Rudolph Stratz
Lieb Vaterland
Rudolph Stratz

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1.

Karl Feddersen war an diesem Januar-Nachmittag vor einer Stunde auf der Durchreise von Moskau nach Paris in Berlin eingetroffen. Im Hotel hatte man den jungen deutsch-russischen, in Frankreich wohnhaften Millionär mit der geziemenden Rücksicht empfangen. Seine gewohnten Zimmer standen bereit. Die Briefschaften des Welthauses Iwan Feddersen und Söhne, zu dessen Inhabern er gehörte, lagen auf dem Diplomatenschreibtisch. Er hatte sie flüchtig durchmustert, sich gebadet und umgezogen. Nun stieg er, während sein französischer Kammerdiener den Koffer auspackte, den kurzen Treppenabsatz in die Vorhalle des Hotel Adlon hinab, ein stattlicher Mann mit blauen Augen und blondem Schnurrbart, mit solider Eleganz nach Pariser Mode gekleidet, das verwöhnte Lächeln eines reichen Junggesellen in den Dreißigern auf den kühlen, selbstbewußten Zügen. Als er vorhin angekommen, hatte die Hotelhalle noch völlig leer in träumerischem Dämmern dagelegen. Jetzt war da eine Flut von Licht und Gelächter, Uniformen, wippende Riesenhüte, blaubefrackte Diener – das Gewimmel des Five-o'clock-tea's.

Karl Feddersen war das neu. Er kam selten nach Berlin. Seine Fahrten von Paris nach Südrußland machte er gewöhnlich mit dem Orient-Expreß über Wien. Ein Kellner, der aus seiner schwerfälligen ausländischen Eleganz ein reiches Trinkgeld herauswitterte, richtete ihm ein eigenes kleines Tischchen und schob ihm einen Strohsessel hin, in dem der blonde Finanzmann halb versank und, sich eine Zigarette anzündend, phlegmatisch das Gewühl vor sich betrachtete.

Das schwirrte, das schwatzte und lachte, das kam und ging und schob sich durcheinander. Viel Offiziere. Elegante junge Frauen. Hübsche Mädchen. Schlanke, große Erscheinungen. Karl Feddersen kannte keine Menschenseele in diesem bunten Jahrmarkt – überhaupt in ganz Berlin vielleicht ein halbes Dutzend Leute ...

Ein lautes Lachen von dem großen Rundtisch vor ihm weckte ihn aus seinen Träumen. Eigentlich wurde dort immer gelacht, solange er hier saß: junges Volk. Ein halbes Dutzend Leutnants, ein halbes Dutzend Mädchen, ein paar davon im Reitkleid, wie sie vom Tatterfall kamen, die andern im Straßenkostüm, ein Gekicher und Geflirte. Der junge Millionär sah sich das nüchtern an, mit Nachsicht, wie man spielende Kinder betrachtet. Da stand plötzlich einer der Offiziere, ein glattrasierter Ulan, auf und kam lachend auf ihn zu:

»Kennen Sie Ihren alten Kabinenkameraden von der »Therapia« noch, Herr Feddersen? Wie ich vor zwei Jahren meine große Mittelmeerreise mit der Levante-Linie machte, da kamen Sie doch auf dem Rückweg in Batum an Bord und fuhren bis Odessa mit!«

»Ach ja – richtig!«

Karl Feddersen machte so häufig die Ueberfahrt von Südrußland nach dem Kaukasus, daß er sich gerade dieser Reise nicht weiter entsann, aber er neigte mit der beistimmenden, unpersönlichen Höflichkeit, die ihn als Geschäftsmann nie verließ, das blonde Haupt. Der andere fuhr fort:

»Drollig, wie man sich so wieder trifft! ... Höllisch weltstädtisch wird dies Berlin nachgerade – nicht?«

»Ja, mir scheint! Ich bin hier ein seltener Gast.«

»Darum sitzen Sie auch hier so einsam und verlassen! Warten Sie auf jemanden?«

»Erst in einer Stunde. Auf meinen Bruder!«

»Dann kommen Sie doch ein bißchen zu uns hinüber! Fidele Gesellschaft! ... Da tauschen wir dann noch Reiseerinnerungen aus!«

Der junge Reitersmann sah den andern freundlich an, und jener dachte: Warum nicht? Er ging Menschen nie aus dem Wege. Schließlich konnte man immer da und dort etwas hören, was für das Geschäft nützlich war.

»Wenn ich nicht störe ...«

»Ach wo! Sehen Sie sich doch nur die Blase an!«

Aber an dem runden Tisch, an den sie traten, war die Heiterkeit plötzlich in tiefe Stille umgeschlagen. Ein anderer Offizier stand da. Er hatte eine Hiobspost gebracht. Jetzt rief er sie auch dem herankommenden Ulanen zu:

»Elendt – wissen Sie schon: Gellin ist in Südwest gefallen!«

»Herrgott, ne – wo denn?«

»Ganz unten, mit dem Kamelreiterkorps in der Kalahari. Gegen versprengte Witboys. Eben kam die Kabeldepesche.«

Auf den ernst gewordenen Gesichtern der jungen Mädchen, der jungen Leutnants lag ein für Karl Feddersen, den Kosmopoliten, seltsamer, gleichförmiger Ausdruck, des Sich-eins-fühlens mit diesem einen Toten in fernen Landen, mit den ganzen Kolonien, mit der großen deutschen Armee. Es waren keine Verwandten des Gefallenen anwesend. Die wären aufgestanden und weggegangen. Aber es war doch, als habe dieser Verlust hier die Mitglieder einer bis ins Unendliche weitverzweigten Familie getroffen, so feierlich war die Stimmung. Es wurde weniger als sonst beachtet, daß plötzlich ein fremder Zivilist vorgestellt wurde und an der Tafelrunde Platz nahm. Gleich darauf begann wieder das Gespräch über den toten Gellin – wo er früher gestanden – ob er dann in das zweite oder dritte Seebataillon gekommen sei – wann er zur Schutztruppe übergetreten, ob der andere Gellin, der sich drüben nach dem Aufstand als Farmer niedergelassen habe, sein Vetter oder sein Bruder sei – Namen und Jahreszahlen schwirrten durcheinander. Dann versetzte der neuangekommene Leutnant:

»Großartig, wie der Vater das trägt! ... Winkt jedem, der kondolieren will, schon an der Türe ab und meint, es sei höchste Zeit, daß wieder einmal ein Gellin für den König gestorben sei ...«

Ein Schweigen entstand. Eine Stimme rief: »Das ist aber doch zu spartanisch!« Andere widersprachen. Nein, das sei groß. Uebrigens habe er ja noch zwei Söhne!

Das war eine Welt, die Karl Feddersen nicht verstand – ein Hauch von Kurbrandenburg – von Roßbach und Leuthen, von Waterloo und Sedan. Er tadelte das nicht. Er tadelte überhaupt nie etwas. Er war gewohnt, Menschen und Dinge nicht zu beurteilen, sondern zu benutzen. Er dachte sich: also solche Leute gibt es! ... und schwieg, als wohlerzogener Mann, bei einer Sache, die ihn nichts anging, und saß mit ruhiger Teilnahme da.

Dabei fiel ihm auf, daß das junge Mädchen ihm gerade gegenüber ein anderes Gesicht machte als die andern. Was sich darauf spiegelte, war schwer zu sagen. Am ersten schien es eine Art stiller Widerspruchsgeist zu sein – so, als ob sie manches lieber für sich behielte, was sie dachte. Vorhin, als er vorgestellt wurde, hatte er sie nur mit einem flüchtigen Blick gestreift. Nun sah er sie näher an. Sie hatte dunkles Haar und dunkle, glänzende Augen. Der Mund war sprechend, halboffen. Aber sie schwieg. Sie seufzte nur mit einer seltsamen, verächtlich kurzen Schulterbewegung in kaum merklicher Ungeduld vor sich hin. Jetzt war deutlich ein Zug von Ironie auf ihrem jugendlichen Gesicht, dessen Hautfarbe nicht so rosig war wie die der übrigen jungen Mädchen, sondern leise in das Bräunliche schimmerte und ihr dadurch etwas Fremdartiges gab. Die anderen achteten nicht auf sie. Sie schienen diese stumme Art bei ihr schon gewohnt. Aber als nun die Rede auf die Römergröße des alten Generals von Gellin kam, konnte sie nicht mehr an sich halten und murmelte, mit gebeugtem schlanken Nacken, vor sich hin auf die Tischplatte schauend, und hartnäckig ein Stückchen Teegebäck zwischen den schmalen weißen Fingern zerzupfend:

»Sagt mal, Kinder: Was hat man denn davon, wenn man nun glücklich für den König stirbt?«

Dieser Ausspruch erregte Entsetzen. Es war allgemeiner Protest. Von der anderen Seite des Tisches rief eine Stimme:

»Quatsch' nicht so dämlich, Gretel ... wenn ich bitten darf – ja?«

So grob konnte nur ein Bruder sein. Karl Feddersen blickte, innerlich belustigt, hinüber. Jawohl: dieser hübsche, hochmütige junge Gardeinfanterist, in dessen rechter Augenhöhle das bandlose Monokel wie festgewachsen stak, sah der Rebellin vor ihm ähnlich. Die warf den Kopf zurück und sagte nachlässig:

»Regt Euch nur nicht auf! Es ist weiß Gott nicht der Mühe wert!«

Es ging aus ihren Worten nicht hervor, ob es um ihret- oder um der andern willen nicht der Mühe wert sei. Sie zuckte wieder die schmächtigen Schultern, wie jemand, der gewohnt ist, in Meinungsverschiedenheit mit seiner Umgebung zu leben, und rührte verstockt in ihrer Teetasse. Eine Freundin, ein zartes, blondes Persönchen, nahm sie in Schutz.

»Laßt sie doch in Ruhe. Sie meint's doch nicht so! Ihr kennt doch die Grete!«

»Nein, Ihr kennt mich nicht!« erwiderte die Angegriffene eigensinnig. Die andern lachten. Man nahm sie nicht ernst. Das Gespräch ging wieder seinen Gang. Nur Karl Feddersen beobachtete, während er sich mit seinem damaligen Reisegefährten, dem Ulanen-Rittmeister von Elendt, unterhielt, verstohlen sein Gegenüber. Sie gefiel ihm. Es war ein schönes Mädchen zu Anfang der Zwanzig. Sie war ziemlich einfach gekleidet, in eine weiße Tüllbluse, durch deren Gitterwerk die zarte Haut des Halses und der Arme schimmerte. Ihr dunkles Jäckchen hatte sie hinter sich auf die Stuhllehne gelegt. Ein großer, schief aufgesetzter weißer Filzhut mit steifer, schwarzer Sammetschleife beschattete ihr längliches, schmales Gesicht.

Er konnte sie unauffällig betrachten. Seine Blicke mußten eigentlich, so wie er saß, von selbst auf dem hübschen, trotzigen Mädchengesicht da drüben ruhen. Sie beobachtete es nicht. Sie hatte noch einmal mit dem verächtlichen Zug um die Mundwinkel, der ihr eigen war, für sich gemurmelt: » Pour le roi de Prusse!« Dann tat sie, als ob sie die ganze Sache weiter nichts anginge, und schaute, absichtlich die Gelangweilte spielend, durch den Saal. Sie nickte dabei da und dort einer Freundin zu und erwiderte mit einem halben kameradschaftlichen Lächeln den Gruß von jungen Offizieren. Sie gehörte offenbar, wenn auch als schwarzes Schaf, mitten in diese Clique von zweifarbigem Tuch hinein. Aber wie sie hieß, wer sie war, ahnte Karl Feddersen nicht. Und hätte es doch gerne erfahren, ohne sich Rechenschaft geben zu können, warum. Nun hörte er, wie jemand von der anderen Seite des Tisches her laut zu ihrer Nachbarin rief:

»Gräfin ... geben Sie doch mal der Grete 'nen Stups! Sie sitzt ja da wie drei Tage Regenwetter!«

»Sie bockt wieder mal!« sagte die kleine Blondine in einem Ton, der hieß: da ist nichts zu machen. Karl Feddersen spürte einen merkwürdigen Aerger. Wer war denn das, der so familiär per Grete von der da drüben sprechen durfte? Der monokeltragende, brünette, elegante Bruder von der Garde nicht. Wer das gerufen hatte, konnte auch nicht ein anderer Bruder von ihr sein. Es war ein blonder, vierschrötig-gesunder Leutnant, mit dem schwarzen Samtkragen der Linien-Feldartillerie. Seine klugen, grauen Augen zwinkerten humoristisch, während er mit einem versöhnlichen Lächeln zu dem schönen Mädchen sagte:

»Du, Grete ...«

»Ich heiße Margarete! ... Grete klingt so ordinär! ... Das ist auch so Euer Ton! Was ich den schon dick hab' ...«

Sie machte dabei eine matte Bewegung mit der Hand gegen den Hals, als bekäme sie keine Luft mehr. Der stämmige Artillerist wurde tiefernst. Nur in den Augen blieb der Schalk.

»Ich werde Dich Marguerite nennen! Ist das fein genug? Ja? Du ... Nun sei doch nicht so! ... Stell' Dich doch nicht so an! ... Es beißt Dich doch keiner!«

Auf ihrer glatten Stirne, über der das reiche dunkle Haar sich widerspenstig wellte, standen immer noch wie Wetterwölkchen drei senkrechte Falten. Aber es schien Feddersen, als ob der blonde Offizier drüben mehr Macht über sie habe als andere Sterbliche. Denn sie antwortete, wider Erwarten, bereitwillig:

»Gott! Du hast recht, Moritz! Es verlohnt sich alles gar nicht ...«

Und wieder dachte sich der Finanzmann: Grete ... Moritz ... sind das Vetter und Cousine? Oder miteinander verlobt? Diese Vermutung gab ihm einen Stich. Er hörte, halb geistesabwesend, auf das Stimmengeschwirr um ihn und saß still, mit seinem gewohnten verbindlichen und undurchdringlichen Geschäftsausdruck da.

Außer ihm schwieg nur noch eine am Tisch und war mit ihren ketzerischen Gedanken offenbar wo anders. Das war das schöne, dunkeläugige Mädchen ihm gegenüber, die er für sich bereits Margot nannte. Der Name gefiel ihm besser als Grete. Unter Grete stellte man sich so etwas derb Teutonisches vor. Sie aber hatte eher in ihrem Aeußern einen romanischen Reiz. Sie erinnerte an die brünetten Erscheinungen, an die er in Paris gewohnt war. Nur besaß sie einen viel klareren, gesunderen Teint als die gepuderten Französinnen und einen ganz unbefangenen Gesichtsausdruck. Es schien ihr völlig gleichgültig, ob und welchen Eindruck sie machte. Offenbar weil sie schon von einem Einzigen beherrscht war. Dem da drüben am Tisch. Dem breitschultrigen, klugen Artilleristen. Karl Feddersen dachte daran, zu gehen. Er fühlte sich sonderbar aufgeregt, ganz gegen seine Art, und unbehaglich in dieser Gesellschaft, in die er so gar nicht hineinpaßte. Was waren das für Kirchturminteressen ... die gerade von einer Garnison zur anderen, von der Rekrutenbesichtigung zum Wohltätigkeitsbasar reichten? Und dabei schlug ihm überall aus den hellen Stimmen der Mädchen, dem Lachen der Leutnants ein naives Selbstbewußtsein entgegen: Wir sind die Ersten im Lande, die Nächsten am Thron, die Edelsten der Nation – ein Stolz, der ihn verstimmte und der doch eigentlich frei von Ueberhebung war. Denn er sah zu deutlich aus dem Respekt der Kellner, in den wohlwollenden Blicken des andern Publikums, wie zufrieden alle Welt damit war, daß so reichlich Offiziere mit ihren Damen den gedrängten vollen Raum schmückten und aus der dunklen Masse des Zivils aufleuchteten wie der rote Mohn aus dem Feld.

Er konnte es gar nicht vermeiden, daß seine Blicke und die des schönen Mädchens ihm gegenüber sich immer wieder kreuzten. Sie waren die beiden einzigen, die sich – sie freiwillig, er unfreiwillig – aus dem allgemeinen Gespräch ausschlossen. Er hätte sie gern angeredet. Aber er fand beim besten Willen keinen Anknüpfungspunkt. Da kam sie ihm plötzlich zu Hilfe und fragte ihn in einer norddeutsch kühlen und herrischen Art, in der, ohne daß sie es selbst wußte, etwas vom Hochmut der Generalstochter gegen einen Zivilisten mitklang:

»Leben Sie hier in Berlin?«

Er mußte lachen. Er hätte beinahe geantwortet: »Gott sei Dank, nein!« Die Reichshauptstadt war ihm nicht nur eine fremde, sondern eine feindliche Welt. Sie war die Hochburg der Konkurrenz, der verwünschten deutschen Konkurrenz ... aber er erwiderte nur höflich:

»Doch nicht, gnädiges Fräulein! ... Ich bin nur einen Tag auf der Durchreise hier.«

»Wo wohnen Sie denn für gewöhnlich?«

»In Paris!«

»Ach!« sagte sie erstaunt und verstummte. Er hatte den komischen Eindruck, daß er dadurch in ihren Augen stieg. Aber es war noch die alte Herablassung in ihrem Ton, als sie wieder anhub:

»Kamen Sie jetzt aus Paris?«

»Nein! Aus Samarkand!«

»Samarkand? ...« Sie war nicht ganz sicher. »Das liegt doch so ... so ganz da hinten?«

»In Zentralasien, gnädiges Fräulein!«

»Um Gottes willen, was haben Sie denn dort gemacht?«

Er lachte.

»In Europa ruhen doch die Eisenbahnschienen gewöhnlich auf Holzschwellen – nicht wahr?«

»Ja.«

»Nun: in Turkestan hat die Natur aus unbekannten Gründen einen Bohrwurm hervorgebracht, der alle hölzernen Schwellen zernagt. Infolgedessen liefern wir dorthin lauter eiserne. Dann gibt es doch dort einen großen Anbau von Baumwolle, die zum Transport zusammengedrückt werden muß. Dazu stellen wir eiserne hydraulische Pressen. Ferner sind eiserne Brücken nötig. In Transkaspien haben wir immer Geschäfte.«

»Wer denn wir?«

»Unsere Firma: Iwan Feddersen und Söhne. Mein Vater ist seit einigen Jahren tot. Seitdem führen wir drei Brüder das Geschäft!«

»Da haben Sie also eine Fabrik?«

»Wir haben Eisengießereien im südrussischen Donetz-Bassin. Auch Kohlengruben, Dampfmühlen, Stahlwerke. Im ganzen mehr als 15 000 Arbeiter!«

»Aber Sie sagten doch vorhin, Sie lebten in Paris?«

»In Paris haben wir unser Bankbureau.«

»Und das haben Sie alles unter sich?!«

»Die russischen Werke kontrolliert mein jüngster Bruder. Unser Pariser Direktionsbureau, die › Compagnie métallurgique‹, mein ältester. Ich selbst bin Chef der Finanzierungsgruppe, einer › Société anonyme‹, und als solcher meist auf Reisen. Jetzt muß ich wahrscheinlich wieder von Paris weiter nach Marokko.«

Die lebhaften Augen seines Gegenüber hatten sich vor Erstaunen geweitet. Sie rief mit ihrer natürlichen Raschheit mitten in eine Pause der Unterhaltung hinein:

»Habt Ihr gehört? Der Herr hier ...« Offenbar hatte sie seinen Namen nicht verstanden oder bei der Vorstellung nicht darauf geachtet, »war schon in Samarkand. Er fährt jetzt nach Marokko. Er hat fünfzehntausend Arbeiter!«

Es klang wie ein Triumph, daß sie diese Entdeckung gemacht und den unscheinbaren Gast an das Tageslicht gezogen hatte. Es war, als wollte sie den übrigen sagen: Seht Ihr – es gibt auch noch andere Leute auf der Welt! Alle Augen richteten sich nach Karl Feddersen, und irgend jemand sagte:

»Donnerwetter! das ist ja ein Bombenbetrieb!«

Eine der jungen Damen, eine frische, mächtige Blondine, meinte mit tiefer Stimme:

»Herrgott – wer so reisen könnte! ... Wir geh'n den Sommer nach Rügen ...«

»Und bei uns langt's nach Ostende – aber man knapp!«

Man lachte über das naive Geständnis der zarten kleinen Gräfin neben Margarete. Die saß allein gleichgültig da. Nachdem sie ihren Zweck erreicht hatte, der Tafelrunde einen ordentlichen Hieb zu versetzen, und hauptsächlich – so schien es Feddersen – dem stiernackigen Artilleristen unten am Tisch. Er merkte, wie die beiden sich mit herausfordernden Blicken maßen, und empfand als Zeuge dieses Liebesgeplänkels eine plötzliche Regung von Eifersucht.

Der Bruder des schönen Mädchens, der Leutnant von der Garde, ging jetzt aus seiner bisherigen Zurückhaltung heraus und frug den Gast:

»Da haben Sie also bei dem marokkanischen Klimbim gehörig die Hand im Spiel, was? Na – da legen Sie sich mal da unten ordentlich für unsere deutschen Interessen ins Zeug!«

»Das wird mir allerdings schwer fallen. Ich vertrete eine französische Interessengruppe!« versetzte der junge Millionär lächelnd. Er war erstaunt über die Wirkung seiner Worte: Ein betretenes Schweigen ... Ein Blickewechseln. Dann versetzte der Monokelträger trocken:

»Da arbeiten Sie also gegen uns?«

»Das klingt wohl zu tragisch! Das Kapital kämpft immer und überall auf der Erde. So auch die Belgier und wir gegen die deutschen Syndikate. A la guerre comme à la guerre

Der Leutnant verstummte kopfschüttelnd. Sein Nachbar, der Artillerist, wurde statt seiner plötzlich munter. Er reckte sich in den Schultern, mit einem anscheinend dummen, schläfrig-schlauen Lächeln auf dem gesunden Gesicht, ein verdächtiges Zwinkern in den grauen Augen.

»Sie müssen Nachsicht mit uns haben!« sagte er einfach. »Wir sind hier furchtbar rückständige Leute, ohne viel Geld im Hosenbeutel. Darf ich mal ganz töricht fragen? Sie sagen, Sie stemmen sich aus Leibeskräften gegen Deutschland. Sie sind aber doch ein Deutscher!«

»Ich bin russischer Untertan! Mein Großvater wurde es schon!«

»Aber Sie leben doch in Paris?«

»Ja.«

»Als was betrachten Sie sich denn dann?«

»Als Kosmopoliten!« sagte Karl Feddersen kühl. Dies Verhör durch einen kleinen Leutnant langweilte ihn. Aber der andere ließ nicht locker.

»Und ... verzeihen Sie ... ich rede jetzt immer dämlicher ... wie Sie noch ein kleiner Junge waren, in welcher Sprache hat da wohl Ihre Frau Mutter des Abends mit Ihnen gebetet?«

»In deutscher. Es wurde bei meinen Eltern immer Deutsch gesprochen.«

»Leben sie noch?«

»Leider nicht mehr!«

»Und in welcher Sprache hat man wohl an ihrem Grab das Vaterunser gesagt?«

»Natürlich in deutscher! Wir sind Lutheraner. Aber nun möchte ich ...«

»Bitte – werden Sie nicht böse! Ich hab' noch nicht viel gesehen und erlebt! Ich möchte mich nur belehren. Sie erzählen, Sie haben große Reichtümer in Rußland. Haben Ihre Vorfahren die nicht dadurch erworben, daß sie deutsche Tüchtigkeit ins Land gebracht haben?«

»Ja gewiß!«

»Nun steht mir also der Verstand still!« versetzte der Linienartillerist anscheinend bescheiden. »Was Sie haben, verdanken Sie den deutschen Vorfahren! ... Sie sind deutsch geboren ... deutsch aufgewachsen, und dann hauen Sie mit den Rothosen auf Ihre Stammesbrüder los! Verzeihen Sie: das ist nicht schön! ... Die Zeiten sollten doch weiß Gott vorüber sein!«

Karl Feddersen verlor seine Ruhe nicht.

»Sie meinen, Herr Leutnant, – wenn man Deutsch redet, muß man ein Deutscher sein?«

»Gott Strombach, ja – das mein' ich!« sagte der Artillerist ehrlich.

»Dann muß also, wer Englisch als Muttersprache spricht, sich in zwei Teile teilen. Eine gehört nach London, eine nach New York! Oder umgekehrt: Es fühlt sich einer als Schweizer! Was redet er dann? Die Schweiz hat drei Sprachen!«

»So meine ich es nicht! ... Das sind überhaupt Gefühlssachen! Die müssen einem sagen, wohin man gehört!«

»Ja bitte – was soll ich denn also nach Ihrer Ansicht tun?« frug Karl Feddersen höflich mit einer einladenden Handbewegung. »Was raten Sie mir, Herr Leutnant?«

»Vor allem, finde ich, sollte man deutscher Reichsangehöriger werden!«

»Schön! Wer leitet dann unsere Geschäfte in Rußland? Ein Ausländer darf dort nicht Grund und Boden besitzen und keinem Großbetrieb vorstehen!«

»Dafür gibt's Beamte!«

»Mit solchen Strohmännern werden wir tolle Erfahrungen machen! ... Und wer treibt in Paris die Millionen auf, um Kultur unter die Wilden zu bringen? Ein Reichsdeutscher bekommt keinen Sou! Auf die Weise geht unser Geschäft zugrunde, das könnte ich nicht verantworten! Theoretisch ist es leicht, streng zu sein. Aber stehen Sie einmal mitten in einem solchen Getriebe – sehen Sie die Unzahl kleiner Existenzen, die ihr bißchen Wohl und Wehe einem anvertraut haben – dann werden Sie zugeben: Das ist unmöglich!«

Der Artillerist hatte einen roten Kopf bekommen. Er fühlte die Ueberlegenheit des Weltmanns drüben auf einem Gebiet, auf das er ihm nicht folgen konnte, und fühlte trotzdem, daß er recht hatte, und wiederholte:

»Das mag alles ganz gut und schön sein. Darüber hab' ich kein Urteil. Aber der Mensch hat nur eine Muttersprache und die ...«

»Vorgestern ungefähr um diese Zeit fuhr ich von Moskau weg!« sagte der Millionär. »Da sprach ich mit Geschäftsfreunden auf dem Bahnhof Russisch. Heute, wo ich die Ehre habe, mich unter Ihnen zu befinden, rede ich natürlich Deutsch. Uebermorgen, in Paris, würde ich mich damit keinem Menschen begreiflich machen können und gebrauche daher das Französische. Wenn ich nächstens über Gibraltar komme, werde ich mich auf englisch verständigen. Wie?« Er hatte seinen Kammerdiener sich mit einer Visitenkarte durch das Gedränge heranwinden sehen und nahm sie ihm ab. »Mein Bruder ist draußen? Schön! Ich komme!« ...

Karl Feddersen hatte, während er sprach, unbewußt seine Worte nicht an den gleichgültigen Leutnant da drüben, sondern an das schöne Mädchen ihm gegenüber gerichtet, ohne sie einmal dabei anzusehen. Er wußte trotzdem: sie hörte gespannt zu. Er merkte, daß sie auch jetzt mit einem gewissen Interesse seine seidenschillernde Pariser Weste, seine vatermörderähnlich hochgeschlungene schwarze Krawatte musterte. Er war befriedigt, daß er ihr ein vorteilhaftes Bild von sich hinterließ. Er war ein großer, stattlicher, gut aussehender Mann, wie er da vor ihr stand, dem Rittmeister von Elendt zum Abschied die Hand reichte und sich dann gegen sie und die anderen verbeugte. Eine Sekunde schwankte sie. Dann streckte sie ihm im Sitzen mit einem freimütigen Lächeln und einem kurzen Nicken des dunklen Kopfes ihre kühle, schlanke Rechte herüber. Das galt nicht ihm; das war wieder Trotz gegen den Hitzkopf im schwarzen Artilleristenkragen. Karl Feddersen war zu besonnener Geschäftsmann, um sich den Täuschungen bei Eitelkeit hinzugeben. Die ganze Sache erschien ihm jetzt komisch und zugleich voll einer unerklärlichen Wehmut. Er drückte die schmale Mädchenhand und sagte: »Auf Wiedersehen, mein gnädiges Fräulein!« und dachte sich, als er durch das Gedränge fremder Menschen dem Ausgang zuschritt: »Was heißt denn das: Auf Wiedersehen! ... Ich seh' sie ja nie wieder ...«


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