Auguste Supper
Die Mädchen vom Marienhof
Auguste Supper

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Siebentes Kapitel

Der geschnittene Roggen, den lange, schöne Sommerwochen gereift hatten, lag jetzt im Regen draußen unter grauem, tiefem Himmel. Das leise, eintönige Geriesel im Krautwerk des verwilderten Gartens, das trübselige Plätschern der Dachrinnen war das Lied, das am Morgen die Erwachenden im Marienhof grüßte, wie es am Abend die Müden in den Schlaf gelullt hatte.

Hannes saß stundenlang über seinen Büchern. Was er da studierte über Saatzucht und Tierzucht, über Bodenkultur und Stallbauten, es schien ihm jetzt immer einen und immer den gleichen Fehler zu haben: Daß nicht in diesen Büchern stand, wie man etwa dem unaufhörlich fortweinenden Regen Einhalt gebieten oder der mächtigen, unsichtbaren Hand wehren könne, die ungerührt zerstörte, was sie geschenkt hatte.

Unter der Stalltür fluchte der Pächter. Seiner Tochter, die zwischen den Kühen stand und die Traufen säuberte, rief er jetzt laut und erbost zu: »Du hättest dir denken können, daß bei der Ernte kein Glück ist, wenn man als Schnitter einen Zuchthäusler einstellt.«

Hannes ging eben über den Hof und hörte das Schelten. Er rief dem Pächter zu: »Im Zuchthaus war er nicht, nur im Gefängnis.«

Der andere lachte. »Sie machen, scheint's, feine Unterschiede. Ich meine, das sei alles ein Teufel. Jedenfalls fault jetzt der Roggen.« 165

Hannes blieb stehen. »Sollte man die Garben nicht aufstellen?« fragte er vorsichtig.

»Ach was«, rief der Pächter grob, »das lesen die Manschettenbauern aus ihren Büchern. Ich bin lange genug in der Praxis und brauche keine Ratschläge.«

Ria trat in die zweite, weiter oben gelegene Stalltür.

»Der Schultheiß hat schon aufgestellt«, sagte sie, und man konnte im unklaren sein, wem es gelte.

»Da schlag doch ein Donnerwetter drein«, schrie der Vater, »hab' ich anzugeben oder du –?«

Das Mädchen schaute zu ihm hin. Eine flammende Röte lief über ihr ernstes, junges Gesicht. Einen Augenblick schien es, als wolle sie eine heftige oder unwillige Antwort geben. Dann preßten sich die Lippen eisig zusammen.

Nach einer Weile sagte sie zu Hannes wie in entschuldigendem Ton: »Der Schultheiß hat's ungefragt getan.«

Hannes nickte. Ungefragt! Ja, das war wohl die einzige Art, wie man hier eingreifen, wie man dann und wann diesem Mädchen, diesem Soldaten auf verlorenem Posten, eine kleine Hilfe zukommen lassen konnte.

Jetzt ging der Pächter schimpfend und fluchend ins Haus, und sofort entspannten sich der Tochter Züge zu einer gelassenen Kühle und Unbeteiligtheit, die Hannes so gut kannte, und die er nachgerade haßte wie eine unübersteigbare Mauer, die ihn nicht in einen schönen Garten ließ.

Auf einmal kam ihm ein Gedanke.

Er trat zu dem Mädchen und sagte: »Wissen Sie 166 eigentlich, daß ich der beste Freund von Gottfried Roser war?«

Ihre dunklen Augen glänzten auf.

»Marie hat mir's gesagt.«

Hannes setzte den Fuß auf die Stallschwelle und legte die Hand an den Türpfosten.

Ganz nahe war er so der Herben, so nahe, wie er ihr nie zuvor gewesen war. Er fürchtete einen Augenblick, sie würde sich zurückziehen. Aber sie blieb.

Aus dem dämmerigen Stall kam ein warmer, traulicher Hauch. Ein Hauch von Geborgenheit und Zuflucht aus der Nässe des schmutzigen und kalten Hofes.

Ein brennendes Verlangen, einzutreten, erfaßte Hannes. Aber er versagte es sich aus innerer Warnung heraus.

Leis klang seine Frage: »Ist Ihnen Gottfried viel gewesen?«

Sie nickte. »Ehe er in die Stadt kam, war er meiner Brüder Schulkamerad.«

»Und später?«

»Später kam ich oft zu der Melle.«

»Da sahen Sie ihn?«

»Hie und da, wenn er auf Urlaub kam.«

In Hannes war quälende Ungeduld. Tu dich doch auf, du Verschlossene, hätte er rufen mögen, mach mir doch das Fragen nicht so schwer! Spürst du denn nicht, daß ich kein Feind bin, daß du mir vertrauen kannst? –

Aus rauher Kehle kam es fast brutal: »In den hätten Sie sich wohl verliebt mit der Zeit?«

Das Mädchen legte den Kopf an den Türpfosten. Ein 167 leises freies Lächeln, eine Unbefangenheit, wie Hannes sie nie an ihr gesehen, trat auf das sonnenbraune Gesicht.

»Ja«, sagte sie innig. Sonst nichts.

Hannes fühlte sich hilflos. Auf eine feindselige Zurückweisung war er gefaßt, ihr wäre er gewachsen gewesen. Vor dem lächelnden Mädchen stand er gedemütigt.

Dann gab ihm eine tiefe Gereiztheit die Frage ein: »Und der Meister Volz?«

Mit dem gleichen stillen, entspannten Lächeln sagte Ria: »Dann brauchte mir der vielleicht nichts zu erzählen.«

Hannes starrte sie an. Hinter dem kurzen Wort glaubte er eine Verträumtheit zu hören. Ferne, innige, nie gegebene und doch bindende Versprechungen, ein gar nicht gelebtes und doch unsterbliches Liebesglück, ein Geheimnis, das niemals aufgeblüht war und niemals würde welken können.

Jäh brannte der Wunsch in ihm auf, die Lächelnde, die Unverletzliche zu verletzen.

»Nun ja«, sagte er leichthin, »damals waren Sie zu jung für Gottfried, und jetzt ist er tot. Nun muß es halt ein anderer sein. Wenn beim Volz Haus und Garten mitgerechnet werden, ist er auch kein übler Bursch.«

Das Mädchen hob den Kopf. Wie in ungläubiger Verwunderung starrte sie Hannes an. Das Lächeln war ihr erstorben; ihr Gesicht färbte sich langsam dunkler.

»Was habe ich Ihnen denn getan, was wollen Sie von mir?« stieß sie mühsam hervor.

Hannes machte einen Schritt in die warme Dämmerung des Stalles hinein. Die Zügel entglitten ihm. 168 Zornig rief er: »Sie sollen nicht immer zum Volz hinüber. Das paßt sich nicht. Das mag ich nicht. Ich kann Ihnen auch vom Krieg erzählen; ich hab' auch das Kreuz, ich war auch vor Verdun.«

Es wurde ganz still. Man hörte nur das mahlende Kauen der Kühe und das leise Regengeriesel im Hof.

Ria warf jetzt den Kopf zurück. Hart und abweisend sagte sie: »Um mich und um das, was ich tue, hat sich keiner zu kümmern.«

Hannes kam zur Besinnung. Eine Scham ohnegleichen, eine brennende Reue überfiel ihn. Weniger deshalb, weil er das Mädchen beleidigt, als weil er nun selber jener Sünde bloß war, die er immer an andern so verächtlich gefunden hatte. Mit dem Kopfhinhalten, mit dem Kreuz hatte er aufgetrumpft wie nur je ein Lümmel. Er biß sich auf die Lippen und sah finster auf das reglose Mädchen.

Da trat der Schultheiß Roser unter die Stalltür.

Er war wie ein Knecht gekleidet. Um die Schultern hatte er einen groben Rupfensack gebunden, von seinem alten Hut triefte die Nässe.

Langsam überflogen seine prüfenden Augen den Stall und die beiden. Ein leichtes Stutzen trat in seinen Blick.

»Ria«, sagte er dann unbefangen, »dort, wo die Erbsen waren, könnte ich heute Mist anfahren. Man kann bei dem Wetter sonst nichts tun. Gestern habe ich die gleiche schöne Sache beim Löwenwirt gemacht.«

Das Mädchen schaute drein, als müsse sie sich erst besinnen, was gemeint sei. Dann strich sie sich mit beiden Händen die Haare aus der Stirn. Es war eine seltsam 169 schwerfällige Gebärde, wie etwa ein Schlaftrunkener sie macht.

Verloren sagte sie dann: »Mein Vater – – er wird's nicht leiden –«

Der Schultheiß trat näher. »So? Seit wann guckt der überhaupt danach?«

Sie hob die Achseln. Es sah aus, als friere sie. »Immer wenn er Geld hergeben soll.«

»Ach so«, sagte kopfnickend der Schultheiß, »ja ja, seinesgleichen kennt das Sprüchlein nicht: Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert.«

Er schluckte etwas hinunter, ehe er fortfuhr: »Ria, ich tu's umsonst. Die Melle und ich haben noch für ein paar Tage zu essen. Der Löwenwirt hat mich gestern nobel entlohnt.«

Das Mädchen wurde blutrot. »Das darf nicht sein, Herr Schultheiß.«

Der Kleine schüttelte an dem nassen Sack, der ihm als Mantel diente. »Herr Schultheiß – schön!« murmelte er unterdrückt, »das heißt wohl, daß du dir von mir nichts schenken lassen willst? Von so einem – – du weißt ja! Du denkst wohl, es schade dem Mist, wenn ich ihn führe –?«

In Hannes flammte etwas auf. »Ich tu mit, Herr Schultheiß«, sagte er zu dem Kleinen hingewendet.

Der lachte auf. »Gut so! Dann macht Ihre Unbescholtenheit den Mist wieder ehrlich; nicht, Ria? Hast du immer noch etwas dagegen?«

Das Mädchen wendete sich weg und gab keine Antwort. 170

Die Männer gingen in den Regen hinaus.

Ria schaute nach dem Stallfenster, an dem die grauen Tropfen rieselten. Auf einmal liefen über ihr Gesicht ein paar Tränen.

Hannes ging ins Haus, um sich umzukleiden.

Der Schultheiß rief hinter ihm her: »Bringen Sie auch Winkelmaß und Zollstab mit, Herr Baldenius! Auch ein Lineal könnte nichts schaden. Wir bauen dem Werkmeister eine Mistladung auf, wie er noch keine gesehen hat.«

Es klang so trocken, wie Gottfried in seinen besten Stunden hatte scherzen können, und ein scheues Frohsein griff in Hannes Platz.

Die schwere und häßliche Arbeit, bei der er jetzt tüchtig anfaßte, war ihm nichts weniger als eine Erniedrigung. Er hatte das Gefühl, es sei für ihn nötig und gut, etwas recht Widerliches, recht Schmutziges zu tun, um sich dadurch reinzuwaschen von dem anderen Schmutz, der an ihm klebte, seit er sich vor Ria hatte hinreißen lassen. Er spürte nicht, daß ihm die Hände am Gabelstiel brannten, daß er dampfte vor Schweiß.

Nie mehr, seit draußen im Feld, war er so hingegeben gewesen an eine Arbeit, hatte er sich so ohne jeden Vorbehalt hinter ein Werk gestellt.

Als jetzt die grobe Stimme des Pächters an sein Ohr schlug, kam er wie aus der Ferne zurück.

»He, was ist da los, was soll das bedeuten?« rief der Werkmeister.

Die zwei an der Dunglege taten, als hätten sie nicht 171 gehört, und machten weiter an ihrem nahezu fertigen Werk.

Da trat der andere her und faßte den Schultheiß ins Auge.

»Wer hat denn Sie eingestellt – Sie –«, fragte er grob.

Der Schultheiß hielt mit der Arbeit inne und stützte sich auf den Gabelstiel. Aus seinem nassen und beschmutzten Gesicht blickten die Augen in scharfer Klarheit.

»Niemand«, sagte er nach einer Weile ruhig, »wenigstens niemand, den der Werkmeister Horch kennt.«

»Drum – also –«, rief der Pächter und machte Miene, nach dem Gabelstiel zu greifen.

Der Kleine trat zurück. »Nichts da!« klang es gebieterisch, »heut steht in meinem Kalender, ich soll der Ria Mist fahren.«

Der Pächter stutzte. »Was des Teufels geht mich Ihr Kalender an«, schrie er dann.

Der Schultheiß zuckte die Achseln. »Sie gar nichts. Nur mich geht er an, und mich bringt kein Werkmeister dazu, daß ich gegen meinen Kalender tue.«

»Keinen Pfennig geb ich aus für einen, den ich nicht bestellt hab'«, brüllte der Pächter.

»Ist auch nicht nötig«, entgegnete gelassen der andere, »heut tu ich alles umsonst. Ich hab' kürzlich in der Lotterie gewonnen.«

Des Pächters Blick wurde bösartig. »Ja, ja, das weiß man, wie der Schultheiß von Kolbenhart in der Lotterie gewinnt.« 172

Der Kleine streifte sich das Wasser vom Gesicht. Er lachte auf. »Nichts weiß man, Werkmeister, keine Ahnung hat man. Dieser Schultheiß streicht seine Gewinne ganz heimlich ein.«

Der Pächter schaute Hannes an. Es war ein Blick, den der andere wie eine Unflätigkeit empfand. Laut kam die Frage:

»Und der Herr Baldenius? Hat der auch in der Lotterie gewonnen, daß er umsonst schafft? Oder macht er sich mit der Ria im Kuhstall bezahlt –?«

Ein Abgrund von Gemeinheit schien aufzuklaffen. Hannes erbebte das Herz im Leib vor Widerwillen, vor schwerem Zorn.

Verstört schaute er hinüber, wo er vorhin mit dem Mädchen gestanden. Beklemmende Angst, dunkler Schmerz wühlten in ihm, ob die vom eigenen Vater Besudelte doch geborgen sei?

Er wollte auffahren.

Da stand der Schultheiß vor ihm und hatte jene herrenhaften Augen, die den kleinen Mann zu einem Gebieter machten.

»Hierher geschaut, Baldenius«, sagte er klingend, auf den hochgeladenen Wagen deutend, »das macht kein Bauer von der ganzen Höhe besser. Wenn die Welt dreckig wird, muß man auf ein sauberes Werk blicken können. Machen wir fertig!«

Er drückte Hannes die Pritsche in die Hand, mit der die Ladung in die letzte Form gebracht werden sollte.

Von Zorn und Ekel noch schwer bedrängt, konnte sich Hannes nicht so rasch zurechtfinden. Aber die Augen des 173 anderen wichen nicht von ihm. Beschwichtigung lag darin, Zuspruch und leises, fernes Lächeln: Warum nimmst du diesen Kerl so wichtig? –

Hannes hob die Pritsche. Sekundenlang war ihm, als müsse er damit auf den Werkmeister einschlagen. Dann bekam sein Blick eine andere Richtung, einen anderen Ausdruck, und er begann das schmutzige Werk, um über den Schmutz hinwegzukommen.

Drüben führte jetzt Ria eine angeschirrte Kuh aus dem Stall. Der Pächter bekam einen roten Kopf und schrie seiner Tochter zu:

»Herrgottsdonner! Bei dem Wetter geht's doch nicht mit einer!«

Hannes wagte nicht, dem Mädchen ins Gesicht zu blicken. Er trat nur hinzu und nahm ihr die Stränge aus der Hand, in einem heißen Verlangen, etwas an ihr gutzumachen.

Der Schultheiß schaute nach Ria. Kam es ihm so vor, oder sah sie so elend, so gealtert aus? Hatte sie vielleicht gehört, was ihr Lump von Vater vorhin gesagt hatte?

Sie schritt stumm nach dem Stall zurück.

Der Kleine blickte den Pächter an. »So, merken Sie doch endlich auch, daß eine allein den Karren nicht ziehen kann?« fragte er hart, fast drohend.

Er wartete auf keine Antwort. Nach einer großen Pfütze deutete er, auf der der Regen hohe Blasen warf, die langsam dahintrieben und zerplatzten.

»Werkmeister, hat Ihnen meine Landsmännin, Ihre Frau, nie erzählt, was es bei uns daheim heißt, wenn 174 der Regen Blasen wirft? Das tut nämlich nicht jeder Regen.«

Unsicher blickte der Gefragte. Dann sagte er laut: »Quatsch« und ging ins Haus.

Ria kam mit einer zweiten Kuh aus dem Stall.

Wortlos nahm ihr Hannes die Stränge ab und spannte ein.

Der Schultheiß steckte die beiden Gabeln in den beladenen Wagen, beschaute noch einmal mit anerkennendem Kopfnicken, als besehe er ein Kunstwerk, die festgepritschte Ladung und sagte zu dem Mädchen: »Aber du, Ria, du bist doch mit deinen Knechten zufrieden –?«

Ein scheues Lächeln blühte um ihren Mund auf. Dann schlug sie beide Hände vors Gesicht und eilte in den Stall.

Die Männer wagten nicht, einander anzusehen.

 

Es war ein weiter Weg hinaus auf den Erbsenacker.

Der schwerbeladene Wagen ächzte eintönig unter seiner rauchenden Last, von der die Nässe triefte. Die beiden Kühe trotteten mühsam und ergeben durch den tiefen Schmutz und standen von Zeit zu Zeit wie in Erschöpfung oder Hoffnungslosigkeit still, um zu verschnaufen.

Keiner der beiden Männer trieb sie dann an oder zeigte Ungeduld. Auch in ihnen war kein Eilen, kein Drängen, kein Rechnen mit dem fremd gewordenen Ding Zeit, das irgendwo die Welt durchraste.

Das von grauem Geriesel verhangene Stück Straße, 175 das vor dem Fuhrwerk herlief, schien ins Nichts zu führen.

Den Waldrand sah man da und dort als düsteren Streifen auftauchen. Nichts mehr von der Gastlichkeit der Sommertage war zu spüren; abweisend, triefend, in sich selbst versunken, standen die Tannen.

Hannes, der hinter dem Wagen herstapfte, meinte, er sei schon seit Urzeiten diesen grauen Weg gegangen und müsse ihn in alle Ewigkeit hinein weitergehen. Er kämpfte hart gegen eine große Trostlosigkeit.

Sie kamen jetzt an dem abgelegenen Kolbenharter Friedhof vorbei. Die Kühe, als witterten sie etwas Unbehagliches, drängten weg von der Tannenhecke.

Der Schultheiß brachte sie zum Stehen und schaute nach Hannes zurück. Der wachte auf aus seiner Versunkenheit. »Gehen wir hinein?« fragte er.

Der Kleine schüttelte den Kopf. »Ich will nur über den Zaun sehen wie einer, der kein Recht hat«, klang es trübe.

Sie drückten sich an die Hecke und schauten still in den Ort des Schweigens.

Eine unsägliche Einsamkeit und Abgeschiedenheit, ein abgründiges Insichgekehrtsein war da drinnen.

Die Nässe triefte und rieselte von Kreuzen und Steinen, regenschwer horchten die Blumen mit gesenkten Köpfen hinab zu den Schlummernden. Auf ungepflegten Gräbern lag in unendlicher Verschwiegenheit der nasse Rasen.

Der Männer Blicke suchten einen Hügel, aus dessen 176 Verwilderung ein Strauch mit roten Rosen herübergrüßte.

Ein leises Rascheln war dort an der Erde.

Jetzt tauchte eine Amsel auf und schüttelte das triefende Gefieder. Nach den Männern äugte sie und fing dann an, mit dem gelben Schnabel in die Erde zu hacken.

Der beiden Blicke hingen an dem Vogel. Ein bitteres Leid fraß in den Herzen.

»Ja«, sagte leis und aus enger Kehle heraus der Schultheiß, »der dort drunten ist's.« –

Die Amsel huschte davon, und ein Tropfenschauer rieselte aus dem Rosenbusch.

»Die Ria hat den Busch gepflanzt«, murmelte der Kleine und trat weg von der Hecke.

Sie schritten wieder neben den Kühen aus, ins Graue hinein.

Auf einmal fragte Hannes unvermittelt: »Sie haben des Werkmeisters Frau gekannt? Und was ist das mit den Regenblasen?«

Der Kleine drehte den Kopf nach dem Frager. Einen Augenblick sah es aus, als komme eine Abweisung oder doch die erstaunte Gegenfrage: Wie kommen Sie darauf?

Dann sagte er kurz und fast geschäftlich: »Ich habe die Frau gekannt, als sie noch ein Mädchen war. Und bei den Regenblasen sagt man bei uns, die Engel weinen im Himmel.«

Hannes hatte das seltsame Gefühl, zurechtgewiesen oder getadelt worden zu sein. Er fragte nicht weiter. 177

Da fing nach einer guten Weile der Schultheiß von selber wieder an:

»Gerade heute ist's dreißig Jahre, daß ich vor der Christiane Luise Schmid, die später Frau Werkmeister wurde, im Regen gestanden bin und sie gefragt habe, ob sie mich nehmen wolle –?«

Er schwieg, und Hannes schwieg auch, denn es war etwas um den Weg, das Wort scheuchte.

Dann begann der Kleine wieder: »Wir waren Nachbarskinder. Meiner Eltern Bauernhof lag neben dem Schulhaus, wo ihre Eltern wohnten. Aber als ich die Frage an sie tat, waren unser beider Eltern schon tot. Ja, so war's –« Er nickte vor sich hin und fuhr fort: »Sie hatte im Pfarrhaus, wo die Pfarrfrau ihre Base war, eine Heimat gefunden, und ich war in der Stadt bei einem Notar in der Lehre.«

Wieder machte er eine Pause, die zu unterbrechen Hannes sich nicht getraute.

Dann kam ein tiefes Atemholen. Mit fast den gleichen Worten, mit denen einst der Krämer über ihn berichtet und geurteilt hatte, fuhr der Mann fort: »Ich habe in jener Zeit vom Lernen sündhaft viel gehalten. Wie ein leerer Schwamm war ich, der sich vollsaugen wollte mit Wissen. Viel Ehrgeiz war ja dabei; aber doch auch noch etwas anderes, Sie können mir's glauben.

Kein Glas Bier habe ich getrunken in jenen Jahren. Die Unmäßigkeit meiner Begier, es zu etwas zu bringen, führte mich zu einer Mäßigkeit in allen anderen Dingen, wie sie sonst in solcher Jugend nicht der Brauch 178 ist. Studieren wollte ich um jeden Preis, das war wie ein Zwang in mir.«

Er fuhr sich übers Gesicht, als wische er eine Erinnerung weg, und berichtete weiter: »Des Schullehrers Christiane gehörte auch zu meinen Lebenszielen. Sie hatte so große braune Augen wie ihre Ria, und die hatten mir's angetan, schon ehe ich in die Lehre kam.

Aber sie muß mit diesen Augen früh in mich hineingesehen und Angst vor mir und meiner Art bekommen haben. Den großen Drang und Ehrgeiz sah sie und meinen eisernen Willen. Da hat sie wohl vermutet, es sei sonst nichts in mir, und sie sagte ein Nein, als ich ihr Ja gebraucht hätte zur Hilfe auf meinem Weg. Mit dem Studieren ist's dann nichts geworden. Heute vor dreißig Jahren habe ich gemeint, ich sei dem schönen Mädchen nicht stattlich genug. Ich weiß es jetzt anders.

Wir standen im Regen dazumal, und auf den Pfützen um uns tanzten Blasen. Ich war so kindlich, zu glauben, die Engel im Himmel weinten über mein bitteres Herzeleid. Seither habe ich gemerkt, daß sie über ganz andere Dinge zu weinen haben.«

Stumm und in sich versunken gingen die beiden dahin. Endlich meinte Hannes: »Wie konnte sie dann an den Werkmeister geraten –?«

Der Kleine lachte kurz. Nun, stattlich war der damals. Daß sie ihn sonst nicht durchschaute, ist kein Wunder. Ein richtiger Lump hat wie der Teufel kein Wesen, das zu fassen wäre. Er lebt halt vom Glauben seiner Gläubigen. Zu einem tüchtigen, überragenden Kerl hat die schöne Christiane den schönen Horch für sich 179 umgeglaubt. Weiber können das. Solang's vorhält, ist alles gut. Aber dann – –«

Nach schwerem, langem Schweigen setzte er hinzu: »Die Ria macht so leicht keiner kaputt.«

Jetzt bog plötzlich das Gespann von selbst vom Weg ab und trottete nach einem abgeleerten Acker.

Der Schultheiß lachte im Nebenherschreiten. »Ein Ochse und Esel kennt seinen Herrn und eine Kuh ihren Acker«, rief er Hannes zu, und dann, als eine der Kühe ein kurzes Brüllen ausstieß: »Das heißt: wir sollen jetzt Mist abladen und nicht über Menschenschicksale klugreden. Ich glaube, das Vieh hat recht. Nichts kann vorwärts helfen, als immer nur ein Werk.«

Sie machten sich an die Arbeit und sprachen nicht mehr.

Von übelriechendem Dunst und grauem Regengeriesel eingehüllt, taten sie, was die Stunde erforderte.

Jetzt kam von weit drüben das aufgeregte, mißtönende Schreien der Eichelhäher.

Hannes horchte. Zu seinem Gefährten hin sagte er: »Da drüben muß jemand gehen. Wer mag bei dem Wetter im Wald sein?«

Lange schauten die zwei Männer hinüber; aber der Waldsaum lag wie hinter Nebel und barg sein Geheimnis.

Sie wandten sich wieder ihrer Arbeit zu; nur die Kühe glotzten noch immer in der Richtung der gellenden Vogelschreie.

Jetzt warf der Schultheiß seine Gabel auf den geleerten Wagen und wischte sich die Nässe vom Gesicht. 180

Wie im Selbstgespräch sagte er: »Die Melle schreibt fast nichts mehr für den Forstmeister. Sie hat das Schneidern angefangen. Die Hexe ist geschickt in allem.«

In Hannes war ein Unbehagen, das er selbst nicht verstand. Warum sagt er das? mußte er denken.

Jetzt fragte der Schultheiß: »Kennen Sie eigentlich den Forstmeister?«

Kurz, fast abweisend, sagte Hannes: »Nur wenig.«

Dann, als sei ihm diese Kürze leid geworden, ergänzte er: »Er hat uns nach unseres Vaters Tod besucht. Ich war dann im Forsthaus, traf ihn aber nicht an.«

Sie schwiegen und traten zu den Kühen.

Der Schultheiß sah nach dem Himmel. »Es hellt sich auf«, sagte er kurz und abwesend.

Die Tiere, als wüßten sie, daß die Arbeit beendigt sei, zogen von selber an. Wie in unerklärlicher Verstimmung schritten die Männer nebenher.

Auf einmal fing der Kleine an: »Er ist selten daheim. Was soll er da auch! Im Wald spürt er nicht so, daß er allein ist. Er ist kein Mann fürs Alleinsein.«

Wieder blieb es still, dann fragte Hannes: »Wie lange ist sie denn schon krank?«

»Zu lang für ihn«, entgegnete kurz der Schultheiß. –

Es kam jetzt über die Höhe ein stoßweiser Wind. Man sah, wie die niedrigen Wolken eiliger zogen, als wollten sie nach getaner Arbeit heimkommen. Das nasse Geriesel verebbte.

Der Friedhof mit der Tannenhecke tauchte wieder auf. Der Schultheiß blickte nicht hinüber, aber Hannes hob den Kopf. Und jäh blieb er stehen. 181

»Marie«, rief er über die Hecke, und ihm war, als habe er sich allzulang nicht mehr um die Schwester gekümmert.

Eine reglose Gestalt, in den dunklen Mantel gehüllt und die Kapuze über den Kopf gezogen, stand zwischen den Gräbern. Jetzt kam sie langsam an die Hecke her.

»Was tust du bei diesem Wetter hier draußen?« rief Hannes, und er hatte keine Macht über den rauhen, tief unruhigen Klang seiner Stimme.

Das blasse Gesicht unter der Kapuze sah ihn feindselig an. Die gepreßten Lippen schienen eine Antwort verweigern zu wollen. Dann kam's: »Die Melle hat mir mein Kleid noch einmal anprobiert. Ich habe sie bis hierher begleitet.«

»Schon wieder?«

Sie schaute ihn von oben bis unten an. Mit einem Nasenrümpfen sagte sie: »Pfui, wie siehst du aus!«

»Das ist nur obendrauf«, warf der Schultheiß ein, »so was wäscht sich leicht ab.«

Sie schien nicht zu hören. »Wenn dir jemand begegnet wäre!«

Jetzt sagte der Kleine scharf: »Der Forstmeister etwa –?«

Das Mädchen trat weg und ging nach dem Friedhofstor.

Der Schultheiß trieb die Kühe an.

Gegen den Waldsaum hinüber sagte er laut: »Also deshalb schrien die Häher, die Späher.«

Hannes wartete auf die Schwester. 182

»Du frierst«, meinte er erschrocken, als er ihr in das elend ausschauende Gesicht blickte.

Sie schauerte zusammen. »Ja, schrecklich.«

»Warum mußt du denn auch die Melle immer begleiten. Sie weiß doch den Weg.«

»Laß nur«, entgegnete sie verloren und abweisend.

Und dann heftig ausbrechend: »Geh nur voraus! Du riechst nach Kühen. Ich mag das nicht.«

Hannes sah sie erstaunt an. So kindisch kannte er die Schwester nicht.

»Du bist krank«, sagte er unruhig.

Da zog sie ihren Mantel ganz fest zusammen.

»Ich glaub's auch«, kam es erstickt.

Er nahm ihren Arm: »Komm heim!«

»Laß mich!« schrie sie auf und lief davon, an dem Gespann vorüber dem Marienhof zu.

Der Schultheiß deutete mit dem Peitschenstiel hinter ihr her.

»Die und meine Melle –«, sagte er und redete nicht aus.

Hannes fragte nicht. Hörte vielleicht gar nicht.

Die alte Sorge um die Schwester, um ihren Weg und ihr Schicksal da oben im neuen Leben, klopfte wieder in der Tiefe an wie etwas, das immer wach ist, auch wenn es zeitweise schweigt und zu schlummern scheint. 183

 


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