Stendhal
Die Kartause von Parma
Stendhal

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Achtundzwanzigstes Kapitel

Im Drange der Ereignisse haben wir vergessen, eine komische Sorte von Höflingen zu schildern, die am Hofe von Parma ihr Wesen trieb und über die berichteten Geschehnisse ihre witzigen Glossen machte. Was in Italien kleinen Edelleuten, die sich mit drei- bis viertausend Lire Rente durchschlagen, zu der Ehre verhalf, in schwarzen Strümpfen den Morgenempfängen der Fürsten beiwohnen zu dürfen, das war zunächst, daß sie im Leben nie eine Zeile von Voltaire oder Rousseau gelesen hatten. Diese Bedingung war unschwer zu erfüllen. Ferner mußten sie vom Rheumatismus Seiner Hoheit oder von der jüngsten Mineraliensendung, die er aus Sachsen geschickt bekommen hatte, gerührt zu sprechen verstehen. Fehlten sie obendrein keinen einzigen Tag im Jahre bei der Messe und hatten sie unter ihren Busenfreunden zwei oder drei fette Mönche, so geruhte Serenissimus alle Jahre einmal, vierzehn Tage vor oder nach Neujahr, das Wort an sie zu richten, was ihnen bei der Bürgerschaft hohes Ansehen verschaffte; der Steuereinnehmer war dann auch nicht allzusehr hinter ihnen her, wenn sie mit der jährlichen Steuer von hundert Franken, mit der ihre kleinen Einkünfte belegt waren, im Rückstand blieben.

So ein armer Schlucker von echtem Uradel war Herr Gonzo, der als Zulage zu seinem recht ärmlichen Besitz durch die Fürsprache des Marchese Crescenzi einen großartigen Posten erhalten hatte: sein Jahreseinkommen betrug elfhundertundfünfzig Franken. Dieser Mann hätte zu Hause essen können, aber er hatte eine Leidenschaft: es war ihm nicht wohl und behaglich, wenn ihm nicht von Zeit zu Zeit irgendein hohes Tier zurief: »Schweigen Sie, Gonzo! Sie sind ein Schafskopf!« Dieses Urteil war natürlich ein Ausfluß schlechter Laune, denn Gonzo war viel gescheiter als der betreffende Würdenträger. Er wußte über jegliches Thema mit leidlicher Anmut zu plaudern; dabei war er immer bereit, auf einen Wink des Hausherrn seine Meinung zu ändern. Eigene Einfälle hatte er allerdings nicht, und wenn Serenissimus einmal keinen Rheumatismus hatte, so war er beim Betreten eines Salons bisweilen verlegen.

Was ihm in Parma besonders zu Ehre und Ansehen verholfen hatte, das war ein herrlicher Dreimaster, geschmückt mit einer schwarzen, ein wenig zerzausten Feder, den er immer trug, sogar zum Frack. Man mußte die Art und Weise sehen, wie Gonzo diese Feder trug, sei es auf dem Kopfe, sei es unterm Arm; darin lag sein Talent und seine Bedeutung. Mit wahrer Besorgnis erkundigte er sich nach dem Gesundheitszustand des kleinen Hundes der Marchesa Crescenzi. Wäre im Palazzo Crescenzi Feuer ausgebrochen, so hätte er sein Leben aufs Spiel gesetzt, um einen der schönen Lehnstühle mit Goldbrokat zu retten, an dem er mit seinen schwarzen Seidenhosen seit so manchem Jahre immer hängen blieb, wenn er sich zufällig darauf zu setzen wagte.

Sieben oder acht solcher Typen erschienen allabendlich um sieben Uhr im Salon der Marchesa Crescenzi. Kaum hatten sie sich gesetzt, so nahm ein Diener in prächtiger quittengelber Tracht mit reichen Silbertressen und roter Weste diesen armen Rittern Hut und Stock ab. Unmittelbar hinterher kam ein Kammerdiener und reichte Mokka in winzigen Tassen auf silbernen Untersetzern aus Filigranarbeit, und alle halben Stunden erschien der Haushofmeister in Degen und französischem Galarock, um Gefrorenes anzubieten.

Eine halbe Stunde später als diese traurigen Männlein sah man fünf bis sechs Offiziere eintreten, die laut und schnarrend sprachen und sich über die Art und Zahl der Knöpfe unterhielten, die ein Soldat am Waffenrock haben muß, damit der Höchstkommandierende siegen kann. Es wäre unklug gewesen, in diesem Salon französische Zeitungen zu erwähnen, denn hätte die Neuigkeit noch soviel Spannendes gehabt – zum Beispiel, wenn man in Spanien fünfzig Liberale erschossen hatte –, der Erzähler wäre doch nur überführt gewesen, eine französische Zeitung gelesen zu haben. Die Betriebsamkeit aller dieser Leute gipfelte darin, alle zehn Jahre eine Pensionserhöhung um hundertfünfzig Franken zu erlangen. Auf diese Weise ließ Serenissimus den Adel an seiner genußreichen Herrschaft über die Bauern und Bürgerlichen teilnehmen.

Unbestritten die Hauptperson im Salon Crescenzi war der Cavaliere Foscarini, ein tadelloser Ehrenmann; hatte er doch unter allen Regimes ein bißchen im Gefängnis gesessen. Er war Mitglied jenes berüchtigten Parlaments in Mailand gewesen, das das von Napoleon eingebrachte Wehrpflichtgesetz durchfallen ließ, – ein in der Geschichte seltener Zug. Der Cavaliere war zwanzig Jahre lang Freund der Mutter des Marchese gewesen und als solcher ein einflußreicher Mann im Hause geblieben. Er wußte immer ein lustiges Geschichtchen zu erzählen, und nichts entging seinem Scharfsinn. Die junge Marchesa, die sich im Grunde ihres Herzens schuldig fühlte, zitterte vor ihm.

Da Gonzo eine wahre Vorliebe für den großen Herrn hatte, der ihm Grobheiten sagte und ihn ein- bis zweimal im Jahre bis zu Tränen kränkte, so war er darauf versessen, ihm allerhand kleine Dienste zu erweisen. Wenn ihn nicht die Gewohnheiten allzu großer Ärmlichkeit gehindert hätten, so hätte er es manchmal zu etwas bringen können, denn er besaß einen gewissen Grad von Geschick und noch mehr Keckheit.

Nach alledem ist es nicht zu verwundern, daß er die Marchesa Crescenzi wenig schätzte. Sie hatte in ihrem Leben nie ein unhöfliches Wort an ihn gerichtet; aber schließlich war sie die Gattin des berühmten Marchese Crescenzi, des Kammerherrn der Großherzogin, der alle vierzehn Tage zu ihm sagte: »Schweig, Gonzo! Du bist ein Schafskopf!«

Gonzo beobachtete, daß die Marchesa allemal, wenn von der kleinen Annetta Marini gesprochen wurde, einen Augenblick den verträumten und gleichgültigen Zustand überwand, in dem sie verharrte, bis es elf Uhr schlug. Dann bereitete sie den Tee und bot ihn jedem Anwesenden, indem sie jeden beim Namen nannte. Nachher, gegen Ende der Abendgesellschaft, vermochte es sie etwas aufzuheitern, wenn man satirische Sonette vortrug.

Man versteht sich in Italien auf diese Dichtart. Es ist der einzige Zweig in der Literatur, der noch ein wenig in Blüte steht; freilich ist er nicht der Zensur unterworfen. Die Höflinge der Casa Crescenzi kündigten ihre Verse immer mit folgenden Worten an: »Gestattet die Frau Marchesa, daß man in ihrer Gegenwart ein recht böses Sonett vorträgt?« Wenn dann das Sonett Heiterkeit erregte und zwei- bis dreimal wiederholt wurde, verfehlte einer der Offiziere nicht, laut zu bemerken: »Der Herr Polizeiminister hätte eigentlich die Pflicht, die Verfasser solcher Schändlichkeiten ein bißchen aufzuknüpfen.« Dagegen nimmt man in bürgerlichen Kreisen diese Sonette mit unverhohlener Bewunderung auf, und die Gerichtsschreiber verkaufen Abschriften davon.

Auf Grund jener Art Neugierde, die Gonzo an der Marchesa beobachtet hatte, bildete er sich ein, man hätte in ihrer Gegenwart die Schönheit der kleinen Marini, die übrigens Millionärin war, allzu hoch gepriesen, und sie sei eifersüchtig auf sie. Da Gonzo mit seinem wächsern Lächeln und seinem maßlosen Dünkel gegenüber allen Nichtadligen überall Eintritt fand, so erschien er bereits anderntags wissensträchtig im Salon der Marchesa. Er hielt seinen Federhut wie ein Triumphator, so wie er ihn im Jahre nur ein- oder zweimal trug, wenn Serenissimus, allergnädigst zu ihm gesagt hatte: »Leben Sie wohl, Gonzo!«

Nachdem Gonzo die Marchesa ehrerbietigst begrüßt hatte, zog er sich nicht wie sonst zurück, um in dem ihm angebotenen Lehnstuhl Platz zu nehmen; er stellte sich vielmehr mitten unter die Gesellschaft und platzte rücksichtslos heraus: »Ich habe das Bildnis des Monsignore del Dongo gesehen!«

Clelia war dermaßen betroffen, daß sie sich auf die Lehne ihres Armstuhles stützen mußte. Sie versuchte dem inneren Sturm Trotz zu bieten, sah sich aber bald gezwungen, hinauszugehen.

»Man muß gestehen, mein armer Gonzo,« sagte laut einer der Offiziere, der eben seinen vierten Teller Eis gelöffelt hatte, »Sie sind von seltener Ungeschicklichkeit! Wissen Sie denn nicht, daß der Herr Koadjutor, der übrigens einer der tapfersten Obersten in der Armee Napoleons war, unlängst dem Vater der Marchesa einen Streich gespielt hat, der ihn hätte an den Galgen bringen können? Er hat die Zitadelle verlassen, wo der General Conti Kommandant war, als ob es die Steccata wäre.« (Das ist die Hauptkirche Parmas.)

»Ich weiß tatsächlich manche Dinge nicht, mein lieber Hauptmann. Ich bin ein armer Tor, der den ganzen Tag Böcke schießt!«

Diese nach italienischem Geschmack gegebene Antwort brachte auf Kosten des vornehmen Offiziers die Lacher auf Gonzos Seite. Alsbald trat die Marchesa wieder ins Zimmer. Sie hatte Mut gefaßt und hoffte fast ein wenig, das Bildnis Fabrizzios mit eigenen Augen bewundern zu dürfen. Man sagte, es sei hervorragend. Sie war von dem Können des Malers Hayez völlig überzeugt. Unbewußt gönnte sie Gonzo ein reizendes Lächeln, der boshaft dem Offizier zublinzelte. Da sich alle anderen Höflinge des Hauses demselben Vergnügen hingaben, ergriff der Offizier die Flucht, nicht ohne Gonzo ewige Rache zu schwören. Gonzo blieb als Sieger auf dem Schlachtfeld und erhielt abends beim Abschied eine Einladung zum Mittagessen für den nächsten Tag.

»Es wird immer besser!« rief Gonzo am anderen Tage nach dem Essen, als die Dienerschaft hinaus war. »Unser Koadjutor ist in die kleine Marini verliebt!«

Man kann sich die Verwirrung in Clelias Herzen vorstellen, als sie eine so wunderliche Mär vernahm. Selbst der Marchese war unruhig.

»Aber Gonzo, bester Freund, Sie faseln wie gewöhnlich! Sie sollten doch mit etwas mehr Zurückhaltung von einer Persönlichkeit sprechen, die elfmal die Ehre gehabt hat, mit Serenissimus Whist zu spielen.«

»Gewiß, gewiß, Marchese«, erwiderte Gonzo in der plumpen Art und Weise der Leute seines Schlages. »Bei meiner Ehre, – er hat es fertig gebracht, auch mit der kleinen Marini sein Spiel zu spielen. Jedoch genügt es mir, zu wissen, daß Ihnen diese Einzelheiten mißfallen; es gibt sie nicht mehr für mich, der ich vor allem meinen verehrten Marchese nicht ärgern will.«

Immer nach dem Mittagessen zog sich der Marchese zurück, um Siesta zu halten. An diesem Tage dachte er nicht daran; aber Gonzo hätte sich eher die Zunge abgebissen, als daß er noch etwas mehr von der kleinen Marini erzählt hätte. Aber jedesmal, wenn er ein neues Thema begann, fädelte er es so schlau ein, daß der Marchese hoffen durfte, er werde wieder auf die Liebesgeschichte des kleinen Bürgermädchens kommen, Gonzo war ein Meister in jener italienischen Feinheit, mit Hochgenuß das Wort hinauszuschieben, auf das man gespannt ist. Der arme Marchese verging vor Neugier und mußte seine Zuflucht zu Schmeicheleien nehmen. Er sagte ihm, wenn er das Vergnügen habe, mit ihm zu speisen, dann äße er immer doppelt soviel. Gonzo verstand das nicht und begann eine Schilderung der herrlichen Gemäldegalerie, die sich die Marchesa Balbi, die Mätresse des hochseligen Fürsten, anlegte. Drei- oder viermal sprach er von Hayez im feierlichen Ton der höchsten Begeisterung. >Ausgezeichnet!< sagte sich der Marchese. >Jetzt kommt er endlich auf das im Auftrag der kleinen Marini gemalte Bildnis!< Aber Gonzo hütete sich, das zu tun. Es schlug fünf Uhr, was den Marchese sehr mißlaunig machte, denn er hatte die Gewohnheit, sich um halb sechs Uhr, nach seiner Siesta, in den Wagen zu setzen und auf den Korso zu fahren.

»Das sieht Ihnen ähnlich in Ihrem Unverstand!« sagte er grob zu Gonzo. »Sie sind schuld daran,wenn ich heute nach Ihrer Hoheit auf den Korso komme, ich, Allerhöchstdero Kammerherr, wo sie vielleicht Befehle für mich hat! Vorwärts! Schießen Sie los! Sagen Sie mir kurz und bündig, wenn Sie imstande sind: was ist das mit der angeblichen Liebschaft des Monsignore del Dongo?«

Aber Gonzo wollte die ganze Geschichte für die Ohren der Marchesa aufsparen, die ihn zum Mittagessen eingeladen hatte. Er begnügte sich, die Sache im Depeschenstil anzudeuten, und der halb eingeschlafene Marchese holte schleunigst seine Siesta nach.

Ganz anders verfuhr er vor der Marchesa. Sie war bei all ihrem Reichtum so jugendlich treuherzig geblieben, daß sie glaubte, sie müsse die Grobheit wieder gut machen, mit der der Marchese soeben den Gast angefahren hatte. Entzückt über seinen Erfolg, gewann Gonzo seine ganze Beredsamkeit wieder, und es war ihm ein Vergnügen und zugleich eine Pflicht, die Marchesa in endlose Einzelheiten einzuweihen.

Die kleine Annetta Marini zahlte bis zu einer Zechine für den Platz, den man ihr zur Predigt frei hielt. Immer kam sie mit zwei Tanten und dem ehemaligen Buchhalter ihres Vaters. Ihre Plätze, die sie bereits am Tage vorher belegen ließ, waren zumeist gerade schrägüber der Kanzel gewählt, aber ein wenig nach dem Hochaltar zu, denn sie hatte bemerkt, daß sich der Koadjutor öfters dem Altar zuwandte. Nun aber hatte das Publikum seinerseits bemerkt, daß die ausdrucksvollen Blicke des jungen Kanzelredners nicht selten mit Wohlgefallen auf der jungen Erbin und so verführerischen Schönheit verweilten. Der Hörerschaft war dies nicht unwichtig; denn sobald er zu ihr hinsah, ward seine Predigt gelehrt. Die Zitate nahmen dann überhand; man fand keine Herzenswallungen mehr, und die Damen, deren Andacht alsbald aufhörte, begannen der Marini Blicke zuzuwerfen und ihr Übles anzuhängen.

Clelia ließ sich alle diese merkwürdigen Einzelheiten mehrfach wiederholen. Beim dritten Male wurde sie nachdenklich. Sie rechnete sich aus, daß sie Fabrizzio genau vierzehn Monate nicht gesehen hatte. ›Wäre es denn eine große Sünde,‹ fragte sie sich, ›wenn ich eine Stunde in der Kirche verbrächte, nicht um Fabrizzio zu sehen, sondern um einen berühmten Prediger zu hören? Übrigens werde ich mich weit weg von der Kanzel setzen und Fabrizzio nur einmal ansehen, wenn er kommt, und ein zweites Mal am Ende der Predigt. – Nein,‹ sagte sich Clelia, ›nicht Fabrizzio ist es, den ich sehen will; ich will den erstaunlichen Redner hören!‹ Mitten in diesen Überlegungen bekam Clelia Gewissensbisse. Ihr Lebenswandel war seit vierzehn Monaten so brav! ›Gut,‹ sagte sie bei sich, um etwas inneren Frieden zu finden, ›wenn die erste Dame, die mich heute abend aufsucht, Monsignore del Dongo hat predigen hören, dann werde ich auch hingehen; hat sie ihn nicht gehört, dann werde ich es auch lassen.‹

Nachdem sie einmal diesen Entschluß gefaßt hatte, beglückte sie Gonzo, indem sie zu ihm sagte: »Erkundigen Sie sich einmal, an welchem Tage der Koadjutor wieder predigen wird und in welcher Kirche. Und heute abend, ehe Sie fortgehen, habe ich vielleicht einen Auftrag für Sie.«

Kaum war Gonzo nach dem Korso aufgebrochen, als Clelia in ihren Garten ging, um Luft zu schöpfen. Sie dachte nicht daran, daß sie zehn Monate lang keinen Fuß hineingesetzt hatte. Sie war lebhaft und munter und hatte Farbe.

Abends pochte ihr das Herz vor Erregung bei jedem Langweiligen, der den Salon betrat. Endlich meldete man Gonzo, der auf den ersten Blick sah, daß er acht Tage lang der Unentbehrliche sein werde. ›Die Marchesa ist eifersüchtig auf die kleine Marini. Auf Ehre, das gibt eine regelrechte Komödie,‹ sagte er sich, ›in der die Marchesa die Hauptrolle spielt, die kleine Annetta die Intrigantin und Monsignore del Dongo den Verliebten. Donnerwetter, die Eintrittskarte wäre mit einem Taler nicht zu hoch bezahlt!‹ Seine Freude kannte keine Grenzen, und den ganzen Abend ließ er keinen Menschen zu Worte kommen. Er erzählte die albernsten Anekdoten. Die Marchesa litt es nicht auf ihrem Stuhl; sie lief im Zimmer umher und ging in eine daran stoßende Galerie, wo der Marchese nur Gemälde hatte aufhängen lassen, von denen keines unter zwanzigtausend Franken gekostet hatte. Diese Bilder sprachen an jenem Abend eine so deutliche Sprache, daß sie das Herz der Marchesa durch ein Übermaß von Erregung ermüdeten. Endlich hörte sie, daß beide Flügeltüren geöffnet wurden. Sie eilte in das Empfangszimmer. Es war die Marchesa Raversi! Als Clelia ihr die üblichen Begrüßungsworte sagte, merkte sie, daß ihre Stimme versagte. Die Raversi mußte ihre Frage zweimal wiederholen: »Was sagen Sie zu unserm Modeprediger?« Clelia hatte diese Frage das erste Mal überhört.

»Ich habe ihn«, fuhr die Raversi fort, »für einen kleinen Ränkeschmied gehalten, für den würdigen Neffen der berühmten Gräfin Mosca. Aber das letzte Mal, als er predigte, denken Sie, in der Kirche della Visitazione, schrägüber von hier, da war er so erhaben, daß ich allen Haß vergessen habe und ihn für den beredtesten Mann ansehe, den ich je gehört habe.«

»So haben Sie also einer seiner Predigten beigewohnt?« fragte Clelia, am ganzen Leibe vor Glück bebend.

»Aber verstehen Sie mich denn nicht?« fragte die Raversi lachend. »Ich möchte ihn um alles in der Welt nicht missen. Man sagt, er sei lungenleidend und werde bald nicht mehr predigen.«

Kaum war die Marchesa Raversi wieder fort, als Clelia Gonzo in die Galerie rief.

»Ich bin fast entschlossen,« sagte sie zu ihm, »mir diesen hoch gepriesenen Prediger einmal anzuhören. Wann predigt er wieder?«

»Nächsten Montag, also in drei Tagen. Man könnte beinahe sagen, daß er die Absicht Eurer Exzellenz ahnt. Er wird nämlich in der Kirche della Visitazione predigen.«

Noch war nicht alles beredet, aber Clelia brachte kein Wort mehr heraus. Stumm ging sie fünf- oder sechsmal in der Galerie hin und her. Gonzo sagte sich: ›Das ist Rachsucht, die sie quält! Wie kann man aber auch so unverschämt sein und aus einem Kerker entweichen, zumal wenn man die Ehre hat, von einem Helden wie dem General Fabio Conti bewacht zu werden!‹ »Übrigens«, fuhr er mit feiner Ironie laut fort, »hat die Sache Eile; er ist brustkrank. Ich habe den Doktor Rambo sagen hören, er hätte kein Jahr mehr zu leben. Gott straft ihn, weil er sich der Gerichtsbarkeit durch seine verräterische Flucht aus der Zitadelle entzogen hat.«

Die Marchesa setzte sich auf einen Diwan in der Galerie und gab Gonzo einen Wink, ihrem Beispiel zu folgen. Kurz darauf gab sie ihm eine kleine Börse, in die sie etliche Zechinen hineingesteckt hatte. »Lassen Sie vier Plätze für mich belegen!«

»Wird es dem armen Gonzo erlaubt sein, sich dem Gefolge Eurer Exzellenz anzuschließen?«

»Natürlich! Also fünf Stühle! Übrigens lege ich keinen Wert darauf,« fügte sie hinzu, »nahe an der Kanzel zu sitzen. Ich möchte gern die Signorina Marini sehen. Sie soll so hübsch sein.«

Die Marchesa war in den drei Tagen bis zu dem berühmten Montag, dem Tage der Predigt, halbtot. Gonzo, für den es eine ganz besonders hohe Ehre war, öffentlich im Gefolge einer so vornehmen Dame zu erscheinen, hatte zu seinem Hoffrack den Degen angelegt. Mehr noch, er benutzte die Nähe des Palazzos, um für die Marchesa einen prächtigen vergoldeten Lehnstuhl in die Kirche tragen zu lassen, was die Spießbürger grenzenlos anmaßend fanden. Man kann sich denken, wie es der armen Marchesa zumute war, als sie diesen Lehnstuhl erblickte, den man noch dazu gerade der Kanzel gegenüber aufgestellt hatte. Clelia war völlig verwirrt. Mit niedergeschlagenen Augen schmiegte sie sich in eine Ecke ihres riesigen Lehnstuhles. Sie hatte nicht einmal den Mut, sich die kleine Marini anzusehen, auf die Gonzo mit beispielloser Dreistigkeit mit dem Finger zeigte. Alle nichtadligen Geschöpfe galten in den Augen des Höflings durchaus nichts.

Fabrizzio erschien auf der Kanzel. Er war so mager, so bleich, so abgezehrt, daß sich Clelias Augen sofort mit Tränen füllten. Fabrizzio sprach ein paar Worte, dann hielt er inne, als ob ihm plötzlich die Stimme versage. Vergeblich versuchte er, noch ein paar Sätze zu formen; er wandte sich um und ergriff einen beschriebenen Zettel.

»Meine Brüder,« begann er, »eine unglückliche Seele, die euer innigstes Erbarmen wohl verdient, ersucht euch durch meinen Mund, für das Ende ihrer Qualen zu beten, die nur mit ihrem Leben enden!«

Dann las er langsam den Zettel ab; aber der Klang seiner Stimme war so eigentümlich, daß die ganze Gemeinde mitten in seinem Gebet weinte, selbst Gonzo. ›Zum mindesten wird man mich nicht beobachten!‹ sagte sich die Marchesa, in Tränen ausbrechend.

Während Fabrizzio seinen Zettel ablas, fand er zwei oder drei Gedanken über den Zustand des Unglücklichen, für den zu beten er die Gemeinde aufgefordert hatte. Bald kam ihm eine Flut von Einfällen. Obwohl es schien, als predige er zur Allgemeinheit, sprach er doch nur für Clelia. Er beendete seine Predigt ein wenig früher als gewöhnlich, weil ihn aller Anstrengung zum Trotz die Tränen so übermannten, daß er nicht mehr imstande war, die Worte deutlich auszusprechen. Man fand seine Predigt seltsam, aber in ihrem Pathos der berühmten Rede an jenem Abend, als die Kerzen brannten, zum mindesten ebenbürtig.

Kaum hatte Clelia die ersten zehn Sätze des Gebets gehört, das Fabrizzio ablas, da erschien es ihr als eine schreckliche Sünde, daß sie Fabrizzio vierzehn Monate lang nicht gesehen hatte. Als sie heimkehrte, legte sie sich zu Bett, um ungestört an Fabrizzio denken zu können. Am anderen Tage erhielt Fabrizzio zu ziemlich früher Stunde folgende Zeilen:

›Ich rechne auf Ihre Ehrenhaftigkeit. Nehmen Sie vier Bravi, deren Verschwiegenheit Sie sicher sind, und finden Sie sich morgen im Augenblick, wenn es von der SteccataLa Steccata, von Bernardino Zaccagni, 1521 begonnen. Mitternacht schlägt, in der Via San Paolo ein, an der kleinen Pforte, die die Nummer neunzehn trägt. Denken Sie daran, daß man Sie angreifen kann; kommen Sie nicht allein!‹

Als Fabrizzio die himmlischen Schriftzüge erkannte, sank er auf die Kniee und brach in Tränen aus: »Endlich,« rief er aus, »endlich, nach vierzehn Monaten und acht Tagen! Fahrt wohl, ihr Predigten!«

Es wäre zu weitschweifig, alle die Narrheiten zu schildern, denen Fabrizzios und Clelias Herzen an jenem Tage zum Opfer fielen. Die kleine Pforte, die in dem Briefchen gemeint war, war keine andere als die der Orangerie des Palazzos Crescenzi. Den Tag über fand Fabrizzio allerlei Anlässe, zehnmal an ihr vorüberzugehen. Er steckte Waffen zu sich und ging kurz vor Mitternacht hastigen Schrittes allein an jener Pforte vorbei. Zu seiner namenlosen Freude hörte er eine wohlbekannte Stimme ganz leise flüstern: »Tritt ein, mein Herzensfreund!«

Fabrizzio trat vorsichtig ein und sah sich wirklich in der Orangerie, aber vor einem vergitterten Fenster, das drei bis vier Fuß über dem Boden war. Tiefes Dunkel herrschte. Fabrizzio hörte am Fenster ein Geräusch und tastete mit der Hand nach dem Gitter. Da fühlte er eine andere, die sich ihm durch die Stangen entgegenstreckte, die seine ergriff und an sich zog, um sie an die Lippen zu führen.

»Ich bin es,« sagte eine teure Stimme zu ihm, »ich bin hergekommen, um dir zu sagen, daß ich dich liebe, und um dich zu fragen, ob du mir gehorsam sein willst.«

Die Antwort Fabrizzios, seine Freude und sein Erstaunen kann man sich vorstellen. Nach dem ersten Rausche sagte Clelia zu ihm:

»Ich habe der Madonna gelobt, wie du weißt, dich nie wieder zu sehen. Deshalb empfange ich dich in diesem tiefen Dunkel. Wisse, wenn du mich je zwingst, dich am hellen, lichten Tage anzusehen, dann ist alles aus zwischen uns beiden. Und dann will ich nicht, daß du wieder vor Annetta Marini predigst. Glaube übrigens ja nicht, daß ich die Dummheit begangen habe, in das Haus Gottes einen Lehnstuhl tragen zu lassen.«

»Mein lieber Engel, ich werde nicht wieder predigen, vor niemandem mehr. Ich habe nur gepredigt, in der Hoffnung, daß ich dich eines Tages wiedersähe!«

»Sprich nicht so! Denke daran, daß ich dich nicht wiedersehen darf.« –

Drei Jahre gingen dahin. Graf Mosca war längst nach Parma zurückgekehrt und als Pemierminister mächtiger denn je. Nach diesen drei Jahren göttlichen Glücks hatte Fabrizzio eine zärtliche Laune, die alles veränderte. Clelia hatte einen entzückenden kleinen Jungen im Alter von zwei Jahren, Sandrino, der die Freude der Mutter war. Er war immer um sie herum oder auf den Knieen des Marchese Crescenzi. Fabrizzio sah ihn dagegen beinahe niemals. Willens, daß sich das Kind nicht daran gewöhnen sollte, einen anderen als Vater zu lieben, hatte er die Absicht, es zu entführen, ehe sein Gedächtnis deutlich ward. Tag für Tag in den langen Stunden, in denen die Marchesa ihren Freund nicht sehen konnte, tröstete sie Sandrinos Gegenwart. Wir müssen nämlich etwas gestehen, was nördlich der Alpen unglaubhaft erscheinen wird: daß sie trotz ihren Verirrungen ihrem Gelübde treu geblieben war. Sie hatte der Madonna gelobt (wie man sich erinnert), Fabrizzio nie wieder zu sehen. So hatte das Gelübde wörtlich gelautet. Infolgedessen kam sie nachts mit ihm zusammen, und nie brannten Lampen im Gemach.

Alle Abende wurde Fabrizzio von seiner Freundin empfangen, und was bewundernswert ist, seine Vorsichtsmaßregeln waren so geschickt getroffen, daß an jenem Hofe voll maßloser Neugier und Langerweile kein Mensch diese amicizia, wie man in der Lombardei sagt, ahnte. Ihre Liebe war allzu heftig, als daß sie ohne Zwist hätte bleiben können, Clelia hatte viel Anlage zur Eifersucht, aber immer hatten die Uneinigkeiten eine andere Ursache. Fabrizzio hatte irgendeine öffentliche Zeremonie mißbraucht, um mit Clelia zusammenzutreffen und sie zu sehen. Unter irgendeinem Vorwand ging sie schnell hinweg und verbannte ihren Freund auf lange Zeit.

Am Parmaer Hofe wunderte man sich, daß eine durch ihre Schönheit wie durch ihre geistige Überlegenheit gleich hervorragende Frau so senza altro amore blieb. Sie erregte Leidenschaften, die zu rechten Torheiten verleiteten, und oft war auch Fabrizzio eifersüchtig.

Der gute Erzbischof Landriani war längst dahingegangen. Die Frömmigkeit, der musterhafte Lebenswandel und die Beredsamkeit Fabrizzios hatten ihn in Vergessenheit gebracht. Fabrizzios älterer Bruder war gestorben, und alle Familiengüter waren ihm zugefallen. Seitdem verteilte er jedes Jahr unter die Vikare und Priester seiner Diözese die hundertundsoundsovieltausend Franken, die das Erzbistum Parma einbrachte.

Schwerlich kann man sich ein an Ehren reicheres, ehrbareres und nützlicheres Dasein als das von Fabrizzio geführte ausdenken, als er durch jene unglückliche Anandlung von Zärtlichkeit alles verdarb. Eines Tages sagte er zu Clelia:

»Jenem Gelübde zufolge, das ich achte und das doch das Unglück meines Lebens ist, da ich dich ja nicht bei Tage sehen kann, bin ich gezwungen, beständig einsam dahinzuleben. Ich habe keine andere Zerstreuung als die Arbeit, und selbst die fehlt mir. Bei dieser harten und traurigen Lebensweise, in der ich die langen Stunden und Tage verbringe, ist ein Gedanke in mir aufgetaucht, der meine Qual ist und gegen den ich seit sechs Monaten vergeblich ankämpfe: Mein Sohn wird mich nie lieben; er hört ja nie meinen Namen nennen. In dem verführerischen Luxus des Palazzos Crescenzi aufgewachsen, kennt er mich kaum. Bei den wenigen Malen, da ich ihn sehe, träume ich von seiner Mutter; er erinnert mich an die himmlische Schönheit, die ich nie erblicken darf. So habe ich für ihn stets ein ernstes Gesicht, und ernst bedeutet bei Kindern dasselbe wie traurig.«

»Sag an,« sagte die Marchesa, »worauf zielen diese Worte, die mich erschrecken?«

»Ich möchte meinen Sohn haben! Ich will, daß er bei mir wohnt; ich will, daß er sich daran gewöhnt, mich zu lieben. Ich selber will ihn nach Herzenslust lieben. Da es ein Schicksal ohnegleichen verlangt, daß ich des Glückes beraubt bin, das so viele zärtliche Seelen genießen, und da ich mein Leben nicht mit dir verbringen darf, die ich anbete, so will ich wenigstens ein Wesen um mich haben, das mein Herz an dich erinnert und dich in gewisser Hinsicht ersetzt. Mein Beruf und die Menschen sind mir in meiner aufgezwungenen Einsamkeit zur Last. Du weißt, daß Ehrgeiz immer ein hohles Wort für mich war seit dem Augenblick, da ich das Glück hatte, von Barbone in die Gefangenenliste eingetragen zu werden; und alles, was nicht Seelenerlebnis ist, scheint mir lächerlich in der Schwermut, die mich fern von dir bedrückt.«

Man kann den Schmerz begreifen, den der Kummer ihres Freundes in Clelias Seele träufelte. Ihre Betrübnis war um so tiefer, als sie das Gefühl hatte, Fabrizzio sei gewissermaßen im Recht. Sie geriet sogar ins Schwanken, ob sie nicht ihr Gelübde brechen müsse. Dann hätte sie Fabrizzio bei Tage empfangen können wie jeden anderen aus der Gesellschaft, und der Ruf seiner Tugendhaftigkeit war viel zu fest begründet, als daß daraus schlimmes Gerede entstehen konnte. Sie sagte sich, durch viel Geld könne sie sich von ihrem Gelübde entbinden lassen, aber sie fühlte auch, daß eine so weltliche Erledigung ihr Gewissen nicht beschwichtigen könne, und vielleicht würde sie der Groll des Himmels wegen dieser neuen Sünde strafen.

Aber wenn sie auch einem so natürlichen Wunsche Fabrizzios willfahrte, wenn sie auch alles andere als das Unglück jener liebevollen Seele wollte, die ihr so vertraut war und deren Friede durch ihr Gelöbnis so seltsam gefährdet ward: unter welcher Maske sollte der einzige Sohn eines italienischen Grandseigneurs entführt werden, ohne daß der Betrug herauskam? Der Marchese Crescenzi würde Unsummen daransetzen, würde die Nachforschungen persönlich leiten, und früher oder später würde die Tat aufgedeckt. Es gab nur einen Weg, dieser Gefahr vorzubeugen: man hätte das Kind weit weg bringen müssen, etwa nach Edinburg oder nach Paris, aber dazu konnte sich die zärtliche Mutter nicht entschließen. Ein anderer von Fabrizzio vorgeschlagener Ausweg, und wirklich der vernünftigste, hatte in den Augen der fassungslosen Mutter eine unselige Vorbedeutung und noch Schlimmeres an sich. »Man müßte eine Krankheit vorschützen,« meinte Fabrizzio, »das Kind müßte mehr und mehr dahinsiechen, und während einer Reise des Marchese Crescenzi müßte es angeblich sterben.«

Clelias Widerwille, der sich bis zum Entsetzen steigerte, verursachte eine flüchtige Entzweiung. Clelia behauptete, man dürfe Gott nicht versuchen. Dies so heißgeliebte Kind sei die Frucht einer Sünde, und Gott werde es ohne Gnade wieder zu sich nehmen, wenn man seinen himmlischen Zorn herausfordere. Wiederum sprach Fabrizzio von seinem absonderlichen Schicksal. »Der Beruf, den mir der Zufall gegeben hat,« sagte er zu Clelia, »und meine Liebe verpflichten mich zu ewiger Einsamkeit. Ich darf nicht wie die meisten meiner Standesgenossen die Freuden vertrauter Geselligkeit genießen, da du mich nur im Dunkeln empfangen willst. Das drängt unser gemeinsames Leben sozusagen auf Augenblicke zusammen.«

Es wurden reichlich Tränen vergossen. Clelia ward krank, aber sie liebte Fabrizzio allzusehr, als sich beharrlich zu weigern, das schreckliche Opfer zu bringen, das er von ihr erbat. Sandrino wurde angeblich krank. Der Marchese ließ schleunigst die berühmtesten Ärzte holen. Damit trat eine unvorhergesehene Schwierigkeit ein. Clelia mußte das angebetete Kind davor behüten, daß es die von den Ärzten verschriebenen Heilmittel einnahm. Das war nicht leicht.

Das Kind, das länger, als es seiner Gesundheit dienlich war, im Bette blieb, erkrankte wirklich. Man konnte doch dem Arzt die wahre Ursache dieses Übels nicht sagen! Von zwei sich widerstreitenden, ihr gleich teueren Neigungen hin und her gerissen, war Clelia nahe daran, den Verstand zu verlieren. Sollte man die augenscheinliche Genesung zugeben und damit die Frucht einer so langwierigen und schmerzlichen Täuschung preisgeben? Fabrizzio konnte sich weder verzeihen, daß er gewaltsam auf das Herz seiner Freundin eingewirkt hatte, noch auf seinen Plan verzichten. Er hatte Mittel und Wege gefunden, alle Nächte das kranke Kind besuchen zu können. Das führte zu neuer Verwicklung. Die Marchesa kam, um nach ihrem Kinde zu sehen, und so war es nicht zu umgehen, daß Fabrizzio sie im hellen Licht der Kerzen erblickte. Das empfand Clelias armes wundes Herz als grausige Sünde und wie eine Prophezeiung von Sandrinos Tod. Vergeblich erklärten die berühmtesten Kasuisten, die man über die Treue gegen ein Gelübde befragte, in dem Falle, wo das treue Einhalten offenbar Schaden anstiften mußte, sei ein Gelübde nicht in sündhafter Weise als gebrochen, anzusehen, wenn die durch ein Gelöbnis gegen Gott verpflichtete Person es nicht aus eitler Sinnenlust, sondern zur Abwendung eines unleugbaren Übels bräche. Die Marchesa blieb trotzdem verzweifelt, und Fabrizzio verhehlte sich die Möglichkeit nicht, daß sein wunderlicher Einfall Clelias Tod und den seines Sohnes zur Folge haben könne. Er nahm seine Zuflucht zu seinem Busenfreund, dem Grafen Mosca. Der greise Minister war gerührt von dieser Liebesgeschichte, von der er keine Ahnung gehabt hatte.

»Ich werde dafür Sorge tragen,« sagte er, »daß der Marchese mindestens fünf bis sechs Tage abwesend sein wird. Ist Ihnen das recht?«

Kurz darauf teilte Fabrizzio dem Grafen mit, alles sei vorbereitet, um Crescenzis etwaige Abwesenheit auszunutzen.

Zwei Tage später, als der Marchese von einem seiner Landgüter bei Mantua zurückritt, wurde er von Räubern, die offenbar im Solde einer Privatrache standen, gefangen genommen und, ohne daß ihm irgendein Leid geschah, in eine Barke gesetzt. Er mußte drei Tage lang den Po stromab fahren und die nämliche Reise machen wie ehedem Fabrizzio nach dem berühmten Vorfall mit Giletti. Am vierten Tage setzten die Räuber den Marchese auf einer einsamen Po-Insel aus, nachdem sie ihn völlig ausgeplündert und ihm weder Geld noch einen sonstigen Wertgegenstand gelassen hatten. Der Marchese brauchte zwei volle Tage, ehe er wieder in seinem Palazzo ankam. Er fand ihn schwarz ausgeschlagen und sein ganzes Haus in trostloser Wehklage.

Die sehr geschickt ins Werk gesetzte Entführung hatte eine unheilvolle Folge. Sandrino, der heimlich in einem großen und schönen Hause untergebracht war, wo ihn die Marchesa fast alle Tage besuchte, starb nach Verlauf von wenigen Monaten. Clelia bildete sich ein, eine gerechte Strafe habe sie ereilt, weil sie ihr Gelübde der Madonna nicht treu gehalten habe. Während Sandrinos Krankheit hatte sie Fabrizzio häufig bei Licht gesehen und sogar zweimal am hellen Tage und in zärtlichster Wallung. Sie überlebte ihren heißgeliebten Sohn nur um wenige Monate, aber sie hatte das süße Glück, in den Armen ihres Freundes zu sterben.

Fabrizzio war allzu verliebt und viel zu gläubig, als daß er seine Zuflucht zum Selbstmord nahm. Er hoffte, Clelia in einer besseren Welt wiederzufinden; aber klug, wie er war, verhehlte er sich nicht, daß er viel zu sühnen hatte.

Wenige Tage nach Clelias Tode unterzeichnete er mehrere Urkunden, kraft deren er jedem seiner Diener ein Jahresgeld von tausend Franken aussetzte und sich selbst eine gleich hohe Rente ausbedang. Der Gräfin Mosca vermachte er Landgüter, die hunderttausend Lire Ertrag hatten, die gleiche Rente seiner Mutter, und was von seinem väterlichen Vermögen wohl übrig blieb, der einen seiner Schwestern, die arm verheiratet war. Am anderen Tage, nachdem er vorschriftsmäßig seine Enthebung vom Erzbistum und von allen Würden erbeten hatte, die ihm durch die Gnade seines Landesherrn und die Freundschaft des Premierministers in reichstem Maße zuteil geworden waren, zog er sich nach der Kartause von Parma zurück. Sie liegt in den Wäldern am Po, zwei Meilen von Sacca.

Die Gräfin Mosca war seinerzeit durchaus damit einverstanden gewesen, daß ihr Gatte das Ministerium wieder annahm, aber niemals gab sie darin nach, die Lande Ernsts V. wieder zu betreten. Sie residierte in Vignano, eine Viertelstunde von Casalmaggiore am linken Po-Ufer, also auf österreichischem Gebiet. In dem prächtigen Schlosse von Vignano, das ihr der Graf hatte erbauen lassen, empfing sie jeden Donnerstag die höchste Gesellschaft aus Parma und alltäglich ihre zahlreichen Freunde. Es verging kein Tag, an dem Fabrizzio nicht nach Vignano gekommen wäre. Mit einem Wort, die Gräfin schien im Vollbesitz alles Glückes, aber sie überlebte ihren vergötterten Fabrizzio nur um kurze Zeit. Er verbrachte in seiner Kartause kaum ein Jahr.

In Parma waren die Gefängnisse leer, der Graf unermeßlich reich und Ernst V. verehrt von seinen Untertanen, die seine Regierung mit der der Großherzöge von Toskana verglichen.


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