Stendhal
Die Kartause von Parma
Stendhal

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Neunzehntes Kapitel

Der Ehrgeiz des Generals Fabio Conti steigerte sich bis zur Narrheit, seit sich der Laufbahn des Premierministers Mosca Hemmnisse in den Weg gelegt hatten, die auf seinen Sturz hinzudeuten schienen. Er begann seiner Tochter heftige Szenen zu machen. Immer wieder hielt er ihr zornig vor, sie bräche ihm den Hals, wenn sie nicht endlich ihre Wahl träfe. Da sie über zwanzig hinaus sei, wäre es Zeit, sich zu entschließen; ihre unvernünftige Halsstarrigkeit isoliere den General schrecklich und müsse endlich aufhören, und so weiter.

Um sich diesen Ausbrüchen von schlechter Laune nicht alle Augenblicke auszusetzen, floh Clelia in die Vogelstube; dorthin konnte man nur auf einer sehr unbequemen Holztreppe gelangen, die für den Kommandanten mit seinem Podagra ein ernstliches Hindernis bildete.

Seit etlichen Wochen war Clelias Seele derartig in Unruhe, sie wußte selbst so wenig, was sie sich wünschen sollte, daß sie, freilich ohne bindendes Jawort, fast in ihre Verlobung gewilligt hatte. Bei einem seiner Wutanfälle hatte der General gepoltert, er werde sie ohne Bedenken in das ödeste Kloster von Parma stecken, und sie könne sich da zu Tode langweilen, bis sie geruhe, ihre Wahl zu treffen.

»Du weißt, daß unsere Familie, so uralt sie ist, keine sechstausend Lire Rente hat, daß aber der Marchese Crescenzi über mehr als hunderttausend Taler im Jahre verfügt. Bei Hofe ist man sich einig, daß er den verträglichsten Charakter besitzt. Niemals hat er irgendwem Anlaß zu Klagen gegeben; er ist ein schmucker junger Mann, bei Serenissimus wohlgesehen, und ich meine, wenn eine seine Huldigungen zurückweist, muß sie vollkommen verrückt sein. Wenn diese Abweisung die erste wäre, ließe ich sie mir vielleicht noch gefallen, aber du hast schon fünf oder sechs Partieen, die besten in der Hofgesellschaft, von dir gewiesen, dumme Gans, die du bist! Und was soll aus dir werden, ich bitte dich, wenn ich pensioniert werde? Was für eine Genugtuung für meine Gegner, wenn man mich in irgendeinen zweiten Stock einziehen sieht, mich, der ich oft in Frage gekommen bin, Minister zu werden! Nein, Schockschwerenot! Ich habe nun lange genug in meiner Gutmütigkeit die Rolle Cassanders gespielt. Du bringst mir entweder einen stichhaltigen Einwand gegen diesen armen Marchese Crescenzi, der die Güte hat, in dich verliebt zu sein, dich ohne Mitgift zur Frau zu begehren und dir ein Nadelgeld von dreißigtausend Lire Rente auszusetzen, wovon ich wenigstens anständig wohnen könnte, – kurz und gut, du sagst mir entweder etwas Vernünftiges, oder, zum Teufel, du heiratest in zwei Monaten!«

Ein einziges Wort dieser ganzen Rede hatte auf Clelia Eindruck gemacht, das war die Drohung, ins Kloster gesteckt zu werden und somit die Zitadelle verlassen zu müssen, und das zu einer Zeit, da Fabrizzios Leben nur noch an einem Faden hing; denn es verging kein Monat, in dem das Gerücht von seinem nahen Tode nicht von neuem in der Stadt und am Hofe umlief. Was für Vorhaltungen sie sich auch machte, sie konnte sich nicht entschließen, sich der Gefahr auszusetzen, von Fabrizzio in dem Augenblick getrennt zu werden, da sie für sein Leben zitterte. Das war in ihren Augen der Übel schlimmstes, zum mindesten unmittelbarstes. Freilich sah ihr Herz, wenn sie nicht von Fabrizzio getrennt wurde, auch keine Aussicht auf Glück; wähnte sie ihn doch von der Duchezza geliebt, und ihre Seele war von tödlicher Eifersucht zerrissen. Unaufhörlich dachte sie an die Vorzüge dieser allgemein bewunderten Frau. Die strenge Zurückhaltung, die sich Clelia Fabrizzio gegenüber auferlegte, die Zeichensprache, auf die sie ihn beschränkt hatte, aus Furcht vor irgend etwas Unschicklichem, alles das schien sich zu verbünden und ihr jedes Mittel zu nehmen, sich einige Klarheit über seine wahren Beziehungen zur Duchezza zu verschaffen. So fühlte sie von Tag zu Tag immer grausamer das schreckliche Unglück, in Fabrizzios Herzen eine Rivalin zu haben, und von Tag zu Tag wagte sie sich immer weniger der Gefahr auszusetzen, ihm Gelegenheit zu geben, ihr die volle Wahrheit über seinen Herzenszustand zu gestehen. Und doch, wie süß wäre ihr das Geständnis seiner wahren Gefühle gewesen, wie glücklich wäre Clelia geworden, wenn der gräßliche Argwohn verscheucht worden wäre, der ihr das Leben vergiftete!

Fabrizzio war leichtsinnig. In Neapel hatte er den Ruf gehabt, seine Geliebten ziemlich rasch zu wechseln. Trotz aller Zurückhaltung, die ihr die Rolle einer vornehmen jungen Dame aufzwang, zumal sie Stiftsdame war und bei Hofe ein und aus ging, hatte Clelia, ohne je Fragen zu stellen, nur durch aufmerksames Zuhören, den Ruf der jungen Männer erfahren, die nacheinander um ihre Hand geworben hatten. Fabrizzio aber war im Vergleich zu ihnen allen derjenige, der in Herzensangelegenheiten den größten Leichtsinn an den Tag legte. Er saß im Kerker, langweilte sich und machte dem einzigen weiblichen Wesen in Sehweite den Hof. Was war natürlicher? Was zugleich gemeiner? Das war es, was Clelia so tief betrübte. Selbst wenn sie durch eine offene Beichte erfahren hätte, daß Fabrizzio die Duchezza nicht mehr liebte, welches Vertrauen hätte sie in die Dauerhaftigkeit seiner Gefühle setzen können? Und endlich, was die Hoffnungslosigkeit ihres Herzens auf die Spitze trieb: war Fabrizzio nicht in seiner geistlichen Laufbahn schon sehr weit vorgerückt? Stand er nicht nahe davor, sich durch ewige Gelübde zu binden? Harrten seiner nicht die höchsten Würden seines Standes? »Wenn mir nur ein Schimmer von gesundem Menschenverstand verbliebe,« sagte sich die unglückliche Clelia, »müßte ich dann nicht die Flucht ergreifen? Müßte ich nicht meinen Vater anflehen, mich in das fernste Kloster einzusperren? Und um das Elend voll zu machen, ist es gerade die Furcht, fern von der Zitadelle zu leben und in ein Kloster eingeschlossen zu sein, die mich leitet! Gerade diese Furcht zwingt mich zur Heuchelei, nötigt mich zu der häßlichen und entehrenden Lüge, mich zu stellen, als ob ich die Huldigungen und öffentlichen Aufmerksamkeiten des Marchese Crescenzi annähme.«

Clelias Wesen war in hohem Grade besonnen; in ihrem ganzen Leben hatte sie sich keinen unüberlegten Schritt vorzuwerfen, aber ihr Benehmen in diesem Falle war der Inbegriff aller Unvernunft. Danach kann man sich einen Begriff von ihren Leiden machen. Sie waren um so grausamer, als sie sich keiner Täuschung hingab. Sie hing an einem Manne, der in die schönste Frau am Hofe sinnlos verliebt war, in eine Frau, die ihr mit soviel Berechtigung überlegen war. Und dieser Mann war an und für sich, selbst wenn er frei gewesen wäre, einer ernstlichen Neigung unfähig, während sie nur allzusehr fühlte, daß sie nie im Leben eine andere Liebe hegen könne.

So ward Clelias Herz von den gräßlichsten Gewissensbissen gequält, wenn sie tagtäglich in die Vogelstube kam, wohin es sie wider Willen zog. Dort wechselte der Anlaß ihrer Unruhe; dort ward diese weniger quälend. Ihre Gewissensqualen hörten vorübergehend auf, und mit unsagbarem Herzklopfen harrte sie des Augenblicks, da Fabrizzio das selbstgeschaffene Guckloch im Fensterschirm öffnete. Oft verbot die Anwesenheit des Aufsehers Grillo in seiner Zelle, daß er sich mit seiner Freundin durch Zeichen unterhielt.

Eines Abends gegen elf Uhr hörte Fabrizzio Geräusche sonderbarster Art in der Zitadelle. Er hielt den Kopf an das Guckloch, und es gelang ihm, festzustellen, daß der ziemlich starke Lärm auf der Haupttreppe, den sogenannten dreihundert Stufen, gemacht wurde, die vom Vorhof im Inneren des breiten Turmes zur gepflasterten Plattform hinaufführten, wo, wie wir wissen, die Kommandantur und die Torre Farnese, Fabrizzios Gefängnis, standen.

Etwa in halber Höhe, nach hundertachtzig Stufen, ging die Treppe in der Richtung von Süden nach Norden über einen schachtartigen Hof. Dort befand sich eine sehr schmale, leichte eiserne Brücke, auf deren Mitte ein Pförtner seinen Platz hatte, der alle sechs Stunden abgelöst wurde. Er mußte aufstehen und sich an das Geländer drücken, wenn jemand den von ihm bewachten Steg überschreiten wollte. Weder zur Kommandantur noch zur Torre Farnese führte ein anderer Weg. Man brauchte nur zweimal ein Schloß zu schließen, dessen Schlüssel der Kommandant bei sich trug, und die eiserne Brücke stürzte in eine Tiefe von mehr als hundert Fuß hinab. Durch diese einfache Vorrichtung sowie dadurch, daß es in der ganzen Zitadelle nur eine einzige Treppe gab und daß ein Wachtmeister jede Nacht um zwölf Uhr die Ziehtaue zu allen Brunnen der Zitadelle in einer Stube ablieferte, die man nur durch das Schlafzimmer des Kommandanten betreten konnte, war dieser in seinem Palazzo völlig abgeschlossen; ebenso konnte keine Menschenseele zur Torre Farnese gelangen. Das hatte Fabrizzio bei seiner Ankunft in der Zitadelle gründlich erkannt; obendrein hatte es ihm Grillo, der wie alle Gefängniswärter gern mit seinem Kerker prahlte, mehrfach vorgehalten. So hatte er keine rechte Hoffnung auf Flucht. Gleichwohl erinnerte er sich, irgendwo einmal gelesen zu haben: »Der Liebende denkt viel mehr daran, zu seiner Geliebten zu gelangen, als der Ehemann daran, seine Frau zu bewachen, der Gefangene viel mehr an die Flucht als der Gefängnisaufseher an das Verschließen der Türen. Folglich müssen, trotz allen Hindernissen, der Liebende wie der Gefangene zum Ziele kommen.«

An jenem Abend vernahm Fabrizzio deutlich, wie eine große Anzahl Menschen über die Eisenbrücke ging, die sogenannte Sklavenbrücke, weil es vor Zeiten einem dalmatinischen Sklaven gelungen war, zu entweichen, indem er den Brückenwächter in die Tiefe stürzte.

»Da ist etwas im Gange!« dachte Fabrizzio. »Man will jemanden gewaltsam holen. Vielleicht mich? Irgend etwas ist nicht in Ordnung; das muß ich ausnutzen.« Er griff nach seinen Waffen und suchte bereits ein paar seiner Goldstücke aus ihren Verstecken hervor. Mit einem Male hielt er inne.

»Der Mensch ist ein spaßiges Tier,« sagte er sich laut, »das muß man zugeben! Was würde ein unsichtbarer Beobachter sagen, der meine Vorbereitungen sähe? Will ich mich etwa retten? Und was wird anderntags aus mir, wenn ich wieder in Parma bin? Würde ich nicht alles aufs Spiel setzen, um wieder in Clelias Nähe zu kommen? Wenn etwas nicht in Ordnung ist, will ichs benutzen, mich in die Kommandantur zu schleichen; vielleicht kann ich Clelia sprechen, vielleicht darf ich ihr bei der Verwirrung sogar die Hand küssen. Der General Conti, von Natur sehr mißtrauisch und ebenso eitel, läßt seinen Palazzo von fünf Posten bewachen, einen an jeder Ecke des Gebäudes und den fünften am Tor. Aber zum Glück ist die Nacht stockfinster.«

Schleichend wie ein Luchs, sah Fabrizzio nach, was Grillo und sein Hund machten. Der Aufseher lag in tiefem Schlummer in einer Rindshaut, die an vier Stricken hing und von einem groben Netz umgeben war. Fox, der Bullterrier, blinzelte mit den Augen, richtete sich auf, sah Fabrizzio gutmütig an und wedelte mit dem Schwanze.

Unser Gefangener stieg leise die sechs Stufen zu seinem Holzkäfig wieder hinauf. Der Lärm am Fuße der Torre Farnese und genau vor deren Tor wurde so stark, daß Fabrizzio dachte, Grillo müsse aufwachen. Den Dolch in Bereitschaft, gefaßt zur Tat, glaubte Fabrizzio, die Nacht bringe ihm große Abenteuer, als er mit einem Male hörte, wie die schönste Sinfonie der Welt anhob. Man brachte dem Kommandanten oder seiner Tochter ein Ständchen. Fabrizzio bekam einen tollen Lachanfall. ›Und da dachte ich schon daran, Dolchstöße auszuteilen! Als ob eine Serenade nicht etwas weitaus Alltäglicheres wäre als eine Entführung, wozu man in einem Gefängnis wohl an die achtzig Menschen brauchte oder gar eine Meuterei. 0139 Die Musik war vorzüglich und kam Fabrizzio köstlich vor. Seine Seele hatte seit so vielen Wochen keine Zerstreuung gehabt; er wurde zu Tränen gerührt. In seiner Wonne richtete er an Clelia die unwiderstehlichsten Worte. Aber am anderen Tage, zur Mittagszeit, fand er sie derartig schwermütig, düster und blaß und aus ihren Blicken war so viel Unmut herauszulesen, daß er sich nicht berechtigt fühlte, sie wegen des Ständchens zu befragen; er fürchtete, unhöflich zu sein.

Clelia hatte allen Anlaß, betrübt zu sein. Die Serenade hatte ihr der Marchese Crescenzi gebracht. Eine so öffentliche Huldigung war gewissermaßen die Verlobungsanzeige in aller Form. Bis zu dieser Serenade, bis neun Uhr abends, hatte Clelia den heftigsten Widerstand geleistet, aber dann war sie schwach geworden; ihr Vater hatte gedroht, sie auf der Stelle ins Kloster zu schicken, und sie hatte nachgegeben.

»Ach, ich soll ihn nicht mehr sehen!« hatte sie weinend geklagt. Vergeblich hatte ihr dann die Vernunft zugeflüstert: »Du siehst einen Menschen nie wieder, der dir in jeder Hinsicht Unglück bringt: den Liebhaber der Duchezza, einen leichtsinnigen Mann, der in Neapel zehn stadtbekannte Geliebte gehabt und alle miteinander betrogen hat! Du siehst einen jungen Streber nicht wieder, der, wenn er seine Strafe überlebt, in einen geistlichen Orden eintritt!« Sie sagte sich: »Es wäre ein Verbrechen, wenn ich ihn außerhalb der Zitadelle je wieder ansähe! Und sein angeborener Wankelmut wird mir ja diese Versuchung auch ersparen. Was bin ich ihm denn? Ein Mittel, sich täglich ein paar Stunden in seinem Kerker etwas weniger zu langweilen.« Mitten in all diesen Schmähungen kam Clelia jenes Lächeln wieder in den Sinn, mit dem Fabrizzio die Gendarmen angesehen hatte, als er aus der Gefängniskanzlei herauskam, um die Torre Farnese hinaufzusteigen. Die Tränen traten ihr in die Augen: »Lieber Freund, was würde ich nicht für dich tun! Du wirst mich zugrunde richten. Ich weiß es; das ist mein Schicksal. Ich richte mich selbst zugrunde, auf abscheuliche Weise, indem ich heute abend dieser schrecklichen Serenade beiwohne. Aber morgen mittag werde ich deine Augen wiedersehen!«

Gerade einen Tag, nachdem Clelia dem jungen Gefangenen, den sie so leidenschaftlich liebte, ein so großes Opfer gebracht, da sie ihm ihr Leben geopfert hatte, sie, die alle seine Fehler kannte, war Fabrizzio über ihre Kälte verzweifelt. Hätte er der Seele Clelias die geringste Gewalt angetan, nur mit seiner unvollkommenen Zeichensprache, so hätte sie wahrscheinlich ihre Tränen nicht zurückzuhalten vermocht, und Fabrizzio hätte ihr das Geständnis alles dessen abgerungen, was sie für ihn fühlte. Aber es fehlte ihm an Kühnheit; er hatte eine allzu große Angst, Clelia zu verletzen, und sie konnte ihn allzu streng strafen. Mit anderen Worten, er hatte keinerlei Erfahrung, in welche Wallung einen eine Frau versetzt, die man liebt. Das war ein Gefühl, das er niemals erfahren hatte, auch nicht in seiner schwächsten Abstufung. Er brauchte acht Tage dazu, sich nach dem Tage der Serenade mit Clelia wieder in das gewohnte gute Freundschaftsverhältnis zu setzen. Das arme Mädchen stellte sich heiter, aus Todesangst, sich zu verraten, und es kam Fabrizzio vor, als stünde er sich von Tag zu Tag schlechter mit ihr.

Fabrizzio war nun ungefähr drei Monate im Gefängnis, ohne die geringste Verbindung mit der Außenwelt und doch ohne sich unglücklich zu fühlen. Da blieb Grillo eines Vormittags recht lange in seiner Zelle. Fabrizzio wußte nicht, wie er ihn los werden sollte; er war in Verzweiflung. Es hatte bereits halb ein Uhr geschlagen, als er die beiden fußhohen Klappen, die er in dem unseligen Fensterschirm angebracht hatte, endlich öffnen konnte.

Clelia lehnte am Fenster ihrer Vogelstube, die Augen nach Fabrizzios Fenster gerichtet; ihre verzerrten Züge drückten die heftigste Niedergeschlagenheit aus. Kaum sah sie Fabrizzio, als sie ihm das Zeichen machte, alles sei verloren. Sie eilte an ihr Klavier und tat so, als sänge sie ein Rezitativ aus einer damaligen Modeoper. Dabei sagte sie in Absätzen, weil ihr Schmerz und ihre Angst, die unter den Fenstern auf und ab gehenden Posten könnten sie verstehen, sie immer wieder lähmten, zu ihm: »Großer Gott! Sind Sie noch am Leben? Wie dankbar bin ich dem Himmel dafür! Barbone, der Gefängnisaufseher, den Sie am Tage Ihrer Ankunft wegen seiner Unverschämtheit gezüchtigt haben, war verschwunden. Er war nicht mehr in der Zitadelle. Gestern abend ist er zurückgekommen, und seitdem habe ich Anlaß, zu befürchten, daß er Sie zu vergiften sucht. Er treibt sein Wesen in der Küche, in der Ihr Essen gekocht wird. Ich weiß nichts Bestimmtes, aber mein Kammermädchen glaubt, dieser fürchterliche Mensch käme in die Küchen der Kommandantur einzig und allein, um Ihnen an das Leben zu gehen. Ich bin vor Unruhe beinahe gestorben, als Sie gar nicht zum Vorschein kamen; ich glaubte, Sie seien tot. Enthalten Sie sich jeder Nahrung bis auf weitere Nachricht! Ich will alles aufbieten, um Ihnen etwas Schokolade zuzustecken. Falls Sie durch die Gnade des Himmels einen Faden besitzen oder aus Ihrer Wäsche ein Band machen können, so lassen Sie das auf jeden Fall heute abend um neun Uhr von Ihrem Fenster nach den Orangenbäumen hinunter. Ich werde einen Strick daranknüpfen, den Sie zu sich hinaufziehen müssen. Dann werde ich Brot und Schokolade daranbinden.«

Fabrizzio hatte das Stück Kohle, das er im Ofen seiner Zelle gefunden, wie einen Schatz aufbewahrt. Jetzt beeilte er sich, aus Clelias Erregung Nutzen zu ziehen, und schrieb auf seine Hand nacheinander eine Reihe von Buchstaben, die insgesamt folgendes ergaben:

ICH LIEBE DICH, UND DAS LEBEN IST MIR NUR KOSTBAR, WEIL ICH DICH SEHE. SCHICKE MIR VOR ALLEM PAPIER UND EINEN BLEISTIFT!

Ganz wie es Fabrizzio gehofft hatte, hinderte die grenzenlose Angst, die er aus Clelias Zügen las, das junge Mädchen, die Unterhaltung nach dem so verwegenen Wort »Ich liebe dich!« abzubrechen. Sie begnügte sich damit, sich stark verstimmt zu zeigen. Fabrizzio hatte den klugen Einfall, fortzufahren:

BEI DEM STARKEN WIND, DER HEUTE GEHT, HABE ICH DIE WARNUNG, DIE SIE MIR GÜTIGST ZUSANGEN, NUR TEILWEISE VERSTANDEN. DER KLANG DES KLAVIERS ÜBERTÖNT DIE STIMME. WAS BEDEUTET ZUM BEISPIEL DAS GIFT, VON DEM SIE SPRACHEN?

Bei diesem Worte kehrte die ganze Angst des jungen Mädchens wieder. Sie begann eiligst Seiten aus einem Buche herauszureißen und mit Tinte große Buchstaben darauf zu malen. Fabrizzio war außer sich vor Freude, als er sie dieses seit drei Monaten so vergeblich ersehnte Verständigungsmittel endlich gebrauchen sah. Wohlweislich wandte er die kleine List, die ihm so gute Dienste geleistet hatte, weiterhin an; er tat alle Augenblicke, als verstünde er die Worte nicht recht, deren Buchstaben Clelia ihm nach und nach vor die Augen hielt.

Sie war gezwungen, die Vogelstube zu verlassen und zu ihrem Vater zu eilen; sie fürchtete vor allem, er könne sie hier suchen wollen. Sein argwöhnischer Sinn wäre von der nahen Nachbarschaft der Vogelstube mit dem Schirm vor dem Fenster des Gefangenen wenig erbaut gewesen.

Clelia hatte eine Weile vorher, als Fabrizzios Nichterscheinen sie in eine so tödliche Unruhe versetzte, selber den Gedanken gehabt, man könne einen kleinen Stein, mit Papier umwickelt, in den Trichter des Fensterschirmes werfen. Wenn nicht zufällig gerade der Aufseher Fabrizzios in seiner Zelle weilte, war das ein sicheres Verkehrsmittel.

Unser Gefangener stellte schleunigst eine Art Band aus seiner Wäsche her, und abends hörte er kurz nach neun Uhr ein leises Klopfen an den Orangenkübeln, die unter seinem Fenster standen. Er ließ sein Band hinunter, das ihm einen dünnen, langen Strick zuführte, mit dessen Hilfe er zunächst einen Vorrat an Schokolade und dann zu seiner unsagbaren Befriedigung eine Rolle Papier und einen Bleistift heraufzog. Vergebens ließ er den Strick zum dritten Male hinunter. Er bekam nichts weiter. Offenbar hatten sich die Posten den Orangenbäumen genähert. Aber er war trunken vor Freude. Eiligst schrieb er einen endlosen Brief an Clelia. Kaum war er fertig, so band er ihn an seinen Strick und ließ ihn hinab. Drei Stunden lang wartete er vergeblich, daß er abgeholt werde. Mehrere Male zog er ihn wieder herauf, um Änderungen darin zu machen. ›Wenn Clelia meinen Brief nicht noch heute abend liest,« sagte er sich, »da sie durch den Gedanken an das Gift so gerührt ist, wird sie vielleicht morgen früh von einem Briefe nichts mehr wissen wollen!«

Tatsächlich hatte Clelia es nicht vermeiden können, mit ihrem Vater in die Stadt zu fahren. Fabrizzio bekam aber erst eine Ahnung davon, als er gegen halb ein Uhr den Wagen des Generals heimkehren hörte. Er kannte den Gang der Pferde. Dann vernahm er, wie der General über die Plattform kam und die Schildwachen präsentierten. Wie groß war seine Freude, als er einige Minuten später merkte, daß der Strick, den er noch immer um den Arm geschlungen hielt, sich bewegte. Es wurde etwas sehr Schweres daran befestigt; zwei kleine Rucke gaben ihm das Zeichen, er solle ihn hinaufziehen. Er mußte sich ziemlich anstrengen, die Last um den weit vorspringenden Sims unter seinem Fenster herumzubringen. Der Gegenstand, den er mit solcher Mühe heraufzog, war eine Flasche Wasser, die in ein Tuch eingeschlagen war. Voller Entzücken bedeckte der arme junge Mann, der seit so langer Zeit in völliger Einsamkeit lebte, dieses Tuch mit seinen Küssen. Wir können seine Wallung nicht weiter ausmalen. Schließlich entdeckte er nach so vielen Tagen vergeblichen Hoffens ein Zettelchen, das mit einer Nadel an das Tuch angesteckt war: »Trinken Sie nur dieses Wasser! Leben Sie von der Schokolade! Morgen werde ich alles versuchen, um Ihnen Brot zukommen zu lassen. Ich werde es an allen Seiten mit kleinen Tintenkreuzen kenntlich machen. Es ist gräßlich zu sagen, aber Sie müssen es wissen: Vielleicht hat Barbone den Auftrag, Sie zu vergiften. Haben Sie nicht gefühlt, daß das Thema, das Sie in Ihrem Bleistiftbriefe berühren, dazu angetan ist, mir zu mißfallen? Ich schreibe Ihnen auch nur, weil Ihnen die äußerste Gefahr droht. Ich habe soeben die Duchezza gesehen. Es geht ihr gut, ebenso dem Grafen Mosca, aber sie ist sehr mager geworden. Schreiben Sie mir nicht wieder von jenem Thema, wenn Sie mich nicht erzürnen wollen!«

Die letzten Zeilen hatten Clelia große Überwindung gekostet. Jedermann in der Hofgesellschaft behauptete, die Duchezza di Sanseverina habe enge Freundschaft mit dem Grafen Baldi geschlossen. Das war jener schöne Mann, der ehemalige Freund der Marchesa Raversi. Tatsache war, daß Baldi auf empörende Weise mit der Marchesa gebrochen hatte, die ihn sechs Jahre lang bemuttert und ihm in der Gesellschaft zu Ansehen verhelfen hatte.

Clelia hatte das Briefchen in aller Eile noch einmal schreiben müssen, weil sie in der ersten Fassung die neue Liebschaft, die der boshafte Hofklatsch der Duchezza andichtete, berührt hatte.

»Welche Gemeinheit von mir,« hatte sie laut ausgerufen, »Fabrizzio Schlechtes von der Frau zu hinterbringen, die er liebt!«

Am anderen Morgen, lange vor Tagesanbruch, betrat Grillo Fabrizzios Zelle, legte einen ziemlich schweren Packen nieder und verschwand wieder, ohne ein Wort zu sagen. Der Packen enthielt ein großes Brot, das voller kleiner, mit der Feder gezogener Kreuze war. Fabrizzio bedeckte es mit Küssen; er war verliebt. Dem Brot zur Seite lag eine Rolle, mehrfach mit starkem Papier umwickelt, die sechstausend Franken in Zechinen enthielt. Schließlich fand er ein nagelneues Brevier. Von einer ihm nicht mehr unbekannten Hand waren folgende Worte an den Rand geschrieben:

›Gift! Achtung vor dem Wasser, dem Wein und vor allem! Von Schokolade leben. Das Essen dem Hund zu fressen geben. Es nicht anrühren! Es ist nicht nötig, das Mißtrauen offen zu zeigen. Der Feind würde ein neues Mittel suchen. Keine Unbesonnenheit, um Gottes willen, keinen Leichtsinn!‹

Fabrizzio vernichtete schleunigst diese teueren Schriftzüge, die Clelia in Gefahr bringen konnten, und riß eine große Zahl Blätter aus dem Brevier. Damit fertigte er mehrere Alphabete an, wobei er jeden Buchstaben sauber mit zerstoßener und mit Wein angefeuchteter Kohle malte. Die Buchstaben waren getrocknet, als Clelia um drei Viertel zwölf Uhr zwei Schritt hinter dem Vogelstubenfenster erschien. »Die Hauptsache ist,« sagte sich jetzt Fabrizzio, »daß sie in die Benutzung einwilligt.« Zum Glück stellte es sich heraus, daß sie dem jungen Gefangenen eine Menge über Vergiftungsversuche zu sagen hatte. Ein Hund der Dienstboten war gestorben, nachdem er von einer Schüssel gefressen hatte, die für Fabrizzio bestimmt war. Weit entfernt, gegen den Gebrauch der Buchstaben Einwände zu erheben, hatte auch sie ein prächtiges Alphabet mit Tinte hergestellt. Die Unterhaltung damit, so unbequem sie anfangs war, dauerte nicht weniger als anderthalb Stunden, das heißt die ganze Zeit hindurch, die Clelia in der Vogelstube verweilen durfte. Zwei- oder dreimal erlaubte sich Fabrizzio Verbotenes; sie antwortete darauf nicht und widmete jedesmal einige Augenblicke der Versorgung ihrer Vögel.

Fabrizzio erreichte es, daß sie ihm abends beim Schicken von Wasser ein Alphabet zukommen ließ, das sie mit Tinte gemalt hatte und das deutlicher zu sehen war. Er verfehlte nicht, einen sehr langen Brief zu schreiben, in dem er alle Zärtlichkeiten sorglich vermied, zum mindesten solche, die sie verletzen konnten. Dieses Mittel hatte Erfolg; sein Brief fand Gnade.

Anderntags bei ihrer Unterhaltung durch Buchstaben machte ihm Clelia keine Vorwürfe. Sie teilte ihm mit, die Vergiftungsgefahr sei geringer geworden. Barbone war von den Leuten, die den Küchenmädchen der Kommandantur den Hof machten, angefallen und beinahe totgeprügelt worden. Clelia gestand ihm, sie habe von ihrem Vater Gegengift für ihn zu stehlen gewagt und sende es ihm. Die Hauptsache sei, zur Zeit jede Nahrung zurückzuweisen, die einen ungewöhnlichen Geschmack habe.

Clelia stellte eine Menge Fragen an Don Cesare, ohne ergründen zu können, woher die sechshundert Zechinen kämen, die Fabrizzio erhalten hatte. Auf alle Fälle war dies ein gutes Zeichen; die Strenge ließ nach. Die Vergiftungsgeschichte hatte die Sache unseres Gefangenen unendlich gefördert; allerdings vermochte er nicht das geringste Geständnis zu erringen, das einen Anklang an Liebe gehabt hätte. Gleichwohl genoß er das Glück, in vertrautester Weise mit Clelia zu leben. Alle Vormittage und häufig des Abends fanden lange Unterhaltungen durch Buchstaben statt; jeden Abend um neun Uhr erhielt Clelia einen langen Brief, und bisweilen antwortete sie mit ein paar Worten. Sie schickte ihm die Zeitung und einige Bücher. Schließlich war Grillo so weit kirre gemacht, daß er Fabrizzio an Brot und Wein brachte, was ihm täglich von Clelias Kammerzofe eingehändigt wurde. Der Aufseher hatte daraus geschlossen, daß der Kommandant nicht im Einvernehmen mit den Leuten war, die Barbone die Vergiftung des jungen Monsignore aufgetragen hatten. Darüber war er ebenso wie alle seine Kollegen sehr erfreut; es ging nämlich im Gefängnis die Rede: ›Man braucht Monsignore del Dongo nur ordentlich anzusehen, sogleich gibt er einem Geld!‹

Fabrizzio war sehr blaß geworden; der völlige Mangel an Bewegung schädigte seine Gesundheit. Abgesehen davon, war er noch nie so glücklich gewesen. Der Ton der Unterhaltung zwischen ihm und Clelia war vertraulich, bisweilen überaus heiter. Die einzigen Augenblicke in Clelias Leben, die sie nicht von unheilvollen Vorahnungen und Gewissensbissen bedroht sah, waren die in der Unterhaltung mit ihm verbrachten. Eines Tages beging sie die Unbedachtsamkeit, ihm zu sagen: »Ich bewundere Ihr Zartgefühl. Obgleich ich die Tochter des Kommandanten bin, sprechen Sie zu mir niemals von dem Wunsch, die Freiheit wiederzuerlangen.«

»Es fällt mir gar nicht ein, derlei dummes Zeug zu wünschen!« erwiderte ihr Fabrizzio. »Wenn ich erst wieder frei bin, wie könnte ich Sie dann wiedersehen? Und das Leben wäre mir fortan unerträglich, wenn ich Ihnen nicht alles sagen könnte, was ich denke, nein, nicht genau alles, was ich denke, das leiden Sie ja nicht; aber schließlich, trotz Ihrer Ungnade: leben, ohne Sie nicht jeden Tag zu sehen, wäre für mich eine viel schlimmere Strafe als dieses Gefängnis! Nie im Leben bin ich so glücklich gewesen! Ist es nicht sonderbar, daß das Glück meiner im Kerker harrte?«

»Über diesen Punkt ließe sich wohl manches sagen«, antwortete Clelia mit einem Gesicht, das mit einem Male unsäglich ernst und fast finster wurde.

»Wie,« gab Fabrizzio ganz erschrocken zur Antwort, »soll ich das kleine Plätzchen wieder verlieren, das ich mir in Ihrem Herzen zu erobern vermochte und das meine einzige Freude auf dieser Welt ausmacht?«

»Ja,« erwiderte sie, »ich habe allen Anlaß, zu glauben, daß es Ihnen an Ehrlichkeit gegen mich fehlt, zumal Sie in der Gesellschaft für einen gewaltigen Hofmacher gelten. Aber ich rede heute lieber nicht über diesen Gegenstand.«

Diese seltsame Eröffnung brachte viel Verwirrung in ihre Unterhaltung, und verschiedene Male standen beiden die Tränen in den Augen.

Der Großfiskal Rassi sehnte sich immerfort nach der Namensänderung; er war des Namens, den er sich erworben hatte, sehr überdrüssig und wollte Baron Riva werden. Graf Mosca wiederum arbeitete mit aller Geschicklichkeit, die ihm zu Gebote stand, darauf hin, die Sehnsucht nach dem Baronstitel bei dem Oberrichter zu schüren und bei Serenissimus die närrische Hoffnung zu verdoppeln, sich zum verfassungsmäßigen König der Lombardei zu machen. Das waren die einzigen Mittel, wodurch er Fabrizzios Hinrichtung hinausschieben konnte.

Serenissimus sagte zu Rassi: »Vierzehn Tage Kummer und vierzehn Tage Hoffnung! Nur durch diese geduldig fortgesetzte Diät kann es uns gelingen, das charakterstolze Weib zu beugen. Durch abwechselnde Milde und Strenge bändigt man schließlich die wildesten Rosse. Halten Sie nur das Eisen warm!«

In der Tat hörte man alle vierzehn Tage ein neues Gerücht über Fabrizzios bevorstehende Hinrichtung auftauchen. Dieses Gerede versetzte die unglückliche Duchezza in grenzenlose Betrübnis. Treu ihrem Vorsatz, den Grafen nicht mit ins Verderben zu stürzen, sah sie ihn nur zweimal im Monat. Aber sie ward für ihre Härte gegen den Armen durch die unaufhörliche Wiederkehr der düsteren Verzweiflung gestraft, in der sie hinlebte. Vergeblich bezwang Graf Mosca die grausame Eifersucht, die die beharrlichen Huldigungen des Grafen Baldi, jenes so schönen Mannes, bei ihm erweckten. Da er sie nicht sehen konnte, schrieb er ihr und unterrichtete sie über alles, was er durch den Eifer des künftigen Barons Riva erfuhr. Um die schrecklichen Gerüchte, die unaufhörlich über Fabrizzio im Umlauf waren, ertragen zu können, hätte die Duchezza mit einem Manne von Geist und Herz, wie Mosca einer war, zusammenleben müssen. Die Hohlheit Baldis, der sie ihren Gedanken überließ, vergällte ihr das Dasein, und der Graf konnte sie nicht trösten.

Durch verschiedene recht verschmitzte Vorwände hatte der Minister den Fürsten dazu zu bestimmen gewußt, daß die Akten all der sehr verwickelten Umtriebe, durch die Ranuccio Ernesto IV. seine erzverrückte Hoffnung auf die Krone der Lombardei nährte, in einem befreundeten Schloß im Herzen dieses Landes, in der Umgegend von Saronno, untergebracht wurden. Mehr als zwanzig dieser höchst bloßstellenden Schriftstücke waren vom Fürsten eigenhändig geschrieben oder von ihm unterzeichnet. Für den Fall, daß Fabrizzios Leben ernstlich in Gefahr käme, hatte der Graf den Plan gefaßt, Serenissimus zu erklären, er wolle jene Akten an eine Großmacht ausliefern, die ihn mit einem Federzuge vernichten konnte.

Des künftigen Barons Riva glaubte Graf Mosca sicher zu sein; er fürchtete nur das Gift. Barbones Attentat hatte ihn äußerst beunruhigt, und zwar in einem so hohen Grade, daß er sich verleiten ließ, einen zweifellos tollen Schritt zu wagen. Eines Vormittags begab er sich an das Tor der Zitadelle und ließ den General Fabio Conti herausbitten. Dieser kam bis an die Bastei oberhalb des Tores. Während die beiden sich dort freundschaftlich ergingen, trug Mosca kein Bedenken, ihm nach einer bittersüßen, höflichen Einleitung zu erklären: »Wenn Fabrizzio auf verdächtige Weise umkäme, so würde dieser Tod mir in die Schuhe geschoben. Man müßte ihn für eine Tat der Eifersucht halten, was für mich ein schändlicher Reinfall wäre, und ich bin entschlossen, mich davor zu bewahren. Wenn Fabrizzio also an Krankheit stirbt, bringe ich Sie eigenhändig um! Verlassen Sie sich darauf!«

Der General Fabio Conti gab eine großartige Antwort, er sprach von seiner Tapferkeit; aber den Blick des Grafen vergaß er nicht.

Wenige Tage darauf beging der Großfiskal Rassi, wie auf Verabredung mit dem Grafen, eine für einen Mann seines Schlages recht sonderbare Unklugheit. Die allgemeine Verachtung, die an seinem Namen hing, der sprichwörtlich gleichbedeutend mit Schurke war, machte ihn krank, seitdem er die begründete Hoffnung hatte, dieses Namens ledig zu werden. Er sandte dem General Fabio Conti eine beglaubigte Abschrift des Urteils zu, wonach Fabrizzio zwölf Jahre Festung zu verbüßen hatte. Nach dem Gesetz hätte dies sofort am Tage nach Fabrizzios Einlieferung in die Zitadelle geschehen müssen; aber in Parma, einem Lande der geheimen Maßregeln, war es etwas ganz Unerhörtes, daß die Justiz ohne besonderen Befehl von Serenissimus ihre Pflicht zu erfüllen sich erlaubte. In der Tat, wie sollte dieser die Hoffnung nähren, die Angst der Duchezza alle vierzehn Tage zu verdoppeln und, wie er sagte, ihr stolzes Wesen zu bändigen, nachdem eine beglaubigte Abschrift des Urteils aus der Kanzlei des Justizministeriums ergangen war? Einen Tag, bevor der General Fabio Conti das amtliche Schriftstück des Großfiskals Rassi empfing, erfuhr er, daß der Schreiber Barbone bei einer etwas verspäteten Heimkehr in die Zitadelle arg verprügelt worden war. Er schloß daraus, daß man an gewisser Stelle nicht mehr daran dachte, sich Fabrizzios zu entledigen, und aus Schlauheit erwähnte er während des nächsten Empfanges bei Serenissimus, der ihm zuteil ward, kein Wort von der amtlichen Abschrift des Urteils über den ihm anvertrauten Gefangenen. Das rettete Rassi vor den sofortigen Folgen seiner Torheit. Zur Beruhigung der armen Duchezza hatte der Graf zufällig feststellen können, daß der mißlungene Versuch Barbones nur ein Ausfluß persönlicher Rachsucht gewesen war; er war es, der dem Schreiber den erwähnten Denkzettel hatte verabreichen lassen.

Fabrizzio war höchst angenehm überrascht, als er nach einhundertfünfunddreißig Tagen Haft in seinem engen Käfig eines Donnerstags den guten Almosenier Don Cesare kommen sah, der ihn zu einem Spaziergang auf dem Dach der Tonre Farnese abholte. Fabrizzio war keine zehn Minuten dort, als er durch die ungewohnte frische Luft ohnmächtig wurde.

Don Cesare benutzte diesen Unfall als Vorwand, ihm einen täglichen Spaziergang von einer halben Stunde zu bewilligen. Das war eine Dummheit. Diese häufigen Spaziergänge gaben unserem Helden sehr bald die Kräfte wieder, die ihm verloren gegangen waren.

Es fanden mehrere Serenaden statt. Der ängstliche Kommandant duldete sie nur, weil sich seine Tochter Clelia, deren Charakter ihm Furcht einflößte, dadurch dem Marchese Crescenzi verpflichtete; er hatte das unsichere Gefühl, es gäbe zwischen ihnen keinen einzigen Berührungspunkt, und so fürchtete er dauernd einen verzweifelten Schritt ihrerseits. Sie konnte sich ins Kloster flüchten, und er war dagegen wehrlos. Obendrein hatte der General Angst, daß diese Musik, deren Klänge bis in die tiefsten Zellen drangen, wo die schwärzesten Liberalen saßen, den Zweck habe, Nachrichten an Gefangene zu übermitteln. Die Musiker ärgerten ihn schon an und für sich. Darum schloß man sie auch sofort nach Beendigung der Serenaden in die Säle im Erdgeschoß der Kommandantur ein, die tagsüber der Verwaltung als Amtsräume dienten, und öffnete ihnen erst am anderen Morgen bei hell-lichtem Tage das Tor. Der Kommandant stand dann persönlich auf der Sklavenbrücke, ließ die Musiker in seiner Gegenwart durchsuchen und gab sie nicht eher frei, als bis er ihnen mehrmals wiederholt hatte, daß jeder von ihnen vom Fleck weg verhaftet würde, der es wage, den geringsten Auftrag für irgendeinen Gefangenen zu übernehmen. Und man wußte, daß er bei seiner Angst vor der Ungnade ganz der Mann war, sein Wort zu halten. Deshalb mußte der Marchese Crescenzi seine Musiker, die sich über das nächtliche Festhalten in der Zitadelle arg aufregten, dreifach bezahlen.

Das einzige, was die Duchezza bei der Ängstlichkeit dieser Leute mit vieler Mühe erreichte, war, daß einer von ihnen einen Brief annahm, den er dem Kommandanten absichtlich ausliefern sollte. Dieser Brief war an Fabrizzio gerichtet. Sie beklagte sich darin über das Mißgeschick, daß keiner ihrer Freunde in den fünf Monaten seiner Haft den geringsten Nachrichtenaustausch mit ihm zustande gebracht habe. Beim Eintritt in die Zitadelle fiel der erkaufte Musikus vor dem General Fabio Conti in die Kniee und gestand ihm, ein ihm unbekannter Priester habe ihm derartig zugesetzt, einen an Herrn del Dongo gerichteten Brief zu besorgen, daß er nicht gewagt habe, es abzuschlagen; er beeile sich aber, seiner Pflicht gemäß den Brief Seiner Exzellenz auszuliefern.

Die Exzellenz fühlte sich sehr geschmeichelt. Der General kannte die Hilfsmittel, die der Duchezza zu Gebote standen, und hatte große Angst, hinters Licht geführt zu werden. In seiner Freude überreichte er den Brief dem Fürsten. Der war entzückt.

»So rächt mich die Vorzüglichkeit meiner Verwaltung!« rief Serenissimus. Seit fünf Monaten leidet dieses hochmütige Weib! Dieser Tage wollen wir wieder das Schafott aufschlagen lassen; selbstverständlich wird ihre tolle Phantasie denken, es sei für den kleinen del Dongo bestimmt.«


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