Auguste Supper
Die Mädchen vom Marienhof
Auguste Supper

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Elftes Kapitel

Es schneite auf der Höhe.

Aus niederem, mißmutigem Himmel tanzten die Flocken auf eine mißmutige Erde, die sich lange sträubte, jetzt schon den weißen Mantel zu tragen.

Aber der Himmel hatte jene stille und zähe Beharrlichkeit, die zuletzt doch sich und andere überwindet. So wurde sein Düster zu einem glatten, zufriedenen Grau, und die Erde darunter gab sich und wurde in aller Heimlichkeit weiß, als könnte es nicht anders sein.

Eingewintert.

Schwerkrank lag Marie Baldenius. Ganz selten nur formten ihre vom Fieber ausgedörrten Lippen ein Wort.

Wenn es laut wurde, klang es wie: »Eingewintert.«

Aus des Forstmeisters Brief stammte das Wort. Kein anderes hatte das Mädchen herausgehört. Jäh hatte ihr Verdacht alles erschlagen.

Eine Erkältung, eine Lungenentzündung, nannte der Arzt Mariens Krankheit.

So ganz bis ins Innerste hinein erkältet sein, bis dorthinein, wo die glühende Liebe, die flammende Sehnsucht loderte, das kann wohl Krankheit und Tod bringen.

Wenn das Herz zertreten, der Glaube geschändet, das Vertrauen in bitterer Scham und Not untergegangen ist, mag leicht ein Feuer von der zerstörenden Sorte entzündet werden.

Ria ist oft bei der Kranken.

Sie hat Übung in allem, was hier getan werden kann und getan werden muß. 266

Am Bett ihrer Mutter war sie in der Lehre.

Auch da hatte der Arzt für die Krankheit Namen gehabt, die den letzten Kern nicht trafen, und die junge Pflegerin hatte das in ihrer früh wissend gewordenen Seele gespürt.

Der Pächter fluchte jetzt manchmal im Hof, weil seine Tochter so oft »zu denen da vorne« laufe.

Je näher der Tag rückte, da er abziehen mußte, je unguter wurde der Mann.

Einmal, als Hannes den Arzt zum Wagen begleitet hatte, rief der Werkmeister hinter ihm her: »He, was bekommt meine Ria im Tag? Oder ist der Preis noch nicht ausgemacht?«

Obgleich er das schmutzige Lachen wie einen Anwurf spürte, brachte es Hannes über sich, dem Mann entgegenzutreten.

»Was beanspruchen Sie?« fragte er mit erzwungener Ruhe.

Der andere fuhr sich durchs Haar: »Beanspruchen ist gut. Soll ich etwa sagen: Sie müssen meine Tochter heiraten?«

Hannes spürte, daß er vor Widerwillen bleich wurde.

»Was soll das? –« stieß er drohend hervor.

»Dann haben Sie alles umsonst«, schrie lachend der Werkmeister.

Bis ins Innerste elend stieg Hannes die Treppe empor.

Bitter schwer ging es weiter, Tag um Tag.

Niemand konnte Marie erklären, daß ihr entsetztes »Mit wem?« ein dunkler Irrtum gewesen war.

Aber auch wenn das Fieber gewichen wäre, wenn 267 Hannes der Schwester von dem Telephongespräch hätte sagen können – würde und durfte dadurch alles ins Lot kommen? War das Schuldhafte ausgelöscht, wenn Marie die Zusammenhänge erführe?

Hannes, dem, seit er draußen gewesen, alles Richten so fern lag, er kam dennoch nicht los von dem bitteren Gefühl, Marie sei nicht mehr seine Marie von früher.

Wortkarg, blaß und gealtert tat Ria ihre Dienste an der Kranken. Die Stunde im nächtlichen Wald schien sie vergessen zu haben. Ihre Blicke wichen denen des Mannes nicht aus; aber sie antworteten ihnen auch nicht. Die Fremdheit, die sie immer gezeigt, richtete sie bei jeder Gelegenheit als Mauer um sich auf.

Ein paarmal wollte Hannes ihre Hände fassen, den Arm um ihre Schultern legen, da wich sie feindselig zurück.

Über die Kranke hingeneigt, sagte sie einmal: »Marie, dem Forstmeister ist seine Frau gestorben. Deshalb hat er fort müssen.«

Hannes hörte es. Gereizt fragte er: »Soll sie davon gesund werden?«

Sie schaute auf. »Von was denn sonst? –«

Er wandte sich ab. Lächerlich und unwahr und feig war seine Frage gewesen, das hörte er aus des Mädchens Ton heraus.

Wußte er nicht genau so gut wie sie, wo die Wurzeln dieser Krankheit lagen?

Es fiel ihm plötzlich ein, daß einmal einer geheilt hatte mit nichts anderem als dem Wort: »Deine Sünden sind dir vergeben.« 268

Hannes erwog den Plan, die Schwester in ein Krankenhaus zu bringen.

Da glühte Rias blasses Gesicht auf. Sie schüttelte den Kopf. »Wenn sie gesund wird, wird sie's nur hier.«

Das Fieber brannte fort mit unverminderter Glut. Aber von jenem dumpfen »Eingewintert« kamen die heißen Lippen endlich los. Einmal verlangte die Kranke leidenschaftlich einen Stahlhelm. Sie brauche ihn, damit sie nicht so schmutzig werde.

So dringend jammerte sie danach, daß Hannes ging, den Helm zu holen.

Als er ihn der Schwester hinreichte, schien ein Schimmer von Bewußtsein in ihren fieberblanken Augen aufzuglimmen.

Dann warf sie mit einem Schrei den Helm zu Boden.

Auch vom Klavierspielen redete sie öfter. Nur ein einziges Mal habe sie es noch tun wollen, klagte sie in herzzerreißendem Ton, aber dann sei das Feuer gekommen, das Feuer, in dem sie brenne.

Über Rias Gesicht liefen unaufhaltsam die Tränen.

Mit seinen eingefallenen Wangen, den scharfen Backenknochen und der starken Nase sah Hannes aus wie einer der Bauern von der Höhe. Streng, ausgearbeitet, wie aus Holz geschnitzt, waren die leidvollen Züge.

Der Arzt kam oft, und meistens schüttelte er den Kopf, als gebe ihm dieser Fall tiefe Rätsel auf.

Ein junges Herz halte ja viel aus, meinte er; aber er meinte dabei nur das Herz, das jede Sekunde Blut zu pumpen hat. Von dem andern Herz der Marie wußte er nichts. 269

Bang und stumm taten die zwei Pfleger ihren Dienst. Zwischen ihnen lag ein hoher Berg, oder eine tiefe Kluft. Aber heimlich, ohne daß es ihnen zum Bewußtsein kam, holte doch eines Kraft und Mut beim andern.

Das ist eine verborgene Ordnung in der Welt der Liebe. Aber sie gilt nur dort, wo nichts Gemeines, nichts Selbstsüchtiges diese Welt schändet.

 

Der Schultheiß Roser kam auf den Hof.

Er traf draußen am Gartenzaun den Werkmeister, wo er tat, als flicke er Schäden.

Die scharfen Augen des Kleinen beobachteten des Pächters Tun.

Dann sagte er laut: »Werkmeister, da ist der Zeitpunkt verpaßt. Für jeden Zaun kommt der Tag, da er nicht mehr zu flicken ist.«

Der Angeredete schob seine Mütze aus der Stirn, als schwitze er von der harten Arbeit.

»Sie sind wohl extra auf den Marienhof gelaufen, um mir das zu sagen?« rief er grob.

»Ich müßte lügen, wenn ich das behaupten wollte«, gab der Schultheiß gelassen zurück, »ist die Ria im Haus?«

Der Pächter kehrte dem Frager den Rücken. Über die Schulter zurück sagte er: »Sie können ja nachsehen.«

Der Kleine zog die starken Brauen zusammen.

»Wenn sie dann aber nicht da ist? Und wenn Ihnen nachher ein silberner Löffel fehlt – was denken Sie dann –?« 270

Der Pächter lachte. »Was ich denke, sind zum Glück meine Sachen; es würde sich sonst mancher wundern.«

Jetzt lachte auch der Schultheiß. »Ich nicht. Wenn ich einen so verlotterten Gartenzaun sehe, wundere ich mich über nichts mehr. Wollen Sie wissen, Werkmeister, wo ich das gelernt habe? –«

Wie auf hingeworfenen Köder fuhr der Pächter los: »Sicherlich im Zuchthaus.«

»Ganz recht«, entgegnete zufrieden der Schultheiß, »Gefängnis nennen es andere; aber das tut nichts zur Sache. Möchten Sie auch wissen, wie ich's bei mir selber nenne?«

»Kann mir's denken.«

»Nein, das können Sie sich nicht denken. Das ist mein Geheimnis. Das Gasthaus zur Eintracht habe ich's getauft, weil ich dort so manche gute Tracht in meine Scheunen eingetragen habe.«

»Blech«, murmelte der Pächter.

»Kein Blech, mein Lieber. Dort hat mir zum Beispiel mein kleiner Finger gesagt, was es mit verlotterten Gartenzäunen für eine Bewandtnis hat.«

»Maul halten!« schrie der andere und schlug mit dem Hammer gegen den Zaun.

»Werkmeister«, fuhr unbewegt der Kleine fort, »wenn Sie lang genug in den ›Löwen‹ gelaufen sind, werden Sie's vielleicht auch einmal mit dem Gasthaus zur Eintracht probieren.«

Er wandte sich um und ging gegen das Haus.

Im Hof, an dem Brunnen neben der Hausstaffel, traf 271 er Hannes, der da einen Krug mit dem eiskalten Wasser füllte.

Durch Ria wußte er von der Krankheit der Marie; aber als er das veränderte Gesicht des Bruders sah, begriff er erst, wie schlimm das Leiden sein mußte.

»Steht's schlecht?« fragte er erschrocken.

Hannes nickte trüb. Sie standen schweigend und gedrückt beisammen.

»Wo ist Ria?« fragte jetzt der Schultheiß.

»Oben bei ihr.«

»Das ist gut. Von jedem Tüchtigen strömt Lebensluft. Wo die Ria ist, atmet sich's leichter.«

Hannes blickte auf. Dankbarkeit für das Wort stand in seinen Augen, ohne daß er's vielleicht wußte.

»Soll ich sie zu Ihnen herunterschicken, oder wollen Sie hinaufgehen?«

»Keines von beiden. Sie sollen ihr nur diesen Brief geben.« Der Kleine kramte in seiner Tasche und reichte Hannes ein Schreiben hin.

»Von meiner Melle«, sagte er dabei warmen Tons.

Hannes hatte wieder jenes seltsame Gefühl wie bei dem Telephongespräch im Forsthaus. Ach so, dachte er, auch hier läuft also ein Faden, der zum Schicksalsgespinst gehört! –

»Sie können den Brief ruhig lesen«, sagte jetzt der Kleine zuredend, »ein Luderchen ist meine Melle. Aber auch die haben ihr Amt auf der Welt.«

Hannes stellte seinen Krug ab. Er lächelte verloren. Ein Schmetterling, der ihm über den einsamen Weg 272 gegaukelt war und den er vor dem Dunkel der Waldestiefe gewarnt hatte, fiel ihm ein.

»Ja«, sagte er, »man braucht auch die Schmetterlinge.«

»Will's meinen! Und nicht nur zum Fangen«, stimmte der Kleine zu und nahm den Brief wieder aus des andern Hand.

Wie er ihn jetzt langsam entfaltete, erinnerte der Ausdruck seines Gesichts und jede seiner Bewegungen so stark an seinen Sohn, daß Hannes den Freund neben sich zu haben glaubte. Eine leise Zuversicht kam da über ihn.

»Ich will Ihnen daraus vorlesen, was nötig ist«, sagte lächelnd der Schultheiß, »die Krakelfüße der Melle entziffert nicht jeder.« Er suchte eine Weile und las dann: »Das Maniküren habe ich schon besser los als die Mutter. Die feinsten Herrschaften wollen von mir bedient sein. Besonders die vom Theater. Die ganz Berühmten sagen gleich: Wo ist die Fräulein Melle?

Gestern kam zum erstenmal die Rosella. Ich habe schon lang immer gedacht, wenn nur die auch einmal herginge! Die singt nämlich wunderbar. Ich hab' sie schon gehört in Aida, wo mir die Lindheimer eine Karte dazu geschenkt hat. Die Lindheimer, die hat nämlich massig Geld.

Ich sag' Dir: die Rosella, die ist berühmt! Und Brillantringe hat sie, daß es nur so funkelt. Die Mutter sagt, die seien nicht alle echt; aber ich glaube es doch. Sie hat auch gleich nach der Melle gefragt und hat gesagt, alle sagen, die Melle sei gut im Maniküren. Überhaupt ist sie gar nicht hochmütig. Sie hat auch gleich gefragt, ob ich keinen Vater mehr habe? Ich hab' gesagt: doch, der ist 273 in Kolbenhart. Warum ich nicht auch dort sei, hat sie wissen wollen. Ich hab' gesagt, dort sei's langweilig. Sie hat gesagt, die Stadt sei aber auch nicht immer schön und ich soll nur aufpassen. Auf einmal hat sie gesagt: Kolbenhart, Kolbenhart – sitzt dort nicht ein Forstmeister mit Namen Halldorf?

Ich hab' lachen müssen und hab' gesagt, daß ich den gut kenne, weil ich ihm manches Holzverkaufsprotokoll und so Zeug auf der Maschine abgeschrieben habe.

Sie hat gefragt, ob ich denn auch maschineschreibe und war ganz verwundert.

Ich hab' ihr dann gesagt, daß Du mir eine nagelneue, feine Conti gekauft hast. Aber dem Forstmeister seine Maschine sei nicht so gut.

Da hat sie gesagt: Ja, aber der Mann ist gut. Ein feiner Kerl. Nur einen dummen Streich hat er gemacht: er hat eine Kollegin von mir geheiratet. Bildschön und hoch musikalisch, aber ein Satan. Mich hat er immer gedauert. Er war viel zu anständig für das ehrgeizige, schwierige Weib.

Die sei jetzt krank und fort, hab' ich gesagt. Sie werde wohl sterben. Es sei schon lange eine Haushälterin da, die Fräulein Karoline, die sei fromm. Da hat sie gesagt: Der Mann hätte ein besseres Schicksal verdient, er tue ihr leid, so oft sie an ihn denke.

Da habe ich gesagt: Der braucht Ihnen jetzt nicht mehr leid zu tun. Er hat eine Freundschaft mit der Marie Baldenius vom Marienhof. Der ihr Bruder war der beste Freund von meinem Bruder, der wo gefallen ist. Das wird schon noch recht werden. 274

Da hat sie gefragt, wie denn die Marie sei?

Ich hab' gesagt: hochmütig schon, aber kein Satan. Sonst wär' sie auch der Ria ihre Freundin nicht. Ob sie schön sei, hat sie auch wissen wollen. Ich hab' gesagt: schon; aber dunkle Haare und Augen. Da hat die Rosella gemeint, das sei vielleicht gut, die andere sei blond gewesen. Da hab' ich aber gesagt, bei den Blonden gebe es auch zweierlei.

Da hat die Rosella gesagt, sie habe einmal im Krieg bei den Soldaten an der Front gesungen. Da habe sie über den Forstmeister viel Gutes gehört, weil er sehr tüchtig sei als Hauptmann. Um so einen sei's schad, wenn er so Unglück habe.

Ich hab' gesagt, mit der Marie Baldenius gibt das kein Unglück; so ist die nicht, das habe ich gemerkt beim Kleideranprobieren und so. Da hat sich die Rosella gewundert, daß ich auch Kleider machen kann.

Sie hat gesagt, sie lasse sich jetzt immer bei mir maniküren, weil ich tüchtig sei. Sie möge alle Tüchtigen –«

Der Schultheiß ließ den Brief sinken. Ein Lächeln stand in seinen Augen.

»Nun? –«

Hannes schaute in das Wasser im Brunnentrog, das leise Kringel zog von dem dünnen Strahl gegen den Rand her.

Der Kleine legte ihm die Hand auf den Arm. »Wird der Brief etwas sein für die Ria? Sie war kürzlich bis in den Abend hinein bei mir, weil sie nicht wußte, wohin mit ihren Sorgen.« 275

Hannes wußte, welcher Abend das gewesen war. Er hörte wieder die fernher kommenden Tritte im dunkelnden Wald.

Er griff nach den Brief. »Ich will ihn ihr geben.«

Leis lachte der Schultheiß. »Wenn sonst nichts, so wird doch das die Ria freuen, daß die Rosella die Melle so tüchtig findet.«

Er ging und wandte sich noch einmal zurück.

»Ob sie gar so tüchtig ist, möchte ich nicht entscheiden. Aber etwas hat sie an sich, das haben sonst meist nur die Tüchtigen: sie springt über jeden Graben, ohne sich lang zu besinnen.«

 

In seiner weiten, ein wenig kahlen Stube saß Hannes am Tisch und schrieb.

Oder versuchte doch zu schreiben. Daß es kalt war in dem stillen Raum, spürte er gar nicht, und nicht etwa steifgewordene Finger trugen die Schuld, daß das weiße Papier, das vor ihm lag, so lange leer blieb.

Hannes Baldenius, was hast du eigentlich mit diesem zu schreibenden Brief im Sinn? – Bietest du etwa die Schwester an, oder was soll's? – Ein schwerer Kampf und Krampf schien die Schreibhand des Einsamen zu lähmen. Harten Blicks starrte er ins Leere.

Dann klang es ihm in den Ohren: Wer über den Graben springen will, darf sich nicht zu lang besinnen.

Und er wollte nicht nur den Sprung tun – er mußte! Oder sollte er Marie sterben lassen, ohne das Letzte, das Schwerste, vielleicht das Schmachvollste versucht zu haben? 276

Plötzlich fiel ihm des Vaters Sterben ein. Nie hatte er es über sich vermocht, über diese furchtbare und doch erhebende Stunde zu reden. Über die Stunde, da ihm gewährt worden war, was er so oft heimlich ersehnt hatte: daß der gefesselte und umdunkelte Geist des Hingestreckten noch einmal frei und klar werde.

Bei Donner und Blitz, beim wilden Toben der Elemente war das Wunder geschehen.

Hannes wenigstens hatte es als ein Wunder empfunden, wenn er auch wußte, daß der Arzt einen anderen Namen, eine andere Erklärung dafür haben würde.

Er hatte damals die Schwester aus der Jakobischenkstube herauf zu dem Sterbenden holen wollen.

Aber der Vater hatte abgewehrt. »Erspare es ihr«, hatte er mit nahezu klarer Stimme und freundlicher Ruhe gesagt, »wir wollen es allein durchfechten, auch für sie.«

Hannes setzte die Feder an und schrieb.

Wie die Melle schrieb er. Ganz ohne Umwege, ganz ohne Sorge um die rechte Wendung und den besten Ausdruck.

Nur durchfechten wollte er die Sache für Marie.

»Sehr geehrter Herr Forstmeister!

Meine Schwester ist schwer krank. Lungenentzündung sagt der Arzt. Sie sprach im Fieber ein paarmal Dinge, die es mir als möglich erscheinen lassen, daß ein Lebenszeichen von Ihnen sie beruhigen würde. Ich spreche von Mann zu Mann.

Johannes Baldenius.« 277

Er legte die Feder weg und starrte in den sinkenden Tag und dachte, was es doch für ein seltsamer Tanz sei zwischen Mann und Weib.

Da klopfte es an seine Tür.

Er sprang auf. Ria stand auf der Schwelle.

»Ich muß jetzt gehen. Nur daß Sie's wissen. Mein Vater ruft. Er wird ins Dorf wollen.«

Hannes nahm sein Schreiben, steckte es in den Umschlag und schrieb die Anschrift.

»Hier, vielleicht nimmt dein Vater das mit; er geht ja am Postamt vorbei.«

Sie sah die Anschrift. Da wurden ihre Augen hart. »Den nicht.«

Er blickte sie verwundert an und lächelte dann flüchtig.

»Aber du weißt ja gar nicht, was drinsteht.«

Sie reckte sich auf. »Aber ich weiß, daß mein Vater der Marie ihre Sache mit keinem Finger anrühren darf«, sagte sie leidenschaftlich, und in ihren Augen funkelten Tränen.

Er wollte sie an sich ziehen. Da floh sie die Treppe hinab.

 

Wieder bastelte am andern Tag der Werkmeister an dem Gartenzaun, der nicht mehr zu flicken war.

Die ganz Tüchtigen und die ganz Untüchtigen lassen sich ja ihr Tun nicht vom endlichen Siegespreis bestimmen.

Den Zigarettenstummel im Mund, nagelte er an den zermürbten Latten. 278

Vom Haus herüber schritt Hannes.

Er trug Uniform, aber eine bessere als zu seinem Werk in den letzten Wochen, und er trug auch den Helm.

Fremd sah er aus, und zwar nicht nur dem Kleid nach.

Einen Besuch wollte er machen. Besuch bei einem Hauptmann, der gestern seine Frau begraben hatte.

Was er bei diesem Besuch alles sagen und was er alles hören würde, war ihm noch völlig verhüllt. Daher der fremde, alte, sorgenvolle Ausdruck auf dem hageren Gesicht. Daher auch das Soldatenkleid; denn Hannes spürte, daß der Offiziersrock, daß der stählerne Helm eine Beredsamkeit hatten, die seine eigene schwere Unbeweglichkeit und Unsicherheit vielleicht heimlich ausgleichen würde.

Der Hauptmann würde verstehen, was der Leutnant wollte, wo der Forstmeister den Besitzer vom Marienhof vielleicht mißverstehen oder nicht ernst genug nehmen würde.

Den Brief, den er gestern geschrieben, trug Hannes bei sich.

Die Weigerung der Ria, dieses Schreiben in eine dritte Hand zu legen, hatte ihm die Augen geöffnet für die Notwendigkeit des Ganges, den er nun tun wollte.

Als er den Werkmeister am Gartenzaun hantieren sah, stutzte er. Es war ein Stutzen, als sei ihm plötzlich sein Programm umgestoßen worden. Dann reckte er sich. Nun gut, so würde er also das als Erstes tun, was er eigentlich als Letztes hatte tun wollen.

Er blickte an sich hinunter, als prüfe er, ob die Uniform 279 in Ordnung sei. Ein wenig zog er an seinem Rock, dann schritt er bleich auf den Pächter zu.

Der tat, als höre und sehe er nicht.

Da grüßte Hannes laut, und die Augen unter dem Stahlhelm brannten.

Ohne sich aus seiner gebückten Stellung aufzurichten, drehte der Werkmeister den Kopf und sagte: »Aha, auf dem Marienhof ist heut Königsparade.«

»Kann ich einen Augenblick mit Ihnen reden?« würgte Hannes hervor.

Erst schien es, als wolle der andere überhaupt keine Antwort geben. Dann richtete er sich auf und schwang den Hammer in der Hand.

»Also los in Kuckucks Namen.«

Abgewandten Blickes und so schwer, als liege ihm eine Hand an der Kehle, sagte Hannes: »Ich möchte Sie um die Hand Ihrer Tochter bitten.«

Der Pächter stand wie erstarrt. Dann warf er den Zigarettenstummel weg und schlug sich auf den Schenkel. »Donnerwetter.« Auf einmal lachte er laut auf, als begreife er jetzt erst so recht.

»Ist's also glücklich so weit?« schrie er, »ich hab's ja kommen sehen. Auch bei der Ria muß es einer nur recht anfangen.«

Hannes hatte ein Gefühl, als gleite ihm der Boden unter den Füßen weg. Wie wenn er fürchten würde, der andere habe ihn nicht verstanden, sagte er noch einmal fast hilflos: »Ich möchte die Ria heiraten.«

»Möchte«, höhnte der Pächter, »da handelt sich's nicht 280 drum, was Sie möchten; da geht's ums Müssen, Sie! Ich hab' zwei Söhne dem Vaterland geopfert, ich –«

Hannes hörte nicht mehr.

Als das Dröhnen in seinem Hirn nachließ, merkte er, daß er auf der Straße nach Kolbenhart dahinschritt, ein noch immer halb Betäubter, der nicht mehr wußte, was er wollte und gewollt hatte. Ein einziges Gefühl des Ekels war in ihm und etwas wie Mitleid mit sich selbst, weil er etwas Köstliches vertan habe.

Und auf einmal merkte er, daß es ihm naß übers Gesicht lief. Da lachte er auf, und es fiel ihm ein, daß die Mutter immer gesagt hatte: Ein Junge weint doch nicht –!

Der Wald aber, in dem es jetzt zu knistern begann wie bei nahendem Tauwetter, der Wald und der Himmel, den eine Ahnung vom Föhn klar und tief machte – sie ließen den einsamen Wanderer nicht im Stich. Ihre stillen und reinen Kräfte strömten um den Verstörten.

Bald klopfte sein Herz ruhiger, sein Kopf wurde kühler, so daß er wieder zielbewußter ausschritt.

Nicht weit von der Stelle, wo der Weg zum Forsthaus abzweigt, trat Schultheiß Roser aus dem verschneiten Wald.

Er trug eine Axt, als komme er vom Holzmachen.

Verwundert blickte er auf die Uniform.

»Was ist los?«

Aber als er das Gesicht unter dem Helm deutlicher sah, fragte er leise und bang: »Ist's zu Ende?«

Da war es Hannes, als hätte ihm der Kleine einen köstlichen Trost gesagt. Die Marie lebte ja noch! – 281

Er raffte sich auf. Er lächelte sogar.

»Es geht ihr heute etwas besser.«

Der Schultheiß kniff die Augen ein, als müsse er sich den andern genauer betrachten.

»Nun –?« fragte er gedehnt.

Hannes nickte. »Über den Graben bin ich gesprungen; aber zu kurz.«

Der Kleine hob den Kopf. »Wie das –?«

Der andere schaute weg. »Ich hab' beim Werkmeister um die Ria angehalten.«

Es blieb lange still. Dann sagte der Schultheiß ernst: »Das war ein breiter Graben.«

Die Männer schwiegen. Aus weiter Ferne kam der Hammerschlag des Kolbenharter Schmieds über die Höhe herüber.

Endlich fragte der Kleine: »Was meinte der Lump?«

Hannes griff sich an den Hals, als drücke die Uniform. Leis kam's: »Er meinte, ich sei auch einer. Ich sei an der Ria zum Lumpen geworden.«

Zornig flammten des Kleinen Augen. Einem Raben sah er nach, der über den Wald strich. Dann sagte er verächtlich: »Was soll der sonst meinen? Ein Arger bringet Arges hervor aus dem bösen Schatz seines Herzens.«

Und dann auf den Helm von Hannes deutend: »Der da hält hoffentlich dicht gegen Hieb und Stoß und Unflat. Die Ria trägt auch einen. Schon jahrelang. Ihr mußtet zusammenfinden.«

Hannes schüttelte den Kopf. »Sie weicht mir aus.«

Der Schultheiß blickte in den Wald hinein. 282 Nachdenklich sagte er: »Haben Sie nicht einen Schandfleck in der Familie, von dem sie ihr erzählen könnten? Ebenbürtig will die heiraten. Keiner soll zu ihr heruntersteigen. Schad, daß Sie nicht mein Sohn sind!«

Hannes runzelte die Stirn. »Warum spürt sie nicht, daß ich nicht zu ihr heruntersteige –?«

Der Kleine nickte. »Warum spürte damals des Schulmeisters Tochter nicht, daß ihr Nachbarssohn auch noch etwas anderes in sich hatte als Ehrgeiz und Streberei? –

Ich kann nur sagen: Laß du bei der Ria nicht locker! Die störrigsten Fohlen geben die frömmsten Gäule, und was gleich aus der Hand frißt, ist sein Futter nicht wert. Denk an meinen Rat und folge einem Gewitzigten.«

Er lachte. »Jetzt habe ich du gesagt, als rede ich mit meinem Gottfried.«

Hannes spürte, wie ihm das Blut ans Herz drang. Er legte die Hand an den Helm und sagte erstickt: »Ich danke dir.«

Sie reichten sich die Hände.

Auf der einsamen Straße gingen sie jetzt weiter. Veränderten Tons sagte der Schultheiß: »Nun weiß ich aber immer noch nicht, warum du heut als Leutnant kommst.«

Einen Augenblick zögerte Hannes. Dann bekannte er: »Ich will zum Forstmeister. Der ist Hauptmann.«

Der Kleine pfiff durch die Zähne und schwieg.

Man sah, daß der andere etwas in sich ausfocht. Dann nahm er den Brief aus seinem Ärmelaufschlag 283 und reichte ihn dem Kleinen hin. »Gestern du mir, heute ich dir«, sagte er dabei und lachte befangen.

Der Schultheiß betrachtete das verschlossene Schreiben verwundert. »Das geht nicht an mich«, meinte er zögernd.

»Mach's auf!« sagte Hannes mit überlohtem Gesicht, »denke: dein Gottfried habe es deiner Melle zulieb geschrieben.«

Der kleine Mann wog das Schreiben in der Hand, als prüfe er es auf sein Gewicht. Dann stellte er die Axt ab und horchte in den Wald hinein, in dem eine leise Unruhe war.

»Ach«, sagte er und atmete tief, »nun kommt wieder der Wind, von dem unsereiner nie weiß, von wannen er ist und wohin er fährt.«

Er öffnete den Brief und las.

Viel länger brauchte er dazu, als man zu den paar Zeilen brauchen konnte.

Dann faltete er das Schreiben bedächtig zusammen.

»Du sagtest, es gehe deiner Schwester besser –?«

Hannes nickte.

Der andere trat dicht zu ihm. »Kehre um und geh heim! Der Herrgott nimmt auch heut noch in den schwersten Dingen die Geste für das Opfer. Vielleicht hängt irgendwo schon der Widder in der Hecke zum Lohn dafür, daß du diesen Gang hast tun wollen.«

Er steckte den Brief in die Tasche und schulterte seine Axt. Dann lachte er Hannes an. »Mach dich auf Posten; ich spür den Föhn in den Knochen, und auf deinem Hof ist nicht alles sturmsicher.« 284

Zögernd und wie ein Gescholtener stand Hannes.

Da sagte der Kleine ernst: »Wie wenn's um Gottfried und Melle ginge, habe ich gesprochen.«

Der andere wandte sich auf den Heimweg.

Als er im Marienhof die Treppe emporstieg, stand Ria oben, als habe sie auf ihn gewartet.

Er konnte ihr nicht frei ins Gesicht sehen. Das Häßliche mit dem Werkmeister tauchte wieder auf. So bemerkte er den scheuen Glanz der Freude in ihren Augen nicht.

»Wie steht's?« fragte er unfrei.

»Sie schläft«, sagte ganz leis und mit unterdrücktem Jubel das Mädchen, »ganz ruhig schläft sie.«

Das ist der Widder, der in der Hecke hängt, dachte Hannes benommen.

»Warst du immer bei ihr?« fragte er, seine Bewegung unterdrückend.

»Ja, die ganze Zeit.«

Er nahm den Helm ab und legte ihn weg.

»Hat dein Vater nicht nach dir gerufen?«

Sie schüttelte den Kopf. Das Helle aus ihren Augen war weg.

Er trat ihr näher.

»Du wirst jetzt hinüber müssen.«

Sie antwortete nicht. Vielleicht wartete sie auf ein Wort der Freude, das zu ihrer Freude stimme.

Er griff nach ihrer Hand. »Ria, kannst du denn nicht fort, weit fort vom Hof, weit fort von dem Werkmeister –?«

Sie wich vor ihm, vor seinem heißen Flüstern zurück. 285

Dann ließ sie wie eine tief Ermüdete beide Arme hängen.

Mit geschlossenen Augen sagte sie tonlos: »Du weißt doch, daß man mich nicht heiraten kann. Meines Vaters Tochter nicht. Aber als Magd kann ich ganz gut bei dir bleiben; ja, das kann ich –« Hannes starrte in das erloschene Gesicht. Er spürte erschüttert, welche Hingabe und welche Hoheit um das junge Ding her war.

Er strich ihr über den Kopf. »Geh«, bat er erstickt, »ich kann dir mehr jetzt nicht sagen.«

Sie schüttelte die streichelnde Hand ab. Das Spröde ihres Wesens kam wieder zutage. Still sagte sie: »Warum soll ich nicht Magd bei dir sein, wenn ich doch will.«

Er biß auf die Zähne. »Du bist minderjährig. Dein Vater hat noch alle Macht über dich.«

Es blitzte feindselig in ihren Augen. »Über mich hat er noch nie Macht gehabt. Nur über meine Mutter. Das ist vorbei. Er weiß das, und er haßt mich. – Er haßt mich –«, wiederholte sie und starrte ins Leere.

In Hannes brannte schier unerträgliches Leid. Warum konnte er jetzt nicht einfach sagen: Mir gehörst du, bei mir ist deine Heimat! –

Er zog sie an sich. Sie legte mit jäher Bewegung beide Arme um seinen Hals.

»Laß mich da! Ach, schick mich doch nicht fort!«

Er spürte das Zittern der jungen Gestalt, das schwere Schluchzen, das sie mühselig niederzwang.

Er fühlte sich wie in einen Wirbel hineingezogen; seine Besonnenheit wollte ins Wanken kommen. 286

Da fiel sein Blick auf den Stahlhelm. Das weckte ihn auf.

»Du kannst und darfst meine Magd nicht sein«, sagte er leise und drückte sie an sich, »du weißt ja nicht, wie schwer das wäre.«

Sie legte den Kopf an seine Schulter. »Es ist nicht schwer«, sagte sie innig, »ich bin die ganze Zeit schon inwendig in mir deine Magd gewesen. Du hast's nur nicht gewußt.«

Er sah auf sie nieder. Schmerz und Glück waren in ihm.

»Aber mir wär's zu schwer«, sagte er leis, »das gäbe nur Herzeleid.«

Er atmete tief und schob sie von sich. »Sei mein Weib, Ria! Dein Vater gibt dich mir, er – wir –«

In sein Stammeln hinein schrie sie auf: »Sei still! Sei still davon! Du weißt ja nicht, was du willst. Der trägt mich jedem an. Er haßt mich. Sein böses Gewissen bin ich. Schon als Kind hab' ich das gespürt. Die Tote hört er aus mir. In jeden Schlamm möcht' er mich treiben, daß er sich vor mir nicht mehr zu schämen braucht –«

Wie ein Strom von Verzweiflung, Bitterkeit, Verachtung brach es aus der Fassungslosen. Dann weinte sie auf und schlug die Hände vors Gesicht.

Hannes wagte nicht, ihr zuzusprechen. Ach, dachte er, wenn du wüßtest, wie schamlos er war, als ich um dich anhielt!

Als ob sie seine Gedanken spüre, sagte sie, die Hände sinken lassend: »Wenn er mich dir versprach, so ist irgend 287 etwas Übles dabei. Ich kenne meinen Vater. Aber ich laß mich von ihm nicht verkuppeln und nicht verkaufen. Nimm mich als Magd! Ich will dir einen Knecht ersparen. Ich habe viel Kraft. Nur daß ich nicht fort muß vom Marienhof.« –

Hannes hörte aus ihrem erregten Sprechen die tiefe Angst vor ihrem kommenden Leben und sah doch keinen Weg, ihr zu helfen.

Vom Hof herauf kam in diesem Augenblick der Ruf des Pächters nach der Tochter. Man hörte deutlich, daß der Mann zornig war.

Ria hob den Kopf. »Ich muß hinüber«, sagte sie ganz veränderten, ruhigen Tons, »ich habe drüben alles liegenlassen.«

Sie eilte die Treppe hinab ohne zurückzusehen. Behutsam und beherrscht, als sei nicht eben ein böser Sturm über sie weggebraust und ein anderer wohl schon beim Vater für sie in Vorbereitung, öffnete und schloß sie ganz leise die schwere Haustür.

Kein Lärm sollte den Schlummer der Kranken stören. –

Hannes, der, über das Geländer gebeugt, ihr nachgesehen hatte, richtete sich auf. Dieses Türöffnen und ‑schließen bewegte ihn seltsam. Es schien ihm zu sagen: Zucht haben und seine Pflicht tun, entwirrt schließlich die schlimmsten Dinge.

Er horchte noch eine Weile; aber er hörte nichts als das Anbranden des Windes.

Der Föhn war auf dem Weg. 288

 


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