Auguste Supper
Die Mädchen vom Marienhof
Auguste Supper

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Zwölftes Kapitel

Der Föhn.

Wenn er über das Dächermeer der Stadt hinbraust, haben nicht viele Zeit und Lust, auf ihn zu horchen.

Er kann ja auch sein unheimlich herrliches Wesen dort nicht voll entfalten, wo der Raum durch Mauern und Steine in kleine Stücke zerhackt ist.

Auf der freien Höhe ist er zu Haus; dort darf er sich ausleben, dort wird er, was er sein kann.

Schultheiß Roser wanderte an den verschneiten Äckern hin, über denen Rabenheere sich schreiend in der Luft schwenkten, als wüßten sie vor wilder Unruhe und wollüstiger Bangigkeit nicht mehr, was sie anfangen und wohin sie sich wenden sollten.

Unvermerkt kroch überall der Schnee in die Erde, als wolle er sich dem Kommenden entziehen, und das leise Rieseln in Furchen und Gräben klang besorgt.

Der kleine Mann drückte den Hut fester auf den Kopf und knöpfte den Rock zu. Wenn alles sich rüstete, wollte er nicht zurückbleiben.

Seine Augen blickten so herrenhaft wie nur je ins Weite. Sie schienen zu sagen: Wenn jetzt die losgebundene Kraft des Weges kommt, will auch ich meinen Teil davon einheimsen.

Hoch in der Luft hörte man ein fernes Rauschen, als ziehe ein mächtiger Strom vorüber.

Der Mann schaute nach dem Wald. Noch standen die Wipfel ruhig und ungebeugt. 289

Mitleidig dachte er: Du wirst jetzt wieder Stunden deiner tiefsten Demütigung erleben. Stunden härtester Prüfung, in denen kein Sterblicher dir Beistand leisten kann.

Nicht einmal in deine Nähe dürfen wir schwachen Menschlein dann kommen. Denn mancher Stamm, dem das Elend im Waldinnern über die Kraft geht, stürzt über den Weg und erschlägt, was sich heranwagt. –

Der Ausschreitende ließ den Blick nicht von den Wipfeln.

Da fiel ihm zum Trost ein, daß mit der furchtbaren Kraft, die im Anzug war, doch ein Abkommen getroffen sein müsse, das ihr Schranken auferlege. Ein Abkommen, das die winzigen Tannenmeisen, die Haselmäuse, die Eichhörnchen, die Rehe und Hasen schütze. Sonst wäre ja nach jedem Föhn der Wald leer von allem Lebendigen.

Die ersten Stöße kamen jetzt am Boden daher.

Der Schultheiß ging mit gesenktem Kopf weiter. Es war ihm wohl und frei, er hätte anbinden mögen mit dem kühnen Gesellen, der da herbeistürmte.

Weit hinüber kämpfte er sich so, ohne ein Ziel zu haben.

Jetzt lag es wie ein Donnern in der Luft. Mit gespreizten Beinen mußte sich der Mann stemmen, zum Atemholen galt es, den Kopf rückwärts zu wenden.

Ach – wie erfrischte das! Wie stählte es, wie hob es hinaus über die Enge und Tiefe! Hinaus über sich selbst.

Es war ihm, als fege das Brausen und Dröhnen alles aus seinem Leben weg, was minderwertig war und schuldhaft. 290

In einer Beichte, zu der er sich die Atemzüge in schwerem Kampf erstreiten mußte, holte er alles aus sich herauf und bot es dem Sturm, daß der es mit sich nehme.

Einmal, als der Kleine in die Tasche griff, kam ihm der Brief von Hannes an den Forstmeister unter die Finger.

Er zerriß ihn in kleine Fetzen, die über die Furchen dahinwirbelten. Mit einem Lächeln sah er dem wilden Spiel zu. Als eine Anzahl der kleinen weißen Sturmvögel kühn in die Luft stieg, rief er: »He, he! Nur nicht so hoch hinaus! Ihr seid nichts als Fetzen eines überflüssigen Briefs, von dem der Schreiber und andere Leute sicher einmal wünschen würden, er wäre nie geschrieben worden.«

Das Getöse in der Luft wandelte sich jetzt in ein Knattern und Klatschen, als ob schweres Fahnentuch schlage. Schwerterklirren schien sich darein zu mischen und das Wiehern ferner Rosse, das Stöhnen Verwundeter.

Der Kleine dachte bei sich, jetzt müßte nur ein dünner Schleier noch weggezogen werden, dann würde sich das tiefste Wesen des Tobens enthüllen.

Als der starke Anprall etwas nachließ, schaute er sich um.

Da sah er, daß in mäßiger Entfernung noch ein zweiter Mensch gegen das Brausen ankämpfte.

Hallo – dachte er, wer kann das sein? Die Kolbenharter sitzen doch daheim und beten, daß ihnen die Dachziegel nicht zerschmettert werden.

»Aha«, sagte er jetzt vor sich hin, »der Forstmeister! – Ja, der ist auch reif für den Föhn.« 291

Sie kamen sich näher. In die Furchen hineingedrückt war da der kleine Dachshund. Er gab nicht Laut vor dem Schultheißen. Sicher spürte er, daß es lächerlich wäre, mit so winzigem Lärm gegen das große Toben und Tosen anzugehen.

Der Forstmeister trug einen Stock in der Hand. Am linken Arm war der schwarze Flor.

Der Mann sah aus, als habe er schwere Krankheit hinter sich.

Jetzt trafen sich die zwei Augenpaare. Einen anderen Gruß erlaubte in diesem Moment der Sturm nicht.

Als ein Stoß vorbeigebraust war, fragte der Forstmeister: »Was schaffen Sie da außen?«

Der Kleine stellte sich mit dem Rücken gegen den Wind. »Ich lasse mich ausblasen«, gab er Auskunft, »das kann bis in die Rocktaschen und ins Gewissen hinein nichts schaden.«

Vom Wald her kam ein schweres Krachen.

Sie schauten beide hinüber. »Himmeldonner –«, stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen der Forstmann hervor.

»Ja«, sagte der Schultheiß, »das tut höllisch weh, wenn einem etwas Liebes zuschanden gerichtet wird.« –

Es blieb still. Dann deutete der Kleine auf den Flor an des anderen Arm. »Sie sind in Trauer gekommen. Mein Beileid.«

Der Forstmeister blickte immerzu nach dem Wald. Aus seinem mitgenommenen Gesicht hob sich die Narbe scharf ab. 292

Auf einmal drehte er den Kopf. »Lassen Sie das«, stieß er hart hervor, »wir zwei laufen nicht in den Sturm hinaus, um zu lügen.«

Jetzt hatte der Föhn wieder das Wort. Man hörte ihn immer stärker drüben unter den zu Opfern gezeichneten Stämmen.

»Da nicht helfen können«, rief erbittert der Forstmeister, »zusehen müssen, wie alles zugrund' geht –«

Der Schultheiß trat dicht neben ihn. »Ja, das ist fast zuviel für einen Mann. Der Hannes Baldenius sagt's auch.«

Der andere blickte her. »Ach, dem seine struppige Hecke! Das ist ja schon lange kein Wald mehr. Da hat der Werkmeister gesorgt.«

Sie mußten wieder einen Ansturm vorbeigehen lassen. Dann sagte der Kleine: »Wenn's der Wald bloß wäre! Bei Baldenius geht's um die Schwester.«

Der Forstmeister fuhr herum. Der Wind riß ihm den Hut vom Kopf, ohne daß er darauf zu achten schien.

Aber der Schultheiß tat, als sehe er die Bewegung des anderen gar nicht. Zu dem Hund beugte er sich herunter, der den fortgewirbelten Flüchtling eifrig dahertrug, aber knurrend zurückwich, als der Kleine ihm die Beute abnehmen wollte.

»Brav so!« lobte der Schultheiß, »du läßt deinen Herrn nicht um das Seine bringen. Wenn nur der Hannes Baldenius auch so einen Hund gehabt hätte.«

Der Forstmeister nahm jetzt dem Dackel den Hut ab. 293

Mit einer Stimme, die fremd, ja drohend klang, fragte er: »Was ist mit Fräulein Baldenius?«

Der andere sah ihm ins Gesicht. »Man weiß es nicht«, sagte er langsam und schwer, »sie wäre die erste nicht, die auf dem Marienhof an einer Krankheit ohne Namen stirbt.

Bei des Werkmeisters Frau sagten damals die Leute, sie sei gestorben, weil ihr Mann zum Lumpen an ihr wurde. Aber das ist keine rechte Krankheit, daran stirbt man nicht. Der Doktor spricht von Lungenentzündung. Das Mädchen hat sich im Wald erkältet. Der Wald tut nicht allen gut.«

Es kam jetzt wieder ein Dröhnen, ein Splittern und Stürzen vom Wald herüber, so daß der Forstmeister die Hand vor die Augen legte und aufstöhnte. Lange stand er so.

Dann sah er den Kleinen an. »Und nun?« klang es ratlos.

»Es soll ihr heut ein wenig besser gehen. Aber so eine Lungenentzündung hat's wie der Föhn. Sie setzt aus, um stärker loszubrechen.«

Sie blickten beide nach dem Wald, der ächzend seinen Kampf ausfocht. Nach langer Zeit sagte der Forstmeister: »Wie mag's aussehen, wenn man hinein kann?«

Der Schultheiß nickte mit dem Kopf. »Viel Verwüstung. Aber dahinter steckt auch schon die Aufgabe. Übrigens: kennen Sie die Rosella?«

Maßloses Erstaunen malte sich auf dem Gesicht des anderen. 294

»Die Rosella –? Kennen Sie die –?«

»Ich nicht. Aber meine Melle. Sie pflegt ihr die Hände, an denen die vielen Brillantringe funkeln.«

Einen Augenblick zogen sich die Brauen des Forstmannes zusammen. Vielleicht war irgendeine Erinnerung vorübergestreift. Nach langem Schweigen sagte er freien Tons: »Ein prachtvoller Mensch, diese Frau. Wenn die sich um die Melle annimmt, ist sie in guten Händen. Die hat nüchterne Augen und das Herz auf dem rechten Fleck. Ich kenne sie lange. Sie war auch einmal bei uns im Feld, um zu singen. Bis in den vordersten Graben wäre die gegangen, um den verdreckten Kerlen eine Freude zu machen. Und tadellos – verstehen Sie! – unantastbar! Wenn Sie wollen, schreibe ich ihr, sie soll die Melle unter ihre Fittiche nehmen. –«

Wie kommt es, daß der Mann so gesprächig wird? sinnierte der Schultheiß und blickte den anderen prüfend an.

Der verstummte sofort; aber er senkte den Blick nicht.

Sie schritten eine Zeitlang schweigend weiter. Dann sagte der Kleine: »Ich werde mich heimwärts schlängeln, wenn es der Föhn erlaubt. Die Melle hat ihre Conti dagelassen, die muß ich ihr warmhalten.«

»Was schreiben Sie denn?«

Der Schultheiß lachte. »Vorläufig meine Lebensgeschichte, wie's die großen Herren machen.«

Der andere senkte den Kopf gegen den Wind. »Ein merkwürdiges Vergnügen«, murmelte er.

»Ja«, sagte der Schultheiß, »aber nicht so dumm, wie 295 es aussieht. Im Niederschreiben merkt man besser, wo es hapert und gehapert hat als im Drang des Erlebens.«

»Wenn man nicht sich und andere anlügt«, warf hart der Forstmeister hin.

»Das hab' ich verlernt«, entgegnete der Kleine kurz.

Am Kreuzweg trennten sie sich.

 

Auch vor dem Marienhof machte der Sturm nicht halt, obgleich die alten Dächer, die Giebel, Firste und Fensterläden so dringend der Schonung bedurft hätten.

Hannes, der sich umgekleidet hatte und im Zimmer der fortschlummernden Schwester am Fenster stand, lauschte mit schweren Sorgen in das Toben hinaus.

Dachziegel zerschellten im Hof, beängstigend knisterte es im Gebälk, die zerbröckelnden Kamine sandten Steine und Mörtel über die Dächer, das Klappern und Klirren von schlechtverwahrten Fenstern und Türen hörte nicht auf.

Wohl hatte Hannes noch einen Rundgang gemacht, aber die Verwahrlosung von Jahren ließ sich in der der Stunde der Gefahr nicht aus der Welt schaffen.

Jetzt kam Stroh durch die Luft gewirbelt. Von der Scheune herüber, wo die Torflügel in ihren verrosteten Angeln schrien, kam es bündelweise daher, als hätte es keinen anderen Herrn mehr als den Sturm.

Hannes wollte hinübereilen. Aber dann lähmte ihn das Grauen vor dem Zusammentreffen mit dem Werkmeister. Oder gar vor dem Zusammentreffen mit Ria unter den Augen ihres Vaters! – 296

Er ballte die Faust. Wie gefesselt und in den Pflock gelegt kam er sich vor, so hilflos, so preisgegeben, so ohne Hoffnung.

Und wenn er sie tausendmal mehr liebte als sein Leben, die Ria – es stierte nur Elend und Erniedrigung aus der Zukunft, solange dieser Mann – –

Hannes erschrak. Hatte er nicht eben in Gedanken einen Mord begangen?

Wie lebte man doch so in dichtester, in ekelhaftester Tuchfühlung mit allem Gemeinen, allem Furchtbaren, auch dem Verbrechen! –

Er wandte sich ab. Um jeden Preis wollte er los. Er trat ans Bett der Schlummernden.

Das weiße Gesicht war schmal und klein geworden wie ein Kindergesicht. Auf der edelgeformten, klaren Stirn unter dem wirren, dunklen Haar standen Schweißperlen, geheimnisvolle Boten der Lebensnähe, der Genesung.

Ein Erbarmen, wie er es seither nie gekannt, packte den Erschütterten. Er begriff auf einmal, wie schwer, wie furchtbar die Schwester gelitten hatte. Seither war ihm das alles gar nicht bis ins Innerste gegangen, hatte ihn weit eher zum Verurteilen als zum Mitleiden angeregt.

Ein Sturmstoß wollte jetzt das alte Haus bis in die Grundfesten erschüttern, so daß ein Krachen und Schmettern den Hof erfüllte.

Ja, ja, dachte Hannes betäubt, so muß es kommen, so furchtbar muß es werden – – –

Marie erwachte nicht durch das Getöse. Ganz weit fort schien ihr Bewußtsein, ihr Geist zu weilen, noch 297 weit hinter der Sphäre der Träume. In jener Tiefe, die keiner kennt und aus der alle leben, holte sie sich wohl jetzt neue Kräfte, neue Möglichkeit, noch einmal anzufangen.

Hannes ging still aus dem Zimmer.

Wie ein Dieb im eigenen Haus schlich er die Treppe hinunter und spähte heimlich in den Hof.

Niemand war zu sehen. Der Boden war bedeckt mit Ziegelscherben, mit Heu und Stroh aus der Scheune.

Hannes bog um die Ecke, einen Blick nach der Straße und dem Wald zu werfen.

Über eine ganze Schütte Stroh mußte er steigen, und plötzlich stand er und starrte vor sich nieder.

Unversehrt und wie sorgfältig eingebettet lag da im Stroh das steinerne Marienbild von der Hausecke.

Es lag da und lächelte sein altes, halb ernstes, halb gütiges Lächeln, das vielleicht schon vor Jahrhunderten Betrübte aufgerichtet hatte.

Hannes vermochte den Blick nicht abzuwenden. Das Bild schien ihm zu sagen: Sieh, ich müßte eigentlich am Boden zerschmettert sein. Aber nun hat der Sturm, der mich vernichten wollte, zugleich mein Retter werden und das weiche Bett für mich hertragen müssen.

Eine frohe Getrostheit war auf einmal in Hannes, obgleich er rings nur Zerstörung sah.

Der Gartenzaun, an dem der Pächter seine nichtstuerische Kunst versucht hatte, lag zerschmettert quer über die Straße.

Das löste Genugtuung in dem Beschauer aus. Nur 298 weg mit dem Gelump, mit allem, was Gelump ist auf dem Marienhof! dachte er zufrieden.

Er pfiff jetzt sogar vor sich hin. Ein Lied, das er von Ria gehört, pfiff er, ohne es zu wissen.

Auf einmal verstummte er und schaute die Straße entlang. Wenn er einen Keltenkrieger oder einen römischen Legionär auf dem uralten Weg gesehen hätte, der Ausdruck seines sich langsam rötenden Gesichts hätte kaum anders sein können.

Er machte kehrt und ging dem Haus zu; zögerte dann aber und blieb wartend stehen.

Dem Forstmeister blickte er entgegen, und seine Augen waren von einer hart errungenen Ruhe.

Wenn sich dieser Mann bei diesem Sturm durch den stürzenden Wald gewagt hat, dachte es in ihm, dann können wir miteinander reden – – –

Der Näherkommende schaute lang nicht auf. Hannes sah das mitgenommene, fast kranke Gesicht und den schwarzen Flor am Ärmel.

Auch über den ging der Föhn, mußte er denken.

Jetzt grüßte der Forstmeister.

»Sie wagten sich durch den Wald? –« rief ihm Hannes entgegen, die Wirbel in sich niederzwingend.

Der andere machte eine Handbewegung, als sei das nicht der Rede wert. Seine Augen gingen nach den Fenstern des Hauses.

»Wie geht es Marie?« fragte er rauh.

Hannes hörte die schwere Angst aus dem kurzen Wort.

Noch einmal wollte Erbitterung in ihm aufflammen, weil die eigene Angst wieder vor ihm stand. 299

Dann sagte er beherrscht: »Es geht meiner Schwester jetzt besser.«

Der Forstmeister nahm seinen Hut ab. »Herr Baldenius, kann ich Sie im Hause sprechen –?«

Sie gingen ins Haus.

 

Sie gingen ins Haus, und der Sturm tobte, als sei er beauftragt, eine letzte Probe zu machen, ob die zwei Männer einander hören, einander verstehen könnten.

Leis sprachen die beiden, weil im Nebenraum eine Kranke schlummerte.

Aber es vernahm doch jeder im andern das Letzte, wie es notwendig ist in solcher Stunde.

Auf dem Flügel lag der Stahlhelm von Hannes. Am Himmel draußen glühten phantastische Farben auf, wie der Föhn sie an Abendwolken zaubert. Der Stahl schien das fremde Licht aufzufangen, so seltsam war sein dumpfer Glanz.

Die Männer schauten auf den Helm, solang sie sprachen.

Als sie schon an der Tür waren, sich schon die Hände zum Abschied gereicht hatten, fragte der Forstmeister leise: »Würden Sie mir nicht erlauben, daß ich sie sehe –?«

Als der andere zögerte, setzte er dringend hinzu: »Nur einen Augenblick!«

Da ging Hannes auf den Zehen zur Tür und schaute in Mariens Zimmer.

Sie schlief noch immer. Oder schlief schon wieder. Die 300 furchtbare Ruhelosigkeit vieler Wochen mußte sie in sich zur Entspannung bringen.

Hannes winkte dem andern, ließ ihn eintreten und schloß die Tür hinter ihm.

Er selbst trat ans Fenster und betrachtete das wilde, das leidenschaftliche Leuchten am Himmel und über dem Wald.

An den Vater dachte er, mit ihm redete er.

»Sieh, jetzt gehört die Marie nicht mehr uns allein. Dieser Dritte ist für sie durch schwersten Sturm gegangen. Er will sie jetzt in sein Leben hineinnehmen –«

Der Forstmeister trat ins Zimmer.

Stumm stand er vor Hannes. Dann hob er den Kopf. War's der Widerschein von draußen, der sein Gesicht überflammte? –

»Es ist furchtbar«, kam es erstickt.

Sie standen nebeneinander und schwiegen lange.

»Ich danke Ihnen«, murmelte dann der Grüne und streckte Hannes die Hand entgegen.

Der nahm sie. Auch sein Gesicht glühte jetzt auf. »Werkmeisters Ria verdient mehr Dank als ich«, sagte er wegblickend.

Dann geleitete er den Gast zur Treppe.

 

Es ist eine alte Sache, daß der Föhn im Winter gern Schnee bringt. Und zwar nicht nur den, den er weggeleckt oder in die Erde gescheucht hat, sondern noch mehr dazu.

Er hält es wie jener reumütige Zöllner, der dem 301 Gütigen versprach: So ich etwas genommen habe, gebe ich's zehnfältig wieder.

Vom warmen Zimmer aus läßt sich's schön ins lautlose, emsige Gewimmel blicken. Da kann man den tanzenden oder schwebenden Zug der Flocken von hoch oben her verfolgen bis dorthin, wo sie sich still an die Erde und zu ihren Geschwistern betten.

Aber ein frohes Herz gehört her, sonst kann das schweigende weiße Treiben schwermütig machen.

Eine sichere Heimat vor allem muß man haben.

Sonst mag es sein, daß einen die Lust anwandelt, sich irgendwo an die Erde zu schmiegen und sich mit ihr unter dem weißen Tuch zum tiefen Schlaf zu strecken. Erfahrene wissen das alles.

Der Schultheiß Roser war ein Erfahrener.

Als er auf dem Weg von Kolbenhart nach dem Marienhof, ein Stück vor der Stelle, wo es nach Bittwangen geht, des Werkmeisters Ria mitten im Schneetreiben antraf, da fiel ihm sofort ein, daß dieses Mädchen weder ein frohes Herz noch eine sichere Heimat habe und besser täte, nicht im Schnee herumzulaufen.

»So, so«, sagte er, sie stellend, »dein Vater hat also wirklich im Sinn, jetzt schon auf dem Marienhof abzuziehen und den ›Grünen Baum‹ zu übernehmen?«

»Woher wissen Sie das?« fragte sie und wischte sich den Schnee aus den Augen.

»Vom Schreinersfritz, von dem man da oben alles weiß. Zu was ist der sonst Krämer –?«

Sie lachte nicht. Ein grenzenlos müder und gleichgültiger Ausdruck lag auf ihrem blassen Gesicht. 302 Der Schultheiß nahm sie am Arm und führte sie an den Waldrand hinüber, wo Schutz war gegen das tolle Gestöber.

»Ria«, sagte er hart, »du hast noch immer den Weg gewußt. Ich traue dir zu, daß du ihn jetzt auch weißt. Aber besinnen mußt du dich.«

Sie schlug beide Hände vors Gesicht.

»Ria! Hab' doch Mut! Auch der beste Geiger muß dazwischenhinein einmal stimmen. Sag' mir, wohin du unterwegs bist!«

Sie weinte still.

Er streichelte ihren Arm. »Kind, denke, was deine Mutter neben ihm ausgehalten hat. Und die hatte viel weniger Kraft als du.«

Sie weinte jetzt herzzerbrechend.

»Ria«, murmelte er, »du bist im Gefängnis. Da gibt's nichts als aushalten. Bleib bei deinem Vater!«

Jetzt nahm sie die Hände vom verweinten Gesicht.

»Hat Ihnen das auch der Schreinersfritz gesagt, daß ich nicht mit will?«

Er nickte.

Ihre Augen flackerten.

»Was noch?«

Der Schultheiß hob die Hand und zählte an den Fingern.

»Erstens, der Sturm habe den Hof so übel zugerichtet, daß der Werkmeister ein Narr wäre, wenn er nicht ginge und Baldenius den Schaden allein flicken ließe.

Zweitens, daß für den ›Grünen Baum‹ jetzt gute Zeit komme, weil der ungeheure Windbruch eine Menge 303 Waldarbeiter erfordere, die am Wirtshaus vorbei müßten.«

»Und was noch?« fragte Ria finster.

Er zuckte die Achseln: »Nun, daß du nicht mit wollest.«

Sie trat ihm nahe. »Und was noch?«

Er nahm ihre Hand. Seinen zwingenden, herrenhaften Blick heftete er auf ihr verstörtes Gesicht.

»Ganz recht! Noch etwas: Hannes Baldenius müsse dich heiraten.« –

Sie gab keinen Laut von sich. Er spürte nur, wie ihre Hand in der seinen zu zittern begann.

Dann sagte sie mit eisiger Ruhe: »Ich will jetzt nach Bittwangen gehen und den Volz fragen, ob er mich noch will. Oder wenn der es nicht tut, frage ich den Schmied. Sie haben mich beide schon lang wollen.«

Sie schwieg und starrte in den Schnee.

Auch der Schultheiß blieb lange still. Dann gab er ihre Hand frei.

»Tu das nur. Es ist keine schwere Kunst, einen verliebten Menschen wie den Schmied oder einen so anständigen und treuen Kerl wie den Volz zu mißbrauchen, um sich aus dem Gefängnis zu schmuggeln.«

Sie stand wie gelähmt, und er fuhr lauter fort: »So viel bist du, scheint's, doch auch deines Vaters Tochter, daß ein Stücklein wie dieses dir nichts ausmacht.«

Jetzt kam in ihr verweintes Gesicht qualvolle Hilflosigkeit.

»Was soll ich denn tun?« schrie sie verzweifelt auf.

Ruhig sagte der Schultheiß: »Was du immer getan 304 hast! Deinem Vater den Krempel zusammenhalten, sonst geht er und die Wirtschaft vor die Hunde.«

Sie weinte. »Wenn Sie alles wüßten!«

»Das braucht's nicht«, sagte er, »alles weiß nur der Eine. Ich weiß genug für dich und für mich. Ich hab' meinen Gottfried auf dem Gewissen. Einen Vater drauf haben, mag nicht leichter sein.«

Sie zuckte auf; aber er streckte die Hand aus.

»Wenn ich dir zum Rat gut bin – halt aus in deinem Gefängnis! Einmal geht die Tür auf, und du bist entlassen. Das Ausbrechen ist noch selten einem gelungen. Über kurz oder lang wird man doch wieder gefaßt und bekommt Verschärfung aufgebrummt. Das hat der Herrgott uns Menschen abgeguckt, wenn's nicht umgekehrt ist –«

Beide schwiegen, und der Schnee wirbelte um sie her, als wolle er sie aus ihrem Versteck vertreiben.

Sie traten wieder auf die Straße. Zögernd, unschlüssig stand Ria. Er streckte ihr die Hand hin. »Mädchen, wenn deinesgleichen sich versagt, sobald die Sache schwer wird – wer soll denn dann den Krieg gewinnen –?«

Langsam rollten ihr die Tränen übers Gesicht.

Dann ließ sie sich von dem Mann durch das Gestöber führen, dem Marienhof zu.

Als sie beinahe dort waren, fragte der Schultheiß: »Braucht dich denn die Marie Baldenius nicht mehr?«

Zum erstenmal schwang da wieder etwas vom alten Klang in Rias Stimme, als sie zur Antwort gab: »Die 305 wird auch ohne mich gesund. Der Forstmeister kommt jeden Tag.«

Der Kleine lachte. »So, so! Das ist gut gegen Lungenentzündung. Für die Schwester wäre also gesorgt. Aber den Bruder will ich fragen, ob er keine Hilfe braucht. An dem darf man nicht alles hängenlassen, was der Sturm verwüstet hat.«

Sie hob das nasse Gesicht so rasch, als wolle sie einen Einwurf machen. Aber dann blieb sie doch still.

Der Kleine fuhr fort: »Mit dem Volz habe ich mich verständigt. Der kommt auch. Man kann nicht nur Lehrbuben brauchen wie mich; ein Meister muß dabei sein.«

Wieder blieb sie stumm, so deutlich sie fühlen mußte, daß alles, was der Mann sagte, nur Zuspruch für sie sein sollte.

Da legte er ihr die Hand auf den Arm: »Ria, bis du vom ›Grünen Baum‹ herüber zu des Forstmeisters Hochzeit kommst, ist der Marienhof auf den Glanz hergerichtet; denk an mich!«

Der Schein eines Lächelns kam und ging auf ihrem Gesicht. Aber eine Antwort gab sie noch immer nicht.

Nach langem Schweigen fragte er jetzt: »Wie weit schätzest du den Weg vom Marienhof zum ›Grünen Baum‹?«

Zögernd und mühsam kam es: »Weit.«

Er lachte. »Gesprächig kann man dich nicht heißen. Wie lang brauchst du –?«

»Ich? Mehr als eine Stunde, glaub ich«, sagte sie müd. 306

Er nickte. »Eine Stunde. Dann braucht der Baldenius höchstens eine halbe hinüber, er hat lange Beine.«

Jetzt stand sie auf und hob den Kopf. »Er soll nicht. Es kann nicht sein«, sagte sie wie plötzlich außer sich.

Er wischte sich den Schnee vom Gesicht. »Hab' ich gesagt, daß er soll? – Ich meinte doch nur, lange Beine machen kurze Wege.«

Sie gingen schweigend durch das Gestöber dem Hof zu. 


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