Auguste Supper
Die Mädchen vom Marienhof
Auguste Supper

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Zweites Kapitel

Baumeister Baldenius, lebhaften Geistes, weltgewandt, heiter und vor allem außergewöhnlich tüchtig, war ein Künstler, dem der Geschäftsmann, ein Geschäftsmann, dem der Künstler in glücklicher Weise die Waage hielt.

Auch in seinem Äußeren war diese Zusammensetzung.

Der dunkellockige, schmale Kopf mit dem südlichen Gepräge und den feurigen Augen hätte einem Maler gehören können, während die stark mittelgroße, stämmige Gestalt mit ihren sicheren, abgemessenen Bewegungen einem Kaufherrn oder auch einem Offizier wohl angestanden wäre.

Mit starker und leichtbeschwingter Phantasie begabt, geriet der Mann gelegentlich in Dinge hinein, bei denen 27 ein weniger Tüchtiger vielleicht den Boden unter den Füßen verloren hätte.

Er meisterte immer wieder die Lage, und diese Kraft mehrte seinen Ruf, wie sein Ruf ihm die Kraft mehrte.

So schien sein Leben reich und erfüllt. Aber irgendeine brüchige Stelle hat jedes Erdendasein.

Nach einem vorübergehenden ehrenvollen Lehrauftrag erhielt Baldenius den Titel Professor, nachdem er den eines Baurats deshalb ausgeschlagen hatte, weil ihm das kräftigere und ursprünglichere »Baumeister« weit besser gefiel.

Auch der Professor war ihm nur Mittel zu einem ganz bestimmten Zweck. Er führte ihn, solang er sich um die Tochter eines hohen, geadelten Beamten bewarb.

Die Mutterlose war nicht mehr in der allerersten Jugend, sehr gefeiert, sehr schön, sehr elegant, sehr kühl.

Vielleicht war es diese Kühle, die den Warmblütigen zur Werbung wie zu einem Experiment reizte.

Der Schwiegervater stand dem neuen Familienmitglied erst zurückhaltend, dann wohlwollend gegenüber.

Die an einen hohen adeligen Offizier verheiratete einzige Schwester der Braut ließ den neuen Schwager nicht nahekommen, der sich als Sohn eines Tiroler Erdarbeiters kühn an die Tochter einer Exzellenz gewagt hatte.

Auch das Verhältnis der Schwestern unter sich war nichts weniger als herzlich, obgleich oder weil die beiden sich sehr ähnlich waren.

Ein Jahr nach der Hochzeit wurde im Haus Baldenius ein Knabe geboren. 28

Dieser erste Enkel war die letzte Freude für die alte Exzellenz. Bald darauf trat der Tod, der sich nach seiner urdemokratischen Art auch vor den Ausgezeichneten nicht scheut, unerwartet an ihn heran.

Der Mutter war das Kind nicht übermäßig willkommen. Zwar hätte sie nicht kinderlos bleiben mögen, schon deshalb nicht, weil sie die kinderlose Schwester übertrumpfen wollte – aber daß der Knabe so früh schon kam, fand sie unnötig, wenn nicht plebejisch. Sie hatte sich, wie sie sich unumwunden ausdrückte, die ersten Ehejahre »freier und großzügiger« vorgestellt.

Schon das körperliche Übelbefinden, das Gehemmt- und Entstelltsein war ihr äußerst widerwärtig.

Sowohl der Exzellenz als dem Stiefgroßvater nach wurde das Kind Johannes getauft.

Der Vater nannte es kurzweg »Hannes«, was die Mutter lächerlich und abscheulich fand.

Der Knabe hätte eine frostige Luft um sich gehabt, wenn der Vater nicht die nötige Wärme hineingetragen hätte.

Merkwürdigerweise trat an dem Kleinen eine starke Ähnlichkeit mit Johannes Baldenius zutage, mit dem er blutsmäßig gar nichts zu tun hatte.

Böse Mäuler hätten das Gerücht aufwärmen können, wonach der Herr des Marienhofs schon Rechte an die Tagelöhnersfrau gehabt habe, ehe sie Witwe wurde.

Aber böse Mäuler hätten mit dieser Mutmaßung nur bewiesen, daß sie nichts wissen von dem wahren Umfang der schöpferischen Kraft der Liebe, die, um Stempel aufzudrücken, nicht an den Blutweg allein gebunden ist, 29 sondern viel freier und weitergreifend schalten kann und tatsächlich schaltet.

Professor Baldenius hatte viel Freude an dieser aufblühenden Ähnlichkeit.

Das Bild seines schweigsamen, gütigen, hochgebildeten Stiefvaters war, trotz mancher Wunderlichkeiten des menschenscheuen Mannes, etwas vom Beglückendsten, was aus früher Kindheit und Jugend herüberleuchtete.

Schön konnte man trotz und wegen dieser Ähnlichkeit den kleinen Johannes nicht nennen.

Die einfachen Linien des offenen Gesichts, die eindringend und ruhig blickenden grauen Augen, die fast schon zu ausgebildete Stirn und Nase – alles sah aus, als müsse der Knabe erst hineinwachsen. Und doch hätte man nicht sagen mögen, das Gesicht wirke unkindlich; denn immer wieder lag ein weicher Schimmer darüber, etwas Liebeheischendes, das das tiefste Wesen des Kindlichen ausmacht.

Vielleicht wenn das Äußere des Knaben ihrer Eitelkeit mehr geschmeichelt hätte, wäre es der Mutter leichter gefallen, zärtlich zu sein. So ließ sie sich daran genügen, immer mehr korrekt zu werden.

Sie erzog den Knaben mit viel Folgerichtigkeit, ohne aber ihn zu sich herzulieben.

Überall befragte sie sich bei Kundigen nach guten Methoden; nur ihr Herz fragte sie selten und dann immer mit Mißtrauen, als sei Liebe in der Kindererziehung etwas Verdächtiges.

Zum Glück war der Knabe nicht derart, daß er für Dressur zugänglich, für Erziehungsexperimente offen 30 gewesen wäre. Es hätte ihm sonst manche Gefahr gedroht, von der die Mutter in der Blindheit ihrer Kühle nichts ahnte.

Nach stark sechs Jahren, als Johannes eben zur Schule mußte, wurde ihm eine Schwester geboren.

Er hatte den neuen Schulranzen auf, als man sie ihm zum erstenmal zeigte.

Mit viel ernster Aufmerksamkeit betrachtete er das kleine rote faltige Gesichtlein in den weißen Kissen. Es sah fast aus, als schätze er innerlich ab, was dieses merkwürdige Wesen für eine Rolle in seinem Leben spielen könne und werde.

Dann sagte er eindringlich, aber so leise, daß es die Mutter im Bett drüben nicht hören konnte, zum Vater: »Hüte sie gut, solang ich in der Schule bin!«

Der Professor wollte lachen. Aber etwas in des Knaben Gesicht ließ es ihm nicht zu. Er nickte nur und erwiderte den ernsten Blick seines Sohnes mit einem stummen Versprechen.

Marie wurde das kleine Mädchen getauft.

Frau Baldenius nannte es »Mi«, was ihr Mann so lächerlich fand, wie sie das von ihm beliebte »Hannes«.

In der Folgezeit stellte sich mehr und mehr heraus, daß von den Eheleuten jedes etwas anderes meinte, wenn es von »lächerlich« sprach.

Eine Wegscheide scheint in dem kleinen Wort zu liegen; die Pfade können hier weit auseinander gehen.

Als nach einer kurzen Krankheit Frau Baldenius plötzlich starb, war der Baumeister betäubt. 31

Als er aus der Betäubung erwachte, wußte er, daß er mit der Toten schon längst nicht mehr, ja, vielleicht nie den gleichen Weg gewandert war.

Durch ihr Sterben war ihm höchstens ein Ornament an seinem Lebensbau zerschlagen, aber keine Grundmauer erschüttert worden.

Auch die beiden Kinder litten nicht allzu schwer durch den Todesfall.

Wohl war das dunkelgelockte, bildschöne kleine Mädchen der Mutter Stolz gewesen; aber Zärtlichkeit, die aus diesem Boden wächst, schafft keine unzerreißbare Bande, und Zweijährige vergessen schnell und gründlich.

Für Hannes aber war mit der Mutter etwas Beschattendes aus seinem achtjährigen Leben entschwunden, etwas, das er bei all seinen Plänen, Wünschen, Träumen als die Schranke empfunden hatte, vor der haltgemacht werden mußte.

Eine tüchtige Hausdame übernahm den verwaisten Posten.

Vielleicht spürte der Professor jetzt erst so recht, wie wenig Wärme im Haus gewesen war; denn kein Entbehren griff Platz in ihm. Daß er sich in großzügigere Unternehmungen denn je einließ, das tat er nicht, um etwa eine Leere, einen Schmerz in sich zuzudecken, sondern eher das Befremden, den Schrecken, daß nicht größere Leere und größerer Schmerz in ihm vorhanden waren.

Ein paarmal trafen seine dunklen, noch immer feurigen Augen wieder in Frauenaugen. Aber wenn er 32 dann in die grauen, prüfenden seines kleinen Sohnes blickte, erloschen die glimmenden Funken.

Mit einer für einen Mann seines Temperamentes sicher nicht geringen Selbstverleugnung erstickte er aufglühende Wünsche in sich im Gedanken an die Kinder, besonders an Hannes, dem er eine innerliche Befreiung anspürte, die dem Verhältnis zwischen ihm und dem Knaben beglückend zugut kam, und die er deshalb nicht wieder in Frage stellen wollte.

Zudem trug seine nie rastende Unternehmungslust, seine großzügige Arbeit den Mann über Versuchungen und Lockungen, die sich häufig genug an seinen Weg stellten, hinüber.

Johannes wuchs gesund und kräftig heran. Aber er hatte etwas Zurückhaltendes, um nicht zu sagen Störrisches an sich, das eigentlich nur im Umgang mit der kleinen Schwester völlig dahinschmolz.

Einsilbig, auf sich selbst gestellt, zäh und treu bewältigte er die Aufgaben der Schule. Er suchte nicht leicht Hilfe, auch wenn er sie gebraucht hätte; er war immer ehrlich und immer herb.

Nichts ging ihm spielend; aber er wich auch vor nichts zurück. Im Gegensatz zum Vater, der gern Hindernisse und Schwierigkeiten im Sturm nahm, ging er ihnen ruhig und überlegend zu Leib und ließ nicht nach, bis sie sich überwunden geben mußten.

Ganz allmählich kam es, wie es kommen mußte: Der heranwachsende Sohn wurde noch als halber Knabe in vielen Stücken der gelegentliche Mentor des Vaters, ein Dämpfer auf dessen rasches Überschäumen, ein 33 nüchterner und ruhiger Mahner gegenüber dem impulsiven Draufgängertum des Baumeisters. So ungebräuchlich das sein mag, es wurde doch ein schönes und gesundes Verhältnis zwischen Vater und Sohne daraus, und nur dem oberflächlichen Blick konnte es befremdend oder gar anstößig sein.

Die Tochter Marie war ein Vaterkind.

Sie hatte sein Südländergesicht mit den sprechenden leuchtenden Augen, und sie hatte sein dunkles, lockiges, reiches Haar und erst recht sein Temperament, das bei ihr oft zu fast erschreckender Leidenschaftlichkeit aufflammte.

Es war nicht zu verwundern, daß sich viel Zärtlichkeit auf das schöne Kind häufte, dem diese Zärtlichkeit Lebenselement zu sein schien, das es forderte und in guten Stunden auch verschwenderisch spendete.

»Verzogen« nannten manche das kleine Mädchen, und die auf Kinderseelenkunde nicht gerade eingestellte Hausdame hatte ihre Kämpfe mit Marie, in denen sie dann regelmäßig nicht etwa den Vater, sondern Hannes zu Hilfe rief.

Vor seinem Zuspruch, vor seinem Tadel, vor seinem Spott floh das Unbotmäßige in der kleinen Schwester.

Hannes war es auch, der entdeckte, mit was Marie ohne weiteres zu bändigen war.

Er führte sie vor den Flügel, dessen Tasten die kleinen Hände noch kaum greifen und spannen konnten, und die doch schon wie Magie auf das Kind wirkten.

Wie unter geheimnisvollem Bann verharrte sie vor dem Instrument, entlockte ihm einmal oben, einmal 34 unten einen Ton und blickte dabei großäugig und tief hingegeben auf den ernsten Bruder, der angestrengt zu lauschen schien.

Vielleicht lauschte er schon in ferne Zeiten hinein.

Es blieb nicht beim spielerischen Tun. Sobald Mariens Hände es zuließen, begann der Unterricht, den Hannes dem Vater abrang. Die besten Lehrer wurden für die Kleine gewählt, und diese besten Lehrer kamen sich bald nicht mehr zu gut vor für das Kind. In der Musik war Marie gebändigt und erfüllt, wie der Vater in seinem Beruf.

Hannes, der manchmal in der Einsamkeit, oder wenn ihn innerlich etwas stark berührte, leise und falsch pfiff und sang, Hannes, dem schon die Mutter jedes Verhältnis zur Musik kurzweg abgesprochen hatte, er saß, wenn die Schwester spielte, über seinen Büchern und genoß jenes tiefe Glück vieler als unmusikalisch Gebrandmarkten: das Glück, die Töne als Gucklöcher in eine Welt voll Herrlichkeit zu empfinden, so daß man darüber vergessen und verschmerzen kann, daß man den Schlüssel zur Tür dieser Welt nicht in den eigenen Händen hält.

Rasche Fortschritte machte die Schwester. Ist doch ein starkes und reiches Lebensgefühl, ein Temperament, wie es Marie besaß, der beste Untergrund für die geheimnisvollste der Künste.

Dem leicht entflammten Vater war es ein lockender Gedanke, die reichbegabte Tochter zur Künstlerin, zur Pianistin von Beruf emporsteigen zu sehen.

Als er einmal seine Pläne entwickelte, schaute Marie 35 mit heißflackernden Augen erst auf den Sprecher, dann auf den Bruder.

Hannes zögerte einen Augenblick. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Schön wäre das; aber für dich ist's nichts, Marie.«

Da sank die Flamme in den dunklen Mädchenaugen sofort zusammen.

Von da an lehnte es Marie auf das bestimmteste ab, einen Beruf aus ihrer Kunst zu machen.

Der Lehrer meinte, als einst die Rede darauf kam: »Nun, das hat noch Zeit.«

Aber die junge Schülerin lächelte: »Hannes will das nicht«, sagte sie kurz.

Der Vater grollte dem Sohn. »Du verdrehst der Marie den Kopf.«

»Ich –?« fragte Hannes gedehnt und verwundert.

Der Baumeister ging aus dem Zimmer.

 

Wie in geheimem Einverständnis hatten Vater und Sohn die Frage der Berufswahl immer hinausgeschoben, wenn sie sich herandrängen wollte.

Jetzt rückte sie dem Oberprimaner hart auf den Leib und fand ihn unentschlossen.

Hannes, der ein bekanntes, zu einem alten Internat gehöriges Gymnasium besuchte, hatte unter seinen vielen Klassenkameraden, mit denen er gut stand, nur einen einzigen Freund, der diesen Namen wirklich verdiente.

Er hieß Gottfried Roser, war im Internat und wußte, genau wie Hannes, bis zur Stunde nicht, was er eigentlich werden wollte. 36

Hellauf lachte der Baumeister, als ihm Hannes stockend erzählte, er und Gottfried hätten beschlossen, das Los zwischen sich sprechen zu lassen, wer Architekt und wer Mediziner werden solle. Zu diesen Berufen hätten sie beide am ehesten Lust; aber das gleiche zu werden, könnten sie sich nicht entschließen, weil das sicherlich nur eine Verarmung für ihre Freundschaft und für ihr Leben bedeuten würde.

Der hochaufgeschossene Sohn sah bei dieser langen Erklärung dem lachenden Vater ernst ins Gesicht und ließ sich von dessen Heiterkeit weder 'rausbringen noch anstecken.

Auf einmal fühlte sich, wie ihm das öfter geschah, der Baumeister gemaßregelt.

Sein Lachen verschwand. Halb ärgerlich, halb unbehaglich fragte er: »Da ist's wohl mit den Neigungen nicht weit her, wenn ihr das Los braucht –?«

Hannes hob den Kopf. Kindlichkeit und Männlichkeit stritten sich auf seinem Gesicht, im Blick seiner klaren, grauen Augen, als er zur Antwort gab: »Gottfried und ich, wir möchten eigentlich gar nichts werden als ganze Menschen.«

Betroffen schaute der Baumeister. Dann fand er sein Lachen wieder. »Schöne Begriffe habt ihr«, rief er halb verlegen und ging aus der Tür.

 

Gottfried Roser war der Sohn eines Dorfschultheißen, und zwar amtete sein Vater in Kolbenhart, jenem Dorf, zu dem der Marienhof gehörte. 37

Baumeister Baldenius kannte diesen Schultheißen von seiner Erbschaftsangelegenheit her, die ihn schon vor langen Jahren in geschäftliche Beziehungen zu dem Manne gebracht hatte.

Doch wußte er nicht mehr von ihm, als daß er außergewöhnlich tüchtig und über die dörfliche Sphäre hinaus gebildet war, aber auch von manchen Seiten gefürchtet und gehaßt wegen seiner Selbstherrlichkeit und eines oft fast gewalttätigen Starrsinns, wenn es sich um seine Pläne handelte.

Der körperlich unscheinbare Mann hatte auf Baldenius einen starken Eindruck gemacht, ohne daß er deutlich hätte sagen können, weshalb.

Es war Professor Baldenius eine Freude, als ein Brief von dem Schultheißen kam, in dem dieser um Rat fragte, wohin er wohl seinen kleinen Sohn Gottfried, sein einziges Kind, in die Schule geben solle? Die Lehranstalten der näher gelegenen Städte hätten nicht sein volles Vertrauen.

Daraufhin schlug Baldenius das Internat vor, dessen Gymnasium Hannes besuchte.

Vielleicht hätte der Schultheiß seinen Einzigen doch nicht so weit fortgegeben, wenn die Sache mit seiner zweiten Ehe nicht gewesen wäre.

Des kleinen Gottfrieds Mutter starb, als dieser noch keine vier Jahre zählte.

Der Schultheiß nahm eine verwitwete Verwandte ins Haus, und alles schien wieder in Ordnung. War doch der Mann, sowenig wie Baldenius, durch den Tod der Lebensgefährtin ganz ins Innerste getroffen. 38

Er hatte sie geschätzt, hatte die Mutter seines Sohnes in ihr geehrt; aber ein Stück von ihm selbst war sie nicht gewesen.

Ein paar Jahre gingen dahin, Jahre, in denen der Schultheiß mehr als je den selbstherrlichen und überlegenen Herrscher des Dorfes, ja der ganzen Höhe spielte, nicht zum Schaden der kleinen Gemeinwesen, in die neues Leben kam.

Man hätte glauben können, in dem unscheinbaren Mann brenne kein anderes Feuer mehr, besonders nicht das, das hinüberleckt nach dem weiblichen Geschlecht.

Da brachte Schultheiß Roser von einer Urlaubsreise eine städtische Frau mit heim.

Niemand wußte, wann, wie und wo er sie kennengelernt hatte; niemand hätte gewagt, ihn danach zu fragen.

Etwas in dem unerbittlich scharfblickenden Mann nannte diese zweite Ehe schon erschreckend bald einen törichten Streich. Er begriff, daß, was er für Liebe gehalten, oder vor sich selbst als Liebe ausgegeben hatte, nur ganz einfach das Verlangen nach dem blühenden Weib gewesen war, das er als eine Witwe in bedrängten Verhältnissen kennengelernt und durch seine mehr feurige als wohlüberlegte Werbung rasch gewonnen hatte.

Liebe! Der Schultheiß Roser wußte, daß er Liebe nur vor langer Zeit gekannt hatte. Schon vor den Jahren, da Gottfrieds Mutter sein Leben teilte.

Was nachher kam, war bei der ersten Ehe Überlegung, bei der zweiten Unüberlegtheit gewesen aus einem Johannistrieb heraus. 39

Die schöne Witwe aus der Stadt brachte ein zweijähriges Töchterchen mit.

In der ersten Glut war dieses Kind dem Stiefvater nur ein unwichtiges, fast lästiges Anhängsel.

Aber als das späte Feuer dann bald schon niedriger brannte, als der Schultheiß einsah, daß er sich mit der anspruchsvollen und eitlen Frau, die die Stadt nicht vergessen konnte und wollte, nur Unruhe und Unfrieden ins Haus genommen hatte, da suchte er etwas, was ihn für die Enttäuschung entschädigen sollte.

So fand er sein Stieftöchterchen Melanie, das, seinem Namen zum Trotz, goldblonde Locken und einen strahlend heiteren Sinn hatte.

Das lachende Kind wurde nur zu rasch der Verzug des Schultheißen.

Seine Strenge, seine Erfahrung, sein Scharfblick, seine Klugheit – alles, was ihn sonst in Amt und Leben auszeichnete, machte vor dem kleinen Mädchen halt, und nur eine große blinde Schwäche blieb, die niemand so deutlich fühlte und so unbekümmert ausnützte wie »die Melle«, wie Melanie genannt wurde. Die Melle war sich ihres Liebreizes und der Macht, die davon ausging, schon sehr bald bewußt. Ein Wunder war es, daß sie diesen Liebreiz dadurch nicht zerstörte.

Trotz ihrer unbekümmerten, selbstsüchtigen, zerfahrenen Art verbreitete das hübsche Kind Wärme um sich her, der sich selten jemand entzog, und auf ihren fliegenden goldenen Haaren schien immer Sonnenschein zu liegen.

Diese zweite Ehe mit ihrem Drum und Dran ließ den 40 Schultheißen den Entschluß fassen, seinen Sohn Gottfried weit fortzugeben. Der heranwachsende Knabe, so selten er von nun an ins Vaterhaus kam, fühlte, daß da etwas nicht stimmte.

Der Vater war seither sein heimliches Idol, seine ganz große Liebe gewesen, und nun war da etwas nicht mehr wie früher. Eine unbegriffene, aber um so quälendere Bitterkeit, wie sie sich leicht in Kinderherzen, besonders in Knabenherzen, festsetzt, machte den ohnedies stillen Gottfried, der sich in der Fremde lange Zeit wie ein aus dem Vaterhaus Verstoßener vorkam, verschlossen und hart.

Aber vor der kleinen Stiefschwester schmolz auch bei Gottfried die Rinde.

Ihr war er in den Ferien ein ergebener und treuer Kamerad, der sich ihren Launen und Einfällen fügte und ihre Wünsche bis an die Grenze des möglichen erfüllte.

Wenn aber der Vater das Kind hätschelte und verwöhnte, wandte sich Gottfried ab, und ein Unausgesprochenes, Ungreifbares geisterte zwischen den beiden.

In der Schule war der Schultheißensohn bald unter den Ersten. Er lernte müheloser als Hannes, mit dem er, auf die Einladung des Baumeisters hin, regelmäßig zusammenkam.

Eine Freundschaft wurde daraus, die tiefer gegründet war, als gemeinhin Schulfreundschaften sind.

Die zwei ergänzten sich und waren sich dabei ähnlich genug, um einander verstehen zu können.

Gottfried hatte vor Hannes eine leichtere, vielleicht auf größeres körperliches Kraftgefühl gestützte Lebensauffassung voraus, während Hannes in allerlei Lagen, 41 wie sie sich beim Zusammensein vieler junger Menschen ergeben, die ruhigere Sicherheit besaß. Es steckte offenbar viel von seinem Vater in dem Schultheißensohn. Vielleicht stammte auch sein manchmal hervorbrechender trockener und überlegener Humor, sein treffsicheres und sarkastisches Urteil von dorther.

Dafür beobachtete Hannes stiller, unauffälliger, duldsamer, und zog so vielleicht für sich mehr Nutzen aus diesen Beobachtungen.

Die beiden wuchsen im Lauf der Schuljahre zusammen wie nur je ein Freundespaar.

Nicht zum wenigsten beruhte die schöne Innigkeit ihres Verhältnisses darauf, daß sie den keuschen und für jeden menschlichen Bund unbezahlbar wertvollen Instinkt hatten, allerletzte Hüllen gelten zu lassen und sie nicht für ein Trennendes zu halten.

Die Berufswahl der Freunde wurde zuletzt dahin entschieden, daß Hannes Architekt, Gottfried Mediziner werden sollte.

Als es soweit war, kam der Krieg.

 

Wenn das Wort Krieg aufklingt, zittert die Luft.

Wird sich der Hall von dieser einen Silbe wohl ewig im All erhalten?

Wird das Strömen der Blut- und Tränenfluten, das Röcheln der Sterbenden, das Stöhnen, Beten und Fluchen der Zerfetzten nie verstummen? –

Ihr, die ihr es über anderen Lauten und Geräuschen längst vergessen, und ihr anderen, die ihr es nie gehört habt – lauscht doch einmal in eine tiefe Nacht hinaus, 42 ob nicht etwas zu euch herbrandet wie das Brausen eines fernen Meeres! –

Könnt ihr nichts, nichts mehr vernehmen? –

Ach, dann liegt der Fehler an euren Ohren. Dann seid ihr taub zur Welt gekommen, oder taub geworden vom Lärm eures Lebens. Geht in die Stille, damit euer Gehör wieder komme! Denn wenn ihr nichts vernehmt von dem Furchtbaren, dann könnt ihr auch den heiligen Stolz nicht verstehen, den Stolz auf Ungeheuerliches, das da draußen geleistet wurde, auf Taten, die über Menschenmaß hinauswuchsen.

Und wie wollt ihr denn in jämmerlichen Zeiten dem Leben standhalten ohne diesen Stolz? –

Aber nun weiter, ihr Worte! Gerade ihr könnt hier nicht stehenbleiben, denn für Worte ist der Platz gefährlich und schlecht, als sei eine feindliche Artillerie auf ihn eingeschossen.

Die beiden Freunde zogen als Freiwillige hinaus. Sie jubelten nicht dabei; es lag das nicht in ihrer Art. Aber sie tadelten auch die nicht, die jubelten. Sie dachten wohl, da müsse man jeden tun lassen, wie ihm ums Herz sei. Ihnen war ernst, wenn nicht schwer ums Herz; aber was für Gedanken ihnen auch kamen – der, daß sie zurückbleiben könnten oder wollten, war nicht darunter.

Dem Vater Baldenius bleichte um jene Zeit das dunkelgelockte Haar. Aber er warf seine ganze Arbeitskraft der nagenden Sorge entgegen.

In der Etappe baute er Schuppen, Lagerhäuser, Ställe, Bahnhöfe in bunter Reihe, wie es kam. Es gab nichts, das er nicht gekonnt oder nicht gewollt hätte, 43 nichts, für das er sich zu gut gewesen wäre. Daneben hatte er immer das heimliche Horchen in sich, das Horchen auf die Nummer jenes Regiments, bei dem sein Sohn war.

Man kann es heute kaum mehr glauben, daß lange Jahre so dahingingen, ohne daß die kleinen Hammerwerke in der Brust der Menschen ihren Dienst versagten. Aber es ist eine unendliche Kraft in sie gelegt, und jedes Leid, jede Not, die sie schwächen will, hat den heimlichen Auftrag, sie zu stählen.

Zweimal war Hannes, dreimal Gottfried verwundet.

Man pflegte sie in der Heimat gesund zu erneutem Hinausgehen. Nie taten sie, als könnten sie dieses Hinausgehen nicht erwarten; aber noch weniger verzögerten sie es. Ein stilles, nie betontes Wissen war in ihnen, daß nun die furchtbare Zeit der Opfer sei, vor der sich zu verkriechen oder der auszuweichen jedes ehrlichen Mannes unwürdig wäre, weil das hieße, die eigene Last auf eines Nebenmenschen Nacken legen, so daß der doppelt zu tragen hätte.

Marie Baldenius, die Aufblühende, haderte in dieser Zeit mit dem Schicksal, weil sie zu jung war, die Schwesternhaube zu tragen. Sie verstand das leise, herbe Lächeln um des Bruders Mund, den verdunkelten Blick seiner Augen nicht, als sie mit ihm davon redete.

Endlich, endlich kam das, was man, das hehre Wort unflätig schändend, »Friede« nannte.

Vater Baldenius und die beiden Freunde kehrten heim. – Deutschland, es ist nicht an dir, allein die Schmach dafür zu tragen, daß es solch ein Heimkommen war. Ihr, 44 die ihr damals gesenkten Hauptes und stumm zurückkamt, es ist nicht eure Schuld und Schande, daß es nach all dem Gewesenen ein solches Heimkehren war. Euren müdgekämpften, aber bis zur letzten Stunde tapferen Händen sind die Waffen nicht auf redliche Weise entwunden worden, und manche Siegerehre ist schmutziger als die leidvolle Schmach eures Unterliegens.

An den Leibern der beiden Freunde brannten die Narben wie nie. Wofür nun alles, wozu, warum? schrie es in ihren jungen, so rasch männlich gewordenen Herzen.

In wieviel furchtbar gemarterten, vor Leid dumpf gewordenen Seelen zernagte dieses »Wofür« den letzten Rest der Lebenskraft! Als ob solches Fragen in der schweren Atmosphäre der Erde je eine endgültige Antwort finden könnte! –

Hannes Baldenius hörte früher auf zu fragen als Gottfried.

Die Ruhigen und Bedächtigen erringen ja oft vor den Kräftigeren den Siegerkranz.

Hannes mühte sich redlich, den niedergeschmetterten Freund zu neuer mutiger Lebenswanderschaft emporzureißen.

Warum gelang es ihm nicht? Spürte Gottfried vielleicht schon die neuen Schatten, die herankrochen?

Es war ein furchtbar dunkler Tag, als zu den Freunden die Nachricht drang, Schultheiß Roser von Kolbenhart sei wegen Unterschlagung im Amt in Untersuchungshaft.

Der todbleiche Leutnant Gottfried, der, wie Hannes, Achselstücke und Kokarde durch einen Strudel von 45 aufbrandender schmachvoller Narrheit unversehrt in die Heimat hindurchgerettet hatte, er schnitt beides ab, als er die Kunde vernahm.

Hannes, ebenfalls bleich und wie erstarrt, stand daneben und fragte: »Ja, glaubst du es denn?«

Da geschah das Furchtbare, daß Gottfried laut aufweinte wie ein Knabe und seinen Kopf an des Freundes Schulter barg.

Am andern Morgen lag der, der draußen allen unerhörten Schrecken mit eiserner Ruhe standgehalten hatte, erschossen in seinem zerwühlten Bett.

Nicht einmal die Gerichtsverhandlung hatte er abgewartet. Versagende Nerven oder versagender Glaube an den Vater? –

»Verzeih!«, sonst kein Wort, stand auf einem an den Freund gerichteten Zettel. –

Wie schwer dieses Verzeihen war, ist kaum zu sagen.

Wie ein Betäubter, ein vom Blitzschlag Gestreifter, war Hannes wochenlang.

Wo gab es noch etwas Verläßliches auf Erden, wenn Freundschaft, diese Freundschaft, über Nacht zerspringen konnte? –

Der Kriegskamerad! Aber Tausende hatte man gehabt, aber nur der Eine war es wirklich gewesen.

Einen nur hatte man in Wahrheit gebraucht, gebraucht so notwendig wie die Luft zum Atmen.

Wer den Einen nicht hatte, dem halfen aber Tausende nichts. Das Unerträgliche erträglich machen, das Ungeheuerliche bändigen, das Übermenschliche wieder in Menschenmaß zwingen – das alles konnten die Vielen 46 nicht, das konnte nur der Eine. Unüberlebbar wäre der Krieg gewesen ohne den Einen.

Ein Gefühl hoffnungsloser Unsicherheit, wie er es vorher nie gekannt, zog Hannes fast den Boden unter den Füßen weg.

Er fing zu studieren an; er stürzte sich wie ein Verzweifelnder in die Arbeit.

Aber die hoffnungslose Öde wollte nicht weichen, sie gähnte ihm jeden Morgen neu entgegen.

Das quälendste aber war, daß er – wie hellsehend geworden durch die Erschütterung seines ganzen Wesens – das dunkle Gefühl nicht losbrachte, der Becher sei noch nicht bis zur Neige geleert. Seine aufgestörten inneren Sinne spürten schon die ersten Wellen nahender neuer Schrecken.

Es kam jene scheußliche Zeit, da Mammon in schrecklicher Schamlosigkeit öffentlich den Thron bestieg und die Alleinherrschaft antrat.

Jetzt wurde der Kurszettel zum Gebetbuch, die Bank zum Tempel, der Schalterraum zum Allerheiligsten.

Hier erwartete eine bleiche, bis ins Innerste erregte Menge von der furchtbaren Gottheit ihr Urteil, ihr Heil oder ihre Verdammnis. Nicht mehr vom Vater im Himmel, sondern vom Tip eines Kundigen erflehte man das tägliche Brot, und Börsentelegramme waren die Gottesoffenbarungen.

Jedem vergessenen oder einst schamhaft verleugneten Vetter im Dollarlande kroch man winselnd vor die Füße, und den ganzen Schatz der Muttersprache gab man dahin um das einzige fremde Wort: Devisen. 47

Um jene Zeit war's, daß Baumeister Baldenius seine Miethäuser, sein eigenes Wohnhaus und andere Liegenschaften gut, sogar sehr gut, sogar glänzend verkaufte.

War es ein unseliger Geist, der dem Manne diesen Entschluß eingab, so doch gewiß nicht der Geizteufel oder die Geldgier. Ganz große und kühne Unternehmungen, so wie er sie liebte, waren vor ihm aufgetaucht, und die ungeheuerlichen Summen sollten ihm die Ausführung ermöglichen. Durch atemraubende Arbeit hoffte der Baumeister am besten der zermürbenden Schwere der Zeit begegnen zu können.

So ließ die tiefe Blindheit, die damals wie ein dichter Schleier über der Welt lag, auch diesen sonst so lebenserfahrenen Mann zum Toren werden.

Zum Toren und bald – ach, wie bald schon! – nahezu zum Bettler.

Als er das begriff – es war ein wenig später, als es der in unbarmherziger, schmerzhafter Nüchternheit dahinlebende Hannes begriffen hatte –, traf ihn ein Schlaganfall, der zu leicht war, ihn wegzuraffen, aber immerhin mitleidig genug, ihn der geistigen Klarheit und der körperlichen Beweglichkeit zu berauben. Auf diese rauhe Weise war der Ruhelose zur Ruhe gebracht.

In diesen schwarzen Tagen bekam Fräulein Vogel, des Baumeisters Hausdame, ein besonders lockendes Angebot von Verwandten jenseits des Ozeans.

Mitverstrickt in die Panik der Zeit, die Gott und den Teufel nicht mehr auseinander halten konnte, nahm sie dieses Angebot für eine Fügung des Himmels und kündigte. 48

Hannes und seine Schwester, zu müd, um sich aufzuregen, schauten sich schweigend an. Vielleicht ging ihnen das Wort durch den Kopf: »Der Mietling aber fleucht, denn er ist ein Mietling.«

Als Hannes die Fortgehende später die Treppe hinunterbegleitet und die Haustür hinter ihr geschlossen hatte, stöhnte er ein wenig und legte den Kopf einen Augenblick an die Wand.

Aber es war nicht Abschiedsschmerz, sondern Schrecken, daß er keine Spur von Schmerz empfand.

Wurde man auch inwendig arm, wenn man äußerlich verarmt war? Sind Gefühle der Luxus der Reichen? –

Mit schweren Füßen stieg er die Treppe wieder empor. Es war ihm elend zumut.

Auf einmal war eine Erinnerung da.

Ein bös zusammengeschossener Graben und schwarze, schwüle Sommernacht.

Nichts zu hören als ein einförmiges leises Sickern, zu schwach, um ein Geplätscher zu heißen.

Hannes, der neben dem Freund lag, konnte die grausige Vorstellung nicht losbringen, der Graben rinne langsam voll Menschenblut.

Alle Schauer der Hoffnungslosigkeit krochen gegen ihn her. Nicht nur der Krieg, das ganze Leben war nur noch eine böse Fratze.

In diese rätselhafte Verstörtheit hinein flüsterte der Freund: »Horch, Hannes!«

Als liege ihm eine Hand an der Kehle, raunte Hannes zurück: »Was hörst du?« 49

Da kam ein fast lautloses Kichern an sein Ohr. »Da rieselt Wasser, und es rieselt, das Leben sei eben doch kein Dreck.« –

In der Dunkelheit drückte eine Hand die Rechte des seltsam erschütterten Hannes, und das Grauen wich, das Gleichgewicht war wieder hergestellt.

Warum kam gerade jetzt diese Erinnerung? Hatte der tote Freund irgendwoher gegrüßt? Hatte er heimlich geflüstert: »Hannes, alles ist nur das, was du daraus machst –?«

Der Emporsteigende blieb auf der Treppe stehen. Ein Gedanke durchzuckte ihn. War man vielleicht doch nicht so ganz allein auf der Erde? Waren Hilfen da, unsichtbare Hilfen, die keine Mietlinge waren und die nicht flohen, wenn der Wolf kam und der Dollar lockte? –

Von dieser Stunde an war von Hannes der dumpfe Druck genommen. Er atmete wieder.

Die Geschwister standen jetzt vor dem Leben wie Vögel, denen der Sturm das Nest zerstört hat, ehe sie flügge waren.

Die Schwester ihrer Mutter hatte im Krieg den Mann und nachher ihr Geld verloren.

Jede Lebensäußerung, die von ihr aus der Ferne zu den Geschwistern drang, gipfelte in der Beteuerung, daß sie keinen Rat und keine Hilfe wisse, da sie selbst der Hilfe bedürftig sei.

Hannes bekam jetzt die ersten weißen Haare an den Schläfen. Er lächelte flüchtig, als er sie entdeckte. Wer im Krieg war, der weiß noch ganz andere Dinge, als daß es schon im Sommer schneien kann. 50

Marie rührte jetzt ihren Flügel nicht mehr an. Sie hatte vor den Klängen Angst, wie sie vor dem Leben, vor jedem neuen Tag Angst hatte.

In jener Umkehrung, die bei den Leidenschaftlichen so häufig ist, zog sie sich scheu zurück, und ihr starkes Lebensgefühl äußerte sich nur noch als ein heftiges Verlangen, fortzukommen aus allem Seitherigen, als ein Verachten der Menschen und Dinge ihres Kreises.

Bruder und Schwester empfanden ihre Lage als unerträglich. Irgendein Weg mußte durch das Gestrüpp gehauen werden. Und doch ging Tag um Tag einförmig dahin.

Am Bett des gelähmten Vaters war der einzige Platz, wo die Geschwister Entspannung fanden, weil hier ihre Herzen in stummer Liebe zur Ruhe kamen.

Und hier an diesem Bett, in der still gewordenen Atmosphäre, klang auch zum erstenmal das Wort auf, das den neuen Weg bringen sollte.

War es überhaupt ausgesprochen worden, dieses Wort, oder war es nur auf geheimnisvollen Wellen hergetragen, hergeschwebt gekommen, ausgesandt von jenen Hilfen, die heimlich walten?

Auf jeden Fall war es da und ließ sich nicht mehr scheuchen, und es lautete: Marienhof.

Ein frischer Lufthauch, wie von fernen Wiesen und Tannenwäldern, schien plötzlich durch das Krankenzimmer zu streichen.

Es tauchten Ausblicke und Möglichkeiten auf, wo seither starre Kerkerwände gewesen waren.

Man hatte ihn lange Jahre schon nahezu vergessen 51 gehabt, den Marienhof, und wenn einmal ein Erinnern ihn streifte, so schob man es rasch weg, weil Unannehmlichkeiten mit heraufstiegen.

Jetzt auf einmal stand der Name da, umhüllt von Lockung und Versprechen.

Es kam der Tag, da Hannes Baldenius nach dem Marienhof reiste.

Zum erstenmal seit jenem Besuch als kleiner Knabe, von dem ihm kaum eine Erinnerung geblieben war.

Mit Herzklopfen stieg er die neue Straße empor, die in Kehren vom Tal auf die Höhe führte.

Aber nicht vom Steigen klopfte sein Herz. Die Erwartung, die bange Frage, ob sich da oben eine Zukunft auftun könnte, ließ es so heftig schlagen. Und die Scheu vor dem Zusammenstoß mit dem Pächter.

Hannes kam nicht unvorbereitet. In der sorgsamen und vorsichtigen Art, die ihm eigen war, hatte er unter des Vaters Papieren alles durchgesehen und geprüft, was auf den Marienhof Bezug hatte.

Es waren meist unerfreuliche Auseinandersetzungen, kurze, anmaßende Briefe des Pächters und die Kopien der Antworten des Vaters, aus denen es durchschimmerte, daß dem Untüchtigen um seiner Familie willen immer wieder eine Geduld bewiesen wurde, die der Vater sonst in geschäftlichen Dingen nicht kannte, und die wohl am ehesten dadurch zu erklären war, daß die Einkünfte aus dem Hof für den Besitzer keine Rolle spielten.

Es war dem bergan Schreitenden ein unbehaglicher Gedanke, der faulen Sicherheit des Pächters nun ein Ende machen und dem Mann unter die Augen treten 52 zu müssen, der so manches Jahr von der Gewißheit gelebt hatte, daß niemand nach ihm sehe und sich um den Hof kümmere.

Nahezu ein Jahr noch lief die Pacht. Daran war natürlich nichts zu ändern.

Aber nach der Fassung des Pachtvertrages war es möglich, von dem Pächter zu verlangen, daß er das Hauptgebäude räume und in das Giebelhaus hinüberziehe.

Als Hannes, durch eine halb verwitterte Wegtafel aufmerksam gemacht, von der neuen nach jener uralten Straße abzweigte, die zum Marienhof hinüberführte, wurde sein Herzdruck stärker.

Der Wald veränderte hier seine Beschaffenheit, wurde licht und ungepflegt. Es ging an Äckern und Wiesen vorbei, denen auch der Unkundige ansah, daß keine guten Hände über ihnen waren.

Aber Hannes, der allezeit Abwägende, empfand die sichtbare Verkommenheit jetzt plötzlich nicht mehr allein als die Schuld des Pächters. Legte nicht jeder Besitz Pflichten und Verantwortung auf, und hatte der Vater, hatte er selbst als künftiger Hoferbe diese Verantwortung nicht seither von sich weggeschoben, die Pflichten versäumt, nur weil Unannehmlichkeiten damit verbunden waren? –

Der kümmerliche Wald und die schlechten Äcker waren plötzlich Ankläger, die eine quälende Sprache redeten.

Als Hannes vor dem Pächter stand, einem hochgewachsenen, stattlichen Mann, der sicher einmal eine gute Figur gemacht hatte, jetzt aber deutlich die Spuren eines 53 verluderten Lebens an sich trug, da rückte er nur zögernd und keineswegs in herrenhaftem oder richterlichem Ton heraus mit seinem Anliegen.

Aufreibend und bedrückend wurden dann die langen Verhandlungen. Daß der Pächter seine Zwillingssöhne im Krieg verloren hatte und daß ihm vor Jahresfrist die Frau gestorben war, ohne daß von alledem eine Kunde zu dem Pachtherrn drang, das beelendete und beengte Hannes wie schwerer Vorwurf, und es lähmte seine Tatkraft beim Auftreten gegen den Untüchtigen.

Aber schließlich brannte ihm die eigene Not auf die Nägel, und er setzte die Räumung des Hauptgebäudes durch und kündigte den Pachtvertrag.

Um das Giebelhaus ein wenig wohnlich zu machen, mußte er sich Hilfe in Kolbenhart holen, denn der Pächter weigerte sich, einen Finger dafür zu rühren, nachdem man ihn, wie er sagte, so hinauswerfe.

Bei dieser Gelegenheit erfuhr Hannes im Dorf, daß die gefallenen Zwillinge von jener Sorte gewesen waren, die im Frieden nichts getaugt und dann im Krieg durch abenteuerliches Draufgängertum und bedenkenlose Frechheit ein Heldentum vorgetäuscht hatten, dessen Zweifelhaftigkeit man in der furchtbaren Zeit schon deshalb nicht näher untersuchte, weil es Fälle gab, wo es gute Dienste leistete. Der Tod vor dem Feind sprach dann, wie so viele, auch diese beiden anrüchigen Gesellen ehrlich; dem Leben wäre das schwerlich geglückt.

Der Pächter wußte genau, daß seine Söhne, nach ihm geraten, mehr Sorgen- als Freudenbringer gewesen waren. Aber im »Löwen« zu Kolbenhart und wo es sonst 54 anging, spielte er doch mit Hingabe die Rolle des gebeugten Vaters, dem große Hoffnungen dahingewelkt waren und der dem Vaterland sein Teuerstes geopfert hat.

Von des Pächters Frau erfuhr Hannes nur, daß sie »eine Stille« gewesen sei.

Vielleicht sagte ihm eine Ahnung, daß diese Bezeichnung ein bitterböses Leben voll Enttäuschung und Herzeleid zudeckte.

Sein jüngstes Kind, eine Tochter, lebte dem Pächter noch. Sie hielt ihm haus, und mit ihr und gelegentlichen Hilfen bewirtschaftete er den Hof.

Als Hannes diese etwa Achtzehnjährige zum erstenmal zu Gesicht bekam, erschrak er fast vor der Feindseligkeit, die ihn aus den großen braunen Augen anschaute.

Braun war auch das glatt gescheitelte, in schönen Flechten um den feinen Kopf gelegte Haar und bräunlich das sonnverbrannte schmale Gesicht, das sicher schön gewesen wäre, wenn nicht eine große Herbheit und Verschlossenheit es wie ein Schatten verdunkelt hätte.

Die schlanke Gestalt war groß, ebenmäßig, nach Kraft und Willen aussehend, der Anlage nach ein Erbstück vom Vater; nur daß bei dem alles verdorben und entwürdigt war.

Hannes wollte bei jener ersten Begegnung, vom Ausdruck des jungen Gesichtes zurückgestoßen, an dem Mädchen vorübergehen.

Aber seltsamerweise kam ihm dann der Gedanke an die Schwester und ließ ihn die Finstere ansprechen. 55

Wie sie denn heiße? fragte er.

Sie blickte an ihm vorüber. In ihren sprechenden Augen lag die Zurückweisung: was geht das dich an!

Aber dann sagte sie doch: »Maria.«

Hannes lachte. »Dann sind künftig drei Marien auf dem Hof, die steinerne und zwei von Fleisch und Blut.«

Ein rascher Blick streifte den Mann.

Mit einer Bitterkeit, die Hannes damals noch nicht verstand, kam die Antwort: »Wenn's nur bei der einen steinernen bleibt.«

Er wußte nicht sogleich, was er aus dem Wort machen sollte, und das Mädchen sagte, schon im Weiterschreiten: »Mich heißt man die Ria.« –

Hannes merkte bald, daß diese unzugängliche Ria, dieses halbe Kind, das Wenige hielt, was auf dem Hof und in der verlotterten Wirtschaft zu halten war.

Sie arbeitete wie ein Mann in Feld und Stall, sie allein schien zu sehen, was im argen lag, und sowenig ihre Kraft ausreichte, das Übermaß zu zwingen, sowenig schien sie davor zurückzuweichen oder zu erlahmen.

Hannes konnte es nicht lassen, die Unnahbare heimlich zu beobachten.

Sie war ihm unter der ganzen Verwahrlosung da oben das einzig Gesunde und Mutmachende. Sie kam ihm vor wie die Verkörperung dessen, was der Marienhof eigentlich hätte sein können, wenn er nicht so entartet gewesen wäre.

Manchmal überkam ihn ein Verlangen, eine Sehnsucht, dieses feindselige Menschenkind möchte sich doch endlich ein Herz fassen und ihn, Hannes Baldenius, in 56 schärfster Weise zur Rede stellen darüber, daß sich so lange kein Mensch um den Hof gekümmert habe.

Einen Strom von Groll, von Verachtung, von Anklage sollte sie über ihn, den Hoferben, ausgießen, weil man sie und ihre Mädchenkraft hatte allein hängen lassen an dem hoffnungslosen Werk.

Aber derartiges schien diesem finsteren Wesen nicht einzufallen. Sie tat, als sei Hannes und sein jäher Einbruch in ihr Reich gar nicht vorhanden, als habe sich nicht das geringste Neue ereignet auf dem Hof.

Mit dem Vater, besonders wenn der, was nicht so selten geschah, angetrunken war, schien die Tochter manchmal in Streit zu geraten.

Um was es da eigentlich immer ging, war dem heimlichen Beobachter nicht recht klar.

Er sah nur, daß das Mädchen dann die Arbeit liegen ließ und in den Wald hinüberlief.

Wenn dann im Stall die Kühe vor Hunger brüllten und der Pächter sich bequemen mußte, selbst Hand anzulegen, dann wetterte der Mann und schwur – einmal sogar vor den Ohren des Pachtherrn –, er werde die Ria totschlagen, wenn sie wieder erscheine.

Aber als sie kam, sah der spähende Hannes, daß der Pächter dem verstörten Mädchen wie einer Gefahr aus dem Wege ging.

Einmal, als er sich in seinem großen, heruntergewirtschafteten Waldteil umsah, war Hannes auf das Pächtermädchen gestoßen.

Sie lag im durchsonnten Hirschgras und drehte nicht einmal den Kopf nach dem Vorübergehenden, den eine 57 tiefe Scheu abhielt, das Wort oder nur auch einen Gruß an die Liegende zu richten. Der Zorn, der ihn über den schlechten Wald angekommen hatte, duckte sich jäh vor der Reglosen, die in den blauen Frühlingshimmel starrte.

In diesen Tagen, da Hannes die Übersiedlung der Pächtersleute in das Giebelhaus vorbereitete, tauchte auch des gelähmten Vaters Kindheit und Jugend auf aus langer Versenkung.

In den Stuben, die man jetzt tünchte, wurde einst den Tagelöhnersleuten Maltova ihr Sohn geboren.

Hannes wußte diese Geschichte; aber sie war ihm in der Stadt wenig wichtig, wenn nicht auf eine ganz leise Art unangenehm gewesen. Sie hatte dort gar nicht in die Umwelt gepaßt, nicht in die örtliche und nicht in die gesellschaftliche.

Man ließ sie unerörtert und tat, als wäre sie nicht da.

Hier oben aber war sie auf einmal wirklich und vorhanden. Und sie paßte hierher. Sie störte Hannes nicht im geringsten. Wenn er hätte sagen müssen, ob der Exzellenzgroßvater oder der Tagelöhnersgroßvater dem Marienhof und seinem Besitzer eher angemessen sei – er hätte ehrlicherweise für den Tagelöhner stimmen müssen.

Es gelüstete ihn ein paarmal, mit der Ria von dieser Sache zu reden.

Aber die wußte ihm aus dem Weg zu gehen wie einem Todfeind.

Manchmal war Hannes von Zweifeln gequält, ob sich da oben wohl eine befriedigende Zukunft würde schaffen lassen. 58

Aber dann wurde ihm das Pächtermädchen zum peinlichen Vorwurf. Das junge verschlossene Gesicht schien dann zu sagen: Höre, du, wer hat denn mich gefragt, ob ich das Leben hier oben, das Leben einer Magd auf fremder Scholle, das Leben neben einem faulen Trinker werde tragen können? – Man kann, was man muß.

Hannes fuhr heim. Mit dem Pächter war verabredet, daß er sofort Nachricht geben solle, wenn sein Umzug beendet sei.

Mit der Schwester wurde noch einmal ernstlich beraten. Daß er ihr Schicksal an das seine und an den Marienhof, diese weltferne Stätte der Dürftigkeit, ketten sollte, war für Hannes besonders drückende Sorge.

Aber Marie wollte von keinem Bedenken wissen.

Radikal wie alle Heißblütigen konnte sie kaum erwarten, die Brücken hinter sich abzubrechen, die ganze Welt der Stadt, die sie so erschreckt, so in Ratlosigkeit hineingetrieben hatte, von sich zu tun und ein Neues zu beginnen, das vielleicht manche Entbehrung, aber dafür Unabhängigkeit bringen sollte.

Man wartete und bereitete die Übersiedlung vor.

Dann wartete man wieder und wartete Tag um Tag.

Keine Nachricht vom Marienhof kam.

Endlich verlor selbst Hannes die Geduld, reiste hin und fand alles beim alten.

Da rief er die Behörde zu Hilfe, und unter Aufsicht des alten Polizeidieners von Kolbenhart ging endlich der Umzug vor sich. Der Pächter schimpfte und drohte, die Ria lief hinüber in den Wald.

Hannes wollte die Sache komisch finden und empfand 59 doch Bedrückung. Um sich davon zu befreien, legte er selbst Hand an und arbeitete mit wie ein Packträger.

Auf einmal war die Ria wieder da und griff zu. Schweigend, verschlossenen Gesichts tat sie die Arbeit. Sie schien niemand zu sehen und nichts zu hören.

Auch die mehr gutmütigen als treffenden Witze des zuschauenden rauchenden Polizeidieners glitten an ihr ab, ohne ihr ein Lächeln zu entlocken.

Nach ein paar Stunden war die Arbeit getan, und die Leute zusamt dem Büttel verschwunden.

Hannes schritt noch einmal durch die eingerichteten Stuben, die nun ein ganz wohnliches Aussehen hatten.

Vielleicht hoffte er auf das Pächtermädchen zu stoßen, vielleicht gar ein versöhnliches, ein dankbares Wort von ihr zu hören für sein eifriges Helfen.

Aber er täuschte sich. Die Scheue ließ sich nicht blicken; da stand er lange und schien zu lauschen.

Hörte er wohl den flinken Schritt jener unbekannten Großmutter um sich, die einst hier gehaust und nun in der Ferne, im Erbbegräbnis der Baldenius, neben ihrem zweiten Gatten eine Ruhestätte gefunden hatte? –

Wenn diese Ria, dieses Pächtermädchen, nicht abweisend wie ein Dornbusch gewesen wäre, Hannes hätte sie wohl bitten mögen, in den Räumen, in denen sie nun die Herrschaft antrat, die guten Geister von einst nicht zu scheuchen.

Aber wer konnte denn reden mit dieser Feindseligen!

Ärgerlich und beunruhigt, als sei sein Gewissen nicht rein, ging Hannes die Treppe hinunter und aus dem Haus. 60

 


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