Auguste Supper
Die Mädchen vom Marienhof
Auguste Supper

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Erstes Kapitel

Auf einer weiten, von dunklem Tannenwald und mageren Äckern bedeckten Hochfläche liegt der Marienhof. Eine uralte, schlecht gehaltene, über ferne Höhen sich herschwingende Straße führt dicht an ihm vorbei.

Kelten und Römer zogen einst hier des Wegs. Man findet stellenweise noch unverwüstliches Pflaster, das die Spuren von Füßen zu tragen scheint, die längst zu Staub geworden sind.

Mancher, der still und vom Lärm des Heute gelöst hier wanderte, meinte die Menschen von gestern um sich zu spüren. Auch der Marienhof selbst ist sehr alt und auf noch älterer Siedlung errichtet.

Eingeweihte behaupten, es sei einst ein Siechenhaus hier gestanden. Ein Lazarett, würde man heute sagen; denn römische Legionäre, die sich im rauhen, fremden Land statt des Lorbeers und der Siegesbeute Krankheit und Tod geholt hatten, sollen hier verpflegt und im nahen Wald begraben worden sein.

Auch viel später, in den unheimlichen Zeiten des schwarzen Todes, als die Geißelbrüder durch die Lande zogen, war wieder Asyl hier oben.

Aber nicht für die Kranken, sondern für die vor der furchtbaren Seuche Geflohenen. 8

Die herbe Luft der Höhe scheuchte den grausigen Würger.

Damals muß an das Hauptgebäude das Marienbild gekommen sein, nach dem von nun an der Hof benannt wurde. Zuvor soll er – auch das sagen die Eingeweihten – lange den üblen Namen »Luderhof« getragen haben, weil in der Nähe, vermutlich auf der Stelle des einstigen römischen Begräbnisplatzes, einmal der Schindanger war, auf dem das gefallene Vieh und die zu Tode geschundenen Gäule aus den Gehöften der Hochebene verscharrt wurden.

Sei dem wie ihm wolle – das Marienbild schlug alle vergangenen Greuel und Häßlichkeiten in die Flucht.

Es ist ein Bildwerk aus weißgrauem, körnigem, nicht aus der Gegend stammendem Stein.

Heute noch ist es kaum angenagt von Verwitterung, und seine große Lieblichkeit überrascht den Beschauer.

Aber in diesem einsamen und verlorenen Weltwinkel blicken nur selten erfreute oder gar gläubige und verehrende Augen zu dem in seiner Schlichtheit vollendeten Kunstwerk hinauf, und wenn es nicht, wie alles Schöne, »selig wäre in ihm selbst«, man müßte mit seiner großen Vergessenheit Mitleid haben.

Dieses Hauptgebäude mit dem Marienbild ist ungefüg und plump, sieht aber nicht gerade unwohnlich aus. Man kann ihm wohl zutrauen, daß es auf römischen Grundmauern steht.

Jedenfalls hat es die unterschiedlichsten Schicksale und Zeiten über sich ergehen lassen müssen, und wenn es 9 davon nicht den Stempel des Einheitlichen davongetragen hat, so doch den des Erprobten.

Drüben, über einem geräumigen, fast rechteckigen ebenen Hofraum, steht noch ein zweites Wohngebäude.

Es ist weit weniger alt, aber recht mitgenommen, um nicht zu sagen: herabgekommen.

In seine Nachbarschaft paßt es nur mäßig. Der Fachwerkbau, der hohe spitze Giebel sieht neben dem massiven Haupthaus leichtfertig aus, ein Schnurrant neben einem in schwerem Lebensernst Erprobten.

Früher lief wohl eine Mauer um die ganze Siedlung. Zwischen und hinter den an das Fachwerkhaus angebauten und angelehnten Ställen, Schuppen, Scheunen sieht man noch Spuren.

Heute steht der Marienhof frei, aber so seltsam in sich gekehrt, als biete er der ganzen Welt an, ihm den breiten Buckel zu ersteigen, falls sie dazu Lust habe. Das mag auch damit zusammenhängen, daß der Eingang zu beiden Häusern vom Hof aus ist.

Vor der Tür des Hauptgebäudes plätschert ein kleiner steinerner Brunnen, dessen kristallener Strahl sich auch im trockensten Sommer kaum vermindert. Ein zur Viehtränke bestimmter Steintrog sammelt die Wasser. Grüne Flechten benagen den Stein und müssen ihn doch immer lassen, wie er ist. Verwilderte Gärten umziehen die Gebäulichkeiten, und drüben über der Straße, die ihre einstigen Rechte und Pflichten an eine entfernte, besser geführte und für den heutigen Verkehr gebaute Schwester abgetreten hat, dehnen sich Äcker und Wiesen dem nahen Wald zu. 10

Nach jener Asylzeit, von der die Rede war, kamen für die Siedlung dunkle Tage. Dem Hof wurde eine Herberge angegliedert, von der nichts Gutes berichtet ist.

Zweideutige, verdächtige Gäste verkehrten da; der Ort wurde verrufen und anrüchig, weil hier schlechte Geschäfte getätigt, üble Pläne ausgeheckt wurden, unter denen die ganze Umgegend zu leiden hatte.

Das alte Haus wehrte sich offenbar dagegen, daß es zum Treffpunkt für lichtscheues Gesindel gemacht wurde. Es verriet irgendwie seine zweifelhaften Gäste an die Obrigkeit.

Jedenfalls hängt im unteren Flur des Hauptgebäudes heute noch ein alter verdorbener Stich, auf dem zu sehen ist, wie grimmig blickende Scharwächter eine verknäulte Gruppe wilder Spießgesellen überwältigen und fesseln.

Darunter steht in schnörkelreicher Schrift zu lesen: »Gefangennahme von denen Böhmen im Marienhof.«

»Die Böhmen«, nannte sich das dunkle Gesindel.

Von diesen Sturmzeiten blieb außer dem Bild nichts übrig als eine Schankgerechtigkeit, die jetzt noch gilt und alljährlich mindestens einen Tag lang ausgeübt werden muß, um nicht zu verfallen.

Es kamen dann Jahre für den Hof, von denen nichts zu sagen ist, als daß Menschen dort geboren wurden, ihr hartes Leben trugen und lebten und wieder vom Schauplatz abtraten.

Von den Milliarden derer, über die nie berichtet, nie geschrieben, nie nachgedacht wird, und von denen jeder doch sein Schicksal, sein Glück, sein Leid, seine Schuld, sein Verdienst, seine Angst, seine Sehnsucht hat und hatte 11 – von dieser ungeheuren Schar, die aufkeimt und versinkt Jahrhundert um Jahrhundert, trieben auch auf dem Marienhof etliche ihr Wesen. Ihre Namen mögen im Herzen Gottes und vielleicht in alten Kirchenbüchern stehen; aber sonst ist nie die Rede von ihnen.

Endlich geriet der Hof in die Hände eines Mannes, der ihn sehr liebte, der aber ein großer Sonderling war, wenn man den Leuten vom Dorf Kolbenhart, zu dem der Marienhof politisch gehört, glauben will.

Man sagte von ihm, daß er ganz menschenscheu, wenn nicht menschenfeindlich sei und dabei ein völliger Büchernarr. Zur Bedienung hatte er nur einen Knecht, der Ulrich hieß und ein klein wenig hinkte.

Dieser Ulrich mußte sehr tüchtig sein; denn schon nach kurzer Zeit zeigte der verwahrloste Hof ein anderes Gesicht. Ob es dabei ganz mit rechten Dingen zuging, wagte und wagt kein Kolbenharter zu entscheiden, denn man war und ist im Dorf mehr auf ein zähes Beharren im Alten und Vertrauten eingeschworen als auf Neuerungen und jähe Verbesserungen.

Aber nicht nur tüchtig, sondern auch schweigsam, ja verschlossen war der hinkende Knecht. Weder über sich selbst noch über seinen Herrn erfuhr man Nennenswertes aus seinem Mund.

Das Wiesenland und Ackerfeld, das zum Marienhof gehörte, gab Doktor Johannes Baldenius, der neue Besitzer, einigen Bauern von Kolbenhart in Pacht.

Er nahm sehr mäßigen Zins, und man schloß daraus, daß er reich sein müsse. 12

Das Giebelhaus überm Hof wurde an einen fremden Tagelöhner vermietet, an einen stillen schwarzhaarigen, braungesichtigen Mann, der am Bau der neuen Straße arbeitete.

Diesen Bau hatte man damals gerade in Angriff genommen, zum Mißvergnügen der Bauern, die sich von gesteigertem Verkehr für ihre einsame Höhe nichts Gutes versprachen.

Der Tagelöhner, der »Maltova« hieß und nach der Vermutung der Bauern dort herstammte, wo die Mausfallenhändler daheim sind, war ein gesetzter älterer Mann, der aber ein blutjunges, zierliches Weib besaß und dazu zwei Ziegen, die oft mit der Jungen um die Wette über die Wiesen liefen, um am Waldsaum zu landen. Den Wald, der zum Marienhof gehörte und der damals noch schlagbar und schön war und mehr Grundfläche ausmachte als das Ackerland, behielt der neue Besitzer für sich, und man sah den hochgewachsenen, blassen, älteren Herrn oft darin umherstreifen. Die Bauern meinten dann, er rechne die Festmeter aus und denke über den Holzpreis nach. Es kann aber auch anderes gewesen sein, was den Mann unter die Tannen trieb.

Die fremdartige Sprache der Tagelöhnersfrau im Giebelhaus – ihren Mann hörte man so gut wie nie sprechen – beflügelte die Phantasie derer, die sich mit dem Marienhof und seinen Insassen beschäftigten.

Aber diese Flügel trugen nicht weit und nicht hoch.

Man wollte wissen, die Blutjunge sei ihrem Schwarzhaarigen gar nicht angetraut, und der reiche Büchermensch sei ganz einfach derjenige, der die beiden mitsamt 13 ihren Ziegen verhalte. Also – es steckte offenbar von der »Böhmerzeit« her noch so viel Trübes in der Atmosphäre um den Marienhof, daß, wer dort wohnte, nicht in klarem Licht gesehen werden konnte.

Als unter dem neuen Besitzer zum erstenmal die Schankgerechtigkeit ausgeübt werden sollte, von der die Rede war, da kamen, trotz bösen Regenwetters, allerlei Bauern vom nahen Kolbenhart und sogar von dem etwas entfernteren kleinen Weiler Bittwangen. Aber was die Neugierigen gehofft hatten, trat nicht ein. Der Herr ließ sich nicht sehen.

Nur Knecht Ulrich kredenzte in zinnernen Bechern – die Gäste spuckten aus – Ziegenmilch.

Die Erbosten ließen durch den lächelnden Schenken dem Herrn vermelden, das gelte nicht; so trinke man bei ihnen da oben nicht Freundschaft mit den Nachbarn.

Der Hinkende ging, die Botschaft auszurichten.

Als er zurückkam, gab er die ernsthafte Antwort, Herr Baldenius schenke nicht aus, um Freundschaft zu trinken, so lieb ihm diese wäre, sondern um die alte Schankgerechtigkeit aufrechtzuerhalten.

Da hatte es der Mann mit den Bauern verdorben.

Es kam eine Zeit, da die Tagelöhnersfrau nicht mehr mit den Ziegen um die Wette lief.

Schwer und langsam wurde ihr Schritt, weibhaft die Kindliche.

An einem Spätherbsttag, als ein sehr rauher Wind über die Höhe fegte, war sie am Morgen noch drüben im feuchten Wald, um Holz zusammenzulesen, das der Ulrich ihr dann mitleidig heimtrug. 14

Am Nachmittag wurde ihr Knabe geboren.

Es gab Weiber in Kolbenhart, die es sich ein paar Eier kosten ließen, um von der Hebamme, die Hilfe geleistet hatte, Näheres zu erfahren.

Nun – wie sollte es gewesen sein? – Ein wenig anders, als die Junge es sich vorgestellt hatte. Sehr viel anders sogar!

Die jungen Weiber, die zum erstenmal in diese Schlacht müssen, meinen ja immer, da gehe alles mit fliegenden Fahnen und fröhlichem Hurra vor sich.

Wenn es dann anders wird, wenn das Furchtbare sie in den Krallen hält und die Mannsleute bleich und zitternd aus der Tür schleichen, weil das große Grauen über sie kommt – dann, so meinte die Hebamme, wundern sich die jungen Weiber und fragen den Herrgott, warum sie allein das verkraften müssen, was dem andern Teil über die Kraft geht? –

Nun ja – jetzt sei's geschafft, und die Junge liege zufrieden in ihrem sauberen Bett, und ihre langen braunen Zöpfe hingen über den Rand bis auf den Boden. –

Die Bäuerinnen nickten. Aber wegen der schönen Zöpfe der Wöchnerin hatten sie ihre Eier nicht zu der Hebamme getragen. Nicht einmal wegen der Schilderung des blutigen Hergangs, den sie ja alle aus eigener Erfahrung an sich oder anderen kannten. Sie wollten noch etwas wissen.

Aber die Hebamme tat, als ahne sie gar nicht, daß um ein Neugeborenes Geheimnisse her sein können, daß man ihm vielleicht am Gesicht ansehen könne, wer – kurzum – – 15

Der Kindsvater sei aus der Tür gegangen, wiederholte nachdrücklich die Hebamme, als wollte sie damit sagen, sie habe keine Zeit und keine Gelegenheit, vielleicht auch keine Lust gehabt, Ähnlichkeiten oder Unähnlichkeiten nachzuspüren.

Der Knabe draußen hieß Balthasar.

Ungebräuchlich war dieser Name im Dorf, und man hörte ihm nur seine Fremdheit, nicht auch seine klingende Schönheit an.

Wäre das Tagelöhnerskind wenigstens »Balthes« gerufen worden; aber die vom Hof – der Knecht Ulrich voran – kürzten anders ab. »Balder« nannten sie den Kleinen.

Einem alten Götzen zu Ehren geschehe das, vermutete man im Dorf. Die Pfarrmagd hatte so etwas aufgeschnappt und verlauten lassen. Möglich war da draußen ja alles.

Der Knecht hätte verraten können, daß sein Herr es war, der die anstößige Abkürzung aufgebracht hatte. Von ihm hatte sie Ulrich und durch diesen die Tagelöhnersleute übernommen.

Es war eine offenkundige Sache, von der aber trotzdem auf dem Hof nie die Rede war, daß das heranwachsende Kind der Liebling des stillen Herrn Baldenius wurde.

An schönen Sommertagen konnte man die ungleichen beiden drüben am Waldsaum oder unter den Tannen oder auf der sonnigen, verlassenen Straße sehen. Der Knabe schritt schon wacker aus neben dem hageren Mann. 16

Aber die offensichtliche Freundschaft dehnte sich nicht aus auf die Eltern des Kleinen. Auch auf dem Marienhof schienen Vorder- und Hinterhaus durch eine weite Kluft getrennt.

 

Es zog jener Tag herauf, da bei einer Sprengung am Straßenbau das furchtbare Unglück geschah, das drei Menschen das Leben kostete.

Der Vater des kleinen Balder war unter den dreien.

Ach, es war ein so sonniger, heller, strahlender Tag, einer unter einer ganzen Reihe von gleich schönen Brüdern, die damals den Leuten auf der weltfernen Höhe vorspiegeln wollten, das Leid sei nun von der Erde verschwunden und die Herrlichkeit das Paradieses angebrochen.

Ja, ja, man sieht, was es ist mit solcher Herrlichkeit!

Da schüttert ein Knall, ein Krachen im engen Tal. Einen Augenblick zittert die Erde. Lang ausrollend und schwer geistert der Nachhall, der Widerhall durch dunkle Wälder. Schon entsteigt den Schwaden, die sich dort an der Sprengstelle langsam verziehen, riesengroß, starräugig, unentrinnbar das Leid. Fest um sich gezogen, als dürfe in diesen ersten Stunden keine Spur seines eigentlichen inneren Wesens sichtbar werden, trägt es einen Mantel aus furchtbarem Grauen, vor dem die Seelen in Lähmung verfallen.

Der Knabe begriff noch nichts von dem Geschehenen. Begriff er doch auch noch nicht, was Wolken am Himmel bedeuten.

Er lachte in den sonnigen Tag. 17

Dafür aber sah die junge Mutter mit um so tieferem Entsetzen ihren kaum erst aufgehellten Lebenshimmel von schwerem Dunkel überzogen.

Aus einer liebearmen, elternlosen Kindheit herkommend, hatte sie die Jugend hinter ratternden Webstühlen in der Fabrik verbringen müssen. Die frühe Heirat mit dem schweigsamen, viel älteren Mann war etwas wie Flucht aus erstickendem Einerlei und drückender Enge heraus.

Nicht lodernde Liebe, aber lodernde Sehnsucht hatte sie dem scheuen und treuen Werben des Erdarbeiters Maltova nachgeben lassen. Ein unbegrenztes Vertrauen zu dem Schweigsamen ließ sie zufrieden werden an seiner Seite, und als das Kind kam, war eine warme Heimat da für die Heimatlose. Und nun – –?

Am Tag nachdem man ihr den Versorger in die Erde gebettet – weit hinüber auf den einsamen kleinen Friedhof von Kolbenhart – saß die Witwe in ihrer sauberen Stube am Tisch und hatte, wie ein jäh eingeschlafenes Kind, den Kopf auf die hölzerne Platte gelegt.

Vielleicht fror sie mitten im Sonnenschein, der durch die offenen Fenster flutete, denn sie schauerte manchmal leise zusammen, wenn das Kind, das zu ihren Füßen mit Holzklötzchen spielte, seine frohen Laute ausstieß oder in die Händchen klatschte.

So versunken war sie in ihr dunkles Leid, daß sie den Schritt auf der knarrenden Stiege draußen und dann das Klopfen an die Tür nicht hörte oder nicht hören wollte. 18

Der Knabe aber drehte den Kopf, und in seinen schönen, nachtdunklen Augen war freudiger Glanz.

»Der Herr«, sagte er, zur Mutter aufblickend.

Der Herr, das war bei den Tagelöhnersleuten Johannes Baldenius.

Benommen richtete die Junge sich auf und strich die Haare aus dem verweinten Gesicht.

»Ja«, rief sie leise und unsicher gegen die Tür hin.

Da trat Herr Baldenius über die Schwelle.

Nie, seit sie bewohnt war, hatte er diese Stube betreten. Und nie war er, allen Phantasien und Mutmaßungen der Dorfleute zum Trotz, mit dem Tagelöhnersweib, so wie jetzt, Auge in Auge gestanden. Wohl hatte er sie von weitem beobachtet; aber nicht anders, als man nach einem zierlichen Reh auf der Waldwiese, nach einer flinken Meise im Blütenbaum, nach einer scheuen Eidechse am Wegrain sieht.

Steil, aufrecht, fast unbeholfen stand er jetzt an der Tür. Mächtig brandete in ihm noch einmal die tiefe Menschenscheu auf, die er sich in Erlebnissen der Vergangenheit geholt hatte. Das blasse bartlose Gesicht mit der starken Nase und den unter dichten Brauen in knochiger Tiefe liegenden Augen sah streng, ja hart aus, und es war der unerfahrenen Jugend des Weibes nicht zuzumuten, daß sie auf den ersten Blick bemerke, daß diese scheinbare Strenge aus Unsicherheit und Unbehaglichkeit aufwuchs. Die Stille zwischen den zwei Menschen wurde fast peinlich.

»Du«, sagte da hell die Kinderstimme vom Boden her, »du, Herr, schau doch!« 19

Es lag eine Welt von Stolz und Unbekümmertheit in Ton und Wort.

Der Mann trat neben den Knaben und ließ sich die aufgebauten Häuser und Brücken zeigen, indes die Mutter hastig eine Decke über den Tisch breitete und die Fenster schloß.

Immer eifriger und froher füllte die Kinderstimme die Stube. Wenn der Kleine gespürt hätte, daß Beklemmung da sei und daß er die Aufgabe habe, sie zu scheuchen, er hätte nicht heller, nicht lieblicher drauflosreden können.

Plötzlich schwieg er. Und dann sagte er mit hoher Wichtigkeit in der Stimme: »Du, Herr, mein Vater ist gesterbt.«

Über das Gesicht des vielleicht fünfzigjährigen Mannes glitt es wie Erschrecken. Mit Anstrengung sagte er gegen die leise weinende Frau hinüber: »Ich kam – ich meinte – ich wollte fragen, ob Sie wohnen bleiben wollen?«

Der Witwe zuckten die Lippen. Sie glaubte etwas wie Drohung aus der Frage zu hören. Mühsam kam's: »Ich werde nicht bleiben können. Ich habe kein Geld, und da oben gibt's für mich nichts zu verdienen.«

Herr Baldenius reckte sich auf. »Es gibt zu waschen und zu flicken für mich und den Ulrich«, sagte er rauh, »es ist – Sie können – eine Frauensperson wäre – ich meine: Sie können gut wohnen bleiben.« Er zog die Brauen zusammen. Es sah aus, als sei er ärgerlich, daß man ihm zugemutet habe, so viel zu reden, so weit entgegenzukommen. Dann beugte er sich aufs neue zu dem Kind und seinem Spiel. In diesem Augenblick – ach, 20 was gibt es doch auf dieser Erde für wunderliche Augenblicke! – sah die junge Witwe des Südtirolers Maltova zum erstenmal um den niedergebeugten Kopf des Herrn Johannes Baldenius einen zarten goldenen Heiligenschein.

Nicht mit ihren armen verweinten Augen konnte sie ihn sehen; aber sie nahm ihn wahr. Und was ein Mensch wahrnimmt, das wird, nach einem heimlichen Gesetz Gottes, für ihn Wahrheit von jener echten Sorte, die ein Augenschein allein nimmer erfassen kann.

Daß der zarte, von der Frau entdeckte Heiligenschein in der nächsten Zeit immer klarer und deutlicher aufleuchtete, ja daß zuletzt ein Gegenschein dazukam in Gestalt eines glatten goldenen Ringes, den der Herr der kindhaften Witwe mit vor Erregung zitternden Händen an den Finger steckte, daß ferner die beiden vielgeprüften Menschen ihr Leben in der Weltabgeschiedenheit so gestalteten, daß Eines ganz und gar des Andern wurde – das alles ist viel zu herzinnig und köstlich, viel zu heimlich und keusch, als daß man es so nebenher, gleichsam nur als Rankenwerk um die andere Geschichte, die hier erzählt werden muß, vorbringen dürfte.

Darum mag es für diesmal selig ruhen in der Vergangenheit, die für alle Wissenden und Geprüften die einzige ewige wundersame Gegenwart ist.

Später, als die Zeit gekommen war, adoptierte der wohlhabende Privatgelehrte Johannes Baldenius den einzigen Sohn, das einzige Kind seines vielgeliebten Weibes, und Balthasar Maltova hieß nun Balder Baldenius, was ein guter Name ist, weil er das Landläufige 21 und Gewöhnliche verschmäht und deutlich für sich steht, wie eigentlich jeder Name es sollte, um seine Bestimmung ganz zu erfüllen.

Zur Zeit dieser Adoption war der Sohn längst fort vom Marienhof. Der sehr begabte und aufgeweckte Knabe wurde frühe schon in ein Internat gegeben, um die besten Schulen zu genießen.

Von da ging es, dank der Freigebigkeit des gütigen Stiefvaters, auf die technische Hochschule und dann auf weite Reisen, so daß im Gedächtnis von Balder Baldenius der einsame Marienhof ziemlich weit zurücklag, als er, nach dem Tode des Elternpaares, dem zum viel begehrten Architekten gewordenen Sohn zufiel.

Viel beschäftigt, viel verdienend und ganz im Strom des reichbewegten Lebens der großen Stadt schwimmend, konnte und wollte Balder Baldenius den weltentlegenen Hof weder bewohnen noch bewirtschaften.

Ihn zu verkaufen konnte er sich noch weniger entschließen, denn – so fremd er ihm geworden war – etwas Helles und Schönes leuchtete herüber.

So holte er sich denn an beweglicher Habe aus dem alten Haus, was ihm wertvoll schien. Es waren in der Hauptsache die Bücher und die sehr einfachen Möbel des Adoptivvaters.

Nach der Räumung versuchte er den Hof zu verpachten.

Aber wenn er gemeint hatte, das sei bei seinem guten Willen leicht zu machen, so täuschte er sich.

Zwar kamen die Bauern; aber sie zeigten weit mehr 22 Lust, den Hof, die Äcker, Wiesen und Wälder schlecht zu machen, als ein Gebot darauf zu tun.

Balder Baldenius, in diesem Stück unerfahren, durchschaute nicht, daß das nur Präludien waren, die zum Geschäft gehörten. Ohne Geduld und ohne allzu großes Interesse an der ganzen Sache, brach er das Spiel vorzeitig ab, erbost über all das Unerquickliche.

Aber herrenlos und unbewirtschaftet durfte der Hof nicht bleiben. Und ihn wieder, wie sein Stiefvater, stückweise zu verpachten, das ließ ihm der Ärger auf die Bauern nicht zu.

Da zuckte dem Besitzer ein Gedanke durch den Kopf, den er in seiner rasch entschlossenen Art sofort in die Tat umsetzte.

Er hatte auf der Hochschule eine Zeitlang einen Studiengenossen gehabt, einen vermöglichen und begabten Bauernsohn, der aber ein leichter Geselle war, den alles mehr lockte als zielbewußte Arbeit. Daheim hatte ihm das Bauerngeschäft nicht auf die Dauer gefallen, jetzt trieb er sein Studium so nachlässig und sprunghaft, daß niemand Glauben an ihn haben konnte.

Er war dann von der Hochschule verschwunden, hatte sich viel zu früh mit einem schönen, aber armen Mädchen, der verwaisten Tochter eines Lehrers, verheiratet, ließ sich Werkmeister nennen, baute Scheunen und Bauernhäuser, die nichts taugten, und brachte schnell sein elterliches Vermögen durch.

Eines Tages stand er als ein Bittender vor Balder Baldenius, von dessen aufsteigendem Architektenruhm er wohl gehört hatte. 23

Er erklärte sich bereit, jeden Posten zu übernehmen, der ihm, seiner Frau und seinen kleinen Kindern Brot schaffen könne.

Aber so groß augenscheinlich seine Not war – der Ton und die Art, wie er sich als Bittsteller gebärdete, hatte immer noch etwas Großsprecherisches, Gespreiztes, das kein rechtes Vertrauen aufkommen ließ.

Damals hatte Baumeister Baldenius keinen Rat gewußt. Vielleicht auch keinen Rat wissen wollen, weil ihm, dem durchaus Tüchtigen, dieser Untüchtige keine rechte Anteilnahme entlockte.

Mit dem Versprechen, gegebenenfalls an ihn denken zu wollen, entließ er den einstigen Studiengenossen.

Nun schien dem Baumeister der gegebene Fall da zu sein.

Den Marienhof schlecht und recht zu bewirtschaften, das würde der Halbgestrandete wohl noch leisten können. So wäre beiden Teilen geholfen. Für den Besitzer brauchte kein gewinnbringendes Geschäft herauszuspringen, und für den Pächter und seine Familie wäre gesorgt.

Es war eine einfache Rechnung, die Baumeister Baldenius da aufstellte. Wie so viele Menschenrechnungen besonders deshalb so einfach, weil die meisten und wichtigsten Posten ausgelassen wurden.

Nicht ohne Mühe machte der Baumeister seinen Mann ausfindig. Es war inzwischen offenbar noch mehr bergab gegangen, und Peter Horch, der sogenannte Werkmeister, griff gierig nach dem angebotenen Posten. 24

Der Architekt, dem ja an den Einkünften aus seinem Gut wenig oder nichts lag, tat das Verkehrteste, was er tun konnte, um dem heimlich doch geliebten Marienhof nur eine halbwegs zureichende Pflege zu sichern.

Er setzte den Pachtzins lächerlich niedrig an.

Statt daß nun der Zwang einer Notwendigkeit alle noch vorhandenen guten Kräfte aus dem Pächter herausgelockt hätte, verfiel der Mann in ein faules Lotterleben, das zu ändern oder aufzuhalten seine verblühte und versorgte Frau nicht die Kraft hatte.

Sie war zermürbt und an Leib und Seele krank von dem unruhigen, nie gesicherten Leben an der Seite des unsteten, einst so geliebten Mannes, an dessen Begabung und Tüchtigkeit sie einmal blind geglaubt hatte und so lange glaubte, bis ihr Schicksal und das ihrer Kinder ganz dunkel und ungewiß geworden war.

Mit dem im Kern zerstörten Lebensmut brach auch ihre Schönheit, ihre Gesundheit zusammen.

Sie alterte vor der Zeit, wurde verbittert und verschlossen, eine schwache, fast gleichgültige Mutter für ihre wilden Zwillingssöhne, eine noch schwächere und leidenschaftlich zärtliche für das nachgekommene dunkeläugige, liebreizende kleine Mädchen, das sie fast ganz für sich in Beschlag nahm und vielleicht unbewußt dem Vater und den Brüdern zu entziehen suchte in dumpfer Angst.

Ihrem Manne war sie jetzt nicht mehr ergeben, sondern unterworfen. Sein Wesen wurde ihr gegenüber erst heftig und ungeduldig, dann brutal.

Die Welkende und Kränkelnde mochte ihm, der ein 25 starker und stattlicher Mann war, als Weib nicht mehr genügen; als Arbeitskraft kam sie ohnedies nicht in Frage.

So wehte keine gute Luft auf dem Marienhof.

Der ferne Besitzer kümmerte sich nicht oder nur wenig um diese Dinge.

Ganz anderes nahm ihn in Anspruch. Aufgaben, die mehr erforderten und mehr eintrugen als das ererbte Gut.

Einmal kam er mit seiner Frau und seinem kleinen Knaben, der etwa im Alter der Zwillinge war, auf den Hof.

Es war ein unerquicklicher Aufenthalt, der zum Glück nur kurz dauerte.

Wenn die zwei Männer, der Pachtherr und der Pächter, damals nicht hart zusammenstießen, so war das nur, weil Baldenius Rücksicht auf die beiden Frauen nahm.

Im übrigen war des Baumeisters Lebensschiff damals so in voller Fahrt, daß ihm die Schwierigkeiten auf dem Hof nur kleine Hemmungen waren, die er zur Seite schob und bald vergaß.

Der Pächter tat vielleicht nicht nur aus Untüchtigkeit, sondern mit einer ganz bestimmten Absicht alles, was den Marienhof in der Demut seiner oft betonten Wertlosigkeit erhalten konnte. Wenn er an Wald und Äckern übelste Raubwirtschaft trieb und Fahrnis und Gebäulichkeiten herunterkommen ließ, so meinte er damit den sichersten Weg zu gehen, um einmal den Hof, an dem dem Besitzer nichts lag, in die eigenen Hände zu bekommen.

Aber die Erde, die für keine Unehrlichkeit zu haben ist, rächte sich an dem Gewissenlosen. 26

Sie gab ihm nicht, wie sie das bei allen Tüchtigen tut, immer neue Kraft ab für die Hände und fürs ganze Wesen. Sie vernachlässigte ihn, wie er sie vernachlässigte.

Ging es mit dem Hof langsam, so mit dem Pächter erschreckend schnell bergab.

Er wurde ein Lump, der am liebsten drüben in Kolbenhart im »Löwen« saß und jedem, den er als Zuhörer erwischen konnte, Reden hielt über rationelle Landwirtschaft und moderne Baukunst.

Erst staunten ihn die Bauern an und schwiegen. Dann lachten sie heimlich und schwiegen noch immer.

Zuletzt hießen sie ihn das Maul halten.

 


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