Auguste Supper
Die Mädchen vom Marienhof
Auguste Supper

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Achtes Kapitel

Der trüben Zeit, die die Ernte fast vernichtet hatte, folgten wie zum Hohn Spätsommertage voll beklemmender Herrlichkeit. Manche Bauern der Höhe – und es waren nicht die dümmsten und nicht die schlechtesten – quälte jetzt unausgesprochen der Gedanke, warum. Der dort droben – –?

Daß der alte Pfarrer von Sünden und Strafen predigte, löste nicht alle Rätsel. Ja, manche wurden dadurch noch verwickelter. Denn der »Löwenwirt« zum Beispiel, der ein Faulenzer und Spekulant war, hatte von den Regenwochen, die den Bauern den Lohn ihrer Arbeit wegfraßen, nicht nur keinen Schaden, sondern nachweisbaren Gewinn gehabt.

Aber wenn sich auch in Menschenköpfen und Menschenherzen die Sache nicht entwirren wollte, draußen war jetzt alles entwirrt. Das Buschwerk flammte in den herrlichsten Farben, der Wald selbst stand in unbeschreiblicher Andacht und Ruhe unter dem stillen, leuchtenden Himmel, und das Brombeergerank im verschwiegenen Unterholz und an den feuchten Wegrändern trug noch seine dunklen Beeren, die hier in der tiefen Einsamkeit ungefährdet durften, was sonst in der Welt so selten gestattet ist: reifen bis zur letzten Reife.

Auf den umgebrochenen Äckern glitzerten die Spinnfäden in der Sonne und schlugen perlengeschmückte Brücken von Scholle zu Scholle.

Schwebendes Gespinst glitt lautlos durch die klare Luft. Man sah ihm an, daß es, unbekümmert um sein 184 Ziel und sein Schicksal, die Freude der Wanderschaft auskostete.

Des Bussards Schrei aus der leuchtenden Höhe klang wunschlos und weich, als sei nun auch das Sehnen der Kreatur gestillt und damit das letzte Versprechen eingelöst.

Wo der schlechte Wald des Marienhofs an den wohlgepflegten Staatswald grenzt, in der Nähe des uralten Eichbaums, den man auf der Höhe kurz »die große Eiche« nennt, saß in der lautlosen Einsamkeit Marie Baldenius auf einem kleinen moosigen Hügel, wie sie dort in der Nähe nicht selten sind.

Vielleicht wenn man die grüne Decke dieser Erhöhungen lüften würde, träte eine versunkene Welt zutage, eine Welt, die einmal Leben war mit Lust und Leid, und die nun Knochen und Asche ist. Aber niemand, außer vielleicht der Forstmeister Halldorf, kümmerte sich um solche Dinge. Doch auch er stand wohl noch zu sehr inmitten seiner eigenen Angelegenheiten, als daß er sich um die der Hinabgesunkenen hätte ernstlich bemühen sollen.

Das sitzende Mädchen aber schien hinunterzudenken zu den Schlummernden. Ihr Kopf war tief geneigt, fast als sei sie eingeschlafen. Wie eine Bäuerin war sie gekleidet, und sie trug, wie Ria das bei der Feldarbeit immer tat, ein weißes Tuch um die Stirn und um die Haare gebunden.

Am Schürzenband hatte sie einen kleinen Blechtopf festgemacht wie die Beerensammlerinnen. 185

Wenn es ihr Wunsch war, einem Bauernmädchen zu gleichen, so hatte sie nicht die rechten Mittel gewählt zu ihrer Verkleidung.

Stärker als je trat unter dem weißen Tuch die Ähnlichkeit mit dem Künstlerkopf des Vaters, die Rassigkeit und Feinheit der Züge hervor, denen die strenge Umrahmung etwas fremdartig Schönes, Stilisiertes gab.

Jetzt hob sie den Kopf. Die dunklen Augen blickten scheu und lauernd. Deutlich war plötzlich zu sehen, daß das Mädchen nicht hier saß, um auszuruhen oder nachzudenken, sondern um zu warten.

Im Rücken der Sitzenden, zum Marienhofer Wald gehörend, ragte eine halb erstorbene Tanne. Wenn dürre Nadeln niederrieselten, schien das leise Geräusch jedesmal für die Lauschende einen Schrecken zu bedeuten.

Und dann ein kaum hörbares Knacken auf trockenem Holz. Das Schnuppern eines kleinen Dackels, ein Schritt – –

Totenbleich stand Marie auf. Ein ebenso bleicher Mann trat ihr gegenüber.

»Also du kamst wirklich?« sagte nach langer Zeit erstickt der Forstmeister.

Das Mädchen hatte einen leeren Blick. Sie nickte nur.

Der Mann warf seinen Hut ins Moos. Leis klirrte die Flinte, die er über der Schulter trug.

Der Hund legte sich, als wisse er nun Bescheid, auf den Hut.

Langsam stellte der Forstmeister auch die Flinte ab, ohne den Blick von dem Mädchen zu lassen.

Ein Lächeln wollte um seinen Mund aufsteigen, 186 vielleicht ein Lächeln des Triumphes. Aber es zerging, ohne ganz aufzublühen.

Er streckte die Arme aus. Er zog die Blasse an sich.

»Du, daß du nur da bist«, murmelte er heiß.

Er bog ihr den Kopf zurück und suchte die jungen Lippen.

Sie wehrte sich nicht.

Da setzte er sich ins Moos und zog sie aufs Knie. »Kind«, raunte er, »Kind, wirst du nun immer zu mir kommen –?«

»Immer«, sagte sie tonlos und unbeteiligt.

Auf einmal, wie aus tiefem Traum erwachend, suchte sie sich ihm zu entwinden.

»Was haben Sie mit der Melle?« stieß sie leidenschaftlich hervor, und ihr schönes Gesicht sah unendlich gequält aus.

Er hob rasch den Kopf. War es Überraschung, Unmut, Spott, was in den grauen Augen aufglimmte? –

Dann legte er den Arm fester um sie.

»Eifersüchtig, Kind? – Spürst du mir nach? Hast du gemerkt, daß ich ein paarmal mit der Lustigen durch den Wald ging? Hast du keinen Glauben mehr an mich –?«

Sie lauschte seinem Flüstern wie ein Verdurstender dem Rieseln einer Quelle.

Sie gab keine Antwort, schien nur zu warten, daß er mehr, daß er anderes sage.

Da küßte er sie. »Rede, Kind! Mißtraust du mir?«

Flackernden Blicks stieß sie hervor: »Ich kam doch –«

»Ja«, murmelte er, »du bist gekommen.« 187

Nach langem Schweigen beugte sie sich zurück. Ihr Gesicht war überflammt, in ihren Augen lag heiße Glut und zugleich erbarmungswürdige Hilflosigkeit.

In einem Ton, den ihr sicher ein guter Engel, der um sie zitterte, auf die Lippen legte, sagte sie erloschen: »Ich will nicht lügen. Nie will ich zu Ihnen lügen. Ich wäre auch gekommen, wenn Sie mit der Melle – – ich –« Sie verstummte jäh und schlug die Hand vors Gesicht.

Eine Stille kam auf, die wie angefüllt war von Erschütterndem. Die Worte des Mädchens, die eine äußerste Schamlosigkeit hätten sein können, schienen in dieser Stille große, klare Augen aufzuschlagen mit dem Befehl: Höre und verstehe!

Der erblaßte Mann biß sich auf die Lippen. Er vernahm in sich ein Scherbenklirren und begriff, daß ihm das Mädchen wie mit verbundenen Augen alles Unlautere zerschlagen hatte, was er, ohne sich recht darüber klar zu sein, zu dem lang erbettelten Stelldichein mitgebracht hatte.

Wie eine brennende Demütigung durchzuckte es ihn. Die Verschwiegenheit des Waldes, die tiefe Einsamkeit schauten ihn drohend an. »Du hast uns für Gelegenheitsmacher und Kuppler gehalten«, schienen sie zu raunen, »sieh zu, ob wir nicht Wächter sind.«

Das Funkeln des Sonnenlichts zwischen den Bäumen war jetzt wie das Blitzen der Klingen unsichtbarer Ritter, die zum Schutz dieses Mädchens zur Stelle waren. –

Nach langer Zeit strich er der Reglosen über den Kopf. Leis und ernst sagte er: »Das mit der Melle ist vorbei. 188

Ich kann dir nicht erklären, was es war. Du würdest mich nicht verstehen. Jetzt noch nicht. Später vielleicht. Oder möchtest du, daß ich vor dir beichten soll? Möchtest du mich klein sehen –?«

Sie drückte ihm die Hand auf den Mund.

Still war der Wald. Auf dem Moos über eines Toten Hügel spielte die Sonne.

Auf einmal fuhr Marie auf. Ein verzweifelter Ausdruck kam in ihre Augen. Mit einem Ton, in dem sich verwirrte, ratlose Kindlichkeit und wissende Not mischten, stieß sie hervor: »Wir sind Ehebrecher.«

Der Mann sah ihr ins blasse Gesicht. Vielleicht wollte er lächeln, vielleicht dem jungen Ding auf seinem Schoß klarmachen, daß sie sich unnötig und töricht aufrege. Daß der häßliche Ausdruck, den sie gebraucht, aus einer unmodernen und überwundenen Welt komme. Daß bald jedes Kind über ihn lache als über Veraltetes. Aber nichts von alledem gelang ihm. Das Wort, das über die jungen Lippen gekommen, wollte in der sonnigen Waldesstille nicht verhallen. Es grinste durch die tiefe Einsamkeit, im Niederrieseln der dürren Tannennadeln schwang es mit.

Jetzt stützte der Mann den Kopf in die Hand. Er schien das Mädchen auf seinem Knie vergessen zu haben.

Unruhig murmelte er: »Sie ist schon lang zerbrochen, diese Ehe. Nicht meine Schuld ist's und auch nicht ihre- – Sie war ja nicht geschaffen für die Ehe. Für ihre Kunst war sie, für ein Sichverschwenden an alle. – –

Nie hab' ich sie für mich allein gehabt. Kaum in den 189 allerersten Wochen. Und ich kann nicht teilen – ich kann nicht teilen –«, stöhnte er auf.

Er hob den Kopf. Sein verlorener Blick traf in Mariens bange Augen.

»Kind«, brach es aus ihm, »du kannst ja nicht wissen, was ein Mann da leidet, was ich gelitten habe – –«

Er drückte sein Gesicht in ihren Schoß. »Ich klage sie nicht an. Auch sie litt ja durch mich. Es war keine Ehe, Kind, es war die Hölle –«

Marie schauerte zusammen, und der Forstmeister hob den Kopf. Sein Gesicht sah jetzt zerfallen aus, von ferner Qual angerührt

»Das sind keine Dinge für dich«, sagte er fest und gehalten, »du kannst das nicht verstehen. Nur wissen will ich jetzt von dir, ob du Glauben an mich haben kannst über alles Vergangene hinüber?«

Da wich für einen Augenblick der schwere und verstörte Ernst von ihr. Ein Schimmer von unsäglichem Glück, ein tiefer Liebreiz lag über dem jungen Gesicht, in den aufstrahlenden Augen.

Aber schnell verschwand die kurze Helle wieder.

»Mein Bruder«, stammelte sie unruhig – »wenn er wüßte –«

Der Mann schwieg. Ein Unbehagen hatte ihn gestreift.

Unfrei sagte er endlich. »Hat er noch nichts gemerkt?«

Sie glühte auf. »Mein Hannes traut mir.«

Er biß sich auf die Lippen. Zum zweitenmal in dieser Stunde.

»Die Häher schrien so laut, als ich dir damals 190 begegnete«, murmelte er wie ärgerlich, »die Melle hat schon einmal gesagt, ich soll sie doch abschießen.«

Da wandte ihm Marie das Gesicht zu. Etwas Hochmütiges lag darin. »Um meinetwillen sollen Sie keinen Häher schießen«, sagte sie fremd und hart.

Er spürte, daß sie zitterte. »Verzeih!« sagte er und drückte sie fester an sich.

In langes Schweigen hinein fragte er leise: »Marie, darf ich jetzt den Flügel zu euch schaffen lassen, damit ich ins Haus kommen kann?«

Sie schien zu erschrecken. Verstört schüttelte sie den Kopf.

»Keine Musik! Nur keine Musik!«

Hellsichtig verstand er.

»So feig, Mädchen, so feig?« fragte er an ihrem Ohr.

Da ließ sie den Kopf auf seine Schultern sinken und schluchzte leis.

Er rührte sich nicht, als dürfe er ein schlafendes Kind nicht wecken. Endlich richtete sie sich auf. Voll Tränen waren ihre Augen, das lockige Haar quoll unter dem verschobenen Kopftuch hervor. Sie nahm das Tuch und warf es ins Moos.

»Wissen Sie, warum ich's trug?« fragte sie trüb.

Er nickte. »Man sollte dich von weitem nicht erkennen.«

»Ja, man sollte mich für die Ria halten.«

»Warum gerade für die Ria?«

Sie schloß die Augen. »Weil von der Ria keiner denkt, daß sie zu einem Mann in den Wald geht.« 191

Er streichelte leise ihr schönes Haar und gab keine Antwort.

Sie fing wieder an: »Nur ich habe einmal geglaubt, sie habe einen Liebsten.«

»Du, Kind? Wie kamst du dazu?«

Ihre Augen blickten verloren. »Ich weiß nicht. Die Lieder – die Musik – sie spielte so schön auf der Mundharmonika.«

»Hast du nie gehört«, flüsterte er, »daß Musik in jedem Menschen am stärksten an das rührt, was sein Stärkstes ist?«

Ihr dunkler Blick ging ins Leere. Auf einmal fragte sie, und sie wußte wohl kaum, daß sie das Du gebrauchte: »An was rührt sie in dir?«

Er küßte sie auf den Mund. »Nur noch ›Marie und der Wald‹ klingt's, wenn ich zur Geige greife«, sagte er innig.

Einen Augenblick lächelte sie hingegeben. Dann fragte sie ernsthaft weiter: »Und in deiner Frau?«

Es sah fast so aus, als wolle er sie wegstoßen. Feindselig kam's: »Nun, die hört Beifallklatschen und Hervorrufe. Vielleicht auch Bewunderung im engsten Kreis – ich kümmere mich schon lange nicht mehr darum.«

Der Dackel stand jetzt auf und witterte. Das schwarze Schnäuzchen hob er in die Luft, leis bewegte sich die Rute.

»Da kommt jemand«, raunte der Mann und schob Marie vom Knie.

Hastig hängte er die Flinte um und griff nach seinem Hut. 192

In Marie war ein starr machendes Gefühl entsetzlicher Demütigung. Sie sah ihr Kopftuch im Moos liegen, aber ein feindlicher Trotz verbot ihr, es aufzunehmen.

Kein Schritt nahte. Und doch war die Stille nun so seltsam, als stehe hinter jedem Baumstamm ein Lauscher, ein Verräter.

Der Hund windete noch eine Zeitlang, schnupperte und legte sich in wiedergewonnener Ruhe auf Mariens Tuch.

Der Forstmeister spähte nach allen Seiten.

»Diesmal war's blinder Lärm«, sagte er gezwungen leicht und hängte die Flinte wieder ab, »mein Strolch hat wohl Visionen.«

Sein Blick traf Mariens gealtertes Gesicht.

»Siehst du jemand?« fragte er erschreckt.

Laut und fremd sagte sie: »Wir sind allein.«

Er senkte den Kopf. »Es ist mir ja nur um dich.«

Sie sahen sich an, als trauten sie einander nicht mehr völlig.

Dann begann Marie: »Ich begreife nun. Sie denken, ich hätte nicht zu Ihnen in den Wald kommen dürfen.«

Die Narbe an seiner Wange trat scharf aus dem gebräunten Gesicht.

»Kind«, klang es leise, »ich hätte dich nicht herbestellen dürfen – dich nicht –!«

»Höchstens die Melle«, entgegnete sie tonlos.

Er schaute sie groß an. »Das warst nicht du, so kämpfst du nicht.«

Sie schlug die Hände vors Gesicht. 193

Nach einer Weile zog er sie wieder an sich, ohne daß sie sich wehrte.

»Laß mich den Flügel auf den Hof schaffen«, flüsterte er.

Sie sah ihm ratlos ins Gesicht und dann in die grüne Einsamkeit hinein. »Da will ich doch noch lieber in den Wald zu dir kommen«, murmelte sie verstört.

Der rauschende Flügelschlag eines großen Vogels ging zwischen den Wipfeln auf.

Sie schraken beide zusammen.

»Komm«, sagte der Mann und hängte die Flinte um, »komm, ich bring dich hinaus.« Er nahm ihre willenlose Hand.

Der Hund sprang auf und kläffte, ohne daß sein Herr ihm Schweigen gebot.

Schon eine gute Strecke waren sie stumm gegangen, da kam der kleine Dackel und brachte das Kopftuch daher, auf dem er gelegen hatte.

Stolz und Freude sprachen aus dem Eifrigen, als er die Beute seinem Herrn darbot.

Das Lächeln, mit dem dieser zugriff, war nur flüchtig.

»Hier«, wandte er sich zu Marie, »willst du es wieder umbinden, damit du aussiehst wie die Ria?«

Sie nahm das Tuch und steckte es in die Tasche. »Das ist nun einerlei«, sagte sie verloren und gleichgültig.

Am Waldsaum blieben sie stehen. Langsam hob Marie den Kopf zu dem Mann. Eine Glutwelle ging über ihr Gesicht. Beide Arme legte sie um seinen Hals. »Ach«, sagte sie, und es klang wie ein tiefes Stöhnen, »sag, daß ich doch einmal, einmal wieder spielen darf!« 194

Er hielt sie an sich gepreßt. Er, der wissende Mann, verstand diese Unwissende, die sich nicht verstand, die nur glühte vor Sehnsucht.

»Ja, ja«, sagte er rauh, »du sollst, wenn es Zeit ist.«

Dann ließ er sie plötzlich los und ging davon, ohne sich nach ihr umzublicken.

Aber die Toten in den Hügeln bei der alten Eiche und die stillen Tannen und die Sonnenstreifen zwischen den Stämmen – alles sank in eine große Gelassenheit und Ruhe, weil alles mit sich zufrieden und das Wächteramt wohl verbracht war.

 

Früh ging dieser Tag zu Ende.

Man brauchte schon Licht oder hätte doch schon Licht gebraucht, als Ria mit der frischen Abendmilch in die Küche kam.

Aber Marie hatte noch keines entzündet. Sie hantierte am Herd, wo sie sonst um diese Zeit nichts zu tun hatte.

Es war ein kurzer, fast frostiger Gruß, den die beiden wechselten. Dann rauschte aus Rias Kanne die weiße Flut in die Töpfe.

Es lag eine unverkennbare Schwüle über der Küche.

Ria hätte jetzt wieder gehen können. Aber sie blieb in der Dämmerung stehen und nestelte an ihrem Schürzenband.

Einen blechernen Topf band sie los und stellte ihn auf den Tisch.

»Brombeeren«, sagte sie einsilbig.

Reglos stand Marie.

Auch Ria stand. 195

Nach langer Zeit kam die Frage: »Du warst im Wald?«

»Ja«, sagte Ria.

»Heut nachmittag –?«

»Heut nachmittag.«

Etwas Unsichtbares wob zwischen den beiden hin und her.

Jetzt reckte sich Marie. Mit fremder Stimme sagte sie: »Daß du's weißt: ich spiele von jetzt an wieder Klavier. Der Herr Forstmeister hat mir seinen Flügel versprochen.«

Ria las ein paar verstreute Beeren in den Topf. Ohne aufzusehen, sagte sie: »Die Melle hat auch schon darauf gespielt.«

Marie tat einen Schritt gegen den Tisch. »Das ist vorbei«, kam es mühsam.

Wieder war schwere Stille.

»Weiß es dein Bruder?« fragte jetzt Ria.

»Noch nicht.«

»Vielleicht will er es nicht.«

»Warum sollte er es nicht wollen?«

»Das weißt du gut.«

Marie hob in einer heftigen Art den Kopf. Aber dann blieb sie stumm.

Ria wollte gehen. Da fragte die andere scheu: »Wie spielt sie denn, die Melle –?«

Das Pächtermädchen gab lange keine Antwort. Dann sagte sie leise: »Du kennst sie ja auch. Sie spielt, wie sie ist: manchmal gut, manchmal anders. Beim Musikmachen kann keiner lügen, meine ich.« 196

Marie atmete hörbar. »Nein«, klang es still, »da nicht.«

Plötzlich trat Ria ganz nahe zu der andern und strich ihr über den Arm. Es war eine scheue Gebärde voll verhaltener Zärtlichkeit. Fast unhörbar raunte das Mädchen: »Frag deinen Bruder vorher! Nachher ist's zu spät.«

Sie nahm ihre leere Kanne vom Tisch und ging aus der Tür.

Lange verharrte die andere wie gebannt. Dann schlug sie beide Hände vors Gesicht, und ein wehes Schluchzen klang durch die Dämmerung.

Jetzt trat sie zum Fenster, ob sie den Schritt des heimkehrenden Bruders nicht höre.

Ein Gefühl erdrückender Einsamkeit und Verlassenheit lastete auf ihr. Komm heim, Hannes! schrie ihre Seele, du sollst mich jetzt nicht allein lassen! Hilf mir! Stell dich vor mich! Aber tu es, ohne daß ich dir zu beichten brauche! – Wenn du doch auch heute nachmittag im Wald gewesen wärst wie Ria, und alles wüßtest wie sie! Ich kann ja nicht davon reden, ich kann nicht. –

Der weite Hofraum lag in Dunkelheit. Am hohen Himmel funkelten die Sterne.

Lange sah Marie mit ihren verweinten Augen in die Unendlichkeit hinauf. Sie war ihr jetzt nicht tröstlich, war ihr unerbittlich, fremd und gnadenlos. Ihre quälende Sehnsucht ging ja nicht ins ewig Unbegrenzte: nach ganz anderem schrie in dieser Stunde ihr junges Herz. 197

Auf einmal kam aus der Dunkelheit der Klang der Mundharmonika.

Irgendwo in der Schwärze des Hofes mußte Ria stehen und spielen. Die Hand aufs wild klopfende Herz gedrückt, lauschte Marie.

Was wollte sie denn, die Ria? Wollte sie warnen, schelten, verdammen? –

Sie spielte die alten Lieder, zu denen Marie den Text nicht kannte. Nur von dem einen, von dem, das sie eben anstimmte – wußte sie ihn. Worte und Melodie waren kindlich und von jenem naiven Überschwang, der in hetzender Zeit keinen Widerhall mehr zu wecken vermag.

Aber jetzt, unter den zeitlosen Sternen in der einsamen Nacht, in der Nacht der Verlassenheit und der pochenden Not – jetzt schien alles mit und in dem alten Lied zu schwingen.

»Ein getreues Herz zu wissen, hat des höchsten Schatzes Preis –«

Marie beugte sich weit aus dem Fenster, als ziehe der leise Klang sie hinaus in die Dunkelheit.

Dann kniete sie auf den Fliesen und weinte bitterlich und haltlos wie ein Kind.

 

An diesem Abend kam Hannes Baldenius erst spät heim.

Er hatte einen weiten Marsch durch die Wälder hinter sich, einen jener anstrengenden und ziellosen Märsche, die er manchmal brauchte, um sich gründlich zu ermüden.

Herrlich wären diese Gänge gewesen, wenn der 198 Wanderer nicht sich selbst auf alle den grünen, versteckten, einsamen Wegen mitgeführt hätte.

Immer wieder stürmte es auf ihn ein, ob er recht daran getan habe, sein und der Schwester Leben in diese Weltferne zu verlegen. Ob es nicht nur ein Stück Feigheit vor den Zeitverhältnissen, eine Gebärde des Überdrusses nach allem Erlebtem gewesen sei? –

Aber wenn er die Möglichkeit erwog, umzukehren, dann war ein schneidender Schmerz in ihm.

Am Temperament des Vaters gemessen, war ihm früher seine eigene Gelassenheit und Ruhe wie Schwerfälligkeit erschienen.

Jetzt, wo ihn oft eine dumpfe Ratlosigkeit bedrängte, konnte er von dieser alten Ruhe, so sehr er sich danach sehnte, nichts mehr entdecken.

Ein Gequältsein ohne greifbaren Grund trieb ihn um, machte ihn oft reizbar, ließ ihn bald übergeschäftig werden und jagte ihn dann wieder von aller Arbeit weg in die tiefen Wälder hinaus. Die stille und erfüllte Herrlichkeit der wundersamen Tage beelendete ihn und ließ ihn leiden auf eine Weise, die er nie gekannt.

Das war nicht der grimmige Schmerz, wie bei des Vaters, oder die ätzende Bitterkeit, wie bei des Freundes Tod. Auch nicht das dumpfe, gallige Gelähmtsein, wie nach dem furchtbaren Kriegsende und dem Heimkommen in eine niedergebrochene Welt. Ganz anderes bestürmte und bedrängte ihn, ohne daß er eine Waffe dagegen fand oder den Feind recht zu Gesicht bekam.

Auf seinem Gange heute hatte er sich wieder einmal bemüht, herauszubekommen, wann die Sache eigentlich 199 begonnen habe. Vielleicht seit er Gottfrieds Vater kannte? –

Der hatte von ihm Besitz ergriffen, als sei es sein Recht, des Sohnes Erbe anzutreten.

Manchmal, wenn er mit dem Männlein ins Gespräch kam, war es Hannes, als dürfe er nur die Augen schließen, dann sei Gottfried da. Aber nicht mehr der junge, sondern ein mächtig gereifter Gottfried. Ein Freund, der nur eine Zeitlang fortgewesen war, um überall, sogar beim Tod, Erfahrungen zu sammeln und sie dem Freunde heimzutragen.

So hatte der Kleine kürzlich gesagt: »Das ist nicht schlecht, Baldenius, daß Sie heut noch, wie als Schulknabe, ›ein Mensch‹ werden möchten. Das Bauersein ist gut für solche Zwecke. An der Erde wird man am ehesten Mensch. Aber es ist auch noch ein Ackerland vorhanden, das auf der inwendigen Markung liegt. Dort ist der härteste und schwerste Boden zu pflügen; dort darf man keine Brache dulden und kein Unkraut in Samen schießen lassen. Sonst klopft eine Armut und eine Verkommenheit an, gegen die der verlotterte Marienhof noch eine Musterwirtschaft ist. – –«

Aber wenn Hannes solchergestalt den kleinen Mann wie eine Unruhe neben sich hörte und spürte – an der schlimmsten Unrast traf ihn keine Schuld. Die mußte ihren Grund anderswo haben. Marie? – Was war eigentlich mit Marie? Hatte die Trauer um den Vater sie so aus der Bahn geworfen, so empfindlich und ungleich gemacht, wie sie jetzt oft war?

Oder trug sie einfach ein Leben nicht mehr, in dem es 200 nur die Freuden gab, die man sich inwendig aufbauen konnte? Sehnte sie sich nach der Stadt, nach der früheren Wohlhabenheit? Lechzte sie nach Musik? –

Aber warum hatte sie denn damals des Forstmeisters Flügel ausgeschlagen? Und so heftig, so leidenschaftlich ausgeschlagen? –

Jetzt war Hannes mit seinen suchenden Gedanken beim Forstmeister.

Wer war dieser stattliche Mann?

Etwas Ritterliches hatte er an sich, seine grauen Augen sprachen von Kraft und Natürlichkeit.

Aber war nicht auch irgend etwas Beunruhigendes da? Etwas Undurchschaubares?

Da tauchte vor Hannes die Melle auf. Merkwürdig, daß er die beiden immer zusammen sah. War das, weil er sie damals auf der gewitterdunkeln Straße hatte gegen den Marienhof eilen sehen? –

Hannes lächelte jetzt. Er meinte, wenn diese Melle da auf dem grasigen Weg neben ihm ausschritte, es müßte eine ganz unterhaltsame Sache sein.

Der blonde Lockenkopf und die gertenschlanke Gestalt, das lachende hübsche Gesicht mit den roten, vielleicht gefärbten Lippen und den blitzenden Zähnen, die so gerne gezeigt wurden und so gut zu den lachenden, ein wenig zu kecken Augen paßten – diese Melle würde die Stille des entlegenen Weges scheuchen auf eine Art, die man nicht schelten könnte.

»Unsere Kleine«, hatte Gottfried oft von der Stiefschwester gesagt. Es schwang etwas darin, was Hannes jetzt, da er die Melle kannte, gut verstand. 201

Ein Schmetterling gaukelte über den sonnigen Pfad. Am Waldrand schwenkte er um, als scheue er sich vor dem Dunkel. »Ja, du«, sagte Hannes hinter ihm her, »dort geh nicht hinein! Ihr müßt in der Sonne bleiben, du und die Melle, sonst ist's vorbei.«

Er schlug leicht mit der Hand in die Luft. »Der Schultheiß wird ja ein Auge auf sie haben«, murmelte er weiterschreitend.

Jetzt trat ein schmerzhafter Zug auf das Gesicht des in Gedanken versunkenen Wanderers. Vielleicht war er auf den Nervenpunkt gestoßen, um den es ging.

Er schaute zurück. Einen leisen Tritt hatte er hinter sich gehört. War's nicht ein Mädchenschritt gewesen? –

Aber er sah nur ein Reh, das über den Grasweg wechselte.

Jetzt stand es. Die dunklen, feuchten Lichter glänzten, leis spielten die feinen Lauscher.

Es mußte wohl ein unerfahrenes Jungtier sein, das die Menschengefahr noch nicht kannte. Oder lebte auch in diesem feinen, scheuen Geschöpf jene Sehnsucht, die der Schultheiß den Eichhörnchen zuschrieb.

Hannes hielt den Atem an. Es ging ihm durch den Kopf: »Wenn es stehenbleibt, wird die Ria – –«

Da zuckte das Tierlein zusammen und setzte ins Unterholz.

Hannes wollte sich des schönen Erlebnisses freuen. Aber es lag eine ferne Trauer darin; das holde Wunder hatte einen Schatten.

Jetzt war der Schreitende bei Ria. Lautlos hielt sie 202 neben ihm Tritt, und er drehte den Kopf nicht, als könne er sie dadurch scheuchen. Dann lachte er auf.

Ach nein, die Ria ging nicht müßig durch den Wald und mit ihm, Hannes Baldenius, schon gleich gar nicht! – Er war ihr offenbar immer der Feind, der sie aus der Heimat und von der Scholle vertrieb.

Wie könnte sie sonst so scheu, so abweisend, so unendlich verschlossen sein, so oft er sich ihr nähern wollte.

Sie liebte ihre Heimat und diese arme Scholle, an der sie ihre junge Kraft zerrieb. Aus tausend Dingen hatte Hannes schon gemerkt, wie sehr sie bewußt und geöffneten Sinnes an der Erde hing.

Ins Leere hinein sagte er: »Bleib doch da, Ria, bleib doch bei mir! Ich kann mir den Marienhof ohne dich nicht denken!«

Aber dann hörte er es neben sich: »Als was soll ich denn bleiben? Soll ich deine Magd sein? Könntest du es ertragen, daß ich deine Magd wäre?« –

»Nein, nein«, murmelte Hannes, »du bist keine Magd. Eine Herrin bist du.«

»Herrin – ich –?« raunte der Schatten, »du vergißt wohl, daß ich einen Vater habe, der ein Faulenzer ist, ein Trinker, ein Mensch, der nur Unfrieden und Herzeleid und Schande um sich streut! Wer soll mich unter diesen Umständen zu seiner Herrin machen? – –«

Der Schreitende stöhnte. Sein Kopf zollte den unhörbaren Worten grimmigen Beifall; sein Herz zuckte vor Schmerz.

»Ria«, flehte er, »geh nicht! Mit was ich dich halten, 203 was ich dir bieten soll, weiß ich heute nicht. Ich weiß nur, daß du zu mir gehörst.«

Hob jetzt nicht das Mädchen, oder ihr Schatten, die braunen Augen?

Es waren die Lichter des Rehes von vorhin. »Tust du mir nichts, wenn ich bleibe? Ist keine Gefahr neben dir?« fragten sie scheu und vertrauend zugleich.

Hannes blieb stehen.

»So geht es nicht weiter«, murmelte er verbissen, »ich muß sie fragen, ich muß mit ihr reden. Sie wird doch nicht glauben, daß ich zum Schuft an ihr werden will.«

Der Wald rauschte auf. Es war sein Gruß an die scheidende Sonne. Hannes sah auf die Uhr. Dann machte er kehrt, um noch für einen Augenblick beim Volz in Bittwangen hineinzuschauen.

Das kleine frauenlose Haus mit seinem liebevoll betreuten Garten war ihm längst nicht mehr fremd. Schon manche Feierabendstunde hatte er bei dem Meister zugebracht und dabei entdeckt, daß das bandlose Kreuz im Seidenpapier nicht der einzige verschwiegene Besitz des stillen und besonnenen Mannes war.

Heute traf er den Meister im Garten, wo er nach seinen Bienen gesehen hatte.

Die zwei begrüßten sich, als seien nicht viele Worte zwischen ihnen nötig.

Dann setzten sie sich auf die selbstverfertigte Bank aus forchenen Latten, die des Hausherrn Stolz war. Sie stand an der Hauswand unter den offenen Fenstern, und man sah von ihr gegen den Wald hin, über dem sich der weite Abendhimmel wölbte. 204

»Ah!« sagte mit unbewußtem Behagen Hannes im Niedersitzen, denn ihm war hier, als sei er daheim.

»Weit her?« fragte der Meister und stopfte die Pfeife.

»Vom Hochberger Kirchweg«, erzählte Hannes, »ich lief ganz vor, bis wo die Schonung rechts anfängt.«

»Dort geht's um«, sagte der andere und entzündete ein Streichholz an der Hose.

Hannes lachte nicht und wunderte sich nicht. Solche Dinge hat er jetzt da oben schon so oft gehört, sie waren so eingefügt in die Gedankenwelt der Bauern, daß man verlernte, sich darüber aufzuhalten.

Die Pfeife brannte jetzt, und der Geruch des billigen Tabaks umzog die zwei Männer.

Der Meister schlug ein Bein über das andere. »Ein Reh sieht man da gehen«, sagte er behaglich.

Hannes blickte auf. Es lag wie Unruhe in seinen Augen.

»Nun«, meinte er, »ein Reh im Wald – was ist da dran? –«

Der andere nickte. Ein kurzes Lächeln irrte um seinen Mund.

»Es soll ein anderes Reh sein, als sie sonst im Wald laufen.«

Sie blieben lange still. Der Pfeifenrauch zog in blauen Wolken dahin. Jetzt spuckte der Meister aus und setzte sich aufrechter.

»Ob man es heutzutag noch sieht – ich weiß es nicht. Was man nicht mehr gelten läßt, das ist nicht mehr. – Ich hab's noch gesehen.«

»Wann?« fragte Hannes benommen. 205

»In Ihrem Alter, oder auch etwas jünger, mag ich gewesen sein. Ich hatte damals ein Mädchen drüben in Wolfsberg.« Halblaut sagte es der Mann und deutete dabei mit der Pfeife nach dem Wald, wo der Himmel über den Tannen aufzuglühen begann.

Hannes schaute dieser deutenden Pfeife nach. Er sah die Glut und sah den Garten und die Äcker dahinter, die Nähe und die Ferne in einem unwirklichen Licht, in fremden Farben liegen. Es kam ihm vor, als sei die Welt in einen Hintergrund für alles Wunderbare und Unwahrscheinliche verwandelt.

»Ein Fräulein von der Vogtsburg soll das Reh sein«, fuhr auf seine gemächliche Art der Meister fort, »es stehen noch die Mauern von ihrem Schloß; man muß den Platz nur wissen. Verführt ist die worden, und dann ist der Lump fort in den Krieg.«

Er paffte ein wenig. »Daß der Krieg die Rechten wie die Schlechten schluckt, das weiß ein Frontsoldat.

Sie hat ihr Kind dann umgebracht aus Angst vor ihrem Bruder.«

Am Waldrand drüben schrien die Häher, und der Himmel brannte auf, als stehe hinter den Tannen das Firmament in Flammen.

»Ja – und –«, fragte mit enger Kehle Hannes, nach dem großartigen Schauspiel hinüberblickend.

Auch des andern Augen hingen an der lohenden Glut. Nach langer Zeit erst sagte er: »Der Bruder hat's dann doch gemerkt. Erstochen oder erschlagen hat er sie halt. Seither geht sie und wartet, bis einer sie erlöst.«

Ohne Spott, ohne das wohlfeile Besserwissen fragte 206 nach versunkenem Schweigen Hannes: »Und wie soll sie zu erlösen sein? –«

Harten Tons antwortete der Meister: »Heutzutag geht's schwer. Die Zuchtlosen kann man dazu nicht brauchen.«

»Glauben Sie, daß es nur Zuchtlose gibt heutzutag?«

Der Volz legte die Pfeife weg, als habe er plötzlich den Geschmack daran verloren.

Erregter, rascher, als er sonst sprach, kam's: »Wenn jetzt jede Jungfer, die keine mehr ist, als Reh gehen müßte – mit jedem Schuß gäb's eine Dublette. Und das ist nicht da oben allein so.«

Er spuckte aus. Sein hageres Gesicht hatte einen feindseligen Ausdruck. »Ich sag' und dabei bleibt's –: entweder tritt der Gaul vorwärts und zieht den Karren, oder er tritt rückwärts, und der Karren zieht ihn. Im Krieg haben wir den Karren gezogen. Jetzt läßt man sich lieber in jeden Dreck und jeden Graben reißen.«

Hannes setzte sich unwillkürlich aufrecht. Der Himmel war jetzt bis zum Zenit herauf in Blut getaucht. Etwas Atemraubendes, grandios Abenteuerliches lastete über der Höhe.

Man konnte nichts tun, als schweigen und schauen und klein werden.

Den beiden reglosen Männern schien, da sei an den Himmel gemalt, was sie und die Millionen erlebt hatten und über was andere Millionen jetzt unwürdig hinübertaumelten. Endlich, als finde er in die Wirklichkeit zurück, fragte Hannes: »Und was tut man, wenn man das Reh sieht?« 207

Der Meister lachte auf.

»Wer eine Vorschrift braucht, kommt da nicht mit. Ich hab' halt kehrtgemacht damals. Zu meinem Mädchen war ich auf dem Weg. Die hing mit Leib und Seel' an mir. Für jenen Abend hatte ich ihr ein Versprechen abgetrotzt. Als sie mir's endlich gab, hat sie geweint. Heut weint da keine mehr, und keiner macht mehr kehrt auf diesem Weg.«

Es lag nichts Pharisäerhaftes in den Worten, nur ein harter Ernst.

Das Schauspiel am Himmel hatte seinen Höhepunkt überschritten. Die Glut blaßte ab, und es war rings wie Ernüchterung.

Vielleicht mit feinem Spott in der Stimme sagte Hannes endlich: »Also sein Mädchen warten lassen, hieße dann das Fräulein erlösen.«

»Wie man's nimmt«, entgegnete der andere trocken. »Ich hab' damals die meine in Ruh gelassen. Im Herbst war Hochzeit. So viel sag ich und mehr nicht: Wenn einmal keiner mehr zum Lumpen wird an seinem Mädchen, ist schon allerlei Erlösung da.«

Er nahm die Pfeife wieder auf und stopfte sie. Seine ganze Gelassenheit schien zurückgekehrt, als ihm der Rauch aufs neue um die lange Nase wirbelte.

Auf einmal schlug er mit der flachen Hand auf den leeren Platz zwischen sich und Hannes.

»Da saß sie gestern abend.«

Der andere hatte eben an die Tote des Witwers gedacht.

»Wer?« fragte er fast erschrocken. 208

»Die Ria halt.«

Ein großes Unbehagen wühlte den Gast auf.

»So«, sagte er erregt, »weiß sie immer noch nicht alles von Verdun? –«

»Alles?« entgegnete der andere und blies eine Rauchwolke in die Luft – »alles von Verdun kann nur der Herrgott wissen, und dem wär's lieber, wenn er's vergessen könnte.«

Hannes fühlte sich zurechtgewiesen. Finster sah er über den Garten hin.

Die lodernde Leidenschaftlichkeit und das überirdische Pathos, das vorhin noch über allem ausgegossen war, hatte einer stillen Müdigkeit, einem ersten Hauch der Dämmerung Platz gemacht.

Der Meister fing wieder an: »Jetzt ist's also fest, daß ihr Vater den ›grünen Baum‹ an der Steige übernimmt.«

»Geht sie mit?« stieß Hannes hervor.

»Sie muß.«

»Will sie nicht?«

»Wer fragt danach. Sie ist minderjährig.«

»Sie will also nicht? –«

»Der Lump wird sie schon zwingen.«

»Also freiwillig geht sie nicht? –«

Volz drehte jetzt den Kopf nach dem drängenden Frager.

Gelassen kam's: »Was meinen Sie denn, daß sie wollen soll?«

Hannes glaubte leisen Spott in der Stimme zu hören. Er wurde blutrot. »Wenn sie sonst nichts will, könnte 209 sie von mir aus als Magd auf dem Hof bleiben«, sagte er gezwungen.

»Sonst – was sonst? –«, bohrte zäh der andere.

»Nun«, brach es aus Hannes, »sie kommt ja oft genug zu Ihnen.«

Der Meister fuhr sich langsam über die Knie, als wische er Kalkstaub von der weißlichen Leinenhose. Er nickte. »Ja, das schon«, gab er zu. Dann hob er den Kopf und sagte scharf: »Das glauben Sie ja selber nicht, daß die Ria Ihre Magd sein kann.«

»Warum nicht?« würgte Hannes mühsam hervor.

Der andere schaute ihm ins Gesicht. »Sie wissen das so gut wie ich«, sagte er nach einer Weile wie besänftigt.

Das Zirpen der Grillen kam aus der Dämmerung. Hannes blickte weg und sah den ersten Stern am blassen Himmel stehen.

Auf einmal brach es aus ihm: »Sie darf nicht mit dem Lumpen. Auf den Hof gehört sie und nicht in eine Kneipe. Sie soll nicht untergehen.«

»Die geht nicht unter«, murrte der andere neben der Pfeife heraus.

»Wenn Sie mit ihr reden und ihr das vom Marienhof sagen würden!« drängte Hannes, »zu Ihnen hat sie Vertrauen.«

Es kam sehr lange keine Antwort. Entweder spürte der Meister, was dieses Ansinnen seinen Gast gekostet hatte, oder er überschlug seine eigenen Kosten, ehe er jetzt sagte: »Das sind nicht meine Sachen. Das müssen Sie mit ihr bereden. Dann wird sich ja ausweisen, ob sie auch zu Ihnen Zutrauen hat.« 210

Rasch sank die Dunkelheit. Wenn der Volz an der Pfeife zog, sah man winzige Funken aufglimmen, und droben tauchte ein Stern nach dem andern auf.

Der Meister deutete hinauf. »Vielleicht ist's, weil der Herrgott seine Pfeife raucht«, sagte er gemütlich.

Aber dann setzte er sich aufrecht. Rauh klang's: »Wer sie dem Lumpen abnimmt, verdient sich einen Gotteslohn. Nur muß sie wollen, das ist's – –«

In diesem Augenblick leuchtete, als sei es an der Herrlichkeit des Sonnenuntergangs noch nicht genug gewesen, ein Meteor in langer Bahn über den Himmel.

Die beiden starrten nach dem überwältigenden Schauspiel.

Als es längst erloschen, murmelte der Meister: »Vor Verdun haben wir da immer gesagt: Gilt es mir oder gilt es dir? –«

Hannes erhob sich verstört. »Ich muß heim. Meine Schwester wartet wohl längst auf mich.«

 

Aber als dann der Wanderer heimkam und Marie die Tritte, auf die sie so lange gewartet, endlich vernahm, da entwich sie wie vor einer Gefahr, schloß sich in ihr Zimmer ein und legte sich zu Bett. 211

 


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