Auguste Supper
Die Mädchen vom Marienhof
Auguste Supper

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Fünftes Kapitel

Im Haupthaus, in einem großen, ebenerdigen Raum, in dem das Jahr hindurch nur Gerümpel untergebracht war, hantierten Marie und Ria.

Die nach Norden gehenden Fenster waren weit offen; aber die Sommerluft scheute sich, in das unwirtliche Gelaß zu strömen. 107

Es blieb kühl, fast moderig da drinnen. Der Fußboden zeigte feuchte Stellen, von den weiß gekalkten Wänden bröckelte da und dort der Verputz, und es roch wie in einem lang nicht gelüfteten Keller.

Eine ganz niedere und schmale Tür durchbrach wie ein kleines Kerkertor die dicke Außenmauer gegen die alte Straße. Schwere eiserne Bänder lagen immer davor, und es kostete die Mädchen harte Mühe, mit vereinten Kräften die Schlösser zu öffnen, weil dieser sonst nie benützte Eingang für die Gäste des Jakobitages frei gemacht werden sollte. –

Sie waren mit Eifer bei ihrer Arbeit, die beiden. Darüber schienen sie sich nahegekommen zu sein, fast bis zur Freundschaft.

Ria erzählte. Ohne das Wort eigentlich an Marie zu richten, sprach sie halblaut, fast eintönig, und unterbrach dabei ihre Arbeit nicht. Von jenen Zeiten war die Rede, als »die Böhmen« hier hausten. In diesem Raum sei dazumal die Wirtsstube gewesen, hier habe viel Schlimmes seinen Ausgang genommen, manches Grausige sich abgespielt.

Auch die Szene, von der das Bild im Hausflur erzähle, sei hier abgerollt, und dort durch das Törchen, durch das sich viel Unrecht ins Haus geschlichen, seien dann auch die Schelme fortgeschafft worden.

Die Sprecherin fuhr sich über die Stirn. Jetzt noch höre man, sagte sie, einen sonderbaren Lärm hier innen, so oft für den Marienhof etwas Besonderes komme.

So sei es gewesen, ehe ihre Brüder bei Verdun gefallen, und nachher wieder, ehe ihre Mutter gestorben sei. 108

Marie stand und lauschte.

Wenn sie je von Ähnlichem hatte reden hören, so war es in dem spottend lässigen Ton gewesen, der solche Geschichten und Berichte weit hinwegweist in die Sphäre der Unbildung und des Aberglaubens. Hier hatte alles einen anderen Anstrich. Man fand kaum den Mut, den Kopf zu schütteln.

»Und später?« fragte Marie leise.

Ria wischte und rieb an den verstaubten Fenstern. Sie drehte den Kopf nicht nach der Fragerin.

»Ja«, sagte sie hart, »als die Herrschaft aus der Stadt kam.«

»Oh –« klang es erschrocken oder bedauernd aus Mariens Mund.

Das Pächtermädchen schüttelte ihr Tuch aus. Flüchtig sah sie herüber.

»Das muß nicht immer zum Unglück sein«, sagte sie ernsthaft und kurz.

Es blieb lange still. Marie wischte ein paar Bretterstühle ab. Auf einmal richtete sie sich auf und fragte in fast hochmütigem Ton:

»Ja, glauben Sie denn an solche Sachen –?«

Jetzt schaute Ria voll her. Ihr schönes Gesicht färbte sich dunkler, in ihren sprechenden Augen war ruhige Überlegenheit.

»Was soll ich denn glauben, wenn nicht das, was ich erlebt habe?« sagte sie mit großer Gelassenheit, so daß Marie errötete.

Die Mädchen wollten jetzt einen schweren Tisch vom Flur in den Schenkraum schaffen. 109

Hannes kam dazu und bot sich an zu helfen.

Aber leidenschaftlich wehrte die Schwester ab. Der Jakobitag sei ihr Tag, und der Bruder solle nur nach dem Vater sehen und sie machen lassen.

Sie und Ria würden die Sache allein bewältigen. Ria wisse gut, wie alles zu machen sei, »und« – setzte sie seltsam kindlich hinzu – »Ria ist jetzt meine Freundin.«

Hannes blickte, wie Bestätigung heischend, nach dem Pächtermädchen; aber die arbeitete, als hätte sie nichts gehört.

Als er schon im Davonschreiten war, rief ihm Marie noch nach: »Du, Hannes, Ria glaubt an Spuk –«, und sie lachte.

Er blieb stehen und schaute zurück. Aber dann schien er sich eines Besseren zu besinnen und ging weiter, die Treppe empor.

Im Hinaufsteigen dachte er, wie es Marie wohl fertiggebracht habe, der Abweisenden so nahezukommen, daß sie über solche Dinge mit ihr reden konnte? –

 

Strahlend und heiß stieg der Jakobitag herauf.

Aber als man um die Kirchenzeit den Glockenklang von Kolbenhart herüber gar so deutlich hörte, sagte die kundige Ria am Brunnen zu Marie, daß das ein schlechtes Wetterzeichen sei und daß heute noch etwas kommen werde.

»Ach ja«, rief da Marie und dehnte, wie in großer Sehnsucht, die Arme, »es soll doch etwas kommen; man hält es ja nicht mehr aus vor Schwüle.«

Die Bauern auf der Höhe hatten es jetzt mit der 110 Feldarbeit nicht eilig. Rüben und Kartoffeln waren gehackt, Roggen und Hafer noch lange nicht schnittreif. Der Wald aber wuchs jahraus, jahrein in aller Stille von selber.

So konnte man ruhig einen Feiertag einschieben.

Zwar dem Glockenruf folgten auch hier oben längst nicht mehr alle. Ein paar Weiber und ein paar Greise nur ließen sich von dem alten kleinen Pfarrer von jenem Patron des heutigen Tages erzählen, der als Blutzeuge für seinen erwählten Herrn den Kopf auf den Block legte.

Die übrigen Dorfgenossen feierten den Tag an anderen Orten und mit anderen Geschichten. Vom Blutigen, vom Opfervollen, vom Heiligen hatten sie genug, so meinten sie, seit dem Krieg.

Dafür lebte aber in dem warmen Wind, in den weißen Strichwolken, im raunenden Wald, in den hohen wogenden Roggenhalmen und im heißen Strahl der Sonne das Gedächtnis an jenen blutüberströmten Märtyrer heimlich fort, und es ist ein Glück, daß nicht alles auf die eine Karte, auf Menschenherzen allein, gesetzt ist. Es könnte sonst der Tag kommen, da Höchstes und Stolzestes auf Erden vergessen wäre über dem Nichtigen.

Als die Glocken läuteten, war Hannes draußen in seinem Wald, um eine weite, abgeholzte Stelle auszumessen, die, sobald das Geld dazu vorhanden wäre, aufgeforstet werden sollte.

Hannes liebte solche Arbeiten und solches Planen. Sie gaben seinem zuwartenden Leben Auftrieb.

Jetzt hob er den Kopf nach den Glockenklängen. Bald 111 stark, bald leiser kamen sie herüber, je nachdem der Wind sie auf seine Fittiche nahm. Er setzte sich auf einen Baumstumpf und ließ die Meßschnur ins Gras gleiten. Die hohen Fichten zur Seite warfen ihren Schatten herüber. Den Ellbogen aufs Knie und die Stirn in die Hand gestützt, lauschte er und sah den Sonnenflecken zu, die lautlos um ihn spielten.

Es fiel ihm ein, daß er in der Stadt das Dröhnen von den Türmen nie geliebt hatte. Es war ihm unbequem, fast peinigend gewesen. So, als erwarte es etwas von ihm, was er angesichts der steinernen Häuserreihen und des lauten Menschengewühls unmöglich leisten konnte. Als werde ihm eine Entblößung, eine Unkeuschheit zugemutet, die er verweigern müsse. –

Jetzt, in der Einsamkeit, hatte der hallende Ruf ganz anderen Klang. Saugte er nicht das Verbrauchte heraus aus der Seele? Tat er nicht neue Lebensweiten, geheimnisvoll besonnte Fernen auf, die ins Grenzenlose lockten?

Die verwahrloste Waldlichtung, die Hannes sonst nie ohne stillen Grimm hatte betrachten können, sie strömte plötzlich Feierlichkeit aus und jenes Namenlose, das auch zerstörte und geschändete Tempel noch umgeistert.

Unbeweglich saß der Mann, und wie auf lautlos wallendem Strom trieben seine Gedanken an ihm vorüber.

Hannes, raunten sie, warum gehst du eigentlich nicht zur Kirche?

Ich? – Ich bin doch im Krieg gewesen!

Ja, was besagt denn das?

Das besagt ganz einfach, daß ich mir Gott nicht mehr 112 von Buch und Bekenntnis und den heutigen Kirchenformeln kann begrenzen lassen. Daß ich es nicht mehr hören kann, wenn man so viel von ihm weiß, seine Pläne so sicher durchschaut.

Aha, du bist eben auch Gott fern geworden, wie es die Mode des Tages ist! –

Daß ich nicht lache! Gott fern! Wenn man einmal bis in die Herzmitte vom Krieg untergetaucht war, bis dort hinunter, wo die Dinge ihren Namen vergessen haben, die Körper keinen Schatten mehr werfen, die tiefsinnigsten Worte und die heiligsten Symbole nur noch Scherben sind, die unter den Füßen klirren, dann – dann – –

Was ist dann?

Dann landet man viel viel näher bei Gott, als man ihm hinter den heutigen Kirchentüren je kommen kann.

Was sagst du da –?

Jawohl! Wer sie, wie ich, von einem Unbegreiflichen, einem Unfaßbaren durchbraust empfunden hat, die wahnsinnige Erschütterung, die da Krieg heißt – der spürt, daß Er, um den es geht, und den wir Gott heißen, nicht in dem gefunden werden kann, was heute und wohl immer die Kirchen zu Kirchen macht: in der Unerschütterlichkeit und Unveränderlichkeit, im starren Festhalten am Überkommenen.

Aber wo meinst du denn, daß man, daß besonders die Vielen landen würden ohne dieses Unerschütterliche? –

Wenn das die Sorge der Kirche ist, dann kann ich nur sagen: hier schaut das Menschengemächte durch.

Hannes, wo bist du eigentlich angekommen? 113

Verwirrt schaute der Sitzende um sich. Ich, dachte er erregt, ich? Wer will denn etwas von mir? –

Er sah die sonnige Waldblöße, über die sich der tiefe, stille Himmel spannte, und eine brennende Sehnsucht glühte in ihm. Ach, loderte es in seiner aufgestörten Seele, könnte ich doch immer so hoch oben, immer dort sein, wo kein Quellendes zu Norm und Gesetz erstarren muß, wo das strömende Leben ist, das ewige Heute!

Dann schmolz das Uferlose wieder zusammen zum Gedankenstrom.

Der Mann sah eine zerschossene Kirche vor sich im verwüsteten Feindesland. Die halbzerstörten Mauern zitterten von fernem Granatfeuer. Eine stumme, graue Schar füllte den ruinenhaften Raum, und auf der schönen, noch wohlerhaltenen Holzkanzel stand ein großer, schlanker Pfarrer in der feldgrauen Uniform.

Das Gesicht mit der starken, männlichen Nase und den klaren, aber leidverdunkelten Augen war noch jung. Bleich sah es aus und tief leidend. Aber nicht Krankheit war dieses Leiden. Es war nur der blasse Widerschein von all dem Erleben, in dem dieser Mann stand.

Und am wenigsten war es Furcht, was den Pfarrer erbleichen ließ. Das wußte jeder, der unter der Kanzel stand.

Jeder unter dieser stummen Schar hätte blindlings beschworen, daß Hans Danner sein Eisernes Kreuz erster Klasse nicht fürs Scharfmachen und für vaterländische Gesinnung von der Kanzel aus bekommen hatte, oder sonst für irgendwelche Dinge, die sich weit vom Schuß machen ließen. 114

Selbst die winterliche Sonne, die jetzt zuerst des Pfarrers silbernes Amtskreuz an der langen Kette, und dann das eiserne streichelte, selbst die schien zu bekunden, daß das Ehrenzeichen an diesem Platz eines von der Sorte war, an denen kein Schmutz, keine Schiebung, ja nicht einmal ein Argwohn klebte.

Hannes Baldenius, warum gingst du denn damals, warum gingst du zu diesem Mann in die Kirche? –

Ach, bei diesem Mann war doch nicht Kirche! Da war etwas ganz anderes.

Da war eine arme, eine ganz reine und demütige Seele, die über die Maßen tapfer um ihre letzte Wahrheit rang.

Da war ein Pfarrer, dem der Mensch völlig die Theologenhaut gesprengt hatte, dem das Göttliche in seiner Menschenbrust immerwährend das Denken über Gott überwältigte.

Darum liefen ihm auch die Hohen wie die Niedrigen, die Klugen wie die Dummen, die Schlechten wie die Guten, die Frommen wie die Unfrommen nach, als witterten sie – hungrigen Hunden gleich – Brot in seiner Tasche. Ja, der unstillbare Hunger in uns will Kämpfer, statt der sicheren Nachtreter, er will tapfere Bekenner, statt überkommener Bekenntnisse.

Hannes mußte sich plötzlich den Schweiß von der Stirne trocknen.

Wo bist du jetzt, vielgeliebter Hans Danner? Den grauen Rock hast du längst ausgezogen, wie kleidet dich der schwarze? 115

Macht dir, der du den Tod nie gefürchtet hast, vielleicht jetzt das Leben, so, wie es geworden ist, Grauen?

Leidest du wohl sehr darunter, daß heute viele Toren, die gern Gott und sich selbst entlaufen möchten, mit haßerfüllten Worten und schmutzigen Fäusten gegen Kirchentüren wettern?

Ja, dir mag das ein bitterer Schmerz sein! Du weißt ja so gut, daß in dieser Sache nur zuständig ist, wer Gott und sich selbst um keinen Preis mehr ausweichen kann und will.

Hannes schaute auf, als fühle er sich belauscht oder als sei er von irgendwoher angerufen worden.

Aber das war wohl nur, weil eben der letzte Glockenklang verhallte. Erwacht doch auch der Müller, wenn das Rad plötzlich steht.

Er schaute nach der Uhr, wickelte die Meßschnur zusammen und machte sich auf den Heimweg.

Der Wald rauschte hinter ihm her, wissend und gelassen wie die Ewigkeit.

 

Am Nachmittag wuchs die Schwüle.

Die staubige Straße atmete Hitze aus, und selbst vom Waldrand herüber kam keine Kühlung mehr.

Vielleicht fand sich aus diesem Grunde so lang kein Gast auf dem Marienhof und bei den jungen, dienstwilligen Wirtinnen ein, obgleich Marie, nach Rias Anweisung, einen Besen durchs Fenster gesteckt hatte, um den Schanktag anzuzeigen.

Wie ein Kind, das zu lang auf Versprochenes warten muß, war Maria ungeduldig und aufgeregt. 116

Immer wieder lief sie hinaus und schaute die leeren Wege entlang.

Sie hatte ein lange nicht getragenes weißes Kleid hervorgesucht und mit besonderer Sorgfalt geplättet. Ihr lockiges, dunkles, an der Seite zurückgerafftes Haar umschimmerte weich das schmale, schöne Gesicht, in dem die großen Augen brannten.

Auf was sie eigentlich so sehnlich wartete, wußte sie nicht. Sie machte sich nicht klar, daß es doch nur ein bescheidenes Fest sein konnte, ein paar Bauern oder Handwerker und Fuhrknechte zu bewirten.

Vielleicht aber trug ihre Seele, wie das oft bei den leidenschaftlichen Seelen ist, einen Zeiger in sich, der schon von fernsten und leisesten Wellen ins Zittern geriet.

Hannes war oben im Zimmer des Vaters.

Der Kranke war heute besonders unruhig. Die große Schwüle mochte ihn bedrücken und quälen. Über seinen kleinen Hilfeleistungen vergaß der Pfleger manchmal, daß auch in ihm ein erregtes Warten war. Aber immer wieder brach es hervor.

Suchten die Leute von der Höhe keine Verbindung mit dem neuen Herrn des Marienhofs? Trieb sie nicht die Neugierde wenigstens her? Warum erschien denn niemand?

Ein seltsames, fast ein demütigendes Gefühl, so zu harren, ob man anerkannt und in die Gemeinschaft aufgenommen oder links liegengelassen werde!

Im Garten unten machte sich Ria zu schaffen.

Sie allein schien auf nichts und niemand zu warten. 117

Ob das wohl Verstellung war? Gerade sie hatte ja so große Wichtigkeit gehabt mit der Geschichte.

Spähend, mißtrauisch hing der Blick des Mannes am Fenster oben an der Arbeitenden.

Sie trug ein sehr schlichtes Kleid, das die Mitte hielt zwischen Alltags- und Sonntagsgewand. – Hannes hatte es schon öfter an ihr gesehen. Es war ihm aufgefallen durch seine augenscheinliche Zweckmäßigkeit. Es schien die Geschmeidigkeit der jungen hohen Gestalt nirgends zu beengen, und es hob den tadellosen Wuchs des Mädchens in einer besonderen Weise, über die der Mann sich nicht recht klar war.

Warum trug eigentlich Marie nicht solche Kleider? Er würde sie doch einmal darüber fragen.

Hannes wandte sich vom Fenster weg und drückte den Schwamm im Essigwasser aus, um des Kranken Stirn zu kühlen.

Aber kaum hatte er den kleinen Dienst getan, stand er wieder und schaute nach Gästen aus. –

Auch das Tun der Ria im Garten war, wie ihr Kleid, ein Mittelding zwischen Werktag und Sonntag.

Sie jätete da und dort in den bäuerlichen Blumen, die ohne viel Menschenpflege ihr Lebensrecht in diesem alten, verwitterten Garten behaupteten.

Kapuziner, Ringelblumen, Akeleien, Brennende Liebe wucherten da durcheinander, und verwilderte Büsche altmodischer Rosen standen dazwischen wie heruntergekommener Adel, der seine Vorrechte stillschweigend aufgibt. 118

Jetzt kam durch die halbzerbrochene Tür von der Straße herein die Schwester in den Garten.

Hannes war überrascht von ihrer dunklen Schönheit im weißen Kleid. Etwas Sprühendes lag über ihr, über ihrem Gang, ihrer Haltung.

Ein ganz anderer Typ als die gehaltene, die strenge Ria.

Jetzt klang hell und ungeduldig ihre Frage: »Ria, wird denn niemand kommen? Du sagst auch gar nichts.«

Hannes lächelte. Also schon bis zum »Du« war diese Freundschaft gediehen!

Ria, die am Boden kniete, richtete sich auf. Ihr Gesicht war erhitzt, ihre großen, sprechenden Augen suchten den Himmel ab, der sich umzogen hatte.

Dann zuckte sie schweigend die Achseln.

Hannes dachte, daß dieses Mädchen doch ganz und gar nicht die Art und die Gebärden bäuerlicher Menschen habe. Das war zum Verwundern bei einer, die nie vom Hof fortgekommen.

»Sag' doch: wie war es denn letztes Jahr?« drängte ungeduldig Marie.

Mit verächtlichem Stimmenklang sagte die andere: »Letztes Jahr? – Nun, da haben sie getrunken, bis kein Tropfen mehr da war, und tüchtig Lärm dazu gemacht.«

Der Lauschende am Fenster runzelte die Stirn. Warum, wenn sie so redete, hatte dann das Mädchen dieses Wesen vom Jakobitag gemacht? Da mußte noch irgend etwas Besonderes dahinterstecken.

»Ach was«, rief Marie, »ich meine, ob sie da auch so spät erst gekommen sind?« 119

»Immer noch früh genug«, gab Ria trocken zurück.

Jetzt faßte die Schwester ihr weißes Kleid und machte auf dem vergrasten Gartenweg Tanzschritte. Mit der Grazie des durch und durch von Rhythmus durchdrungenen Menschen tanzte sie vorwärts und zurück in entzückender Bewegung.

Es war ein überaus anmutiges Bild inmitten der sommerlichen Üppigkeit und Verwahrlosung des alten Gartens.

Selbst über Rias ernstes Gesicht ging da ein strahlendes Lächeln und machte es für Hannes ganz fremd und neu.

Also so kann die aussehen? dachte er überrascht und fast unangenehm berührt, er wußte selbst nicht warum.

Marie pflückte jetzt Reseden und Ringelblumen. Sie hielt den zierlichen Strauß gegen ihr Kleid, gegen ihr dunkles Lockenhaar.

»Ria, steht mir das?« rief sie, »werde ich den Bauern so gefallen?«

Die Gefragte betrachtete die Lachende mit seltsamem Ernst.

»Ihnen ist's ja nicht ums Gefallen zu tun«, sagte sie dann ruhig, »Ihnen ist's nur zu einsam da oben.«

Marie stand einen Augenblick reglos und wie erschrocken. Dann warf sie der andern mit jäher Bewegung den Strauß vor die Brust.

»Nun sagst du also doch nicht du«, rief sie erregt, »muß ich dich denn auf den Knien darum bitten?«

Ohne eine Antwort abzuwarten lief sie wieder hinaus auf die Straße. 120

Ria bückte sich und sammelte die mißhandelten Blumen.

Hannes trat vom Fenster zurück. Er fürchtete plötzlich, das Pächtermädchen könnte heraufschauen.

 

Endlich, es war schon später Nachmittag, kamen die ersten Gäste. Es waren Handwerker, die schon auf dem Hof gearbeitet hatten, und die mit ihrem Kommen eine Pflicht zu erfüllen glaubten. Dann gesellten sich auch ein paar Bauern dazu, die unsicher eintraten, als sei ihnen ihr Recht, trotz Besen und Jakobi, zweifelhaft.

Marie, die sich neben das Bierfaß gestellt hatte, war jetzt plötzlich tief befangen. Unruhe glimmte in ihren Augen, und das Lächeln um ihren Mund war erzwungen und starr.

Sie hätte jetzt gern den Bruder herbeigerufen, wenn sie ihr Alleinrecht auf diesen Tag nicht immer so stark betont hätte.

Ria begrüßte ruhig und unbefangen die Gäste. Sie hatte dabei eine sichere Weise, zu zeigen und ohne Worte zu betonen, daß sie eigentlich unbeteiligt sei und daß die Weißgekleidete den Marienhof repräsentiere.

Teils scheu und verlegen, teils mit unbeholfener Vertraulichkeit, immer aber mit unverhohlener Neugier begrüßten darauf die Männer die fremde Schöne neben dem Bierfaß.

Dann fing Ria an, die Gläser mit dem stark schäumenden und stark riechenden Bier zu füllen und an den Tisch zu tragen. Sie tat es mit einer kühlen Sicherheit, die etwas wie Eifersucht in Marie auslöste. 121

Aber sie tat es auch ganz ohne Lächeln, und in der andern war ein fast zitterndes Fragen: Ja, wo bleibt denn nun der Spaß?

Nach und nach wagten sich am Tisch Bemerkungen hervor, Reden von jener derben, oft harten, oft witzigen Treffsicherheit, wie sie gern dort gedeiht, wo man von leerer Geschwätzigkeit, von öder Selbstbewunderung nichts weiß.

Das schöne Stadtkind verstand das wenigste. Die rauhe Sprache da oben war ihr noch nicht geläufig, alle Verhältnisse im Dorf noch fast fremd. Manches ließ sie sich heimlich von Marie übersetzen und erklären, bei manchem ahnte sie auch, daß es besser sei, es nicht zu verstehen.

Auf einmal, als sei ihr der Mut gewachsen oder der Verlauf der Sache zu langweilig geworden, nahm sie Ria ein volles Glas ab und stellte es selbst vor einen der Gäste.

Es war dies ein junger Schmied, und er lachte halb dreist, halb verlegen zu der schönen, weiß gekleideten Schenkin auf.

»So«, sagte er dann, sich ermannend, »das schmeckt mir besser als von der Ria.«

Da richteten sich alle die Männeraugen auf Marie, auf ihre schimmernden Augen, ihre lockigen Haare, ihr feines, schmales Gesicht.

Etwas Heißes loderte in ihr auf, eine prickelnde Genugtuung, die auf einmal ihre Befangenheit scheuchte.

Jetzt sagte einer der Gäste lachend: »Wenn nur der Marienhof das ganze Jahr Wirtschaft wäre!« 122

Marie spürte die Huldigung und nickte dem Sprecher zu.

»Kein Weg sollte uns zu weit sein«, beteuerte ein zweiter.

»Ja«, betonte ein dritter, »der ›Löwe‹ in Kolbenhart könnte dann zumachen.«

Da und dort hob sich ein Glas. »Auf das Wohlsein der schönen Jungfer!«

Lachend dankte Marie. »Dann wäre hier der Tanzsaal«, rief sie, sich in dem weiten Raum umschauend.

Sofort sprang der junge Schmied auf und dehnte die gutgewachsene sehnige Gestalt.

»Was tanzen wir?«

Heller lachte Marie. »Wir haben ja keine Musik.«

Dann wandte sie sich zu der lächelnden Ria.

»Ist dein Liebster nicht um den Weg mit der Mundharmonika?«

Purpurn glühte die Gefragte auf.

Der Schmied rief rasch und neugierig: »Also sie hat einen Schatz? –«

Da wurde das junge Gesicht des Pächtermädchens finster. Laut und feindselig sagte sie zu dem Schmied: »Darüber hab' ich dir schon einmal Bescheid gegeben; du wirst's noch wissen.«

Ein verständnisinniges Gelächter lief um den Tisch. Ein alter Bauer lobte: »Recht so, Ria! Schöne Mädchen müssen sein wie Zündnesseln, sonst nimmt sie jeder in die Hand.«

»Oh«, rief mit rotem Kopf und bösem Blick der Schmied, »was das angeht – nach des Werkmeisters Tochter langt nicht jeder.« 123

Unsicher stand Marie. Sie hörte das Schmähende in den Worten, ohne es recht zu durchschauen. Es war ihr, als müsse sie Ria zu Hilfe kommen, und doch wußte sie nicht, von welcher Seite her.

Plötzlich stand Hannes unter der Tür, die nach dem Flur führte. Er war sehr bleich, sein Gesicht fast verstört. Die Gäste schien er gar nicht zu sehen.

»Fräulein Ria«, rief er mit belegter Stimme in den Raum, »Fräulein Ria, bitte helfen Sie mir oben die Läden schließen! Es kommt ein schweres Gewitter!«

Ein seltsamer Schrecken kam bei des Bruders Anblick über Marie. Warum sieht er so blaß aus? dachte sie verwirrt, warum sagt er denn »Fräulein« Ria?

»So, so«, rief am Tisch der Schmied, »jetzt ist also die Ria ein Fräulein? –« Seine Augen funkelten zu Hannes hinüber.

Der trat einen Schritt in den Schenkraum. »Paßt Ihnen das vielleicht nicht?« fragte er, gehalten den andern anblickend.

Aber dann, als sei ihm plötzlich eingefallen, daß er Nötigeres zu tun habe, kehrte er sich dem Pächtermädchen zu: »Bitte, kommen Sie mit mir!«

Er sagte es so dringend und zugleich so einfach und höflich, daß sein Ton wie Luftreinigung wirkte.

Einer der Bauern stand auf und trat zum offenen Fenster.

»Wo soll denn da ein Wetter herkommen?« rief er, den Kopf schüttelnd.

»Es zieht drüben hinter Bittwangen herauf«, erklärte Hannes, als halte er einem Examen stand. 124

»Herrgott, dann wird's bös«, meinte ein Fuhrknecht.

Der Schmied, der rasch getrunken hatte, hob sein Glas. »Prosit, dem Herrn Baldenius! Aber vom Wetter da oben versteht er noch nichts.«

»Sei's, wie's wolle«, rief ein anderer Hannes zu, »aber wir müssen doch erst dem schönen Jüngferlein das Bier abtrinken.«

»Hoho«, lachte ein dritter, »fürs Biertrinken wär der Werkmeister in der Nähe.«

»Aber nicht fürs Zahlen«, rief der Schmied.

»Ist dir mein Vater schon einmal etwas schuldig geblieben?« fragte jetzt mit kalter Ruhe das Mädchen, das neben dem Bierfaß stand.

Der Schmied tat, als höre er nicht. »Bleibet sitzen, Mannen«, grölte er, »wir sind ja im Trockenen.«

»Wer weiß«, sagte da Ria seltsamen Tons, »im Marienhof regnet's durchs Dach.«

Frech rief der Schmied: »Dann kann ich ja unter dein Bett schlüpfen.«

Hannes, der schon unter der Tür stand, wandte sich zurück. Seine grauen, ruhigen Augen flammten auf. Aber ehe er etwas sagen konnte, streckte Ria die Hand gegen den halb Betrunkenen aus. Mit einem bitteren Hohn in der Stimme rief sie: »Schmied, da wär's nicht so sicher wie dort, wo du warst, als des Werkmeisters Zwillinge fielen.«

Es wurde ganz still in dem weiten Raum, und an dem bleichen Hannes vorüber schritt das Mädchen aus der Tür. 125

Es war eine schwere Arbeit, die die zwei schweigenden Menschen jetzt miteinander taten.

Die alten Läden vor den Fenstern der oberen Räume waren verquollen und morsch. Da und dort fehlten die Riegel, keiner wollte richtig schließen.

In Hannes war wieder jener quälende, mit dunklen Selbstvorwürfen gepaarte Unwillen über die Herabgekommenheit des Hofs; er fühlte Scham vor dem Mädchen; er vermied es, ihr ins Gesicht zu sehen. Ihm war, als müsse er in diesem Gesicht den höhnenden Vorwurf lesen: Siehst du, solch ein Pachtherr bist du!

Wieviel Kraft diese Ria doch in den jungen Armen hatte! Wie sicher, fest und geschickt sie zugriff! Zu ihr hätte jener prachtvolle gefallene Hauptmann nicht wie zu dem unpraktischen Freiwilligen sagen müssen: Lieber Freund, hier außen müssen Sie Ihr Motto wechseln! Bei uns heißt's nicht: warum soll man's denn einfach machen, wenn's auch anders geht? – –

Hannes lachte leise auf, als ihm diese Erinnerung kam, und er fühlte sich fast gedemütigt, als ihn ein verwunderter Blick aus des Mädchens Augen traf.

Sie kamen jetzt in das Zimmer des Vaters.

Eine große Schwüle lag darin und ein merkwürdiges Licht, das eine Mischung war von dem immer noch sonnigen Tag und der aufsteigenden nächtlichen Schwärze.

Die drei ostwärts gehenden Fenster waren weit offen, ein dunkler Gewitterhimmel füllte sie nahezu aus.

Draußen rührte sich kein Lüftchen. Die Kleeäcker, die hinter dem Garten bis zum Wald hinliefen, schienen in 126 ihrem Grün einen Widerschein des blauschwarzen Wetterhimmels zu tragen.

Nur das sich fern hinziehende Band der staubigen Straße war hell; aber auch dort lag eine atemraubende Bangigkeit.

Das Gesicht aller Dinge war plötzlich verwandelt, war zur drohenden Maske geworden.

Die beiden leise Eintretenden schauten nach dem Bett.

In großer Unruhe lag der Kranke. Zuckende Bewegungen gaben das Bild eines hart Gefesselten, der um seine Freiheit ringt.

Ria sah Hannes an. Ihre dunklen Augen hatten einen bangen Ausdruck. Vielleicht die Bangigkeit des jungen Lebens, das vor dem Vergehen erschauert.

Dann blickte sie sich um und tauchte den Schwamm in das Essigwasser.

Rauh, als mache ihr das Sprechen Mühe, sagte sie: »Ich weiß das gut von meiner Mutter her; da war's auch so.«

Hannes sah auf ihr stilles Tun. Was ist's denn, das sie weiß? – dachte er beengt, was kann sie denn meinen? –

Und auf einmal war ihm klar, daß sie ihm ein vorbereitendes Wort hatte sagen wollen.

Starr schaute er zu, wie sie zu dem Kranken trat, ihm zart und vorsichtig über die Stirn, über das heiße Gesicht fuhr, wie sie dann seine unruhigen, bleichen Hände kühlte.

Er hätte sagen können, daß er die gleichen Dienste heute schon unzählige Male an dem Kranken getan hatte, 127 aber es war ihm, als sei das, was jetzt die Ria tat, doch etwas ganz anderes, viel Bedeutungsvolleres, fast Heiliges.

Er wunderte sich auch gar nicht, daß der Vater auf einmal ruhiger wurde, daß er seine ringenden Anstrengungen aufgab, als habe er ein Ziel erreicht oder endgültig darauf verzichtet, es zu erreichen. Ein Schlummer der Ermüdung schien sich auf den kranken Mann zu senken.

Hannes stand noch neben dem Bett, als Ria zu einem der Fenster trat, um den Laden zu lösen.

In diesem Augenblick fuhr der erste Stoß des Gewitterwindes daher und riß an dem unhandlichen schweren Flügel. Weit aus dem Fenster gebeugt, drohte das Mädchen den Halt zu verlieren. Sie stieß einen Schreckensruf aus.

Hannes wußte nachher nicht, wie es gekommen, daß er sie plötzlich in den Armen hielt und das rasende Klopfen ihres jungen Herzens spürte.

Zwei dunkle Augen weiteten sich vor ihm wie in Entsetzen und schlossen sich scheu unter seinem Blick.

Dann, als ein neuer Sturmstoß in die schwüle Stube fegte, standen sie blaß und verstört nebeneinander. Mit einer Gebärde tiefster Hilflosigkeit griff Ria nach ihrem Haar, das sich gelöst hatte. Sie steckte es fest, und langsam kehrte das Blut in ihr Gesicht zurück. Damit schien auch ihre Ruhe, ihre Kühle zurückzukehren.

Sie machte sich wieder an die Fensterläden. Ehe sie den letzten schloß, deutete sie nach der Straße.

In einem Ton, der, wie es Hannes vorkam, tiefe 128 Befriedigung verriet, sagte sie: »Jetzt kommt er doch noch, der Volz.«

Hannes schaute hinaus und sah zwei Männer dahereilen und zwischen ihnen ein helles, flatterndes Kleid.

»Da kommt ja ein Mädchen mit«, sagte er überrascht.

»Das ist doch die Melle«, entgegnete Ria, als könne man verlangen, daß jedermann das wisse.

Im nördlich gelegenen Schenkraum sah man das Heraufziehen des Wetters nicht, und man hatte in der Beschäftigung mit der schönen, feinen Schenkin nicht Zeit und Lust, sich mit den Anzeichen des Kommenden zu befassen.

Das Lachen, die glänzende oder glänzend scheinende Laune des sprühenden Mädchens schlug Wasser aus dem Felsen der bäuerlichen Schwerfälligkeit und Verschlossenheit.

Marie spürte dieses schrittweise Sichlösen wie einen prickelnden Triumph, und wenn dort, wo sich die Gläser am schnellsten leerten, allzuviel Derbheit oder Keckheit um die Ecke blicken wollte, so war sie überlegen, sicher und taktvoll genug, um den Spaß in jenen Grenzen zu halten, die ihr genehm waren und die sie bestimmte.

Es war wie ein trotziges Gelöbnis in ihr, daß sie diesen Jakobitag und sein Vergnügen genießen und meistern werde.

Jetzt wirbelte eine Staubwolke draußen vorüber. Es wurde mit einem Schlag finster, und ein fahles, fernes Blitzlicht erhellte den Dämmer.

In diesem Augenblick, als eben ein Verstummen durch den Schenkraum ging, tat sich die kleine Tür nach der 129 Straße auf, und drei keuchende Menschen drängten herein.

Voran ein zerzaustes, halb lachend, halb ängstlich blickendes Mädchen und dann zwei Männer, von denen Marie nur den einen, den Meister von Bittwangen, kannte.

Der andere, ein hochgewachsener, schlanker Mann im grünen Kleid der Forstleute, mußte sich tief bücken, als er hereinschlüpfte, und er rief in den aufgrollenden Donner hinein: »Diesmal war's höchste Zeit!«

Ein paar Bauern am Tisch standen in linkischer Höflichkeit auf. »Grüß Gott, Herr Forstmeister!«

Er winkte ihnen zu. »So, ihr seid auch da?« –

Der angetrunkene Schmied ließ sich vernehmen: »Da kommt ja die Melle! Oder muß man zu ihr jetzt auch Fräulein sagen wie zu des Werkmeisters Ria?«

Die Blonde schüttelte ihr zerzaustes Haar zurecht. Sie lachte hell. »Ach, Schmied«, rief sie hinüber, »das wäre ja, wie wenn jemand zu dir Herr sagen würde, wo du doch nur ein durstiger Rußmichel bist.«

Die ganze Tafelrunde lachte. Die unbefangene, kecke Art des hübschen Mädchens hatte nichts Aufreizendes und nichts Freches an sich; es war nur jene kindlich selbstsichere Dreistigkeit darin, der man anspürt, daß es an Zaum und Zügel, nicht aber an Tieferem fehlt.

Der Forstmann zupfte die Blonde am Haar. »Melle«, sagte er lachend, »schon wieder obenauf? Eben hat man noch gezittert und gebebt.«

Er wandte den Kopf, als wolle er sich den weiten, 130 dämmerigen Raum besehen, da traf sein Blick auf die Weißgekleidete.

Eine große, ungläubige Überraschung malte sich in seinen Augen, in dem gebräunten Gesicht, über das von der rechten Schläfe eine Narbe über das Jochbein bis tief in die Wange lief.

Er tat einen Schritt auf Marie zu. »Wohl Fräulein Baldenius?« fragte er mit höflicher Verneigung, »Forstmeister Halldorf, der nächste von all den fernen Nachbarn, die Sie hier oben haben.«

Marie schaute auf. Vor den grauen Augen, in denen so unverhohlene Bewunderung lag, mußte sie rasch die Lider wieder senken. Sie spürte, daß ihr das Blut in die Wangen stieg. Das machte sie befangen, und die Befangenheit war ihr ärgerlich.

Galt das leise Lächeln, das in des Mannes Gesicht trat, dieser Unsicherheit? Galt es nur der fremden, in diesem Raum und diesem Kreis so auffallenden Erscheinung des fast noch kindhaften Mädchens? Ehe Marie ein Wort fand, setzte draußen das Wetter mit ungeheurer Wucht ein.

Die ganz dunkel gewordene Luft war von einem Schüttern, einem Grollen und Dröhnen erfüllt, als breche ein Vulkan aus tausendjährigen Banden.

Jetzt rührte sich niemand mehr in der Schenkstube, niemand sprach ein Wort.

Unberührt standen auch die Gläser; eine Lähmung schien die ganze Tafelrunde im Bann zu halten. Der Schmied lag mit beiden Armen breit über den Tisch und stierte bleich in das Toben. 131

Der Forstmann und Marie standen nebeneinander. Blaß und erstarrt sah das Mädchen aus, beim Flammen der Blitze zuckte sie manchmal zusammen, bei einem furchtbaren Donnerschlag deckte sie die Rechte über die Augen.

Auf einmal legte sich, wie zum Schutz und zur Beruhigung, eine Hand auf ihre Schulter.

Sie spürte die Berührung, sie wußte, daß es die Hand des fremden Mannes war; aber sie entzog sich nicht.

War das, weil die kleinen Dinge jetzt alle schwiegen oder weil von dieser Hand wirklich eine Ruhe, ein Gefühl des Beschütztseins in sie strömte?

Kein Tropfen Regen fiel noch. Ein unaufhörliches, rätselhaftes Klirren schien die flammenden Blitze zu begleiten, ehe dann und wann das gewaltige Rollen des Donners über alles herstürzte.

Endlich, als die unerhörte Spannung fast nicht mehr zu ertragen war, löste sie sich in klatschenden Regenstürzen, die kein Maß mehr kannten.

Wie lange das Grausige währte? – Niemand wußte es nachher. Die Zeit ist ein Feigling und umschnuppert nur die umgrenzten Dinge; vor den maßlosen weicht sie erschrocken zurück.

Das Toben ging erschöpft in ein düsteres Grollen, ein fernes Murren über.

Da erwuchs allem Irdischen der Mut wieder. Der Waldsaum, den die stürzende Regenwand verhüllt hatte, ließ sich wieder blicken, und die aufgeweichte Straße schien sich an den weißgrauen Bächen zu freuen, die emsig auf ihr dahineilten. 132

Auch die Menschen wagten sich aus ihrer scheuen Verstummtheit wieder hervor wie Grillen aus dem Loch, in das sie in Angst geflohen sind.

Der erste Laut war ein klingendes Mädchenlachen.

Die blonde Melle hatte ihr duftiges Kleid zusammengerafft, als wolle sie einen Bach überschreiten. Hell rief sie: »Achtung, Achtung! Wer nicht schwimmen kann, soll sich retten.«

Jetzt erst sahen all die Benommenen die breiten Wasserfluten, die sich von den schlecht schließenden Fenstern her bis in die Mitte des Raumes ergossen hatten.

Und die erwachende Marie sah noch etwas anderes: sie sah, daß des Forstmanns linke Hand auf der Schulter der Melle geruht hatte wie seine rechte auf der ihren.

Jäh trat sie zur Seite und lief zur Tür. »Ria, bring ein Tuch und einen Eimer!« rief sie fast gellend in den stillen Flur hinaus.

Und das Pächtermädchen, als sei sie oben an der Treppe gestanden, kam die Stufen herunter. Sie war so bleich, als liege der ganze Schrecken des Gewitters noch in ihr.

Aus einer Ecke nahm sie Eimer und Tuch und fing an, den See in dem Schenkraum aufzutrocknen. Sie schaute nicht auf dabei und sprach kein Wort; es war, als verrichte ein Automat die Arbeit. Alle sahen ihr zu.

Die lachende Melle hielt noch immer ihr Kleid zusammengerafft. Da trat der Meister Volz zu ihr und tippte ihr mit dem Pfeifenmundstück auf die Schulter. »Heda, Melle, so macht man das!« sagte er halblaut und deutete nach der Arbeitenden. 133

Die Melle schüttelte den Kopf, daß die Haare flogen. »Gelt, Ria«, rief sie in einem schmeichlerischen Ton dem Pächtermädchen zu, »gelt, Ria, im Marienhof sind das deine Sachen –?«

Die Gefragte schaute einen Augenblick auf. Ein flüchtiges Lächeln glitt über ihr blasses Gesicht. Dann machte sie weiter, ohne etwas zu antworten.

Der Forstmeister hatte ein Fenster weit aufgetan. Er blickte hinüber nach dem Wald, dem man die köstliche Erfrischung an jedem Wipfel anzusehen meinte.

Lang stand der Mann. Sein dunkles, von der Narbe nur wenig entstelltes Gesicht hatte einen nachsinnenden, fast einen gespannten Ausdruck.

Auf einmal kehrte er sich um und trat zu Marie. Über die kühle, hochmütige Abweisung in ihrem Blick hinüber sprach er sie an. Er sagte, er sei auf dem Weg nach dem Sommerbergwald der Melle begegnet. Melle, das sei die Tochter beziehungsweise die Stieftochter vom früheren Schultheißen von Kolbenhart, die ihm schon viele Schreibarbeiten abgenommen habe. Sie sei sehr tüchtig als Maschinenschreiberin. Beim grünen Stein drüben hätten sie dann das Heraufziehen des schweren Gewitters bemerkt und beschlossen, nach dem Marienhof, als dem nächsten Unterschlupf, abzuschwenken. Am Wegzeiger habe sich dann noch Meister Volz zu ihnen gesellt.

Marie hörte mit zur Schau getragener Gleichgültigkeit zu.

Warum sagt er nur das alles? dachte sie abwehrend, das geht mich doch gar nichts an und interessiert mich gar nicht. – 134

Auf einmal trat ein Lächeln auf das junge Gesicht, wie es vielleicht noch nie darauf aufgeblüht war. Das erste Lächeln des Weibes. Sie schaute den Sprechenden an. »Also hat es der Marienhof dem Gewitter und nicht dem Jakobitag zu danken, daß Sie bei uns hereinblickten«, sagte sie seltsam überlegen.

Der Forstmeister biß sich auf die Lippen. »Jakobi! Ach ja, die Melle sprach ja davon. Ich hörte auch früher von diesem Brauch. Aber ich war noch nie da.«

Er brach ab und schaute sich um. »Natürlich, Jakobi! Warum wären sonst alle die Leute da! Es ist nur gut, daß Sie diesen großen Raum zu ebener Erde haben. Und das niedere Türchen dort! Zu einem Burgverlies scheint es zu führen oder vielleicht auch zu einem Stelldichein. Es können einem allerlei Gedanken kommen bei diesem versteckten Pförtchen durch die Mauer.«

Marie hielt ihr Lächeln immer noch fest. Warum redet er so vielerlei, dachte sie ganz von oben herab, warum gibt er sich so Mühe, mich die einfache Wahrheit nicht wissen zu lassen! Die Wahrheit, daß er mit dieser Melle ausgemacht hat, heute auf den Marienhof zu kommen zum Jakobitag. –

Sie fühlte sich so sicher in diesem ihrem Wissen, in ihrer überlegenen Stellung, daß sie das Aufglänzen in ihren schönen Augen nicht dämmte, als sie sagte: »Das Pförtchen ist sonst immer gut verriegelt; aber an Jakobi wird es aufgemacht, und wer Freundschaft sucht mit dem Marienhof, darf hindurchgehen. Wer nur vor dem Gewitter flüchtet, muß durch die Haustür kommen.«

Einen Augenblick ging es wie Betroffenheit über das 135 Gesicht des Mannes, dann sagte er lachend: »Ein Formfehler meinerseits. Wie wär's, wenn Sie ein Gottesurteil daraus machten –?«

Das Mädchen wollte antworten, da rief vom Tisch herüber eine Stimme: »Ihr Wohlsein, Herr Forstmeister!«

Der Grünrock wandte sich um. »Da muß ich Bescheid tun«, sagte er halb über die Schulter zu Marie, »wollen Sie mir, bitte, auch ein Glas Jakobibier geben!«

Sie wurde blutrot. »Ria«, rief sie laut, »dem Herrn Forstmeister ein Glas Bier.«

Befremdet kehrte sich der Mann ihr zu. Dann wurde sein Gesicht dunkler. »Der zweite Formfehler«, sagte er unterdrückt und fremd, »entschuldigen Sie.«

Melle trat an das Bierfaß. »Laß nur, Ria«, rief sie, »das mach ich.« Sie füllte ein Glas und kredenzte es dem Forstmann.

Der hob es langsam gegen die Spenderin. Seine Augen wanderten dabei zu Marie. Es schien etwas scharf darin zu fragen: Wie wär's, wenn nun ich an ein Gottesurteil dächte? –

Lachend sagte er dann zu Melle, ihr das Glas reichend: »Tun Sie Bescheid, die Fröhlichen bringen Glück!«

Das Mädchen nahm das Glas, schüttelte die lockigen Haare zurück und trank von dem sprühenden Schaum.

Dann trug sie, ohne lang zu fragen, das Glas zu Ria, die immer noch Wasser auftrocknete.

»Da«, sagte sie, »tu du auch dem Herrn Forstmeister Bescheid.« 136

Das Mädchen schaute auf. Ihre ruhigen Augen glänzten die Blonde an. »Laß nur, Melle«, kam es dann auf jene Art, wie man das Ansinnen wohlmeinender Kinder notgedrungen zurückweist, »du weißt doch, ich kann kein Bier trinken.«

»Ach ja«, sagte wie erschrocken die Blonde und lachte auf einmal nicht mehr.

»Sie hat's nicht lernen können, weil der Werkmeister alles allein trinkt«, rief der Schmied.

Der Meister Volz, der seither am Fenster gelehnt hatte, schrie jetzt wie in jähem Zorn in den Raum: »Halt dein Maul, Schmied, und horch!«

Er deutete dabei mit der Pfeife hinaus.

Es wurde sehr still. Ein hastiger ferner Glockenton kam hinter dem Wald hervor.

»In Kolbenhart brennt's«, schrien ein paar Stimmen auf.

Alles sprang empor, jeder wurde nüchtern.

Die ganze Gästeschar drängte durch das Pförtchen auf die Straße. Eine Weile starrten sie, vermuteten, berieten, zögerten.

Dann liefen sie davon wie auf Kommando.

Vor dem kleinen Pförtchen zusammengedrängt, standen noch Marie, Ria, Melle und der Forstmeister.

Des Mannes Auge streifte die drei Gesichter. Er sah in dem der Melle Neugier, in dem der Marie Erregung, in dem der Ria bange Sorge liegen.

Vor Marie lüftete er jetzt den Hut. »Empfehlen Sie mich Herrn Baldenius!«

Ria nickte er freundlich zu. 137

Die Blonde forderte er auf: »Kommen Sie mit, Melle –?«

»Aber sicher«, antwortete die auf ihre kecke Art und streckte Ria zum Abschied die Hand hin. Marie schien sie vergessen zu haben. Eilig schritt sie neben ihrem Begleiter Kolbenhart und dem ängstlichen Glockenruf zu.

Die beiden Mädchen kehrten in die leere, unordentliche, von Rauch und Biergeruch angefüllte Schenkstube zurück.

Eine schwere, lähmende Enttäuschung wollte über Marie herfallen. Also, das war alles, was der lang herbeigesehnte Tag gebracht hatte!

Sie schaute an ihrem weißen Kleid hinunter, das von Bierflecken beschmutzt war. Und dann ging ihr Blick zu Ria, die in seltsamer Unbeweglichkeit neben dem Tisch stand.

Da schrie sie auf: »Ria, was ist dir?«

Das todblasse Mädchen senkte die Augen. »Wollen Sie nicht zu Ihrem Bruder gehen?« fragte sie eintönig und matt.

Da war es Marie plötzlich, als hätte sie Hannes eine Ewigkeit nicht gesehen, als liege irgendein Abgrund zwischen ihm und ihr.

Sie stürmte davon und die Treppe empor.

Als sie in des Vaters Zimmer trat, saß Hannes bleich, reglos, fremd an dem stillen Bett.

»Schläft er?« stieß sie, von Grauen angepackt, hervor.

»Ja, endlich«, sagte müde und kurz der Bruder.

Mit einem wehen, wilden Aufschrei fiel das Mädchen über das Bett des Toten. – Das war ihr Jakobitag. 138

 


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