Rudolph Stratz
Lieb Vaterland
Rudolph Stratz

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15.

In Werder blühten die Kirschen. Ueberall an den Ufern der blauen Havelseen standen die Bäume in weißem Schnee. Potsdam selber lag in junges Grün gebettet. Seine alten Türme, die mächtigen Kuppeln des Stadtschlosses überragten die Dächer der Kasernen und Prinzenpalais wie einst. In der warmen Frühlingsluft zitterte das Glockenspiel: »Ueb immer Treu' und Redlichkeit!« wie damals, als sie zum letztenmal an einem Sommerabend hier gewesen war, mit dem Dampfer von Wannsee herüber, eine ganze Gesellschaft junger Offiziere und junger Mädchen. Das langverblaßte Erinnerungsbild tauchte in Margarete Feddersen auf, während sie vom Pfingstberg herniedersah. Du lieber Gott ... was war aus dem Mückentanz über dem Havelspiegel geworden? Wo waren sie alle hingeraten? Versetzt, verheiratet, in alle Winde zerstreut. Eine, die blonde Magda Frisching, bis nach Südwestafrika verschlagen, von wo sie voriges Jahr einmal eine Ansichtskarte geschrieben – und sie selber, die blasse, schöne junge Frau, deren Pariser Eleganz die Offiziersdamen in den Straßen Potsdams neugierig betrachteten – war sie wirklich einmal die Margarete Teuffern von damals gewesen? Hatte sie wirklich je auf einem Holzstoß im Grunewald gesessen, die Hand des Oberleutnants Lünemann in der ihren, und bitterlich geweint, weil sie beide sich nicht heiraten konnten? Wie lange war das her? Kaum fünf Jahre. Sie glaubte es sich kaum, als sie es, still unter dem Sonnenschirm stehend, den Blick traurig auf der Stadt da unten, nachrechnete. Ihr schien ein Menschenleben dazwischen zu liegen.

Langsam stieg sie herunter. Wie wunderlich war dies um sie: die stillen Straßen mit den holländischen Kanälen, die langen Leute der Gardedukorps, die ohne Koppel und Pallasch einhergingen, als sei die ganze Stadt eine einzige Kaserne, die steinernen Puppen im Lustgarten. Sie schritt rascher aus in plötzlicher Unruhe. Es war das erstemal in den acht Tagen ihrer Anwesenheit in Potsdam, daß sie das Haus ihrer Mutter, und ihr Kind darin, auf längere Zeit verlassen hatte.

Draußen, in der Gegend von Sanssouci bewohnte die verwitwete Generalin von Teuffern mit ihrer Schwester den Oberstock eines friedlichen, noch aus der Zeit Friedrich Wilhelms III. stammenden Gartenhauses. Der Weg war menschenleer. Die Sonne brannte zwischen den Schattenbündeln der Bäume. Der Fuß versank lautlos in weißen Staub. Margarete Feddersen ging wie im Traum. Es war ihr zumut, als müßte sie mit einemmal wieder in Paris aufwachen, Automobilgetute vor den Fenstern statt des Käfersummens am Rain, Benzindunst in der Luft statt Blütenhauch und Frühlingsfrieden. Ein höherer Offizier trabte vorbei. Er trug den Backenbart noch nach Art des alten Kaisers Wilhelm geschnitten. Hier in Potsdam hatte alles einen altmodischen Stich. Dann ein paar gleichgültige Fußgänger. Hinter ihnen, dicht vor dem Hause, ein junger Mensch. Sie musterte ihn mißtrauisch. Er hatte kein deutsches Gesicht. Auf den Boulevards, bei den Camelots, sah man diese bleichen Lasterfratzen. Der bartlose Kerl mit dem roten Schlips tat, als beachte er sie nicht. Sie eilte ins Haus, die Treppe hinauf, in das Zimmer, in dem eben die Pflegerin Milch auf einem Kocher wärmte, legte ihr von hinten die Hand auf die Schulter und frug rauh:

»Was haben Sie mit dem Menschen da unten zu schaffen?«

»Ich? Nichts, Madame!«

»Leugnen Sie nicht! Sie werden ja ganz rot! Das Subjekt stand schon gestern vor dem Hause. Schon vorgestern ...«

»Ich habe nichts davon gemerkt, Madame!«

»Und was ist das für ein Automobil, das da unten immer vorbeifährt? Das kenn' ich auch schon!«

»Madame sind sehr erregt! Madame sehen Gespenster!« Die hagere Person nahm die Milch in beide Hände und trug sie vorsichtig in das Kinderzimmer. Von drinnen rief die Generalin von Teuffern:

»Schon zurück, Grete?«

»Ich hatte so Angst, Mama!«

»Ich auch! Es war solch ein unheimlicher Bursche an der Tür. Er konnte kein Wort Deutsch. Wir konnten ihn kaum los werden. Dabei wollte die Wärterin durchaus den Kleinen im Freien spazieren fahren, obwohl Du es ihr ausdrücklich verboten hattest! Ich mußte mich mit Tante Adelheid direkt vor die Tür stellen, um sie zurückzuhalten.«

»Ich danke Dir, Mama,« sagte Margarete kurz und trat in das Zimmer der Pflegerin. »Ach bitte, kommen Sie doch mal her! Sehen Sie mich mal an! Sie können's nicht. Ich weiß. Hier haben Sie Geld! Packen Sie gefälligst gleich Ihre Sachen und sagen Sie in Paris meinem Mann: Stehlen ließ ich mir Charles-Iwan nicht! Diese Versuche seien ganz aussichtslos. Adieu!«

Dann wandte sie sich, zornig auflachend, und mit funkelnden Augen zu ihrer Mutter: »Das könnte denen so passen! Die denken in Paris: Wenn sie nur ihren Erbprinzen wieder haben, was liegt dann an der Mutter! Die muß dann selber zu Kreuze kriechen. Deswegen hat mein Mann in diesen ganzen acht Tagen auch noch kein Sterbenswörtchen von sich hören lassen. Aber sie sollen sich wundern. Ich bin eine Deutsche. Ich bin ihnen hier in Deutschland zehnmal über!«

Frau von Teuffern hatte sich gesetzt. Sie sah seit dem Tode ihres Mannes sehr verfallen aus. Es ging ihr nicht gut mit ihrer Gesundheit. Sie blickte zu ihrer schönen Tochter empor, die hochaufgerichtet und kriegerisch vor ihr stand.

»Man muß sehen, wie nun alles wird, Grete!« sagte sie müde.

»Ich bin zufrieden, daß ich wenigstens so weit bin!«

Frau von Teuffern fuhr fort:

»Bisher ist doch nichts an die große Glocke gekommen. Ich habe überall erzählt, Du seiest bei mir auf Besuch. Das geht ja eine Weile. Aber schließlich ...«

»Sag' nur: ich sei von meinem Mann fort! Das ist für mich wahrhaftig keine Schande!«

»Gewiß nicht! Aber falls Du Dich doch entschließen solltest, zu ihm zurückzukehren ...«

Margarete Feddersen machte große Augen.

»Ich? Nach Paris zurück? Mama, ich verstehe Dich wirklich nicht!«

»Kind, wieviel Geld hast Du eigentlich bei Dir?«

Die Frage kam der jungen Frau unerwartet. Sie stutzte und sagte dann halb widerwillig:

»Ich weiß wahrhaftig im Augenblick nicht genau, Mama!«

»Aber ungefähr?«

»Ich habe so ein Bündel Hundertfrancsscheine im Täschchen!«

»Und was machst Du, wenn das Bündel alle ist?«

Ihre Tochter schwieg.

»Ich möchte Dir ja von Herzen gerne sagen: Bleibe bei mir! Aber Du bist eine unendlich verwöhnte Frau. Der Luxus ist Dir zur Lebenslust geworden. Und hier würden wir uns bis zum äußersten einschränken müssen, um mit meiner winzigen Pension durchzukommen!«

»Das fällt mir auch gar nicht ein, Dir auf die Dauer zur Last zu fallen, Mama!«

»Wohin willst Du denn dann?«

»Ich will nirgends das Gnadenbrot essen! Weder bei meinem Mann noch sonstwo!«

»Aber von der Luft kannst Du doch nicht leben!«

»Ich kann mir etwas verdienen!«

»Wodurch denn? Und noch dazu mit einem kleinen Kind auf dem Hals! Mach' Dir das nur einmal klar, was das für eine Stellung im Leben ist: eine aus dem Hause ihres Mannes davongegangene Frau! Da hütet sich jeder. Da helfen uns auch alle unsere gesellschaftlichen Verbindungen nichts. Da kommst Du beim ersten Schritt auf schiefe Ebene! Gerade Du mit Deiner Erscheinung ... Deinen Ansprüchen ... Deinem Temperament ...«

Nun ließ sich auch Margarete nieder und stützte düster das dunkle Haupt auf die Hand. Nach einer Weile lachte sie bitter auf:

»Also, Du, meine Mutter, rätst mir, auf meinen einfachsten natürlichen Stolz zu verzichten?«

»Ich rate nichts, Grete! ... Ich mache mir nur meine Gedanken, was geschehen soll. Schutz können wir Dir hier nicht viel bieten. Dein guter Vater ist tot. Was würde es helfen, wenn ich oder einer Deiner Brüder Deinem Mann die Leviten lesen wollten? – einem Franzosen, einem Millionär – irgendwo im Ausland. Wir sind ja außer jeder Beziehung mit ihm und Deinem ganzen Lebenskreis. Es würde womöglich gar keine Antwort von dort kommen!« »Mama ... kannst Du mir das Herz nicht noch schwerer machen?«

»Ich muß mit Dir darüber sprechen! Ich schlafe schon keine Nacht. Du hast damals diese Vernunftehe geschlossen. Du weißt, wir haben Dich nicht hineingedrängt! Wir haben es ganz Deiner Wahl überlassen. Du bist über den Rhein gegangen. Du bist Französin geworden. Wenn Du nun so zurückkommst, mein armes Kind – ich zerbreche mir den Kopf, was aus Dir werden soll.«

Die junge Frau hatte sich nervös wieder erhoben. Die Hände auf dem Rücken verschlungen, trat sie zum Fenster. Dort draußen ging wieder der bartlose Mensch von vorhin vorüber. Ein zweiter stämmiger Kerl, der wie ein Berliner Budiker aussah, begleitete ihn. Sie bummelten, langsam, schweigend, anscheinend müßig, um die Ecke.

»Du wirst Tag und Nacht damit zu tun haben, den Jungen zu bewahren, daß sie ihn Dir nicht stehlen,« sagte hinter ihr Frau von Teuffern. »Wie Du daneben noch etwas anderes anfangen willst, ist mir beim besten Willen nicht klar!«

»Mir auch nicht. Mein Kopf ist ganz dumm, Mama! Ich bin auf einmal so müde!«

Sie verstummten beide. Sie warteten. Diesen Tag, den nächsten, den dritten. Kein Brief kam aus Paris, kein Lebenszeichen. Nichts rührte sich. Auch die verdächtigen Gestalten vor den Fenstern blieben aus. Was da sich zeigte, war unverfälschtes Potsdam. Die Garde-Ulanen ritten mit flatterndem weiß-schwarzen Fähnchenwall vorüber, Soldaten schlenderten am Abend mit ihrem Schatz. Droschken voll Fremder rollten nach Sanssouci – in Margarete Feddersen wuchs die Ungeduld. Es war, als habe man sie am Strand der Seine schon ganz vergessen. Sie und ihr Kind. Das konnte nicht sein. Ihr Mann brauchte seinen Stammhalter. Sie, die Mutter, gab er wohl her, jenen nicht. Aber was plante er? Von woher kam der Streich? Diese Ungewißheit nahm die Nerven mehr mit als ein offener Kampf. Margarete wagte sich kaum aus dem Hause, und mußte doch einmal hinüber nach Berlin, um Einkäufe zu machen. War sie doch, wie sie ging und stand, von Paris weggefahren.

Sie wählte eine frühe Morgenstunde und ein Warenhaus ganz im Westen, um möglichst keine Bekannten zu treffen. Sie fuhr, um zu sparen, vom Potsdamer Platz mit der Straßenbahn, was sie seit ihrer Mädchenzeit nicht mehr getan. Mit stiller Wehmut sah sie, auf dem Hinterperron stehend, die altvertrauten nüchternen Straßen und Plätze. Ueberall wurden Erinnerungen wach, tauchten vergessene Eindrücke auf. Sie schaute lange einem schlanken jungen Mädchen nach, das in der Bülowstraße elastisch vom Wagen sprang und mit raschen Schritten einer Seitenstraße zueilte. Sie dachte dabei: Das könnte ich gewesen sein, so wie ich damals war. So ging ich. So trug ich den Kopf im Nacken. Flott und hochmütig. Was konnte einem denn Großes im Leben geschehen? Hoffentlich geht's der da besser als mir ...

Im Warenhaus erstand sie – ihrer Meinung nach – nur das Allernötigste und kam schließlich doch, halb aus Gewohnheit, ins Kaufen hinein. Als sie an der Kasse stand und zahlte, wurde das Päckchen Hundertfrancsscheine, das sie in der Hand hielt, um die Hälfte dünner. Sie zählte, dem Ausgang zuschreitend, verstohlen den Rest nach und erschrak: Es blieben nur noch ein paar hundert Mark übrig; sie hatte Mühe, sich das klar zu machen. Seit langen Jahren griff sie unterwegs, rein mechanisch, ohne mehr an Geld und Geldeswert zu denken, in ihre kleine, edelsteinbesetzte Börse. Das Scheckbuch lag daheim immer zur Hand. Charley zog, wenn sie ihn um Geld anging, lächelnd nie weniger als ein Tausendfrancsbillett aus seiner Brusttasche. Wenn diese kleine Summe, die sie jetzt noch besaß, aufgebraucht war, was dann? Sie war in einer gedrückten Stimmung, als sie auf die Straße kam. Es war ihr, als wehte da ein kalter Wind, als machten die Menschen feindselig fremde Gesichter. Ein Gefühl der Hilflosigkeit, eine leise Angst vor dem Leben überschlich sie.

Da hörte sie hinter sich eine tiefe Altstimme: »Grete, Grete, bist Du's wirklich? Oder ist's Dein Geist?« Sie wandte sich um. Eine große, frische Blondine stand da und streckte ihr lachend beide Hände entgegen. »Wahrhaftig ... sie ist es! Und noch schöner geworden wie als Mädchen! Du – darf man denn überhaupt noch mit Dir reden, seit Du zwanzig Millionen hast? Oder sind's vierzig? Darüber sind sich die Gelehrten hier nämlich noch nicht einig! ... Wie geht's Dir denn? ... Famos natürlich! Was machst Du denn in Berlin?«

Margarete sah schwach lächelnd ihrer Jugendfreundin, dem Fräulein von Frisching, ins Gesicht, die ihr mit der Wucht einer Walküre die Hand drückte, und erwiderte ihren Kuß.

»Gott, Magda,« sagte sie. »Ich denke, Du steckst längst in Südwestafrika!«

»Ich bin wieder zurück. Aber ich gehe nächsten Monat wieder hin. Ich equipiere mich eben da drinnen in dem Store. Weißt Du, seine Farm ist ja riesig, aber weit draußen. Da kriegt man nichts. Ich muß alles mitbringen!«

»Wessen Farm?«

»Karls – natürlich! Riesig, sag' ich Dir! Zehn deutsche Rittergüter sind nichts dagegen! Wir werden auch Strauße züchten!«

»Wer ist denn Karl?«

»Ach so, das weißt Du ja noch gar nicht! Ich hab' mich drüben stante pede verlobt! Ich heirate in einem Vierteljahr! Na – Dir mit Deiner Bombenpartie mag das ja komisch vorkommen! Aber ich bin höllisch vergnügt, Kerlchen! Ich freue mich unsinnig. Es ist ein Prachtleben da draußen. Wenn Du nicht schon versorgt wärst, würde ich Dir gleich sagen: Komm mit! Wir haben auf der Farm Platz für 'ne ganze Kompagnie. Aber wer natürlich einen halben Rothschild zum Mann hat – wie geht's denn Deinem Mann? Erinnerst Du Dich: ich war noch dabei, wie ihn der Rittmeister Elendt uns bei Adlon an den Tisch setzte. Elendt hat seinen Abschied genommen, baut seinen Kohl in Ostpreußen und macht Politik. Und unsere kleine Gräfin, die er immer haben wollte, denk' Dir nur: die hat glücklich einen Kaiserjäger in Innsbruck geheiratet – ist nach Oesterreich verschlagen. Ja, die Welt ist rund ...«

Fräulein von Frisching sprudelte in ihrer Wiedersehensfreude das nur so heraus und betrachtete dabei mit schwesterlichem Wohlgefallen den zarten, blassen, brünetten Kopf ihr gegenüber. »Weißt Du, daß Du noch viel reizender aussiehst?« wiederholte sie. »Ungelogen! Du kannst so bleiben! Ein Nippsächelchen. Aber süß. Na, Dir ist ja auch der Ernst des Lebens erspart! ... Du ... gerade dieser Tage haben wir von Dir gesprochen ... Oder vielmehr von Deinem einstigen Verehrer, dem Lünemann ...«

»Trifft man Dich mal wieder, Magda? Ich muß jetzt heim zu meiner Mutter nach Potsdam. Ich versäume sonst den Zug!«

»Ich komm' mal dieser Tage zu Dir 'raus. Also hör' mal ...«

Margarete reichte ihr die Hand zum Abschied.

»Du hast mir noch gar nicht gesagt, wie Dein Mann heißt!«

»Karl ...? Das ist ein Gellin. Ein Bruder von dem, der damals drunten in Südwest tot blieb – weißt Du noch? Wir redeten doch gerade davon, als Du Deinen jetzigen Mann kennen lerntest. Ja, also der Lünemann hat sich ja toll herausgemustert in Zivil! Alle sind starr! Ein Verwandter von mir hat in der Artillerie-Prüfungskommission dienstlich mit ihm zu tun. Der sagt, er sei auf dem Schießplatz die rechte Hand dieses großen Industriebonzen – Du weißt schon, wen ich meine ...«

»Herrn Malloney ...«

»Ja! Nun hat sich der Lünemann auch verlobt! Auch mit Umsicht und Verstand ... Der Alte hat Bergwerke in Westfalen ... Ein ganz bekannter Name ... Herrgott, ja, mein Gedächtnis ...«

»So. Er hat sich verlobt?«

»War Dir das auch neu? Grete, Du kommst wirklich rein vom Mond! Na, natürlich ... Deine Wege sind ja längst nicht mehr unsere Wege! ... Schließlich ... nicht wahr, er kann Dir ja nicht ewig nachtrauern? Na ... Ich komm' also zu einer Stips-Visite 'rüber! Hab' mich riesig gefreut! Gruß an Exzellenz! Adieu! Adieu!«

Margarete Feddersen stieg in eine Droschke. Auf das Markstück kam es ihr jetzt auch nicht mehr an. Es war ja gleich, ob man einen Tag früher oder später mit seinem bißchen Barschaft zu Ende war. Sie winkte der Freundin noch einmal lächelnd mit der Hand zurück. Dann, als sie sich im Wagen zurechtsetzte, verdüsterten sich ihre Züge. Langsam, ganz langsam kam eine tiefe, unendliche Traurigkeit über sie, ein Empfinden, als sei nun erst wirklich alles zu Ende ...

Sie hatte plötzlich nachträglich, nach Jahren, das Gefühl, von Moritz Lünemann verraten und verlassen worden zu sein. Sie tat ihm unrecht. Sie sagte es sich selbst. Er mußte doch auch einmal heiraten. Sie hatte ihm ja das Beispiel gegeben. Es war Zeit für ihn. Sie rechnete nach: Er wurde im Herbst siebenundreißig. Warum sollte er nicht auch vernünftig sein und sein Kompromiß mit dem Leben schließen? Oder hatte er sich wirklich verliebt? Es gab ihr einen Stich durchs Herz. Sie erkannte auf einmal, was für ein unbewußter Trost in diesen Jahren der Einsamkeit für sie die Vorstellung gewesen war, doch irgendwo noch ein Heim in einer Menschenseele zu haben. Nun war auch dies letzte, schwache Flämmchen, dies bißchen Licht von einst erloschen. Kein Stern am Himmel. Dunkel überm Meer.

Der Glanz Berlins war vor ihren Augen grau, auf den besonnten Feldern lag, als sie nach Potsdam heimfuhr, ein trüber Nebel. Sie saß in schweren Gedanken und sann und sann. Hätte sie nur die Frisching nicht getroffen! Die war immer eine aufgeregte Plapperliese. Ohne die hatte sie nichts von Lünemanns Verlobung gehört. Oder wenigstens später, zu einer Zeit, wo sie ihr bißchen seelisches Gleichgewicht nicht so bitter notwendig brauchte wie eben jetzt. Er hätte es ihr auch selber schreiben können. Es tat ihr weh, daß er das unterlassen. Sie hätte ihm als Freundin geantwortet und Glück gewünscht. Warum sollten sie einander denn noch böse sein? Aber er war es. Er blieb es. Für immer. Wieder faßte sie die Wehmut. In der lag etwas Lähmendes. Die Willenskraft gegenüber dem Leben schwand. Sie kämpfte gegen diese Schwächeanwandlung. Sie schritt von der Station die Lange Brücke dahin und dachte sich schonungslos und trotzig: Gut! Er geht seinen Weg und schaut nicht rechts und links und läßt hinter sich, was nicht mit will. Ich muß es geradeso machen! Ich muß ihn endgültig vergessen ...

Wenn nur nicht hier in Berlin und Potsdam für sie alles von Erinnerungen voll an ihn gewesen wäre! Dort drüben führte es hinunter zum Kadettenhaus. Dahin hatte sie ihn einmal zusammen mit anderen jungen Mädchen und Leutnants begleitet, zum Besuch von Neffen, die im Vorkorps waren, und über die putzigen kleinen Männer in bunten Waffenröcken gelacht, die auf dem Spielplatz Sand schippten und durcheinander wimmelten. Auf dem Heimweg an einem linden Sommerabend hatten sie sich hinter einem Baum den ersten Kuß gegeben. Seitdem betrachteten sie sich als verlobt ...

»Ich darf nicht mehr an ihn denken,« murmelte sie vor sich hin und gab sich selber das Gelübde. Es wurde still in ihr. Leer. Sie ging mechanisch weiter und wachte erst wieder aus dieser müden Geistesabwesenheit auf, als ihr im Hause der Mutter das Mädchen die Flurtür öffnete.

Ein Herr sei gekommen, meldete sie. Aus Paris. Er warte schon seit einer halben Stunde drinnen auf die gnädige Frau.

Jetzt war Margarete sofort wieder ganz bei sich. Kampfbereit. Sie überlegte. Wer konnte das sein? Ein sehr feiner Herr – groß und schlank, mit einem spitzen, schwarzen Vollbart, wie ihn die Magd schilderte. Sie schüttelte den Kopf und trat hastig über die Schwelle und blieb vor Erstaunen stehen. Das hatte sie am wenigsten erwartet: Alphonse Feddersen ... Der Vetter Alphonse ... Das schwarze Schaf der Familie ...

Sie sah trotz ihrer Verwirrung das Aeußerliche an ihm: die graue Riesenperle in der genial gebauschten schwarzen Atlasbinde, die taubengraue getüpfelte Weste, die sonderbare Glockenform des Schoßrocks, den Glanz der Zylinderscheibe – er wirkte in dieser nüchternen Umgebung wie soeben einem etwas überhitzten Schneiderhirn entsprungen. Aber sein Gesichtsausdruck, den sie ironisch und gutmütig frivol in Erinnerung hatte, war ernst und vertrauenerweckend. Sie war so verblüfft, daß sie nur sagen konnte:

»Um Himmels willen, Vetter Alphonse! – Wo kommen Sie denn her?«

Er hatte sich ihr genähert und ihre Hand respektvoll an die Lippen gezogen. »Ja – ich bin's!« erwiderte er in einem Ton, als bedauerte er selbst diese Tatsache am meisten. »Direkt aus Paris! Sie werden denken: Da haben die dort den Bock zum Gärtner gemacht! Nicht wahr?«

»Bitte, setzen Sie sich doch einen Augenblick!«

Alphonse Feddersen nahm der jungen Frau gegenüber Platz und schlug ungezwungen ein Bein über das andere, daß der graugetönte Seidenstrumpf über dem Lackschuh zum Vorschein kam: Ein ganz leiser exotischer Hauch ging von ihm aus und zu ihr hinüber. Gräßlich – ein parfümierter Mann! Und doch mißfiel er ihr eigentlich nicht. Es war ihr im Grunde des Herzens lieber, daß ihr dieser Sünder gegenübersaß, als einer von den Gerechten, etwa der trockene, nervöse Zahlenmensch Sascha. Es war, als ob Alphonse ihre Gedanken erriet. Sein längliches, lebhaftes Gesicht, dem die weichen Augen etwas Träumerisches verliehen, zeigte unverhohlenes Mitleid mit ihr.

»Nicht wahr ... die Feddersen sind eine gräßliche Familie?« begann er offen und treuherzig, als seien sie beide gegen jene im Bunde. »Entweder sie taugen von Hause aus nichts – wie ich – oder es sind hoffnungslose Philister. Wenn solche Leute dann auf Abwege geraten, wirken sie doppelt peinlich! Ich hab' es Charley, als er zu mir hereinwankte, gleich zur Begrüßung gesagt ... Mensch – Du verdienst Prügel! Du hast diese Frau – eine Frau, wo jeder andere täglich dafür dem lieben Gott auf den Knien danken würde – eine Frau, der Du nicht wert bist, die Schuhriemen zu lösen ...«

»Vetter ... bitte ...«

»Nein. Ich muß der Wahrheit die Ehre geben, Cousine Margot. Ich weiß, was Sie Ihrem Mann sein könnten und nur durch seine Schuld nicht sind. Ich bedaure Sie seit Jahren! Ich habe ihm gesagt: Elle a toutes les qualités! ... Warum bist Du so dumm? Warum bist Du so blind? Einmal muß auch die Geduld einer Heiligen reißen ...«

»Vetter ...«

»Dir geschieht ganz recht, mon cher! Nun sitzst Du da ohne Weib und Kind! Nun hast Du ja Zeit, zu Leroux zu fahren! ... Allons donc! Man erwartet Dich! Aber nun macht's Dir keinen Spaß mehr! Nun bläst Du daheim in Deinem leeren Haus Trübsal. Aber wenn Du Dir auch das Haar ausraufst, die unglückliche Frau, die Du verraten hast, kommt so leicht nicht wieder ...«

»Bitte, Vetter,« sagte Margarete kühl. »Halten Sie mich doch nicht für so dumm, daß ich an diese Art Verzweiflung meines Mannes glaube!«

»Eine Ruine!« Alphonse Feddersen bog sich im Sessel vor und wiederholte leise und eindringlich: »Eine Ruine von einem Mann! Er ist einfach untröstlich. Er ist ganz zerknirscht. Er saß bei mir und weinte bitterlich. ›Wenn ich es nur ungeschehen machen könnte!‹ Das war seine Rede hundertmal hintereinander.«

»Das heißt: er möchte den Jungen haben! Seien Sie doch ehrlich!«

»Was ist ein Kind ohne die Mutter? Was soll er allein in seinem Haus? ... Er packte mich an beiden Schultern und bat mich: ›Fahr' zu ihr! Sprich für mich!‹ ... Ich hab' mich nicht so leicht entschlossen! Ich weiß, Sie haben etwas gegen mich! Es ist ein Fluch meines Lebens, daß das gerade den besseren Naturen mit mir oft so geht. Ich leide selbst am meisten darunter. Aber dann sagte ich mir: Wenn ich der armen Frau nicht ein Helfer und Berater zu sein versuche, – die anderen Feddersen, die sich dann einmischen, tun ihr in ihrer Plumpheit noch mehr und ganz unnütz weh. Alle Feddersen sind im Grunde roh und ungebildet. Im Ausland, ohne jeden veredelnden Einfluß der Zeit und der allmählichen Entwicklung, zu Geld gekommen. Es mangelt ihnen, was oft der Aermste hat: die Kultur des Herzens! Daran haben Sie in Ihrer ganzen Ehe gekrankt, Cousine. Ich sah es Ihnen wohl an. Ich kenne doch meinen guten Charley! Aber er wird sich jetzt bessern nach dieser Lehre ...«

»Kein Mensch wird anders als er ist!«

»Dann wissen Sie nicht, was Frauen aus uns machen können, Cousine Margot! Ich wollte, ich hätt' in jungen Jahren eine Frau getroffen wie Sie! Dann wär' ich auch ein anderer Mensch geworden! Charley wird es jetzt noch. Der Anfang ist die Reue. Er bekennt sich in vollem Umfang für schuldig. Er begreift hinterher gar nicht mehr, wie es möglich war. Er bittet um Verzeihung!«

Alphonse Feddersen schwieg, selbst ganz ergriffen von seinen Worten, und glättete mechanisch die Krempe seines Zylinders. Es war etwas Gütiges in der Art, wie er sprach. Er schmeichelte sich ein.

Aber zu seinem Erstaunen lachte Margarete auf.

»Zu komisch seid Ihr Franzosen!« sagte sie. »Ihr haltet mich immer für ein Gänschen, bloß weil ich eine Deutsche bin! ... Denken Sie denn wirklich, daß ich darauf hereinfallen soll? ... Ich kenne doch auch meinen Mann! Natürlich ist er ärgerlich, daß er ertappt worden ist, und schämt sich vielleicht vor seinen Bekannten, daß ihm seine Frau aus dem Hause gelaufen ist. Und, wie gesagt, vor allem: er möchte den Jungen. Er versuchte es schon die ganze Zeit. Aber er kriegt ihn nicht!«

Ihr Besucher gab es auf, mit seinen Schilderungen Eindruck auf sie zu machen. Er saß bekümmert da. Er war ihr nicht unangenehm. Er hatte sie schon in Paris gerade deswegen amüsiert, weil er den anderen Feddersen ein Dorn im Auge war und jenseits von ihrer selbstgerechten Nüchternheit und ihren kleinen Scheinheiligkeiten stand. Er gab sich wenigstens ganz, wie er war. Eine gutmütige Drohne. Und doch jeder Zoll ein echter Feddersen – nicht Franzose, nicht Russe, nicht Deutscher – ohne Heimat, ohne Ueberlieferung. Gerade hier in Potsdam, wo alles von hartem Preußentum starrte, sah man das doppelt.

»Ganz richtig!« versetzte er nach einer Pause der Ueberlegung. »Anfangs hatte Charley wirklich den Kopf verloren und wollte zu Gewaltmaßregeln greifen. Ich hab' ihm das ausgeredet. Solange ich hier bin, geschieht nichts – weder gegen Sie noch gegen das Kind. Mein Wort darauf! Wenn ich freilich mit leeren Händen nach Paris zurückkomme ...«

»Sagen Sie, Vetter – was hätten Sie denn nun davon, wenn Sie mich glücklich im Triumph heimbrächten? Ich bewundere Sie, daß Sie sich überhaupt mit so undankbaren Aufgaben befassen!«

Alphonse Feddersen sah seine schöne Cousine weich an.

»Man möchte sich doch auch einmal ein wenig nützlich machen!« meinte er, und sie mußte wieder beinahe über ihn lachen. Sie fragte kühl, mit kaum verhehltem Spott:

»Was wollen Sie also eigentlich von mir, Vetter Alphonse?«

»Bloß Sie bitten, Charley noch einmal zu sehen und zu sprechen! Man soll niemanden ungehört verdammen!«

»Nein!«

»Aber Cousine Margot ...«

»Nein! Es ist zwecklos! Ich hab' es früher oft genug versucht. Wir reden aneinander vorbei, ins Leere! Wir sprechen zwei verschiedene Sprachen!«

»Bedenken Sie nur: Sie sind jetzt die Stärkere! Sie haben eine ganz andere Stellung ihm gegenüber!«

»Entwürdigt hat er mich! Ich will nichts mehr von ihm wissen! Das ist mein letztes Wort!«

Es war ein Schweigen. Dann fragte Alphonse höflich:

»Wie denken Sie sich denn da Ihr künftiges Leben?«

»Das geht Sie gar nichts an!«

»Mich nicht! Aber Ihren Mann, als dessen Beauftragter ich hier sitze.«

Margarete warf den dunkeln Kopf in den Nacken.

»Sagen Sie ihm nur, er möge sich um mich nicht sorgen! ... Ich werde mich schon durchs Leben schlagen!«

»Wie denn?«

»Ich werde mir irgendwie Geld verdienen!«

Jetzt huschte ein Schatten von Ironie über das Antlitz drüben. Das erbitterte sie. Sie kannte dies stehende Feddersensche Millionärlächeln, halb Mitleid, halb Verachtung vor der Frau ohne Mitgift und Erbe. Er lachte nachsichtig, wie man zu einem Kinde spricht: »Geld verdienen, Cousine? ... Bei einer Schönheitskonkurrenz! – Ja, das glaub' ich! Aber sonst ...« Und nun sprang sie mit einem jähen Anfall von Zorn empor. Sie stieß ihren Stuhl beiseite. Ihr Auge suchte unwillkürlich die Tür.

»Sie gehen jetzt wohl, Vetter Alphonse!« sagte sie schroff. »Es hat wirklich keinen Zweck, daß wir miteinander reden.«

»Aber liebste, beste Freundin ...«

Alphonse Feddersen stand bestürzt da, den Hut in der Hand. Er hatte den jähen Umschwung ihrer Stimmung nicht geahnt. Sie blickte ihn förmlich haßerfüllt, feindselig an, als wäre er die Verkörperung seiner ganzen Familie. Sie hatte die Hände geballt und schleuderte ihm ihre Leidenschaft ins Gesicht:

»Hätt' ich Euch alte bloß nie gesehen! ... Meinen Mann nicht ... Euch alle nicht ... Was hab' ich schon die Stunde bereut ... Wie es auch gekommen wäre, es wäre besser als so geworden. Und wenn ich nie was vom Leben gehabt hätte und jetzt noch hier bei meiner Mutter säße oder bei fremden Leuten mir mein Brot verdiente, ich hätte doch meinen Stolz! Ich hätte noch Hoffnung auf die Zukunft. Ich wäre nicht so ganz matt und kaputt vom Leben, wie Ihr das mit mir fertig gebracht habt! ... Zertrampelt habt Ihr mich. Und dann stehen Sie da und lachen! Aber ich ducke mich nicht mehr ... Sagen Sie das nur in Paris ...«

Der Vetter Alphonse blieb ganz kühl. »Daß Sie ohne weiteres nach Paris zurückreisen, ist ausgeschlossen!« räumte er ein. »Das hieße unseren reuigen Sünder dort ungehört begnadigen. Das dürfen Sie ebensowenig, als ihn ungehört verdammen. Er käme ja auch gerne hierher zu Ihnen!«

»Nein!«

»Aber liebste Cousine.«

»Nein. Nein!«

»Und wenn er schon da wäre ...«

»Ich will ihn nicht sehen!«

»Schon als reuiger Sünder vor der Tür stände!«

»Um Gottes willen ...«

»Was würden Sie dann sagen, Cousine Daisy?«

»Gehen Sie!«

Alphonse ging wohl zur Tür, aber nur, um sie zu öffnen, draußen stand ihr Gatte auf der Schwelle, stattlich, blond, wohlgepflegt. Er machte ein Gesicht voll nüchterner Respektabilität, so tiefernst und würdig wie etwa bei der Teilnahme an einem Begräbnis. Aber ganz wohl war ihm nicht in seiner Haut. Das verrieten seine Augen. Die irrten unstät zur Seite und vermieden es, ihrem Blick zu begegnen. Und wie der kalt auf ihm lag, da erfaßte sie beinahe ein Schrecken, daß sie so gar nichts empfand – nicht Zorn, nicht Abscheu, nicht Kränkung. Sie fühlte jetzt: sie war so müde an Karl Feddersen geworden, so todmüde, daß sie eine leidenschaftliche Verzweiflungsszene zwischen ihnen beiden noch mehr fürchtete als er selber. Er schien das zu ahnen. Er schluckte ein paarmal, er kämpfte mit sich, um von dem bösen Gewissen frei zu kommen, und begann dann in seiner kühlen, halblauten Art, in der er sonst geschäftliche Unternehmungen führte:

»Ich bitte Dich um Verzeihung, Margot!«

Sie blieb stumm.

»Ich weiß wirklich nicht, Margot, was in mich gefahren war. C'était comme un coup de foudre! C'était plus fort que moi! Ich bin doch sonst nicht so! ... Also verzeih'!«

Noch immer erhielt er keine Antwort.

»Ich verspreche Dir: Es kommt nicht wieder vor! ... Ich hab' mir selbst genug Vorwürfe gemacht und von anderen gehört und mehr Verdruß gehabt, als die ganze Sache wert war. Ich bin jetzt gewitzigt. Ich werde künftig solche Seitensprünge lassen!«

Sie zuckte bei dem banalen Wort »Seitensprünge« zusammen. Es ging ihr durch den müden Kopf: Die Feddersen haben eine Gabe, alles, aber auch alles ins Alltägliche zu ziehen! ... Er sieht das nur als ein kleines Abenteuer an, ein bißchen Pariser Sichgehenlassen, bei dem man sich dummerweise erwischen ließ, was für mich ein Stoß mitten ins Herz war ...

Ihre Stille gab ihm Mut. Er näherte sich vorsichtig, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Die unruhige Spannung auf seinen Zügen verschwand. Das Schlimmste war überstanden. Er hatte sein Sprüchlein als reuiger Ehemann aufgesagt. Nun war es an ihr, als Frau von Welt den Zwischenfall zu beenden. Wenn sie dabei noch für sich ein paar Bedingungen herausschlug – oh gewiß – er war zu sehr Kaufmann, um ihr das zu verargen. Er wartete nur darauf. Sie wollte auch sprechen. Aber es fiel ihr nichts ein, nichts, was sie ihrem Mann hätte sagen können. Sie schaute ihn nur an. Es war eine solche hilflose, stumme Verzweiflung in ihren dunklen Augen, daß ihm wieder nicht ganz sicher zumute wurde und er unbehaglich auf seinem Stuhle hin- und herrückte. Dann versuchte er es mit einem leichteren Ton.

»Komm, gib mir die Hand, Daisy! Sag', daß Du mir nicht mehr böse bist! ... Es kann doch einmal passieren! ... Es kommt nicht wieder vor! ... Wir fahren jetzt zusammen nach Paris zurück ... Warum schüttelst Du denn schon wieder den Kopf?«

»Ich geh' nicht mehr nach Paris!«

Es war das erste, was sie sprach. Es klang leise und gequält. Karl Feddersen zog aufmerksam die Augenbrauen hoch, so wie wenn man bei einer finanziellen Konferenz nach dem einleitenden Hin und Her auf den Hauptpunkt kam.

»Wohin möchtest Du denn?«

»Das weiß ich nicht!«

»Dem Gesetz nach gehört eine Frau dorthin, wo ihr Mann und ihr Kind ist!«

»Der Junge kommt auch nicht wieder nach Paris!«

Um die Lippen ihres Mannes war ein nachsichtiges, fast mitleidiges Lächeln. Er beugte sich vor und forschte gedämpft:

»Aber Liebste ... Beste ... was erzählst Du da für Märchen? Das hast Du Dir doch von vornherein sagen müssen, daß ich nie auf meinen Sohn und das Haus Feddersen auf seinen Erben verzichten werde!«

»Ihr müßt!«

»Nein, Margot! Ich bin da! Wir sprechen uns aus! ... Du verzeihst mir, und alles ist gut!«

Wieder streckte er seine schwere weiße Hand ihr entgegen. Sie machte keine Bewegung, sie zu ergreifen. Sie war sehr bleich geworden. Sie versetzte mühsam:

»Ich will mit dem Jungen in Deutschland leben – meinetwegen von meiner Hände Arbeit ...«

»... bis das nächste französische Konsulat sich in dies Stilleben einmischt! Ah, ma chère, il y a encore des juges à Berlin! ... Also, wenn Du solch ein Kesseltreiben gegen Dich provozieren willst ... über kurz oder lang bin ich im Besitz meines Sohnes. Das garantiere ich Dir!«

Sein Ton hatte sich geändert. Er hatte jetzt eine nachlässige Bestimmtheit. So pflegte Karl Feddersen im Kontor bei wichtigen Unterredungen mit dem Bleistift auf die Tischplatte zu klopfen, als pochte er auf seine Kapitalien und seine Stellung und verliehe dadurch seinen Worten das rechte Schwergewicht. Margarete senkte den Kopf. Was er da schroff aussprach, war wahr: Wie sollte sie, schutzlos, heimatlos, geldlos, erwerbslos, auf die Dauer ihr Kind gegen ihn verteidigen, dem Gesetz und Behörden zur Seite standen?

Ihr Mann war jetzt so weit, daß er sich, mit einem flüchtig fragenden Blick auf sie, eine Zigarette anzuzünden erlaubte. »Vergiß das eine nicht, Margot!« sagte er dabei trocken, »man muß nie den Bogen überspannen. Sonst kommt ein Rückschlag. Ich mißbrauche auch nie eine günstige Konjunktur. Also treibe mich nicht bis zum äußersten!«

Bemüht, seinen Zügen wohlwollenden Ernst zu verleihen, setzte er hinzu:

»Und vor allem, denke an unseren Sohn! Ihm sein Elternhaus zu erhalten, ist unsere heilige Pflicht! Gegen die müssen wir unsere persönlichen Verstimmungen und Enttäuschungen zurücksetzen. Wenn Dir die Rückkehr nach Paris so schwer fällt, so mußt Du Dir eben denken, daß das ein Opfer ist, das Du Charles-Iwan bringst!«

Sie war auf dem Stuhl in sich zusammengesunken und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Plötzlich brach sie in ein leidenschaftliches, verzweifeltes Weinen aus. Die ganze Zeit hatte sie dagegen angekämpft, um ihrem Mann keine Schwäche zu zeigen. Dieser Tränenausbruch jetzt galt nicht nur dieser Stunde. Es war das Leid eines ganzen Lebens, das sich in blindem Schluchzen entlud. Es wollte nicht enden. Karl Feddersen wartete. Er ging unbehaglich im Zimmer herum und warf zuweilen einen nervösen Blick auf die junge Frau. Er war ärgerlich. Er hatte schon gehofft, die leidige Geschichte glatt abzuwickeln. Er versuchte, ihr zuzureden. Sie hörte von Zeit zu Zeit seine halblauten, trivialen Beschwichtigungen: »Margot ... Ich bitte Dich: sei vernünftig! Margot! ... nimm Dich doch zusammen! Man hört Dich ja nebenan!« und schluchzte dann nur wilder auf.

Endlich hob sie mit einer jähen Bewegung ihr blasses, nasses Gesicht von den Knien zu ihrem Mann empor, der ungeduldig vor ihr stand.

»Bitte ... lasse mich jetzt allein!« murmelte sie erschöpft.

»Aber erst Deine Hand, Margot – als Zeichen, daß alles in Ordnung ist!«

Er nahm ihre Hand, führte sie an die Lippen und zog sich rücksichtsvoll, mit einem halben Lächeln, zurück. Er glaubte, für heute genug erreicht zu haben. Margarete saß, als er gegangen, lange noch da, die Hände im Schoß, ohne sich zu rühren, in einer tiefen Trauer, einer wachsenden Wehrlosigkeit, einer Willenlosigkeit, die sie schließlich ganz übermannte. Sie sagte sich: Er wird wiederkommen – morgen – übermorgen – immer wieder. Er wird mich immer wieder fragen: Willst Du mit mir nach Paris zurück? bis ich schließlich »Ja« sage, weil ich keine andere Wahl habe, weil ich keinen Ausweg weiß, weil ich tun muß, was ich nicht verantworten kann.

Ja. Ich werde »Ja« sagen. Ich fühle es: ich bin zu schwach ... zu matt ... zu irr in mir und meinem Leben. Vom Leben enttäuscht ... vom Leben verbittert ... Und ist es nicht auch Angst vor dem Leben? Die leidige Gewohnheit an Fülle und Glanz? Sie wagte keine Antwort darauf. Was half die Reue? Da draußen vor dem Fenster war der helle Morgen, war der Frühling. Grüne Büsche bogen sich im Steppenwind. Ein Blatt war losgerissen. Es flog an den Scheiben vorbei, lustig tanzend und sich drehend, steuerlos ins Weite. Margarete Feddersen sah ihm nach und dachte sich: ›So fahr' auch ich durchs Leben. Ohne Ziel. Ohne Halt. Und nach außen hin sieht's aus wie ein Spiel ... Es hilft nichts. Ich hab verspielt! In kurzem bin ich wieder in Paris ...‹


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