute genug, denen die Blonden und die Lustigen lieber seien als die Dunklen und Stolzen. Das gehe aber nicht auf sie, die Ria. Ihr stehen die braunen Haare und das verbrannte Gesicht ausgezeichnet gut. Und überhaupt könnte die Ria in der Stadt sicher ihr Glück machen; das sage auch die Mutter, und die kenne sich aus. –

Die Lesende schaute über den Brief hinweg in den verwilderten Garten, der vom Unkraut und vom herbstlichen Welken und Faulen um seine letzte Schönheit gebracht war.

Eine große Müdigkeit überkam sie, eine Sehnsucht nach Unbekanntem, nach Froherem und Leichterem, das irgendwo lockte.

Dann las sie weiter: »Wie ist denn eigentlich der Baldenius? Mir hat er nicht übel gefallen. Er sieht ein wenig meinem Gottfried gleich. Nur hat er eine größere Nase und ist überhaupt größer. Und ein ärgerer Duckmäuser ist er auch. Bei manchen Leuten weiß man nicht recht, zu was ihnen der Mund gewachsen ist. Wahrscheinlich bloß zum Essen. Das muß schon übel sein, wenn der Mensch so gar nicht aus sich heraus kann.

Auch mein Gottfried hat ja eigentlich immer nur dann ein Mundstück gehabt, wenn er auf mich zornig war. Dann ist's ihm gelaufen. Vielleicht ist's beim Baldenius auch so. Probier's doch einmal. Ich tät's gleich probieren. Man muß doch herausbringen, wie man mit den Leuten dran ist. 222

Die Schwester ist auch so eine, wo man nie weiß. Aber bei der ist's mehr Hochmut. Die Mannsleute sind lang nicht so hochmütig. So macht man halt seine Erfahrungen. Besonders in der Stadt. Da tätest Du gucken!

Gegen meinen Vater mußt Du nett sein, wenn Du ihn siehst. Es ist jetzt eben so mit ihm, und nichts mehr zu machen. Jedem kann einmal etwas passieren, nur erwischt man nicht jeden. Und schlecht meinen tut's meiner nicht. Hätt' man lieber Deinen ein paar Jahre eingesperrt, dann hättest Du's leichter und könntest zu uns kommen. Wenn Du den Forstmeister siehst, sag' ihm einen schönen Gruß von mir. Ich schreib ihm zwar auch selber aus Spaß, weil er immer so nett mit mir war. Durch den Wald brauchst Du nicht mit ihm zu gehen; das kannst Du der Hochmütigen lassen. Sag' ihm, in der Stadt schreien keine Häher. Er weiß dann schon. Ich grüß und küß Dich tausendmal. Aber ich glaub', Du läßt Dich nicht gern küssen; es gibt so Leut'.

Deine glückliche Melle.

NB. Ich weiß wohl, warum mich das stolze Fräulein Marie immer begleitet hat, wenn ich ihr das Kleid anprobiert habe. So dumm ist die Melle nicht.« –

 

Vor Kälte schauernd, mit einem fernen Lächeln auf dem Gesicht, schob Ria den Brief in den Umschlag zurück.

War das nicht die Melle leibhaftig? Ihr kam es nicht auf Schreib- oder Satzfehler an, sowenig wie auf Flecken in ihren hellen Kleidern, oder auf einen Schritt neben die Wahrheit, auf Küsse im Wald, auf kecke Bosheit. 223

Und doch – etwas Frohes war die Melle gewesen, und dieses Frohe war nun weit fort.

Langsam und müde, den Blick an der Erde, ging das Mädchen durch die Gartenwildnis.

Melle fort – und Marie? –

War die nicht noch viel weiter fort seit jenem Nachmittag im sonnigen Wald, als die Brombeeren reif waren? –

Von den heimlichen Küssen der Melle zu wissen, war nicht drückender, als die Flecken an ihren Kleidern zu sehen.

Aber die Heimlichkeit der Marie zu kennen, das war quälende Last, war eine ungreifbare Angst.

Die Melle zu hüten oder zu warnen, das wäre gewesen, als ob man einem lustigen Bach das Plätschern und Murmeln verbieten wollte.

Bei Marie aber war alles ganz anders. Viel dunkler, viel notvoller.

Wenn wenigstens der Bruder um die Sache wüßte!

Aber wer sollte ihm davon sagen, wenn nicht Marie selbst? –

Und die hatte es nicht getan, sonst ginge sie nicht immer wieder allein in den Wald.

Ria steckte den Brief in die Tasche und fing zu arbeiten an.

Wenn die Sorgen schwer, die Angst drückend wurden, was konnte man dann tun als arbeiten? –

Die Beete waren abzuräumen, die Bohnenstangen ins Trockene zu bringen, die faulenden Blumen fortzuschaffen. 224

Wie Totengräberarbeit kam alles dem Mädchen vor, so trostlos, so ohne Licht.

Auf einmal hielt sie inne, schaute vor sich hin und lächelte verloren. Der Ratschlag der Melle fiel ihr ein, Baldenius zornig und dadurch gesprächig zu machen.

Würde er wohl zornig genug werden, um aus sich herauszugehen, wenn sie ihm sagte: Ihre Schwester trifft sich mit dem Forstmeister im Wald. Er nimmt sie aufs Knie, er legt den Arm um sie – –

Die Fleißige stand jetzt versunken und mit hängenden Armen. In ihren braunen Augen war dunkler Glanz, war ein heißes, ein sehnsüchtiges Verlangen, von dem sie nichts wußte, das sich aus zugedeckten Tiefen heraufdrängte.

Dann schauerte sie zusammen und ging aus dem Garten, in dem der Wind durchs dürre Bohnenlaub schetterte.

 

In diesen grauen Tagen war es auch, daß der unruhige Hannes auf den Gedanken verfiel, die Dachräume und Speicher des Hauses, für die man noch nie richtig Zeit gehabt hatte, zu ordnen und zu säubern.

Erst war es nur ein Einfall, eine Art Abenteuer. Aber dann wuchs es sich zur Pflicht aus, je schwieriger sich die Sache gestaltete.

Eine unvorstellbare Menge von Gerümpel fand er da oben. Aus Jahrzehnten, vielleicht aus Jahrhunderten mochte es stammen, und nie schien eine sichtende Hand dahinter gewesen zu sein. Von dem rußigen Gebälk hingen schwarze Spinnengewebe, und Hannes, der seine alte 225 Felduniform zu der schmutzigen Arbeit trug, holte auch den Helm, um ihn überzustülpen.

Er drehte ihn in der Hand, ehe er ihn aufsetzte. Wie Unschlüssigkeit sah das aus. Soll ich dich so erniedrigen?

Aber dann kam's ihm: Gegen Schmutz angehen, kann nie schänden. Und er drückte ihn auf den Kopf.

Je mehr Hannes eindrang in das urweltlich anmutende Chaos, je stärker wollte ihn das Gefühl übermannen, hier sei ein Durchkommen unmöglich.

Aber er gab nicht nach. Jene hetzende Meinung, eine Arbeit bekomme ihr Zeugnis nur vom Erfolg ausgestellt, hatte er längst hinter sich gebracht. Sie gedieh nur in der Stadtluft, hier oben welkte sie dahin. Hier war Arbeit ein »Ding an sich«, eine Art Span vom Werk des Schöpfers, und sie trug als solcher ihren Segen und ihren Lohn schon in sich.

Und Hannes erlebte unter dem Wust stille Freuden.

Woher mochte das wurmzerfressene, bunt bemalte Himmelbett stammen, das dort die dunkle Ecke füllte? Es mußte einmal stattlich gewesen sein und viel erlebt haben, ehe es altersschwach niederbrach.

Und hier ein alter, zerrissener Korb von seiner Flechtarbeit und unbekannten Fasern. Aus dem Orient könnte er stammen seiner fremden Form nach.

Wer mochte ihn von weiter Reise mitgebracht haben? Was konnte sein Inhalt gewesen sein? –

Die zerfetzte Leinwand, die da eine halbe Wand überdeckt, sieht aus, als habe sie einmal ein Segel vorgestellt.

Wessen Boot hat sie einst übers Wasser getrieben, 226 welcher Wind hat sie aufgebläht? Welche Wellen half sie durchschneiden?

Da stehen halbzerschlagene Gefäße aus Steingut und Majolika. Nach Armut und Geschmacklosigkeit sehen die einen aus, nach Wohlhabenheit und Formsinn die andern.

Wer hat sie gekauft, benützt, zerschlagen, weggestellt?

Aus diesen stillen und doch so sprechenden Dingen baute sich eine ganze Welt um Hannes auf, und er glaubte zu begreifen, warum man das alles sich hatte ansammeln lassen. Mußte er selbst sich doch Gewalt antun, um auszuscheiden und Gerümpel als Gerümpel zu behandeln.

Viele Stunden war er so da oben festgehalten. Waren vielleicht Stunden darunter, da er besser der Schwester Gesellschaft geleistet hätte? –

Jetzt nicht, aber später fragte er sich's manchmal.

Wenn ihn die Dunkelheit zwang, aufzuhören und hinunterzugehen, dann traf er oft Marie ohne Licht im Zimmer sitzend.

Fragte er, was sie treibe, so bekam er die müde Antwort: »Nachdenken.«

Wollte er wissen, was sie denke, so hieß es: »Immer das gleiche.«

Drängte er weiter, so ging sie aus dem Zimmer.

Hätte ihm das aus der Bahn geworfene Mädchen vielleicht erzählen sollen, wie unsäglich sie darbte, wie sie fast vor Sehnsucht zerbrach, vor Sehnsucht nach einem Mann, dem sie sich einmal an den Hals geworfen hatte 227 und der sich jetzt von ihr zurückzog, sich nirgends mehr treffen, nirgends mehr finden ließ?

Oder hatte sie sich ihm nicht an den Hals geworfen? War es anders gewesen, weniger schmachvoll, weniger gemein? – –

Sie zermarterte sich, sie zerfaserte ihre junge, heiße Liebe, sie durchlebte die unselig-selige Stunde im Wald unzählige Male, sie wußte, daß sie jede Minute bereit war, wieder zu ihm zu kommen, zu ihm, der doch verheiratet war, der einer kranken Frau gehörte und der doch auch einmal mit der Melle – –

So ging der hetzende Kreislauf ihrer Gedanken, so loderte das heiße Verlangen, so verdammte das Gewissen, so fraß die Unsicherheit und die Eifersucht, so schrie die gemarterte, die verzweifelnde Liebe.

Marie war wie eine Gefangene, die an fugenlosen Mauern entlang tastet, und es war niemand da, der ihr hätte helfen können.

Niemand konnte ihr sagen: Du leidest nicht allein. Der, den du so oft im Walde suchst und der dir ausweicht, er leidet wie du.

Etwas an dir, etwas in deinem Wesen hat ihm die Gänge zum Stelldichein mit einem Schlag unmöglich gemacht.

Er fürchtet jetzt die Einsamkeit, die ihm sonst für die Zweisamkeit gut schien, er fürchtet die Toten unter den grünen Hügeln, er fürchtet sich selbst.

Nein, es gab niemand, der so zu Marie hätte sprechen können, und die Blindheit ihrer bitteren Not ließ sie auch das nicht mehr sehen, was vor ihren Augen lag: Die 228 Sorglichkeit und Geduld des Bruders, die scheue, stumme, wachende Freundschaft der wissenden Ria.

Im Forsthaus aber hatte ein Mann, in einer Seelenverfassung, die er vorher so nicht kannte, den Entschluß gefaßt, Marie Baldenius fernzubleiben.

Er redete sich ein, lächerlich zu handeln; aber in jener Tiefe, wo man sich nicht mehr betrügt, wußte er, daß es galt, hier die Zähne zusammenzubeißen oder das Beste an sich selber für immer in den Schmutz zu treten.

Wie oft schon hatte er einen Brief angefangen und wieder zerrissen! Was konnte man einem Mädchen, was konnte man dem Bruder schreiben, nachdem einmal das scheußliche, das unmodern gewordene Wort »Ehebrecher« in die Debatte geworfen war! –

Ging es an, die Glut, die in diesem schönen, jungen Wesen loderte und die sie in erschütternder Wahrhaftigkeit nicht zu verhüllen wußte – daß man dies Unberührte ausnützte, als sei es Feuer von den qualmenden Bränden der Gasse?

Konnte man in einem Briefe etwa schreiben, daß man warten wolle? –

Warten! Auf was?

Auf den Tod einer Schwerkranken? – –

Der Forstmeister warf die Feder weg, als brenne sie.

Sein verfallenes Gesicht hob sich gegen ein großes Ölbild über dem Schreibtisch.

Ein junges Frauenantlitz, aus dem sprühendes Leben sprach, große, schimmernde Augen, tief entblößte Schultern sahen zu ihm herunter.

Es war nicht Trauer um Vergangenes, was jetzt in 229 des Mannes Blick trat, es war eher Bitterkeit und Feindschaft, war harter Vorwurf, schmerzhaftes Rechten.

Dann schaute der Verstörte hinaus gegen den Wald, gegen den Weg, der zum Marienhof führte.

Nein – das Wort vom Warten auf den Tod ließ sich nicht schreiben, das quälte schon bis aufs Blut, bis auf die Mannesehre hinein, wenn man es nur stumm und zugedeckt in sich trug.

Er sprang vom Schreibtisch auf und schritt im Zimmer hin und her.

Etwas tun können! Ach, nur irgend etwas tun können und nicht so geknebelt und verdammt warten müssen und warten lassen müssen!

Über den paar Tannenwipfeln drüben hauste das junge Kind mit seiner lodernden Liebe, die für ihn da war.

Aber die Wege dahin sind abgeriegelt mit eisernen Toren! –

Jörg Halldorf, Forstmeister von Kolbenhart und Hauptmann a. D., diesmal stehst du auf bösem Posten und dazu mit versiegelter Order. Das paßt dir schlecht und ist anders, als was du bisher kanntest! –

Jetzt kam der kleine Dachshund aus der Ecke und stellte sich seinem ungebärdigen Herrn in den Weg, als müsse er ihn besänftigen.

Erst abwehrend, dann freundlich schaute der Mann auf das kluge, zierliche Tier, das zu lächeln schien.

»Strolch«, sagte er leise, »hätten wir jetzt nur noch das weiße Tuch von ihr, auf dem du damals gelegen bist! Aber gar nichts, gar nichts –!« 230

Stärker schien der Hund zu lächeln, sein Körperchen krümmte sich vor Vergnügen.

»Ja, ja«, murmelte der Herr, ihn streichelnd, »du hast sie auch lieb und sie dich. Sie ist kein Frauchen, das sich vor Hunden ekelt wie das andere.«

Der finstere Ausdruck kam wieder auf des Mannes Gesicht.

Jetzt trat er zum Schreibtisch. Seine Blicke schienen zu suchen und wurden dann hell.

Er nahm einen Brief auf und lächelte. »Strolch«, sagte er leise, das Schreiben dem Hund hinhaltend, »da, nimm Witterung! Von wem meinst du –?«

Der Dackel kläffte übermütig auf, so daß sein Herr wehren mußte.

»Ja, ja, Strölchlein, ganz richtig: von der Melle stammt er. Von der lustigen Melle, die dir so oft einen guten Bissen mitbrachte. Du, das war eine, die haben wir gern gehabt! Die sieht das Leben noch für eine Kirchweih an, und das tut gut. Aber nicht dreckig, Strölchlein, weißt du –«

Der Mann setzte sich wieder, stützte den Kopf in die Hand und grübelte.

Auf einmal schlug er auf den Tisch, daß der Hund zusammenschrak.

»Strolch, der Mann hat recht: es geht an der einen Front so scheußlich zu wie an der andern. Sie hätte vielleicht nicht in die Stadt sollen, die Melle. Aber ich hab' jetzt andere Sorgen.«

Er stand auf, nahm unter dem jubelnden Jaulen des Dackels Hut und Flinte und ging in den Wald. 231

Aber dorthin ging er, wo nicht die tiefe Einsamkeit war, nicht die Erinnerung, nicht die lauernde Stille.

Nach den Waldarbeitern ging er zu sehen, wo er nicht auf Marie treffen konnte.

Vom Krieg her wußte er noch, daß es auch Tapferkeit sein kann, einer Gefahr aus dem Weg zu gehen. Und wenn ein rechter Mann sonst nichts mehr hat, von dem er leben konnte, so muß er von seiner Tapferkeit leben wie ein rechtes Weib von ihrer Erinnerung.

 

Schon manchen Tag räumte und säuberte Hannes auf den weitläufigen Speichern.

Einmal, als er mottenzerfressene Kleider von der Wand nahm, hing ein halb erblindeter Spiegel darunter.

Er sah hinein und erschrak vor dem hageren und verschmutzten Landsknechtsgesicht, das ihn unter dem Stahlhelm hervor anblickte.

Auf Stöße von alten Büchern stieß er, die in dunkeln Winkeln lagen, unter den Dachsparren sich klemmten und halb von den Mäusen zerfressen waren.

Zuerst dachte er, die könnten von dem schon fast sagenhaften Großvater Baldenius stammen, der ein Bücherwurm gewesen sein sollte.

Aber sie entpuppten sich als alte Lagerbücher und Register der Gemeinde Kolbenhart und Bittwangen.

In gefahrdrohenden Zeitläuften mochten sie in die Einsamkeit des Marienhofs geflüchtet und später hier vergessen worden sein.

Hannes blätterte und las in den stockfleckigen Seiten.

Vergilbte Namen gab es zu entziffern, die mit kühner, 232 schnörkelreicher, liebevoller Kielfederschrift eingetragen waren.

Es waren Namen, wie man sie auch auf den Steinen und Grabkreuzen des Kolbenharter Friedhofs las und überall auf der Höhe hörte.

Hannes hatte wieder einmal das Gefühl, daß Zeit und Leben hier oben nur im Kreis, nicht in die Weite gehen.

Der Name »Horch« kam ihm jetzt vor die Augen. Er blätterte nicht weiter.

Von einem Schulmeister Horch las er, der Anno 1615 an »denen schwarzen Blatteren« gestorben und im Wald »bei der großen Eich« gefunden worden sei.

Es war eine harte Mühe, bis Hannes die Sätze entziffert hatte.

Er suchte weiter; aber es stand sonst nichts da über den Fall. Der Schulmeister und sein seltsames Schicksal waren nur im Zusammenhang mit einem Ackerverkauf erwähnt.

Hannes sah lange auf die alte Schrift.

Was mochten das für Stunden gewesen sein, als der Mann in der Waldeinsamkeit an »denen schwarzen Blatteren« zugrunde ging? – Hatte er wie ein Tier, das den Tod nahen fühlt, die Verborgenheit aufgesucht, als er in des Würgers Händen war, oder hatte ihn dieser meuchlings und unverhofft im Walde angefallen? –

War vielleicht »die große Eich« dieses Schulmeisters heimliche Liebe, die Freude seiner gesunden Tage, die Erinnerungsstätte schöner Stunden gewesen, weil er sie zum Sterben aufsuchte? –

Hannes legte den Band zur Seite. Es berührte ihn 233 erschütternd, daß einem vergilbten Blatt, einer vergessenen Buchseite ein ganzer Schicksalsberg entsteigen kann.

Und dann fiel ihm ein, daß der Mann »Horch« geheißen hatte.

Wie die Ria. Vielleicht ein Vorfahre des Pächters? – Der Name war ja auf der Hochebene nicht selten. Aber Hannes ließ nicht ab, die Ria mit diesem Schulmeister in Verbindung zu bringen. Irgendwie freute und befriedigte ihn das.

Jetzt nahm er den Helm ab und wischte sich die heiß gewordene Stirn.

»Maria Horch«, sagte er leise, wie prüfend vor sich hin, »Maria Christiane Horch«, und dann noch leiser: »Maria Christiane Baldenius« – Christiane war ja der zweite Name der Ria.

Er klopfte und blies den Schmutz von seinem Helm, als ob der nicht sofort wieder von neuem schmutzig würde; dann setzte er ihn bedächtig auf und hatte ein Flackern in den sonst so ruhigen Augen.

Aber schon trübte sich sein aufgehellter Blick wieder.

Gestern war er im Dorf beim Krämer gewesen.

Warum fiel ihm nur das jetzt gerade ein? –

Der Krämer, angeheitert wie er einmal wieder war, hatte sich freundschaftlicher und gesprächiger gebärdet als je.

Er stellte fest, daß der Herr Baldenius nun zum Glück bald allein Herr sein werde auf dem Hof.

Der Werkmeister habe schon Einkäufe gemacht für den künftigen Betrieb im »Grünen Baum«. 234

Eine Wirtschaft in der Einöde, das sei so der rechte Ort für den. – Da könne er vor den Fuhrleuten und den Arbeitern und Viehtreibern großtun und seine Weisheit loslassen, an die schon lang kein rechter Bauer mehr glaube.

Und der beste Gast werde immer der Wirt selber sein.

Er, der Krämer, gönne ja jedem ein Gläschen. Das brauche der Mensch in den schlechten Zeiten.

Aber bezahlen müsse man, was man trinke. Und mit dem Bezahlen hapere es beim Werkmeister. Der tue immer, als müsse man sich's zur Ehre anrechnen, wenn man ihm borgen dürfe.

In einen heulenden Jammer über die Borgwirtschaft war dann der Krämer verfallen, und Hannes hatte Mühe, über seinen Widerwillen hinüberzukommen.

Dann begann der halb Betrunkene wieder vom Marienhof.

Die Ria, die könne einem leid tun. Das wisse jedermann, daß die sich an den Karren stemme; aber so ein Mädchen sei eben doch bald in den Dreck gerissen.

Man könne ihr nur wünschen, daß sie bald an einen rechten Mann komme. Dem Vater sei sie im Weg. Der biete sie jedem an, so jung sie sei. Der wolle selber noch einmal heiraten.

Hannes mußte wegsehen. Er spürte brennende Lust, dem Schwätzer an die Gurgel zu fahren. Aber es waren noch andere Zuhörer da, die ihre volle Beistimmung zollten.

Einer davon sagte jetzt mit Lachen: »Ja, den Volz von Bittwangen hat der Werkmeister schon lang im Aug' für 235 seine Ria. Da wär die Aussteuer schon da und Haus und Garten. So tät's dem passen.«

»Ach was«, rief der andere, »der ist zu alt. Ein kalter Ofen, ein alter Mann – soll sich dran wärmen, wer solches kann!«

Sie lachten alle drei auf eine Art, die Hannes das Blut in den Kopf trieb. Aber stärker als sein auflodernder Zorn war die heimliche Angst, dem Mädchen einen schlechten Dienst zu leisten, wenn er an diesem Ort und vor diesen Lachenden für sie einträte.

Der Krämer schenkte den beiden Kunden ein. Die grünliche Flüssigkeit leuchtete giftig aus den kleinen Gläsern.

»Prosit«, rief er und hob lachend sein eigenes, »aufs Wohlsein von der Ria ihrem Künftigen.«

Die zwei stießen mit an. Plötzlich blickten sie alle auf Hannes.

»Der Herr Baldenius steht so trocken da«, sagte wie erschrocken der Krämer und griff nach Flasche und Glas.

»Danke«, lehnte Hannes zurückweisend ab, »ich trinke nichts.«

»Was? – Nicht einmal da mittun?« tadelte der Angeheiterte, »wenn das die Ria wüßte.« –

Und dann kopfnickend und lachend: »Ja, ja, der Volz tat auch nicht mit.«

»Hast du den auch schon aufgefordert?« rief einer der Männer.

»Will's meinen«, sagte zwinkernd der Krämer, »den zuerst. Aber ich tu's nicht noch einmal. Angeknurrt hat 236 er mich wie ein hungriger Hund, den man ums Mithalten fragt.«

»Was ist«, rief Hannes herrisch, »bekomm ich jetzt bald, was ich brauche?«

Da machte sich der halb Betrunkene daran, ihn zu bedienen.

Auf dem ganzen Heimweg gestern hatte sich Hannes so elend gefühlt, als hätte auch er von dem giftgrünen Schnapsgemisch getrunken, das der Krämer seinen Günstlingen verzapfte. Nur wenn er an Meister Volz in Bittwangen drüben dachte, wurde ihm leichter. Dann tauchte eine zwiespältige, ganz ferne und durch irgend etwas verhüllte Freude, aber doch eine Freude, in ihm auf. – Anstoßen mit dem widerlichen Kerl, dem Krämer? – Nein, Volz! Das Kreuz im Seidenpapier verpflichtet!

Hannes war schon lang wieder tief in der Arbeit, als seine Gedanken immer noch an gestern hingen.

Einen ganzen Berg alter Bücher trug er ans Tageslicht. Den Schultheißen würde er fragen, was damit zu tun sei.

Der Schultheiß! Wie der jetzt wohl sein einsames Leben führte, seit die Melle entlaufen war?

In Nachsinnen verloren blickte Hannes durch das schmutzige Fenster auf den Weg hinunter.

Ob man den Mann nicht auf den Hof bitten könnte für den Winter? Er würde den Haushalt sicher nicht sehr belasten, und sein großes Wissen und Können als Bauernsohn und als Schultheiß könnte in hundert Fällen einem Anfänger wie Hannes zugut kommen! Aber 237 die Sache mit dem Gefängnis! – Ob man Marie das zumuten könnte? –

Dort unten trat eben die Schwester aus dem Wald auf den Weg. Die schwarze Gestalt beelendete Hannes. Anders hätte sie ausschreiten, anders sich halten müssen. Nichts von Lebensfreude, nichts von junger Kraft war daran zu sehen.

Hannes machte Schluß mit seiner Arbeit. In jäh erwachter Unruhe stieg er hinunter, damit die Schwester bei ihrer Heimkehr kein leeres Zimmer vorfinde.

Sie war schon auf der Treppe und traf vor der Tür mit ihm zusammen. Wie einen Einbrecher starrte sie ihn an.

Dann lachte sie, lachte wie toll.

Hannes redete sich ein, sie lache über seinen abenteuerlichen Aufzug, seinen Ruß und Schmutz. Aber ganz innen wußte er, daß dieses Lachen überreizt und auf irgendeine Art beunruhigend sei.

»Im Helm«, stieß Maria hervor, »im Helm.«

»Nun ja«, sagte Hannes und lachte auch, »den schändet's nicht. Besser, er wird schmutzig als ich, das denkst du wohl auch.«

Jäh verwandelte sich ihr Gesicht. Die Augen flammten auf.

»Du meinst wohl, ich solle mir auch einen Helm anschaffen?« rief sie feindselig.

Und ehe der überraschte Hannes antworten konnte: »War jemand da –?«

Diese Frage tat sie oft wenn sie von einem Gang zurückkam. 238

»Wer soll denn dagewesen sein?« gab der Bruder mit leiser Ungeduld zurück und schloß die Zimmertür auf.

Marie trat ein und blickte sich in dem weiten, schon von ersten Dämmerungsschleiern angefüllten Raum wie suchend um.

Dann drückte sie mit leidenschaftlicher Gebärde die Hände an die Schläfen. »Ja, ich vergaß. Es kann ja niemand dagewesen sein. Es gibt ja keine Menschen da oben.«

Hannes fühlte Erbitterung. »Es gibt schon Menschen«, sagte er harten Klangs, »aber du mußt dich auch für sie auftun.«

Sie schaute ihm ins Gesicht, als rede er in fremder Sprache. Dann lachte sie auf in der Art, die ihm so unbehaglich war.

»Was du nicht weißt!« sagte sie spöttisch.

Er nahm sich zusammen. »Du bist überreizt, Marie. Dir tut die große Einsamkeit nicht gut. Ich merke das schon lange an dir.«

Sie wandte sich ab. Plötzlich merkte er, daß sie ohne Laut weinte. Mit einer ratlosen Gebärde nahm er den Helm ab und legte ihn zur Seite.

»Willst du von mir fort?« fragte er erstickt.

Sie sank auf ihren Platz vor dem kleinen Tisch am Fenster. Auf beide Arme drückte sie den Kopf. Ein herzbrechendes Schluchzen schüttelte sie.

Hannes trat herzu und legte stumm die Hand auf ihr Lockenhaar.

Nach langer Zeit hob sie den Kopf. Auf dem 239 verweinten Gesicht lag harte Qual. Vielleicht wollte jetzt aus ihr herausbrechen, was sie zerrieb.

Aber eine letzte Schranke war noch immer vorhanden.

»Laß mich da!« bat sie wie ein bestraftes und reumütiges Kind.

Es wurde so still, daß man das leise Ticken der Uhr hörte und dann das Krächzen eines in den Hof fahrenden Wagens.

Hannes horchte. Es war ihm wie eine Erleichterung, daß ihn etwas ablenkte. Was wird da eingefahren? dachte er, es ist doch nichts mehr draußen. –

Dann sagte er leise zur zusammengesunkenen Marie: »Warum sprichst du so? Wir wollen doch einander nicht quälen.« –

Sie stand auf und strich sich das Haar aus der Stirn.

Als sei alles nicht gewesen, sagte sie, nach der Uhr sehend: »Erst vier und bald dunkel.«

Sie fing an den Tisch zu richten. Tassen stellte sie auf, und die Kaffeemaschine entzündete sie, und nichts verriet die Szene von eben. Hannes machte Licht. Die Dämmerung bedrückte ihn.

»Hast du noch lang auf dem Speicher zu tun?« fragte Marie.

War es so, oder bildete er sich ein, daß etwas Lauerndes in der Frage liege? –

»Man sieht kein Ende ab«, gab er unfrei zurück, »willst du nicht helfen?«

Sie warf ein Messer auf den Tisch. »Du möchtest mich wohl immer unter deiner Aufsicht haben?« rief sie gereizt.

Stumm ging er hinaus, um sich zu waschen. 240

Als er zurückkam, war das Licht wieder ausgedreht.

»Du bist, scheint's, lieber im Dunkeln?« fragte er ruhig.

Sie fuhr auf. »Ist das auch wieder nicht recht? –«

Das leise Summen der Kaffeemaschine wollte einen Hauch von Behaglichkeit im Raum verbreiten. Aber die seltsame Spannung ließ ihn nicht aufkommen.

Hannes rang sich Gelassenheit ab. »Marie«, sagte er, »mir ist auf dem Speicher ein Gedanke gekommen.«

Sie antwortete nicht und machte sich noch immer am Tisch zu schaffen.

»Ich hab' dir doch oft von Gottfrieds Vater erzählt«, fuhr Hannes fort.

»Der im Zuchthaus war.«

»Im Gefängnis.«

»Also im Gefängnis.«

»Das ist ein Unterschied«, sagte der Bruder hart und erregt in die Dämmerung hinein.

Als Marie still blieb, fuhr er ruhiger fort: »Der Mann ist arm und allein.«

Sie lachte. »Allein? Er hat ja die schöne Melle.«

»Nein«, sagte Hannes betont, »die hat er eben nicht mehr.«

»Wieso?« klang es erstaunt.

»Also das weißt du noch gar nicht? – Sie ist ihm doch durchgebrannt.«

Klirrend fiel ein Löffel.

»Die Melle – mit wem?« Atemlos kam die Frage.

Hannes mußte ein schweres Unbehagen überwinden. So hätte die Schwester nicht denken, nicht fragen dürfen. 241

Ehe er eine ärgerliche Antwort geben konnte, dröhnte im Flur draußen die urweltliche Schelle, zu der ein Drahtzug von der Haustür führte.

Marie schrie auf wie in tödlichem Schrecken.

Hannes lachte. »Was hast du für Nerven. Wegen der Kuhschelle.«

Er machte Licht und ging hinaus. Vom Flurfenster sah er in den Hof hinunter. Überrascht fuhr er zurück.

»Marie«, rief er und eilte zur Treppe, »der Forstmeister schickt den Flügel.«

Daß das Mädchen aufsprang, daß sie totenbleich an der Wand lehnte, konnte er nicht mehr sehen.

Wie lang sie so stand, wußte sie nicht. Ein Leben schien ihr vorüberzugleiten, ein ausgehöhltes, furchtbar langes Leben, das ihr ins Gesicht starrte.

Der Bruder kam zurück. Sie hörte seinen Schritt und machte sich am Tisch zu schaffen.

Er trat zu ihr und hielt ihr einen offenen Brief hin.

Sie wollte die Hand heben und konnte nicht.

»Lies!« stieß sie hervor.

Er fuhr ihr übers Haar. »Nur ruhig Blut! Wenn du willst, schicken wir das Instrument zurück.«

»Lies!«

Er schüttelte den Kopf, sah in den Brief und las: »Sehr geehrter Herr Baldenius!«

Er unterbrach sich: »Warum er mir und nicht dir schreibt, weiß ich nicht. Ich will gewiß nicht deinen Vormund spielen.« 242

»Lies!«

Hannes nahm den Faden wieder auf. »Verzeihen Sie die Formlosigkeit, die ohne Zweifel darin liegt, daß ich Ihnen den Bechstein für Ihre Fräulein Schwester so Knall und Fall und ohne vorherige Anfrage ins Haus schicke. Die Zeit reichte mir nicht mehr zu einem Besuch bzw. zu einer Ankündigung, da mich Dringendes wegruft. Ich werde wohl erst in Wochen zurückkommen. Bis dahin mag es auf der Höhe so eingewintert haben, daß einer jungen Dame die tiefe Einsamkeit drückend wird. Dem möchte ich, so gut ich unter den gegebenen Umständen kann und darf, ein wenig entgegenarbeiten.

Mit bestem Gruß und höflichen Empfehlungen an Ihre Fräulein Schwester

Ihr Jörg Halldorf, Forstmeister.«

Hannes ließ den Brief sinken. »Nun?« fragte er, auf Marie blickend.

Die wendete sich um, als mustere sie den Raum.

»Da kann er stehen«, sagte sie, ins Zimmer hineindeutend, in einem so gleichgültigen, so teilnahmslosen Ton, daß Hannes seine Ungeduld verbeißen mußte.

Er machte kehrt und ging, die Anordnungen zu treffen.

Ungeübte, aber von viel Eifer und gutem Willen beseelte Männer trugen den Flügel die Treppe empor.

Keuchend, schwitzend, mühselig taten sie ihr Werk.

Das schwere Getrampel ihrer Füße erinnerte Hannes an die dunkle Stunde, da man den Vater zum letztenmal über die Treppe trug. 243

Beim Abstellen auf dem ersten Absatz sagte jetzt einer der Männer zu seinem Nachbar: »Das ist noch anders, als einen Sarg tragen.«

»Kommt drauf an«, gab der zurück, »da gibt's auch schwere und leichte.«

Als das Instrument oben war und aufgestellt werden sollte, sah sich Hannes nach Marie um, ihren Rat zu erbitten.

Sie war nicht mehr da und auch nicht im Nebenraum.

Das erregte ihn gegen die Schwester, die sich so wenig im Zaum hatte.

Der schwere Kasten stand nun auf den Füßen. Hannes selbst zog alle Schrauben an und schob das Instrument ins beste Licht.

Eine Freude wollte in ihm hochkommen, daß nun wieder Musik im Hause sei, Musik, die Marie früher so oft scherzend seine unglückliche Liebe genannt hatte.

Besser eine unglückliche als gar keine, pflegte er ihr dann zu antworten.

»Jetzt noch den Schlüssel! Wer hat den Schlüssel? –«

»Den hat der Totengräber«, sagten ein paar Männer, auf einen ihrer Kameraden deutend.

Hannes spürte ein Unbehagen und lachte sich dafür aus.

Umständlich kramte der Mann einen kleinen Schlüssel aus der Tasche. Sein hageres, zigeunerhaftes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.

»Zuletzt hat immer der Totengräber den Schlüssel«, sagte er beziehungsvoll. 244

Die andern grinsten, als stimmten sie der Totengräberweisheit zu.

»Wenn Sie uns jetzt etwas spielen täten«, schlug halb bescheiden, halb keck einer der Männer vor.

Hannes lachte. »Wenn ich's nur könnte! Da ist von mir nichts zu erwarten.«

»Aber das Fräulein vielleicht?« bat zäh und dringlich der Mann weiter.

Hannes schlug gesenkten Kopfes ein paar Akkorde an. Vielleicht kommt sie, wenn sie die Töne hört, dachte er gequält und erzürnt zugleich. Sie könnte jetzt so viel Freude machen; es wäre alles so schön, so einfach – –

Dann wandte er sich um. Unfrei sagte er: »Meine Schwester ist heut nicht wohl. Ein andermal wird sie euch spielen; sie ist Meisterin.«

»Vielleicht an Jakobi«, rief aus dem Hintergrund der junge Schmied.

Der Totengräber wandte sich ihm zu. »Schwerlich. Um die Zeit jährt sich's, daß man mich brauchte.«

Hannes tat den Deckel wieder über die schimmernden Tasten.

»Können wir gehen?« fragte ein Träger.

»Einen Augenblick!« sagte Hannes und griff in die Tasche und merkte jetzt erst, daß er die alte verschmutzte Felduniform trug.

»Nichts da!« riefen die Männer im Chor, »uns hat der Forstmeister bezahlt.«

Langsam stapften sie die Treppe wieder hinab, und draußen war Nacht und Stille. 245

 


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