Rudolph Stratz
Lieb Vaterland
Rudolph Stratz

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12.

»Meine liebe gute Grete!

Also gleich gesagt: Mutter und ich kommen nicht zur Taufe Deines kleinen Charles-Iwan nach Paris. So – nun ist's heraus, und mir ist leichter. Mich hat's schon die ganze Zeit gedrückt und Dich wird es jetzt betrüben, mein altes Mädel, und ich bin Dir die Gründe dafür schuldig!

Wie wir im Juni vor einem Jahr bei Dir in Paris waren, da haben wir uns gefreut, Dich in Glück und Glanz zu sehen. Da war ich vor mir der Verantwortung ledig, daß ich meine Tochter einem fremden Mann in die Fremde hinausgegeben habe. Es ist gottlob gut ausgegangen, und der gute Charley trägt Dich ja auf Händen!

Nun rüstet Ihr also die Taufe Eures Erstgebornen! Es wird, wie Du selbst schreibst, auf Wunsch Deines Mannes ein großes Fest. Eure ganze Verwandtschaft ist geladen. Kind – was sollen wir unter den Millionären? Dein Söhnchen gehört hinüber in Euer Lager – zu den Feddersen! Du schreibst, ich solle auch Taufpate sein, die beiden Großväternamen Iwan und Hans seien dasselbe und Iwan nur aus Geschäftsrücksichten vorgesehen! Mag alles sein, aber schau, Grete: Wenn ich für den Täufling Ja sage, so übernehme ich vor Gott und meinem Gewissen Verpflichtungen für die Zukunft eines jungen Menschenkinds. Aber kann ich das? Ich weiß ja gar nicht, was aus ihm wird.

Hand aufs Herz, was ist der Junge eigentlich? Ein kleiner Russe? Rußland ist weit und Du bist eine Deutsche. Ein Deutscher auch nicht. Auch kein Franzose, obwohl er in Paris geboren ist. Also ein kleiner Weltbürger, nicht wahr? Ihr seid's auch! Ihr findet das gut! Ich kann mich in Eure Stimmung nicht versetzen. Ich hänge zäh und fest an meinem König und an meinem Vaterland. Ich bin damit verwachsen wie mit mir selber. Ich will mit Degen und Handschuh auf dem Sarg begraben werden, und die Glocke der Invalidenkirche soll dazu läuten, wie sie schon so manchem alten Soldaten geläutet hat. Wer weiß, wie bald die Stunde kommt! Und schau, meine Tochter: Deswegen taug' ich nicht zu Eurer Tauffeier. Mir tut das Kind leid. Mir tut jeder Mensch leid, der kein Vaterland hat. Nach meinem Gefühl fehlt ihm der Boden unter den Füßen. Er wird der unmerklichen Wohltaten nicht teilhaftig, die aus einer großen Gemeinschaft fließen. Mag er ein guter Gatte, Vater, Geschäftsmann werden – ihm mangelt unser Rückgrat vom Alten Fritz her: die verfluchte Pflicht und Schuldigkeit im großen! Sprich: fürchtest Du nicht, daß ein junger Mensch da leicht eigensüchtig und blasiert wird?

Nun wirst Du antworten: Ein Deutscher kann unser Charles-Iwan nie und nimmer werden! Höchstens ein kleiner Franzose oder Russe, wie das schon seine Vornamen sagen. Das ist es eben! Am Taufbecken eines Knaben, der vielleicht als Mann dereinst gegen Deutschland und seine Onkel und Vettern kämpfen würde, möchte ich, ein alter preußischer General, auch nicht stehen! Das wirst Du mir von früher her, als Du noch ein Berliner Soldatenkind warst und eine preußische Leutnantsfrau werden wolltest, wohl nachempfinden!

Aber seitdem – darauf kommt es immer wieder hinaus – haben sich Deine Wege von den unsern getrennt. Und somit auch die Deines Kindes und Deiner künftigen Kinder. Sei mir nicht böse, meine gute Grete: Ich sag' es Dir offen, wie mir's um's Herz ist. Ich bring' es nicht über's Herz, dabei zu sein. Das Uferlose, Unbestimmte bei Euch geht mir so wider die Natur. Ich kann nicht, liebes Kind. Ich kann nicht. Ich bin alt und krank. Es würde mich zu sehr aufregen! Sei mir nicht böse! Mama schreibt Dir noch extra! Dich liebt wie immer und segnet Dich und wünscht Dir und dem kleinen Charles-Iwan und Deinem lieben Mann alles Gute

Dein treuer Vater.«

Zum zweitenmal sprossen in Paris die Kastanienbäume in diesen milden ersten Septembertagen. Sie trugen rosa Blüten zwischen sommermüdem Laub am selben Ast. Tag für Tag überstrahlte die Sonne vom gleichen lachend blauen Himmel die lachende Stadt. Ein sanfter Wind scheuchte die Schwüle. Er brachte einen Hauch von Schatten und Kühlheit des Boulogner Waldes mit sich, wie er die Vorhänge an den offenstehenden Fenstern des Palais Feddersen blähte und mit dem Brief spielte, den Margarete schmerzlich in der Hand hielt. Sie las die zitterigen Zeilen des Vaters zum drittenmal. Sie merkte aus der unsicheren Schrift, wie alt er im letzten Jahre geworden. Sie wunderte sich nicht über das, was er schrieb. Sie hatte es eigentlich erwartet. Und doch tat es ihr bitter weh. Auch daß Mama nicht kam. Von sich aus hätte sie es getan. Sie ließ es in ihrem Schreiben durchblicken. Aber sie hatte ja keinen eigenen Willen. Sie ging in allen Dingen des Lebens blindlings mit dem Vater durch dick und dünn.

Und die Geschwister? Gertrud, die zweite, hatte geantwortet, ein Abstecher nach Paris – das wäre freilich himmlisch. Aber so als Aschenbrödel dazustehen unter den wahnsinnigen Toiletten der dortigen Millionärinnen, dazu ihr kümmerliches Pensionsfranzösisch ... Ebensowenig konnte Sofie, die Jüngste, eben erst Vermählte, von ihrem Assessor weg. Adalbert und die anderen Brüder bekamen als Offiziere auch schwer Urlaub nach Paris. Es kostete auch zu viel für die paar Tage ... kurz ... sie fehlten sämtlich! Margarete dachte daran, wie sie einst im Übermut als Braut alle ihre Freundinnen zu sich in die Pariser Herrlichkeit eingeladen hatte. Keine von ihnen war je gekommen, der Briefwechsel mit ihnen jetzt, wo sie im dritten Jahr verheiratet war, längst eingeschlafen, die Beziehungen gelöst. Sie empfand heute deutlicher als je, was sie nur noch war, immer bleiben würde: ein Anhang des Hauses Feddersen. Und dazu ein Unerbetener. Das ließ man sie nur nicht fühlen, weil ihr Mann sie schützte. Sie fühlte, sie wurde müde an diesen Leuten. Die waren stärker als sie. Die hätten es auch gar nicht begriffen, daß sie die ganze Geschichte anders als rein geschäftlich auffaßte. Man zappelte nun einmal als Schmetterling auf der goldenen Nadel. So oder so ...

Nun war der Tag der Taufe. Die protestantischen Tempel der Seinestadt boten nicht genug Raum zur Prunkentfaltung. So wurde das Fest im Palais Feddersen gefeiert. Draußen standen die Autos in langen Reihen, drängten sich die Gaffer. Innen blühte und duftete es wie in einem Gewächshaus. Kostbare Gaben für den kleinen künftigen Millionär lagen dazwischen, vom goldenen Löffelchen bis zum Scheck auf die Bank von England. Auch Margaretens Angehörige hatten ein Gesamtgeschenk gesandt, einen mächtigen, silbervergoldeten Patenbecher, auf dem das Wappen der Teuffern, die Taube mit dem Oelzweig, prangte. Es nahm sich sehr gut aus. Papa war immer anständig in solchen Dingen. Zu anständig. Er gab lieber über seine Mittel. Auch Briefe waren von daheim gekommen, von der Mutter, den Geschwistern. Der alte Herr hatte nicht selbst geschrieben. Er hatte sich, wie er meldete, beim Ausgleiten auf der Treppe die Hand verstaucht und diktierte seinem Sohn Adalbert. Es waren nur wenige Zeilen voll Liebe und Güte. Sie machten Margarete das Herz schwer. Sie saß blaß und schweigend während der Taufe in ihrem Sessel. Der schwere Duft der Blumen, der Parfüms, der Kerzen betäubte sie halb. Sie hörte wie von weitem die Stimme des Geistlichen. Sie hatte immer den dumpfen Gedanken, das ginge hier jetzt auch alles ohne mich. Ich habe meine Schuldigkeit getan. Der kleine Feddersen ist da. Er ist nun schon acht Wochen alt. Die Firma hat ihren Erben. Nun gehört er schon diesen Großkaufleuten und ihren Frauen, nicht mir, dem Eindringling. Sie fühlte einen Haß gegen diese Leute. Aber sie war zu müde, ihn lange festzuhalten. Es war Traurigkeit in ihr. Ein Abseitssein. Ein Frieren. Ein gleichgültiges Alles-mit-sich-geschehen-lassen.

Dann entstand mitten in der feierlichen Handlung ein leises Kichern unter den jungen Mädchen. Das war, während Alphonse Feddersen vor den Altar trat, der übel beleumundete Junggeselle, auf dessen Erbschaft Charley dereinst für seinen Sohn hoffte. Daher dessen Wahl als Pate. Karl Feddersen hatte das seinerzeit seiner Frau erklärt und sie dabei triumphierend aus seinen kühlen blauen Kontoraugen angeblickt, und sie hatte sich beinahe geschämt, daß sie immer noch so naiv war und vergaß, worauf alles im Leben ankam ... Geld ... Geld ... immer Geld ...

Alphonse zog sich im übrigen sehr gut aus der Affäre. Mit unerschütterlicher Würde hielt er das Spitzenkissen. Er war, im Profil gesehen, mit seinen scharf geschnittenen länglichen Zügen, dem spitzen Vollbart, der schlanken, hohen Gestalt in seiner Art ein schöner Mann. Und seltsam: so lange er den Täufling auf dem Arm hatte, war der mäuschenstill und schrie erst wieder, als ihn Madame Madge Feddersen, die letzte der Paten, an sich nahm.

Während der Festtafel, die darauf folgte, verstärkte sich Margaretens Traurigkeit. Sie blickte die Reihen hinauf und hinunter. Ein Schauer bodenloser Einsamkeit überlief sie. Nirgends ein vertrautes Gesicht. Ein Mensch, dem sie aus der Ferne hätte zunicken können und der sie ohne Worte, mit einem Lächeln, verstand. Nichts, das aus dem, was sie war, woher sie kam, aus Kindheitstagen und Mädchenjahren zu ihr sprach. Was hätte sie darum gegeben, unter allen diesen Fremden irgendwo Papas freundliches, gefurchtes Antlitz, die stillen, immer noch schönen Züge ihrer Mutter zu sehen, einen Blick der Liebe zu erhaschen, ein wenig Wärme im Herzen zu spüren. Sie wäre am liebsten aufgestanden und aus diesem Gelächter und Stimmengewirr weggegangen. Sie hatte ein wildes Heimweh nach den Menschen daheim, die wie sie dachten und fühlten und sprachen. Aber um sie klang kein deutscher Laut. Sie hörte, wie eben jetzt ihr Mann seinem Bruder Sascha gedämpft etwas auf russisch über den Tisch sagte, mit einem Blick auf sie. Er sprach von ihr. Sie fuhr auf. Sie konnte diese Angewohnheit nicht leiden, sich in ihrer Gegenwart, wie es die Feddersens häufig taten, in der Sprache des Landes zu unterhalten, dessen Untertanin sie war, und von der sie doch keine Silbe verstand.

»Was hast Du denn da wieder für Geheimnisse?« fragte sie gereizt, und Karl Feddersen antwortete, absichtlich leichthin:

»Ich erzähl' es Dir nachher!«

Er sah auch zerstreut und etwas angegriffen aus. Sie wunderte sich darüber. Diese auserlesene Tafel hier war sein eigenstes Werk. Er hatte sich keine Mühe und Kosten verdrießen lassen und aus allen Ecken Europas Leckerbissen verschrieben, um der Familie zu imponieren. Aber nun saß er wortkarg da. Er aß wenig. Er mußte wohl geschäftliche Sorgen haben. Margarete dachte nicht weiter darüber nach. Sie war froh, daß man sie selbst in Ruhe ließ. Man beachtete sie nicht. Man lachte und lärmte um sie herum ... über sie hinweg ...

Dann klopfte jemand an das Glas. Monsieur Gustave Beinhauer, der große Mülhauser Fabrikant und Pariser Patriot, der selbst eine Feddersen, Alphonses ältere Schwester, zur Frau hatte, erhob sich zur Festrede auf den Täufling. Der hitzige kleine Herr, mit Zwicker und schneeweißem Henri-quatre, die rote Rosette der Ehrenlegion in der Frackklappe, fing heiter an. Er wollte von dem Zweibund sprechen. Dem ersten Zweibund auf Erden. Adam und Eva. Mann und Frau. Dieser Bund ist heilig. Durch ihn besteht die Welt. Ihn preisen wir auch heute und danken Gott ...

Ein paar Damen lächelten gerührt. Einige Herren machten unbehaglich gespannte Gesichter. Sie kannten den Alten und seine fixe Idee. Sie ahnten schon den Uebergang.

Gustave Beinhauer verstärkte seine Stimme. Er schlug nervös mit dem Messer, das er noch in der Rechten hielt, gegen die Tischkante. Er lächelte immer noch, aber mit funkelnden Augen: »Neben diesem Zweibund der Ehe, meine Damen und Herren, verkörpert der Knabe, den wir eben aus der Taufe hoben, noch eine andere Allianz. Er ist als Russe in Frankreich geboren. Das ist wie ein Sinnbild. In ihm einen sich die wichtigen und heiligen Freundschaftsbeziehungen, die die beiden großen Staaten seit den Tagen von Kronstadt ...«

» Pas de politique!« schrie von unten her flehentlich eine Dame. Auch der Hausherr schaute mit warnendem Kopfschütteln zu dem Redner hinüber. Doch der ließ sich nicht beirren. Eine Welle patriotischen Zornes färbte seine gefurchten Wangen. Er hob die Hand, um sich Ruhe zu verschaffen, und zupfte sich die weiße Krawatte zurecht.

»Und, meine Damen und Herren, ich gehe noch weiter! Ich – und nicht ich allein, sondern wir alle – haben etwas davon läuten hören, daß unser lieber Charley Feddersen damit umgeht, das französische Bürgerrecht für sich und damit auch für seine Nachkommen zu erwerben. Noch mehr: Nach Nachrichten, die aus dem Ministerium dringen, ist die Sache schon so gut wie spruchreif. Ich glaube, wir können heute schon Charley, den Vater, und Charles, den Sohn, als Bürger der großen französischen Republik begrüßen!«

Karl Feddersen war aufgestanden, das Glas in der Hand. Er wollte dankend mit dem Redner anstoßen. Der winkte ab. Er schrie jetzt fast. Für ihn kam nun erst die Hauptsache. Der Fanatismus des Elsässer Optanten ging mit ihm durch:

»Frankreich kann Männer brauchen, meine Damen und Herren! Brauchen für die große Stunde, wo seine Jugend zu den Waffen strömt und die geraubten Provinzen wieder an sich reißt. Ich neige mich im Geist vor dieser Stunde! Ich grüße Frankreichs Adler! ... Ich grüße den, den sie dereinst beschatten werden, Charles-Iwan, unseren kleinen Patrioten! Er lebe hoch!«

Karl Feddersen hatte beunruhigt zu seiner Frau hinübergesehen, die während der letzten Sätze mit zusammengepreßten Lippen vor sich hinstarrte. Nun hob sie jäh das dunkle Haupt und fragte, mitten in das Gläserklingen hinein laut auf deutsch und ganz mit norddeutscher Herbheit und Kühle, die sie sonst längst nicht mehr an sich hatte:

»Sagen Sie mal: daß ich 'ne Deutsche bin – das haben Sie wohl ganz vergessen?«

Monsieur Beinhauer war so verblüfft, daß er plötzlich auch sehr gut auf deutsch antworten konnte:

»Sie waren es, Madame! ... Sie sind es nicht mehr!«

»Fühlen Sie sich nicht als Franzose?«

»Ganz und gar!

»Und sind es geblieben, obwohl Ihre Heimat deutsch wurde?«

»Da gerade!«

»Nun gut! Warum werfen Sie dann mir den umgekehrten Fall vor?«

Es war still an der ganzen langen Tafel geworden. Der alte Protestler fand nicht gleich eine Antwort. Endlich meinte er:

»Sie haben uns diese Gefühle bisher noch nie gezeigt, Madame!«

Madame Feddersen richtete sich kalt auf.

»... weil man meine Gefühle noch nie so plump und taktlos verletzt hat! Das war Ihnen vorbehalten, Herr Beinhauer!«

»Aber, Madame ...« »Ich wünsche die Nichtbeachtung nicht, die darin liegt! Ich bin keine quantité négligeable ...«

»Margot ...« Karl Feddersen flüsterte ihr entsetzt über den Tisch zu: »Sei doch still!«

»Und ich verbitte mir, daß Sie hier an meiner eigenen Tafel den Rachekrieg gegen mein Vaterland predigen! Ich bin die Tochter eines preußischen Generals!«

Plötzlich warf sie das Haupt in den Nacken. Sie lachte. Es leuchtete kriegerisch, voll Teuffernschen Geistes, aus ihren großen dunklen Augen.

»Aber versuchen Sie es doch! Marschieren Sie doch an den Rhein! ... Wir sind bereit! ... Sie kommen bald mit blutigen Köpfen zurück! Wir hauen Euch alle! Samt den Russen! Wir haben Uebung darin! Wir hauen die ganze Welt!«

»Margot!« schrie ihr Mann wütend. Ein Teil der Gäste war aufgesprungen. Andere, die nicht Deutsch konnten und den Grund des Aufruhrs nicht begriffen, schauten fragend um sich. Flammen des Hasses loderten auf, spiegelten sich in den verzerrten Zügen, Flammen eines wütenden, tiefinnerlichen Hasses gegen alles, was deutsch war, Deutsch sprach, Deutschem lebte. Längs der Wand standen die Lakaien mit unbewegten Gesichtern. Alphonse Feddersens weicher, heller Bariton durchdrang das Stimmengewirr. Er sprach Französisch, mit dem versöhnlichen Lächeln des Weltmannes:

» Mesdames – Messieurs ... wir sind allzumal Sünder ... ich ganz besonders ... Sie brauchen nicht noch so zustimmend zu nicken, Cousine Madge ... ich weiß es selber am besten ... Und da wir Sünder sind, haben wir eine große Unterlassungssünde gut zu machen ... Pardon, Schwager Gustave ... Du hattest das Wort ... jetzt rede ich ... also: mein lieber Charley – mein lieber Sascha: Eure guten Eltern sind nicht mehr. Wir haben sie schon vor Jahren in Jekaterinoslaw zur Ruhe getragen. Sie können sich nicht mehr an ihrem Enkelchen freuen. Aber Großeltern hat der Junge doch. Die Eltern seiner lieben Mutter. Sie sind nicht hier. Sie leben – halte doch einer Gustave fest, während ich das Wort ausspreche! – Sie leben in Berlin! ... Aber sie sind gewiß jetzt im Geiste hier bei uns, und so wollen wir mit allem schuldigen Respekt auch ihrer gedenken!« Er erhob seine Stimme. »Seine Exzellenz, der General von Teuffern und Madame von Teuffern – sie leben hoch!«

Er lachte dabei und stieß gleich mit dem Nächsten an. Das waren alles höfliche Leute, froh, einlenken zu können. Die Gläser klangen. Der Bann war gebrochen. Nur Gustave Beinhauer stand verbissen zur Seite. Er trank nicht auf die Gesundheit eines Preußen – er nicht! Aber man achtete nicht mehr auf ihn. Man hatte Welt. Man wußte nichts mehr von dem Zwischenfall, und Karl Feddersen flüsterte, sonderbar blaß und erregt, seiner Frau zu:

»Gott sei Dank! Alphonse hat die Situation gerettet!«

Sie war dem dunklen, spitzbärtigen Vetter wirklich dankbar und freundschaftlich gesinnt, während ihre Champagnerschale die seine berührte. Sie hatte ihn seit jenem Weihnachtsabend nicht mehr gesehen. Er tauchte immer nur in Geldnöten wie ein Komet am Feddersenschen Familienhimmel auf und verschwand wieder in der Richtung nach Monte Carlo. Er hatte wieder seine weichen, ironischen Augen. Er blinzelte ihr über das Glas hin verständnisvoll zu, als sei er allein hier im Saal mit ihrem Ursprung, ihren Lieben, ihrem Heim vertraut. Er hatte so nett von den Eltern gesprochen. Sie war ganz gerührt und konnte sich doch Papa und Alphonse Feddersen beim besten Willen nicht nebeneinander denken. Sie wußte, was der alte Herr nach ganz kurzer Zeit in seiner stillen, milden Art mit seinem Lieblingswort von ihm gesagt hätte: »Kind ... ein Liederjanski ... laß' ihn laufen ...«

Man hatte sich wieder gesetzt. Die Aufregung hatte sich allmählich gelegt. Man speiste weiter. Nur Gustave Beinhauers Stuhl blieb leer. Der Protestler war wütend verschwunden. Auf Margarete lastete wahrend des Restes der Tafel ein seltsames, drückendes Gefühl, eine Verdüsterung ... als habe sie etwas zu bereuen – als sei sie etwas schuldig geblieben. Sie hatte doch niemanden verraten. Am wenigsten die Eltern. Sonderbar: Eigentlich hatte der alte Deutschenhasser vorhin genau dasselbe gesagt wie der preußische General: Wenn es zum Krieg kam, marschierte der kleine Charles-Iwan mit gegen die verhaßten Pickelhauben, sei es als Russe von Osten, sei es als Welscher von Westen! Und jählings durchzuckte sie ein Schrecken: Weißt Du, wen Du verraten hast? ... Dein Kind!

Endlich war es vorüber. Die Gäste gingen. Das letzte Automobil wurde draußen angekurbelt und schoß knatternd in die beginnende Dämmerung hinaus. Die beiden Gatten standen einander gegenüber, er blaß und gedrückt, sie nachträglich wieder erregt. Sie trat auf ihn zu.

»Wirklich reizend, vorhin ...,« sagte sie in mühsam unterdrücktem Zorn. »Wenn Du Dich schon danach sehnst, mit Leib und Seele Franzose zu werden, dann gewöhne Dir auch wenigstens die französische Ritterlichkeit an – auch gegen die eigene Frau! Statt daß Du mich unter meinem eigenen Dach beschimpfen läßt! Wahrhaftig: man mag über Alphonse sonst denken, wie man will – aber er hat im kleinen Finger mehr Takt und Feingefühl als Ihr alle zusammen!«

Karl Feddersen hatte kaum zugehört. Er nahm mit sorgenvoller Miene ein paar Depeschen aus der Fracktasche. Sie beobachtete es gereizt.

»Sei so gut, Charley, und lasse noch einen Augenblick Deine Kurse, wenn ich mit Dir rede!«

Er räusperte sich.

»Es sind keine Geschäftsnachrichten, Margot! Sie betreffen Dich! Ich muß es Dir jetzt eröffnen: Dein guter Vater ist nicht ganz wohl!«

»Was ...«

»Deswegen hat er Dir schon nicht selbst geschrieben, sondern Deinem Bruder diktiert. Seitdem hat es sich leider verschlimmert!«

Sie schrie auf:

»Und das sagst Du mir erst jetzt?«

»Auf sein eigenes Geheiß, Margot! Er hat mir telegraphisch das Ehrenwort auferlegt, es Dir erst nach Beendigung der Tauffestlichkeit mitzuteilen! Du kennst ihn doch besser als ich! Er will ja nie stören ... nie zur Last fallen ... auch nur anscheinend.«

Nein! Das sah Papa ganz ähnlich. Sie drückte bleich und erschüttert die Hände ineinander, um ihre Angst niederzukämpfen. Ihr Mann fuhr stockend fort:

»Gerade vor Tisch ist das letzte Telegramm gekommen. Man bittet Dich nach Berlin. Am besten ist es, Du nimmst den Abendzug in zwei Stunden.«

Sie antwortete nicht. Sie eilte mit zusammengebissenen Zähnen in ihre Gemächer. Sie klingelte der Kammerjungfer und half ihr selbst beim Packen. Atemlos! Wahllos! Wie es kam. Dann stand sie reisefertig vor der Wiege ihres Kindes. Dort drüben, in nächtlicher Ferne, ahnten, fürchteten ihre umflorten Augen eine Bahre. Anfang und Ende des Seins – der, der ihr das Dasein gegeben – der hier, dem sie es geschenkt – sie in der Mitte zwischen Leben und Tod ...


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