Rudolph Stratz
Lieb Vaterland
Rudolph Stratz

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20.

Draußen auf der Straße klapperten Hunderte von Hufen, schaukelten weiß-schwarze Fähnchen über roten Attilas. Die Potsdamer Leibgardehusaren ritten vorüber. Ihre Trompeten bliesen den Finnischen Reitermarsch – erst wild, dann wehmütig klangen die Töne ... hallten in den leeren Zimmern wider ... stärker als früher, da noch der altmodische Hausrat der Generalin von Teuffern sie erfüllt hatte. Jetzt war alles ausgeräumt, die Fenster offen, daß der Morgensonnenschein in die verlassene Wohnung strömte. Der Boden rein gefegt. Auf ihm lasteten ein paar geschlossene Koffer. Auf dem einen saß Margarete Feddersen, in tiefem Schmerz. Vor ihr stand ihre Schwester Gertrud ebenso wie sie in Trauer. Als der kriegerische Lärm draußen verweht war, erhob sich Margarete wieder. Ihr schönes Gesicht war blaß und schmal geworden.

»Mir glückt nur noch das Begraben, Gertrud!« sagte sie. »Nun auch unsere gute Mama! ... Wenn ich so denke, den, den ich lieb gehabt hab', hab' ich nicht gekriegt – ich habe meine Eltern verloren ... mein Kind ist tot ... von meinem Mann lass' ich mich scheiden ... Mir ist zumut, als hätt' ich schon ein langes Leben hinter mir. Und dabei hab' ich noch ein paar Jahre bis zu den Dreißig!«

»Nun eben, Grete!« Die kleine Hauptmannsfrau, die aus ihrer schlesischen Garnison an das Sterbelager der Mutter gekommen war, hatte rotgeränderte Augen. »Du bist doch noch so jung ... Es wird schon alles gut werden! Du bist jetzt natürlich angegriffen. Du hast Mama dies Vierteljahr so aufopfernd gepflegt. Wir alle haben Dich bewundert. Keiner hätte Dir das zugetraut – der Doktor sagte gestern, Du hättest seit Monaten keine ruhige Nacht und tagsüber keine ruhige Stunde gehabt ...«

»Es war ein Segen für mich!«

»Aber Deine Gesundheit hast Du dabei ruiniert, meine arme Grete!«

Die junge Frau schüttelte den Kopf.

»Im Gegenteil: Ich habe gesehen, daß ich noch zu etwas nützlich sein kann! Das hab' ich gebraucht! Das Bewußtsein hat mir gefehlt. Nun wird es auch dort drüben, in Südwestafrika, mit mir gehen ...«

Die Schwester fing an zu weinen.

»Du, Grete ... ich hab' meinem Mann geschrieben! Er ist auch damit einverstanden! Ich fahre heute mit Dir nach Hamburg!«

»Das ist gar nicht nötig!«

»Doch! Ich bring' Dich bis aufs Schiff!«

»Das Schiff geht ja erst nächste Woche!« Margarete nahm vorsichtig aus ihrem Reisetäschchen einen auf dünnes, überseeisches Papier geschriebenen Brief und überflog ihn zum hundertsten Mal. »Ein Glück, daß mir Magda Gellin alles so genau aufgezeichnet hat ... an wen ich mich zu wenden hab', wenn ich glücklich drüben bin ... und wie die Eisenbahnstation im Innern heißt, wo ich aus dem Zug muß ... mir ist eine Zentnerlast von der Seele gefallen, wie ich neulich ihren Brief kriegte und las: Natürlich können wir Dich hier brauchen ... Ich wollt', ich wäre schon dort!«

Ihre Schwester seufzte.

»Später, wenn die Kinder erst größer sind,« sagte sie, »dann rutschen Fritz und ich 'mal hinüber und besuchen Dich auf Deiner Farm!«

»Wie komme ich denn zu 'ner Farm, Gertrud?«

»Dein Scheidungsprozeß ist doch bald zu Ende. In ein paar Monaten bist Du frei ...«

»Ja.«

»Und dann wirst Du doch natürlich drüben wieder heiraten.«

Die junge Frau wandte sich ab.

»Man kann sich auch sonst nützlich machen!« sagte sie ruhig. »Gottlob – da kommt der Wagen ...«

Die bestellte Droschke rasselte heran und brachte die zwei jungen Frauen auf die Bahn. Der Zug rollte dahin. Nach ein paar Stunden wurde der blaue Sommerhimmel bleifarben vom Rauch. In der Ferne war ein undeutliches Gewimmel von Masten und Schloten, Menschengewühl in den Hallen des Hamburger Klostertor-Bahnhofs. Ueber dem Jungfernstieg flatterten die Möwen. In dem Hafen unten, durch den Margarete und ihre Schwester des Nachmittags fuhren, um sich den für nächste Woche nach Swakopmund fälligen Dampfer anzusehen, blies der Wind von Uebersee. Stumm schauten die beiden das gewaltige Bild. Das war kein Hafen wie andere. Es war, als sei eine große Industriegegend am Niederrhein stundenweit unter Wasser geraten. Mächtig ruhten die Schiffskolosse auf den Werften, qualmten die Fabrikschlote, klafften die Tore des Schwimmdocks, erhoben sich die zehnstöckigen Straßenreihen der Freihafeninsel. Es roch nach Kaffee und Gewürzen. Eisenbahnzüge rollten zwischen Wasser und Warenschuppen, die Krane rasselten und fuchtelten mit tausend Armen, hundert Dampfer schossen durch die zerpflügten, plätschernden, schäumenden Wellen, unermüdlich klang das geduldige Klopfen unzähliger Hämmer, das Keuchen der Maschinen, das Heulen der Sirenen über den weißen Dampfwölkchen, die wie Granatenrauch im Hafengrau schwebten – jedes einzelne ein Mißton und alles zusammen ein Hoheslied der Arbeit über Land und Meer.

In einem der Häfen hatten Margarete und ihre Schwester ihren Dampfer entdeckt. Er lag noch still. Noch kam kein Rauch aus seinen gelben Schloten, wehte der blaue Wimpel nicht vom Mast. Aber auf ihm war schon Leben. Die Krane arbeiteten. Die Menschen liefen ab und zu. Ueber die Bordwand grinste das gelbbraune Gesicht eines Kaffernheizers herunter. Es war das erste Bild aus der neuen Heimat.

Heimat ... Margarete Feddersen lächelte trübe. Wo war denn noch eine Heimat für sie? Sie hatte Gertrud, die nachmittags noch zurückkehren wollte, um nachts bei Mann und Kindern in Schlesien zu sein, an den Bahnhof begleitet. Ein letztes Tücherflattern, der letzte Schein eines vertrauten Menschengesichts, dann fühlte sie sich, als sie sich umdrehte und die Halle verließ, zum erstenmal in ihrem Leben ganz allein – mutterseelenallein in der großen Stadt – verlassen auf der weiten Welt.

Sie ging langsam zur Lombardbrücke hinunter und die Binnenalster entlang. Sie sagte sich: Du hast's ja gewollt! Vor der Abfahrt siehst Du ja noch alle Deine Geschwister. Sie kommen herüber. Bis dahin ist's besser, einsam zu sein. Auch das will gelernt sein. Und noch manches im Leben!

Ein Glück, daß einen hier in Hamburg niemand stören konnte. Sie zuckte beim Betreten des Hotels zusammen, als sie hinter sich eine Herrenstimme hörte:

»Gnädige Frau ...! Gnädige Frau!«

Sie dachte sich noch: »Ach was, das ist ein Irrtum!« und ging weiter, ohne den Kopf zu wenden. Aber es klang wieder:

»Gnädige Frau ...! ... Frau Feddersen ...«

Nun mußte sie Halt machen. Da stand der Generaldirektor Malloney. Er lächelte erfreut und bot ihr die Hand. Wahrscheinlich ahnte er noch nichts von ihren Schicksalen. Er hielt sie einfach für die Millionärsgattin, Madame Charley Feddersen aus Paris. Sie suchte von ihm wegzukommen. Sie legte flüchtig ihre Fingerspitzen in seine Rechte und sagte, mit der Kühle der Weltdame:

»Oh ... Herr Generaldirektor ... Sie hier ...?«

»Ja, wissen Sie, weswegen?«

»Wie sollte ich!«

»Wegen Ihnen!«

Sie sah den anderen mit großen Augen an. Was wollte er denn von ihr? Er war ihr doch nur einmal im Leben, damals in Paris, im Kontor, persönlich begegnet. Er machte eine einladende Handbewegung nach zwei Lehnstühlen in der Nähe. Sonderbar: in diesem Moment hatte er etwas direkt Verlegenes an sich, das ihm kein Mensch zugetraut hätte. Er fühlte es auch.

»Ja, das ist eine heikle Sache!« sagte er und setzte sich. Sie folgte seinem Beispiel. Die Leute fügten sich schließlich immer seinem Willen. »Ich hab' glattweg Angst vor Ihnen, gnädige Frau! Sie können mir die ausgepichtesten Leute aus'm Aufsichtsrat schicken, den hartgesottensten Syndikus von 'ner Bank, meinetwegen den Minister selber – ich werde mit den Brüdern schon fertig. Aber hier ... das ist mir neu ...«

Er kratzte sich hinten im Genick und schüttelte den Kopf.

»Wissen Sie, ich bin kein Salonmensch, Frau Feddersen. Das fällt nach kurzem jedem auf, der mit mir zu tun hat. Ich hab' nicht die Zeit dazu gehabt. Mein seliger Vater hatte 'ne kleine Barbierstube in einem Nest an der Ostsee, wo sich die Seehunde Gutenacht sagen. Ich hatte keine Lust, auch Schaum zu schlagen. Da war im Städtchen der alte Salomon. Der handelte mit Getreide und gab den Besitzern Vorschüsse auf die Ernte und nannte seine Bude ein Bankgeschäft. Da trat ich als Stift ein und fegte den Laden ... na ... und dann kam ich nach Berlin, und dann ging es ja vorwärts mit Gottes Hilfe ...«

Margarete saß ergeben da und dachte sich: Was hat er nur? Eine Sekunde hatte sie den verrückten Einfall: Er wird Dir doch nicht einen Antrag machen? Auf seinem Finger, auf den sie einen verstohlenen Blick warf, glänzte ein breiter, goldener Trauring. Der beruhigte sie. Er fuhr fort:

»Das gehört ja nun alles nicht hierher. Das kann Sie nicht interessieren! ... Man soll sich überhaupt nicht um fremde Angelegenheiten kümmern! Das ist auch sonst mein unverbrüchlicher Grundsatz. Ich habe lange mit mir kämpfen müssen, um in unserem Falle davon abzuweichen! ...«

Nun hielt sie es doch an der Zeit, einzugreifen. Irgendein Mißverständnis lag da vor. Sie sagte:

»Ehe Sie fortfahren, Herr Malloney ... wenn es sich, wie ich vermute, um eine geschäftliche Annäherung an meinen Mann handelt, die ich vielleicht unter der Hand vermitteln soll: es tut mir leid: Ich lebe in Scheidung!«

»Weiß ich doch, gnädige Frau!«

Der Generaldirektor Malloney wiegte dabei ganz gemütlich das rötliche Haupt und fügte hinzu:

»Das hab' ich schon vor sechs Wochen, wie ich das letzte Mal in Paris war, als neueste Neuigkeit gehört. Daraufhin kam mir die Idee, Sie aufzusuchen. Da erfuhr ich, daß Ihre Frau Mutter auf dem Tode liege ... Uebrigens mein herzliches Beileid, gnädige Frau ...«

»Danke!« sagte sie mechanisch und fühlte den ehrlichen Druck seiner Hand. Dann fuhr er fort:

»Da konnte ich Sie natürlich nicht belästigen. Heute, gleich nach Ihrer Abreise, war ich bei Ihnen in Potsdam und hörte, Sie seien hierher. Da bin ich mit dem nächsten Zug nachgefahren, eh' Sie mir ganz aus den Augen kommen.«

Er seufzte.

»Was glauben Sie wohl, was ich alles durch die Spritztour hierher versäume? Zwei Sitzungen – eine telephonische Konferenz mit Berlin. Die Arbeit brennt mir auf den Nägeln. Ich kann's kaum vor den Aktionären verantworten. Aber man ist schließlich auch Mensch. Hier bin ich Mensch. Sehen Sie: Sie sagen selbst, Ihre Ehe wird geschieden. Also war sie unglücklich, natürlicherweise ...«

»Ja, gewiß!«

»Und sicher nicht durch Ihre Schuld! Ich kenn' doch auch die Leute dort! Hätten Sie einen anderen bekommen, wäre alles gut gegangen ...«

Die junge Frau erhob sich bald.

»Herr Generaldirektor, ich weiß wirklich nicht, wieso diese Frage gerade uns beide hier interessieren soll!«

»Das werde ich Ihnen gleich verraten, meine Gnädigste! Bleiben Sie nur hübsch sitzen! ... Daß Sie den bewußten andern nicht gekriegt haben, das hat er mir selber vor einem Vierteljahr erzählt! Gnädige Frau ... Sind Sie mir nicht böse, wenn ich mir eine Zigarre anzünde? Ich kann nun mal nicht reden, ohne zu rauchen ... Verfluchte Angewohnheit! ... Danke schön!« Er entlockte seiner Havanna die ersten blauen Wolken und nahm ganz gemächlich das Gespräch wieder auf. »Nun – und wenn mich der eine von den beiden Teilen seines, wenn auch späten Vertrauens würdigt – warum soll ich es dann nicht auch bei dem anderen versuchen? Der Lünemann ist so ein tüchtiger Mensch! Daß er mir nun ganz vom Fleisch fällt und kopfhängerisch wird und über Gott und die Unsterblichkeit spintisiert, statt an unsere Kurse zu denken, so geht das nicht weiter. Schon im Interesse des Geschäfts! Der Lünemann muß unter die Haube!«

»Er ist doch schon längst verheiratet!« sagte Margarete Feddersen.

»Denkt nicht daran! Entlobt! Seit langem! Knall und Fall! Warum, wissen die Götter! Er sagt es keinem Menschen. Es war 'ne nette Bescherung! Wütend war alles auf ihn. Ich konnte ihn kaum halten. Ich hab' die erste Gelegenheit benutzt, um ihn zu lüften, und ihn in Geschäften nach Griechenland geschickt! Haben Sie denn davon nichts gehört?«

»Nein!«

»Auch nicht, wie Sie jetzt nach Deutschland zurückkamen?«

»Ich hab' ja kaum einen Menschen gesehen und gesprochen! Ich hab' mich ganz der Pflege meiner Mutter gewidmet!«

»Ach so ... ja! Was haben Sie denn, gnädige Frau?«

»Nichts! Nichts!«

»Sie werden auf einmal so blaß! Soll ich ein Glas Wasser holen?«

»Nein, danke sehr! Es geht schon vorüber!«

Margarete Feddersen saß aufrecht da. Sie beherrschte ihre Gesichtszüge. Nur ein leises Zittern überlief ihren Körper. Es war ein Schweigen zwischen ihnen. Dann hub der Generaldirektor an:

»Der gute Lünemann beißt sich lieber die Zunge ab, als daß er einer Menschenseele verrät, warum er sich eigentlich entlobt hat. Aber Ihnen gesteht er's vielleicht. Falls er eben Gelegenheit hätte, mit Ihnen zu reden.«

Die junge Frau hob die Augen zu dem Generaldirektor. Mit einem raschen, halb angstvollen Blick, und senkte sie wieder. Er war von neuem verlegen. Er zog emsig an seiner Zigarre.

»Sie gehen mich ja nichts an, gnädige Frau! Aber wenn ich so den Lünemann Jahr um Jahr im Schweiß seines Angesichts für unsere Gesellschaft büffeln seh', ohne daß er irgendeine Freude am Leben hatte ... ich will nicht die Vorsehung spielen ... ich bin nicht der liebe Herrgott ... ich hab' bloß dem Lünemann vor ein paar Tagen nach Athen telegraphiert, er soll nach Deutschland kommen. Ich denke, er wird heute noch in Hamburg sein! Ist's Ihnen recht?«

Margarete erhob sich. Auch der Generaldirektor Malloney stand auf und bettete den Stummel der Zigarre, die ihm über diese saure Viertelstunde hinweggeholfen, in einen Becher.

»Wenn er hier ist, gnädige Frau, werd' ich ihm sagen, daß Sie auch hier sind. Dann rutsch' ich spornstreichs ins Geschäft zurück. Mag nun werden, was will. Ich hab' den Lünemann wirklich lieb! ... Ich wollte, ich hätt' 'nen Sohn wie ihn. Aber es sind man lauter Töchter. Uff! Adieu, gnädige Frau.«

Der Generaldirektor Malloney schüttelte Margarete die Hand und lief förmlich davon, als habe er eine üble Tat begangen, und trocknete sich, während er im Lift hinanfuhr, mit einem Taschentuch die Stirne.

Von oben sah er durch die Lichthalle noch einmal die junge Frau. Sie saß, ohne sich zu rühren. Menschen kamen und gingen im Getriebe des Hotels. Sie beachtete es nicht. Dann durchzuckte es sie: So wird nun auch bald Moritz Lünemann hier eintreten. Sie sprang jählings auf. Sie stand vor dem Gasthaus. Sie ging in die Straßen hinaus, ohne zu wissen, suchte sie ihn oder floh sie ihn? Wie im Traum sah sie um sich. Der Wind kräuselte den blauen Spiegel der Innenalster. Außen, auf der großen, freien Fläche schäumten weiße Wellen. Silbergrau verschwamm weiterhin der Wasserspiegel. Ein alter Mann mit einer Tüte trat ihr in den Weg. Sie sollte kleine Fischchen für die Möwen kaufen. An der Ecke standen zwei Kleinmädchen mit weißen Häubchen. Sie lispelten beim Sprechen. Es war wie auf dem Theater. Es war alles unwahrscheinlich in dieser großen fremden Stadt. Es war, als müsse man jeden Augenblick erwachen, in die Wirklichkeit von Potsdam oder Paris zurück. Der Alsterpavillon war schwarz von Menschen. Die Musik spielte. Sie schritt geistesabwesend daran vorbei – wieder in das Hotel. Sie stand am Fenster ihres Zimmers, den Kopf zwischen den aufgestützten Armen, die Handflächen an die hämmernden Schläfen gepreßt. Unten schossen die Dampfboote wie Schwalben kreuz und quer durch die Flut, Jachten blähten wie schwimmende Schwäne ihre weißen Segel, Ruderboote flitzten dahin. Eine kühle Brise wehte herein. Es war nun schon später Nachmittag. Die Sonne stand tief im Westen ... Wie hatte der Generaldirektor Malloney gesagt? Heute wird er noch kommen – von Griechenland her – über Land und Meer ...

Oder er kam nicht. Er wollte nichts von ihr wissen. Und sie saß hier und wartete ...

Sie stand auf einmal wieder im Freien. Sie ging mechanisch auf das Rathaus zu. An dem war eine Inschrift. Die war lateinisch. Sie konnte sie nicht lesen. Sie hatte mitten auf dem großen Platze Halt gemacht. Ihr Herz stand still. Da kam ein Mann rasch hinter ihr her. Der sah Moritz Lünemann ähnlich. Der lüftete den Hut und gab ihr die Hand und sie ihm. Dann hörte sie wie aus weiter Entfernung seine Stimme:

»Eben war ich bei Malloney im Hotel! Dort sagten sie, Du seist ausgegangen, in der Richtung hierher. Da bin ich Dir nach!«

»Ja.«

»Und gottlob hab' ich Dich schon von weitem erkannt ...«

»Ja.«

Auf einmal schwiegen beide und sahen sich fast erschrocken an. Dann gingen sie langsam weiter – nebeneinander, irgendwohin in die Stadt hinein, in das Gewirr krummer Grachten und alter Gassen.

Da begann er wieder und stieß es hervor:

»Malloney sagte, Du wolltest von Deinem Mann fort?«

»Ich bin es schon längst! In kurzem bin ich geschieden!«

Sie konnte nicht anders. Sie mußte aussprechen, was ihr das Herz drückte:

»Ich habe Dir doch geschrieben, wie unglücklich meine Ehe war ... damals ... zu Deiner Verlobung ... oder hast Du den Brief vielleicht gar nicht bekommen?«

»Doch.«

»Aber ich nie eine Antwort!«

Er holte tief Atem.

»Ich hab' Dir damals nicht antworten können!«

»Warum nicht? Du weißt nicht, wie weh Du mir damit getan hast!«

»Ich hab' nicht können! Du hast mir in dem Brief zu meiner Heirat Glück gewünscht...«

»Wenn ich nicht gewußt hätte, daß Du vor der Heirat ständest, hätte ich nie eine Zeile an Dich gerichtet. Es sollte doch nur eine Versöhnung zum Abschied sein!«

Moritz Lünemann hatte Mühe, weiterzusprechen:

»Du hast den Brief an einen viel besseren Menschen gerichtet, als ich damals war. Du hast geglaubt, ich hätte das alles zwischen uns hinter mir und hätte eine andere gefunden, die mir dasselbe sei wie einstmals Du...«

»Ich hab' es gehofft, Moritz... um Deinetwillen!«

»Ich aber will Dir gestehen: Ich war in jener Zeit in einer schlimmeren Verfassung wie Du vor sechs Jahren. Eben weil ich von Dir nicht loskommen konnte, dachte ich: Mach's wie die Grete! Tausch' Dir wenigstens für Dein Unglück Geld ein! Sie hat Dir ja das Beispiel gegeben und ist ganz vergnügt. Wenn sie vergessen und sich in alles finden kann, warum nicht auch Du? Dazu war ich fest entschlossen! Da hat Dein Brief mir plötzlich schrecklich die Augen aufgemacht. An Deinem Schicksal hab' ich mein eigenes künftiges Schicksal erkannt. Du hast mich im letzten Moment gerettet, Grete...«

»Und da bist Du ohne eine Zeile fort...«

»Dir auch das noch zu gestehen... Ich bracht' es nicht fertig. Ich brauchte meine Kraft für das nächste. Ich bin heimgefahren und habe meine Verlobung auf» gelöst. Die Leute hielten mich einfach für verrückt... Es war ein harter Schritt. Ich habe mir damit mehr Feinde gemacht, als ich zeitlebens wieder versöhnen kann!«

Sie kannte dies trotzige Lächeln an ihm. Er fuhr fort: »Um einen tüchtigen Kerl kommen sie heutzutage nicht herum: sie brauchen mich. Es heißt nun schuften. Leicht werden wir's im Anfang nicht haben! Das erklär' ich Dir gleich!«

Er sprach wie selbstverständlich von ihnen beiden. Sie sagte nichts dazu. Still ging sie neben ihm her. Auf den abenddämmernden Gassen wimmelten die Menschen. Zuweilen sah man bei einer Straßenkreuzung weit in der Ferne die Masten der Wasserkante. Sie hatten die große Burstah hinter sich gelassen. Die Häuser wurden mittelalterlich, hochgiebelig, engbrüstig, noch aus der Zeit vor dem großen Brand. Moritz Lünemann begann wieder. »Ein Leben im Luxus, wie Du es bisher geführt hast, kann ich meiner Frau nicht bieten. Aber ich verdiene genug! Ich hab' es nicht zu bereuen, daß ich ebenso wie Du auf meine Art auch aus unseren alten Verhältnissen heraus bin. Und der Unterschied zwischen uns beiden, Grete, war: nur, daß ich dabei ein ehrlicher Deutscher geblieben bin und bleiben werde ... Und Du mit mir!«

Er schaute sie erwartungsvoll an, ob sie ihm nicht etwas erwidern würde. Sie konnte nicht. Aber sie blieb, wie Schutz suchend, den Blick am Boden, dicht an seiner Seite. Und ihr war, wie er da neben ihr schritt und gedämpft und kräftig in seiner rauhen Herzlichkeit ihr Trost gab, als redete das Vaterland, als redete Deutschland selber zu ihr.

»Grete – hast Du mir denn nichts zu sagen?«

Er war stehen geblieben. Auch sie machte Halt und schlug die Augen auf und trat fast erschrocken einen Schritt zurück. Dicht hinter ihnen reckte sich ein Riese empor, hob sich turmhoch in die Dämmerung, überragte Stadt und Fluß. Ein getreuer Eckart, hielt Bismarcks Denkmal, aus steinernen Quadern, wie für die Ewigkeit gefügt, die Wache an der Pforte des Reichs. Die beiden Menschen unter ihm schienen winzig klein. Andere waren außer ihnen nicht da. Es war still auf dem Schluchtweg hernieder zu den Landungsbrücken. Nur aus der Ferne klangen von der Reeperbahn und dem Spielbudenplatz der Trubel von St. Pauli, und von unten, vom Hafen her, ein unbestimmtes, tausendfaches, ehernes Brausen der Arbeit.

»Grete ...«

Er breitete die Arme aus. Da sank sie ihm an die Brust.

»Ich bin wieder daheim! Ich bin bei Dir!«

Sie sprachen nicht weiter. Sie küßten sich stumm. Ueber ihnen stand der steinerne Riese. Der Abendschein lag über seinem mächtigen Haupt. Seine Augen blickten auf die beiden zu seinen Füßen nieder und schauten weiter in letzte Fernen und segneten das deutsche Land.


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