Stendhal
Die Kartause von Parma
Stendhal

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Achtes Kapitel

So teilte Fabrizzio kaum vier Wochen nach seinem Antritt bei Hof alle Sorgen eines Höflings, und die traute Freundschaft, die das Glück seines Daseins ausmachte, war vergiftet. Gequält von solchen Gedanken, verließ er eines Abends die Gemächer der Duchezza, wo er allzu sichtlich als der bevorzugte Liebhaber gelten durfte, irrte auf gut Glück durch die Stadt und kam am hell erleuchteten Theater vorüber. Er ging hinein. Das war eine unverantwortliche Unvorsichtigkeit für einen Mann seines Standes, die in Parma zu vermeiden er sich eigentlich gelobt hatte; schließlich war es nur eine kleine Stadt von vierzigtausend Einwohnern. Allerdings hatte er vom ersten Tage an seine Berufstracht abgelegt. Wenn er nicht gerade in eine sehr große Gesellschaft ging, trug er abends einfache schwarze Kleidung wie ein Herr in Trauer.

Im Theater nahm er sich eine Loge im dritten Rang, um nicht gesehen zu werden. Man gab Goldonis ›Locandiera‹. Er musterte die Architektur des Hauses; nach der Bühne wandte er seine Blicke fast gar nicht. Aber das zahlreiche Publikum brach alle Augenblicke in Lachen aus. Fabizzio sah nach der jungen Schauspielerin, die die Wirtin spielte; er fand sie drollig. Er widmete ihr mehr Aufmerksamkeit; sie schien ihm allerliebst und vor allem voller Natürlichkeit, eine junge Naive, die über die hübschen Dinge, die ihr Goldoni in den Mund legte, immer zuerst lachte und dann ein ganz verdutztes Gesicht machte. Er erkundigte sich, wie sie hieße, und man sagte ihm: Marietta Valserra.

›Aha,‹ dachte er, ›sie trägt meinen Namen; das ist merkwürdig.‹ Trotz seinen Vorsätzen verließ er das Theater erst nach Schluß des Stückes. Am anderen Tage kam er wieder. Drei Tage später wußte er die Wohnung von Marietta Valserra. Am Abend desselben Tages, als er dies mit ziemlich viel Mühe erkundet hatte, bemerkte er, daß der Graf ihn liebenswürdig behandelte. Der arme, eifersüchtige Verliebte, der sich nur mit Aufbietung aller Kräfte in den Schranken der Vorsicht hielt, hatte dem jungen Mann Aufpasser nachgeschickt. Sein Kulissenabenteuer machte ihm Spaß. Einen Tag, nachdem er es über sich gebracht hatte, zu Fabrizzio liebenswürdig zu sein, erfuhr er, daß dieser, halb verkleidet in einem langen blauen Rock, in das armselige Stübchen hinaufgeklettert war, wo Marietta im vierten Stock eines alten Hauses hinter dem Theater hauste. Seine Freude verdoppelte sich, als er vernahm, daß Fabrizzio unter falschem Namen mit ihr bekannt geworden war und die Ehre hatte, die Eifersucht eines üblen Kerls namens Giletti zu erregen, der in der Stadt Rollen dritten Ranges spielte und auf den Dörfern als Seiltänzer auftrat. Dieser edle Verehrer Mariettas erging sich in Drohungen gegen Fabrizzio und schwur, er wolle ihn umbringen.

Die Operngesellschaften werden durch einen Impresario zusammengebracht, der von da und dort Mitglieder anwirbt, je nachdem sie gerade frei sind und von ihm bezahlt werden können. So eine aufs Geratewohl zusammengelaufene Truppe bleibt eine, höchstens zwei Spielzeiten beieinander. Anders verhält es sich mit den Lustspieltruppen. Diese ziehen von Stadt zu Stadt und wechseln den Spielort alle zwei bis drei Monate; sie bilden dabei gleichsam eine Familie, deren Angehörige sich gegenseitig lieben oder hassen. Es gibt bei solchen Gesellschaften richtige Haushalte, wilde Ehen, die auseinanderzubringen den Lebemännern in den Städten, wo die Truppe auftritt, oft große Schwierigkeiten macht. So ging es auch unserem Helden. Die kleine Marietta liebte ihn wohl, aber sie hatte schreckliche Angst vor Giletti, der ihr alleiniger Herr und Gebieter zu sein beanspruchte und sie auf Schritt und Tritt überwachte. Immer und überall drohte er, den Monsignore zu töten; er war Fabrizzio nachgegangen und hatte seinen Namen erkundet. Dieser Giletti war unstreitig das häßlichste Wesen, zu nichts weniger als zur Liebe geschaffen: baumlang, gräßlich mager und stark pockennarbig, auch schielte er ein wenig. Übrigens besaß er gewisse Berufstalente; gewöhnlich kam er radschlagend oder mit einem anderen Kunststück hinter die Kulissen, wo seine Kollegen versammelt standen. Seine Glanzrollen waren solche, in denen der Darsteller mit weiß bemaltem Gesicht auftreten muß und entweder tüchtige Prügel austeilt oder welche bekommt. Dieser würdige Nebenbuhler Fabrizzios bezog eine Monatsgage von zweiunddreißig Lire und hielt sich für riesig reich.

Als die Aufpasser dem Grafen diese beglaubigten Einzelheiten hinterbrachten, kam er sich wie neu geboren vor. Seine gute Laune kehrte zurück; er erschien in den Gemächern der Duchezza als heiterer und besserer Gesellschafter denn je, hütete sich aber, von dem kleinen Abenteuer, das ihn dem Leben zurückgegeben hatte, irgend etwas verlauten zu lassen. Er traf vielmehr Maßregeln, daß die Duchezza so spät wie möglich von der ganzen Geschichte erfuhr. Endlich hatte er den Mut, der Stimme der Vernunft zu folgen, die ihm seit vier Wochen zuschrie, daß ein Liebhaber, dessen Glücksstern zu erbleichen beginnt, auf alle Fälle verreisen müsse.

Eine wichtige Angelegenheit rief ihn nach Bologna. Zweimal am Tage brachten ihm Staatskuriere weniger dienstliche Akten aus seinen Kanzleien als vielmehr neue Nachrichten über die Liebesgeschichte der kleinen Marietta, über die Rachsucht des schrecklichen Giletti und die Abenteuer Fabrizzios.

Einer der Gewährsmänner des Grafen bestellte mehrere Male ›Arlechino in der Pastete‹, eine der Glanzrollen Gilettis, worin er gerade in dem Augenblick aus der Pastete steigt, da sein Rivale Brighella sie anschneidet, den er dann ordentlich verprügelt. Das war ein Vorwand, ihm hundert Franken zuzuwenden. Giletti, der bis über die Ohren in Schulden stak, hütete sich zwar, von dieser Sondereinnahme zu reden, wurde aber erstaunlich stolz.

Fabrizzios flüchtige Laune wandelte sich in verletzte Eigenliebe. Vor Herzeleid nahm er trotz seinem Alter seine Zuflucht bereits zu Grillen. Die Eitelkeit lockte ihn ins Theater. Das kleine Mädchen spielte überaus lustig und zerstreute ihn; hinterher war er immer eine Stunde lang verliebt.

Der Graf kehrte nach Parma zurück, als er erfuhr, daß Fabrizzio in wirklicher Gefahr schwebte. Giletti, der in dem schönen Regiment der Napoleondragoner gedient hatte, sprach allen Ernstes davon, den Monsignore zu ermorden, und traf Anstalten, um hinterher nach der Romagna zu entfliehen.

Wenn der Leser sehr jung ist, wird er über unsere Bewunderung dieses schönen moralischen Zuges am Grafen erstaunt sein. Gleichwohl war es für ihn kein geringer Aufwand an Edelmut, von Bologna zurückzukehren; sah er doch bisweilen, besonders des Morgens, recht verlebt aus, und Fabrizzio dagegen frisch und heiter. Wem wäre es eingefallen, ihm aus Fabrizzios Ermordung, die in seiner Abwesenheit und aus so törichtem Anlaß geschehen wäre, einen Vorwurf zu machen? Aber er gehörte zu jenen seltenen Seelen, die ewig Gewissensbisse empfinden, wenn sie eine edle Tat, die sich ihnen geboten, nicht vollbracht haben. Übrigens war ihm der Gedanke unerträglich, die Duchezza durch seine Schuld traurig zu sehen.

Bei seiner Ankunft fand er sie schweigsam und schwermütig. Folgendes war vorgefallen: Die kleine Kammerzofe Cechina, von Reue gequält und die Größe ihrer Verfehlung nach der stattlichen Bestechungssumme bemessend, war krank geworden. Eines Abends kam die Duchezza, die sie gern hatte, in ihre Kammer hinauf. Diesem Beweis von Güte vermochte das Mädchen nicht zu widerstehen; sie brach in Tränen aus, wollte ihrer Herrin zurückgeben, was sie von dem empfangenen Gelde noch besaß, und fand am Ende den Mut, ihr das Verhör zu gestehen, das der Graf mit ihr angestellt hatte. Die Duchezza lief schnell zur Lampe und löschte sie aus, dann sagte sie zu der kleinen Cechina, sie verzeihe ihr, doch unter der Bedingung, daß sie niemandem ein Wort von dem merkwürdigen Vorgang erzähle. »Der arme Graf«, sagte sie leichthin, »fürchtet die Lächerlichkeit. So sind die Männer alle.«

Die Duchezza eilte in ihr Zimmer hinab. Kaum hatte sie sich dort eingeschlossen, als sie in Tränen ausbrach. Der Gedanke, mit Fabrizzio, an dessen Wiege sie gestanden, eine Liebschaft zu haben, war ihr entsetzlich. Und doch: war ihr Benehmen nicht danach?

Das war die erste Ursache der düsteren Schwermut, in der sie der Graf antraf. Als er wieder da war, zeigte sie sich launisch gegen ihn und fast auch gegen Fabrizzio; am liebsten hätte sie alle beide nicht wiedersehen mögen. Sie ärgerte sich über die ihr lächerliche Rolle, die Fabrizzio bei der kleinen Marietta spielte; der Graf, der wie alle Verliebten nicht reinen Mund halten konnte, hatte ihr nämlich alles erzählt. Sie konnte sich an dieses Unglück nicht gewöhnen. Ihr Abgott hatte einen Makel. Schließlich fragte sie in einem Augenblick guten Einvernehmens den Grafen um Rat. Das war für ihn ein köstlicher Augenblick und eine schöne Belohnung für die ehrenwerte Regung, die ihn nach Parma zurückgeführt hatte.

»Nichts ist einfacher als das!« meinte Mosca lachend. »Die jungen Männer begehren alle Frauen, und am Tag darauf denken sie nicht mehr an sie. Könnte er nicht nach Belgirate gehen und der Marchesa del Dongo einen Besuch abstatten? Während seiner Abwesenheit werde ich die Komödiantentruppe ersuchen, ihre Künste anderswo zu zeigen. Die Reisekosten will ich ihr bezahlen. Aber geben Sie acht: binnen kurzem werden wir ihn in das erste beste andere hübsche Weib verliebt sehen, das der Zufall über seinen Weg führt. Das ist ganz in der Ordnung, und ich möchte gar nicht, daß es anders wäre. – Nötigenfalls veranlassen Sie die Marchesa, ihm zu schreiben.«

Dieser Vorschlag, den er mit völlig gleichgültiger Miene machte, war für die Duchezza ein Lichtblick: sie hatte Angst vor Giletti. Am Abend bemerkte der Graf beiläufig, daß ein Eilbote, der von Wien gekommen sei, nach Mailand weiterginge. Drei Tage darauf empfing Fabrizzio einen Brief von seiner Mutter. Er reiste ab, sehr ärgerlich darüber, daß er, dank Gilettis Eifersucht, nichts mehr von der liebevollen Gesinnung haben durfte, deren ihn die kleine Marietta durch ihre Mammaccia, eine alte Komödiantenmutter, hatte versichern lassen.

In Belgirate traf Fabrizzio seine Mutter und seine Schwestern. Belgirate ist ein großes piemontesisches Dorf am westlichen Ufer des Lago Maggiore; das östliche gehört den Mailändern oder richtiger den Österreichern. Dieser See, der sich gleichlaufend dem Corner See von Norden nach Süden erstreckt, liegt etwa zwölf Meilen westlicher. Die Gebirgsluft, der erhabene und friedliche Anblick des köstlichen Sees erinnerten Fabrizzio an den anderen See, wo er seine Kindheit verlebt hatte; alles das wirkte zusammen, seinen Kummer und Groll in sanfte Schwermut aufzulösen. Jetzt mischte sich in die Erinnerung an die Duchezza eine namenlose Zärtlichkeit; es war ihm, als ob ihn fern von ihr jene Liebe ergriffe, die er niemals für ein Weib empfunden hatte. Nichts wäre ihm unerträglicher gewesen, als auf ewig von ihr getrennt zu sein. Hätte sich die Duchezza herabgelassen, auch nur ganz wenig Koketterie zu Hilfe zu nehmen, so hätte sie sich sein Herz erobert, zum Beispiel, wenn sie ihm einen Nebenbuhler gegenübergestellt hätte. Weit entfernt, einen so entscheidenden Entschluß zu fassen, ertappte sie sich, nicht ohne heftige Selbstvorwürfe, doch dabei, wie ihre Gedanken immer der Reise des jungen Wandersmannes nachschwebten. Sie warf sich das vor, was sie noch eine Laune nannte, als wäre es ein Greuel. Sie verdoppelte ihre Aufmerksamkeit und Zuvorkommenheit gegen den Grafen, der, von so viel Liebenswürdigkeit hingerissen, nicht auf die Stimme der Vernunft hörte, die ihm eine zweite Reise nach Bologna anbefahl.

Die Marchesa del Dongo konnte ihrem Lieblingssohne nur drei Tage widmen, da die Vermählung ihrer ältesten Tochter mit einem Mailänder Principe bevorstand. Nie hatte sie Fabrizzio so zärtlich und anhänglich gefunden. Mitten in der Schwermut, die sich seiner Seele mehr und mehr bemächtigte, stieg in ihm ein wirrer und lächerlicher Gedanke auf, den er sofort zur Ausführung brachte. Darf es gesagt werden? Er wollte den Abbate Blanio um Rat fragen. Dieser treffliche alte Mann war zwar unfähig, das Herzeleid einer ebenso jugendlichen wie ungestümen Leidenschaft zu verstehen. Überdies hätte es einer Zeit von acht Tagen bedurft, um ihm alle Rücksichten klar zu machen, die Fabrizzio in Parma zu nehmen hatte. Aber mit dem Einfall, Blanio um Rat zu fragen, fand Fabrizzio die volle Spannkraft eines Sechzehnjährigen wieder. Wird man es glauben? Fabrizzio wollte ihn nicht nur als bedachtsamen Mann und treuen Freund befragen; der Zweck seiner Reise und die Gefühle, die unseren Helden während der fünfzig Stunden ihrer Dauer erfüllten, waren so aberwitzig, daß es zweifellos für die Erzählung besser wäre, sie unerwähnt zu lassen. Ich fürchte, Fabrizzios Aberglaube wird ihm das Wohlwollen der Leser verscherzen. Aber er war nun einmal so. Wozu ihm mehr schmeicheln als anderen? Ich habe weder dem Grafen Mosca noch dem Fürsten geschmeichelt. Um also alles zu berichten: Fabrizzio begleitete seine Mutter bis zum Hafen von Laveno am östlichen Gestade des Lago Maggiore auf österreichischem Gebiet, wo sie gegen acht Uhr abends ausstieg. Man sieht den See als neutrales Gebiet an und verlangt von jemandem, der nicht ans Land geht, keinen Paß. Aber kaum war die Nacht hereingebrochen, da ließ sich Fabrizzio nach demselben österreichischen Ufer hinüberrudern und landete an einer kleinen, waldbedeckten Landspitze. Er mietete sich eine Sediola, eine Art leichten ländlichen zweiräderigen Wagens, mit dem er der Kutsche seiner Mutter in einer Entfernung von fünfhundert Schritt folgen konnte. Er war als Diener mit der Livree der Casa del Dongo verkleidet, und keinem der zahlreichen Zoll- und Polizeibeamten fiel es ein, ihn nach seinem Paß zu fragen.

Eine viertel Meile vor Como, wo die Marchesa und ihre Töchter übernachten mußten, bog er in einen Seitenpfad linker Hand ein, der um den Ort Vico herum und schließlich auf einen neuerdings dicht am Seeufer angelegten schmalen Weg führte. Es war Mitternacht, und Fabrizzio konnte hoffen, keinem Gendarmen zu begegnen. Die Wipfel der Baumreihen, durch die der kleine Weg hinlief, hoben sich mit den schwarzen Umrissen ihres Blätterwerks vom Sternenzelt ab, das ein leichter Nebel verschleierte. Wasser und Himmel dehnten sich in tiefem Schweigen. Fabrizzios Seele konnte dieser erhabenen Schönheit nicht widerstehen. Er machte Halt und setzte sich auf einen Felsen, der wie ein kleines Vorgebirge in den See ragte. Nichts klang durch die Stille ringsum als der leise Wellenschlag des Sees, der sich gleichmäßig am Gestade brach. Fabrizzio hatte ein italienisches Herz und somit nur manchmal Anfälle von Eitelkeit. Der bloße Anblick erhabener Schönheit rührte ihn und nahm seinem Leid alle Schärfe und Bitternis. Er blieb auf seinem einsamen Felsen, wo er nicht auf Gendarmen zu achten brauchte, im Schütze der dunklen Nacht und der grenzenlosen Stille sitzen, und süße Tränen traten ihm in die Augen; dort erlebte er, einsam für sich, die glücklichsten Stunden, die er seit langem gehabt hatte.

Er faßte den Entschluß, die Duchezza niemals zu belügen, und gerade weil er sie in diesem Augenblick bis zur Vergötterung liebte, gelobte er sich, ihr seine Liebe nie einzugestehen. Nie wollte er das Wort Liebe zu ihr sagen, da das, was man Leidenschaft nennt, seinem Herzen fremd war. Im Überschwang von Edelmut und Mannestugend, der ihn jetzt beseligte, entschloß er sich, ihr bei der ersten Gelegenheit alles zu sagen.

Nachdem er diesen mutigen Vorsatz einmal fest gefaßt hatte, fühlte er sich wie von einer Zentnerlast befreit. ›Vielleicht wird sie mir ein paar Worte wegen Marietta sagen. Meinetwegen, ich will die kleine Marietta nie wiedersehen‹, gab er sich vergnügt zur Antwort.

Die schwüle Hitze, die tagsüber geherrscht hatte, begann der frischen Morgenluft zu weichen. Schon erhellte die Dämmerung mit bleichem Schimmer die Zacken der Alpen, die im Norden und gegen Osten des Corner Sees aufragen. Ihre selbst im Juni beschneiten Flächen hoben sich von dem reinen Blau des in jenen ungemessenen Höhen immer klaren Himmels ab. Ein Ausläufer der Alpen wagt sich südwärts in das glückliche Italien vor und trennt die Berge des Comer Sees von denen des Gardasees. Fabrizzios Auge folgte all den herrlichen Spitzen und Kämmen; der heller dämmernde Morgen ließ die trennenden Täler hervortreten und durchleuchtete den leichten Nebel, der aus ihren Gründen emporwallte.

Endlich machte sich Fabrizzio wieder auf den Weg. Er überschritt den Hügel, der die Halbinsel Durini bildet, und endlich tauchte vor seinen Augen der Turm der Dorfkirche von Grianta auf, wo er so oft mit dem Abbate Blanio die Gestirne beobachtet hatte.

›Wie unwissend war ich doch damals!‹ sagte er zu sich. ›Ich konnte nicht einmal das lächerliche Latein jener astrologischen Schriften verstehen, die mein Lehrer studierte. Ich glaube, ich hatte gerade deshalb so große Scheu davor, weil ich nur hier und da ein paar Brocken davon verstand und meine Phantasie damit beschäftigt war, einen Sinn, und zwar einen möglichst verstiegenen, hineinzulegen.‹

Allmählich nahm seine Träumerei eine andere Richtung. ›Sollte wirklich etwas Wahres in dieser Wissenschaft stecken? Warum sollte sie sich von den anderen unterscheiden? So kommt zum Beispiel ein bestimmter Kreis von Einfaltspinseln und Schwindlern überein, die mexikanische Ursprache zu verstehen, und nötigt sich mit dieser Eigenschaft der Gesellschaft auf, die sie anerkennt, und den Regierungen, die sie bezahlt. Man überhäuft sie mit Auszeichnungen, just weil sie durchaus keinen Geist haben, so daß die Regierung keine Furcht zu haben braucht, sie könnten die Massen aufreizen und hochherzige Gefühle zum Auflodern bringen. So einer ist der Abbate Bari, dem der Fürst dafür, daß er neunzehn Verse einer griechischen Dithyrambe textlich wieder herstellte, ein Jahresgeld von viertausend Franken und das Ritterkreuz seines Hausordens verliehen hat.

Aber, großer Gott, habe ich eigentlich das Recht, derartige Dinge lächerlich zu finden? Steht es mir wohl zu, darüber zu schimpfen?‹ sagte er plötzlich zu sich und hielt inne. ›Ist das nicht der gleiche Orden, den vor kurzem mein Rektor in Neapel bekommen hat?‹

Fabrizzio überkam tiefes Unbehagen. Die schöne Tugendwallung, die sein Herz soeben hatte höher schlagen lassen, machte dem niedrigen Empfinden Platz, an einem Raub teilzuhaben. ›Wie dem auch sei,‹ sagte er sich schließlich mit den erloschenen Augen eines mit sich unzufriedenen Menschen, ›da meine Geburt mir das Recht verleiht, aus solchen Mißständen Vorteil zu ziehen, so wäre es eine hervorragende Dummheit von mir, wenn ich keinen Gebrauch davon machte. Nur ist es durchaus nicht nötig, daß ich mir einfallen lasse, darüber öffentlich zu lästern.‹ Diese Betrachtungen waren gewiß richtig, aber Fabrizzio war vom Gipfel des erhabensten Glückes hinabgestürzt, zu dem er sich eine Stunde vorher erhoben gefühlt hatte. Der Gedanke an Vorrechte hatte jene ewig zarte Blume geknickt, die man das Glück nennt.

›Wenn man nicht an die Astrologie glauben darf,‹ fuhr er fort, indem er sich zu betäuben suchte, ›wenn diese Wissenschaft, wie drei Viertel aller nicht mathematischen Wissenschaften, nichts als eine Vereinbarung von begeisterten Narren und durchtriebenen Heuchlern im Solde derer ist, denen sie dienen, woher kommt es dann, daß ich so oft und tief bewegt an einen schicksalsvollen Umstand denke? Einst bin ich dem Gefängnis zu B. entronnen, aber im Rock und mit dem Paß eines Soldaten, den man gerechter Gründe wegen eingesperrt hatte.‹

Weiter vermochte Fabrizzios Verstand nie einzudringen; er rannte auf hundert Wegen um das Hindernis herum, ohne je darüber hinweg zu gelangen. Er war noch zu jung. In müßigen Stunden schwelgte seine Seele im Genuß romantischer Empfindungen, die ihm seine stets rege Einbildungskraft verschaffte. Er war weit entfernt, seine Zeit geduldigen Betrachtungen des Tatsächlichen zu widmen und seine Beweggründe zu ahnen. Die Wirklichkeit erschien ihm noch seicht und schmutzig. Ich gebe zu, daß niemand sie gern betrachtet, aber dann muß man auch kein Urteil darüber fällen. Vor allem darf man keine Einwände dagegen mit dem Rüstzeug seiner Unwissenheit machen.

So war Fabrizzio, ohne daß es ihm an Geist gebrach, nicht imstande, zu erkennen, daß sein Halbglaube an Vorzeichen seine Religion war, eine von Kindheit an tief eingewurzelte Neigung. An diesen Glauben zu denken, war ihm Fühlen, war ihm Glück. Und er grübelte hartnäckig nach, wie dieser Glaube eine Erfahrungswissenschaft, etwa wie die Geometrie, werden könne. Voll Eifer suchte er in seinem Gedächtnis nach all den Umständen, unter denen er ein Vorzeichen beobachtet hatte, dem ein vorausgesagtes glückliches oder unglückliches Ereignis nicht gefolgt war. Aber während er meinte, logisch zu denken und der Wahrheit nachzuspüren, verweilte seine Aufmerksamkeit glückselig bei der Erinnerung an Fälle, wo der Vorbedeutung das glückliche oder unglückliche Ereignis, das sie angekündet, vollauf gefolgt war. Das rührte seine Seele und erfüllte sie mit Ehrfurcht. Er hätte eine unüberwindliche Abneigung gegen den Menschen gehabt, der Vorzeichen geleugnet oder gar Spott darüber gezeigt hätte.

Traumverloren wandelte Fabrizzio dahin und war mit seinen ohnmächtigen Grübeleien gerade so weit gelangt, als er aufblickte und sich vor der Mauer des väterlichen Gartens sah. Diese Mauer, der Unterbau einer herrlichen Terrasse, erhob sich rechts vom Wege bis zur Höhe von vierzig Fuß. Ein Gesims von Quadersteinen an ihrem oberen Rande, dicht unter der Brüstung, gab ihr etwas Erhabenes. ›Nicht übel‹, sagte Fabrizzio kalt bei sich. ›Kein schlechter Stil, beinahe altrömisch‹, setzte er in Anwendung seiner neu erworbenen Kunstkenntnisse hinzu. Dann wandte er sich voll Ekel ab. Die Härte seines Vaters und ganz besonders die Anzeige seines Bruders Ascanio nach seiner Heimkehr aus Frankreich kamen ihm in den Sinn.

›Diese widernatürliche Anzeige ist der Ursprung meines jetzigen Lebens. Ich kann sie hassen, ich kann sie verachten, aber schließlich hat sie mein Schicksal gewendet. Was wäre aus mir geworden, als ich nach Novara verbannt war, wo mich kaum der väterliche Verwalter dulden mochte, wenn meine Tante keine Liebschaft mit einem mächtigen Minister gehabt hätte? Wenn meine Tante statt ihrer zärtlichen und leidenschaftlichen Seele eine nüchterne und gewöhnliche Seele hätte und nicht mit jener gewissen Begeisterung liebte, die mich in Verwunderung setzt? Ja, wo stünde ich heute, wenn die Duchezza die Seele ihres Bruders, des Marchese del Dongo, hätte?

Von diesen grausamen Erinnerungen ergriffen, ging Fabrizzio nur unsicheren Schrittes weiter; er gelangte an den Rand des Grabens gegenüber der prächtigen Schloßfassade. Er warf aber kaum einen Blick auf das große, altersgraue Gebäude. Der Gedanke an seinen Bruder und Vater verschloß seine Seele jedem Gefühl für Schönheit. Seine Aufmerksamkeit richtete sich nur darauf, sich vor seinen scheinheiligen und gefährlichen Feinden in acht zu nehmen. Einen Augenblick lang sah er mit starkem Abscheu hinauf nach dem kleinen Fenster des Zimmers, das er vor 1815 im zweiten Stock bewohnt hatte. Der Charakter seines Vaters hatte die Erinnerung an seine Kinderzeit allen Zaubers beraubt.

›Dort war ich nicht wieder‹, dachte er, ›seit dem 7. März 1815 abends acht Uhr. Ich ging weg, um mir Vasis Paß zu verschaffen, und am anderen Morgen machte ich mich aus Angst vor Spitzeln Hals über Kopf auf die Reise. Als ich nach meiner Rückkehr aus Frankreich hier war, hatte ich dank der Gemeinheit meines Bruders nicht einmal Zeit, hinaufzugehen, um mir meine Kupferstiche wieder anzusehen.‹

Fabrizzio blickte voll Widerwillen weg. ›Der Abbate Blanio ist älter als dreiundachtzig Jahre‹, sagte er traurig bei sich. ›Er kommt fast gar nicht mehr ins Schloß, wie mir meine Schwester erzählt hat. Die Beschwerden des Alters haben sich bei ihm eingestellt. Dieses so feste und so edle Herz ist vergreist. Gott weiß, wie lange er seinen Kirchturm nicht mehr bestiegen hat! Ich werde mich im Keller verstecken, hinter den Fässern oder hinter der Weinpresse, bis er aufsteht. Ich möchte den Schlaf des guten alten Mannes nicht stören. Wahrscheinlich wird er vergessen haben, wie ich aussehe. Sechs Jahre sind viel bei seinem Alter! Ich werde nur noch den Schatten eines Freundes finden. – Es ist wirklich eine Kinderei,‹ fügte er hinzu, ›hierher zu kommen und sich vom väterlichen Schloß anekeln zu lassen.‹

Fabrizzio betrat den kleinen Platz vor der Kirche. Zu seinem Erstaunen, das sich zur Freude steigerte, bemerkte er im zweiten Stock des alten Kirchturms, daß die lange, schmale Luke durch die kleine Laterne des Abbaten Blanio erleuchtet war. Der Abbate hatte die Gewohnheit, sie dorthin zu stellen, wenn er in den Holzkäfig hinaufkletterte, der seine Sternwarte war, damit der Lichtschein ihn nicht am Lesen seiner Himmelskarte hindere. Diese Karte war auf einem großen Tonkübel angebracht, in dem ehemals ein Orangenbaum des Schlosses gestanden hatte. Auf dem Boden des Kübels brannte ein winziges Lämpchen, dessen Qualm ein kleines Blechrohr ableitete. Der Schatten des Blechrohres zeigte auf der Karte Norden an. Alle diese schlichten Erinnerungen überfluteten Fabrizzios Seele mit Rührung und erfüllten sie mit Glück.

Beinahe unwillkürlich pfiff er zwischen seinen beiden Händen den kurzen, leisen Pfiff, das einstmalige Zeichen, daß er Einlaß begehre. Alsbald hörte er, daß mehrmals an der Schnur gezogen wurde, mit der man von der Warte aus den Riegel der Kirchturmtür heben konnte. Er stürzte die Treppe hinan, erregt bis zum Überschwang. Er fand den Abbate auf seinem gewohnten Platz in seinem hölzernen Lehnstuhl; sein Blick hing unverwandt an dem kleinen Fernrohr eines Mauerquadranten. Mit der linken Hand machte ihm der Abbate ein Zeichen, er möge ihn in seiner Beobachtung nicht stören; einen Augenblick darauf vermerkte er etwas auf einer Spielkarte, worauf er sich in seinem Lehnstuhl umwandte und unserem Helden die Arme entgegenstreckte. Fabrizzio fiel ihm weinend um den Hals. Der Abbate Blanio war sein wahrer Vater.

»Ich habe dich erwartet!« sagte Blanio nach den ersten Worten zärtlicher Herzensergießungen. Spielte der Abbate den allwissenden Astrologen oder hatte ihm, da er häufig an Fabrizzio dachte, wirklich ein Zeichen des Himmels seine von reinem Zufall geleitete Rückkehr verkündet?

»Nun naht mein Tod!« sagte der Abbate Blanio.

»Wie?« rief Fabrizzio ergriffen.

»Gewiß,« fuhr der Abbate in ernstem, aber durchaus nicht traurigem Tone fort, »fünf und einen halben oder sechs und einen halben Monat nach dem Wiedersehen mit dir, wodurch das Maß meines Glückes voll ist, wird mein Leben verlöschen, come face al mancar dell´ alimento (wie ein Lämpchen, dem das Öl ausgeht). Wahrscheinlich werde ich einen oder zwei Monate zubringen, ohne zu sprechen, ehe mein letztes Stündlein schlägt; dann werde ich in die ewige Seligkeit eingehen, wenn Gott findet, daß ich meine Pflicht auf dem Posten erfüllt habe, auf den er mich als Wache gestellt hat.

Du wirst sehr müde sein, und nach dieser Erregung wirst du bald einschlafen. Seitdem ich dich erwarte, halte ich für dich ein Brot und eine Flasche Branntwein in meinem großen Instrumentenkasten versteckt. Stärke dich damit, damit du mir noch ein paar Augenblicke lang zuhören kannst. Es steht in meiner Macht, dir verschiedene Dinge zu sagen, ehe die Nacht dem Tage völlig weicht. Ich sehe sie jetzt deutlicher, als ich sie vielleicht morgen sehen werde. Denn, mein Kind, wir sind allezeit schwach und müssen diese Schwachheit immer mit berücksichtigen. Morgen ist der alte Mann, der irdische Mensch, vielleicht mit Todesvorbereitungen beschäftigt, und morgen abend um neun Uhr mußt du mich verlassen.«

Fabrizzio hatte ihm nach alter Gewohnheit schweigend zugehört.

»Es ist doch wahr,« fuhr der Greis fort, »daß du bei dem Versuch, nach Waterloo zu kommen, zunächst in ein Gefängnis geraten bist?«

»Ja, mein Vater«, erwiderte Fabrizzio erstaunt.

»Nun, das war ein seltenes Glück, denn von meiner Stimme gewarnt, kann sich deine Seele auf ein anderes, viel härteres, viel schrecklicheres Gefängnis vorbereiten. Wahrscheinlich wirst du nur durch ein Verbrechen wieder daraus entkommen, aber Gott sei Dank wird dieses Verbrechen nicht von dir begangen werden. Laß dich nie zu einem Verbrechen hinreißen, wie stark auch die Versuchung dazu sein möge! Ich glaube vorauszusehen, daß es sich um die Ermordung eines Unschuldigen handelt, der nichts ahnend sich deine Rechte anmaßt. Überwindest du die mächtige Versuchung, die scheinbar durch die Satzungen der Ehre gerechtfertigt ist, so wird dein Leben in den Augen der Menschen sehr glücklich sein und wahrhaft glücklich in den Augen des Weisen«, fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu. »Du wirst sterben wie ich, mein Sohn, in einem hölzernen Lehnstuhl sitzend, fern allem Überfluß und enttäuscht vom Überfluß und, wie ich, ohne schwere Selbstanklagen.

Jetzt, da die künftigen Dinge zwischen uns abgetan sind, könnte ich nichts von Bedeutung hinzufügen. Vergeblich habe ich zu ergründen gesucht, von wie langer Dauer deine Gefangenschaft sein wird; handelt es sich um ein halbes Jahr, um ein ganzes Jahr, um zehn Jahre? Ich habe nichts entdecken können. Vermutlich habe ich irgendeinen Fehler begangen, und der Himmel wollte mich mit dem Kummer über diese Ungewißheit strafen. Ich habe nur gesehen, daß nach der Gefangenschaft – aber ich weiß nicht, ob das im Augenblick deiner Befreiung ist – etwas geschehen wird, was ich ein Verbrechen nenne. Zum Glück, ich glaube das bestimmt, wird es nicht durch dich begangen. Wenn du so schwach wärest, an diesem Verbrechen teilzunehmen, sind alle meine übrigen Berechnungen nur eine lange Kette von Irrtümern. Dann wirst du keineswegs in Seelenfrieden, nicht in einem hölzernen Lehnstuhl und nicht in weißem Gewand sterben.«

Bei diesen Worten wollte der Abbate Blanio aufstehen. Jetzt erst bemerkte Fabrizzio an ihm die tiefen Spuren des Alters. Er brauchte fast eine Minute, um sich zu erheben und sich nach Fabrizzio umzuwenden. Der wartete regungslos und schweigsam. Der Abbate umarmte ihn mehrmals und drückte ihn in innigster Zärtlichkeit an sich. Darauf sagte er mit seiner vollen früheren Heiterkeit: »Versuche, es dir inmitten meiner Instrumente ein wenig bequem zum Schlafen zu machen. Nimm meine Pelze! Ein paar darunter sind kostbar; die Duchezza Sanseverina hat sie mir vor vier Jahren geschenkt. Sie bat mich, das Horoskop für dich zu stellen. Ich hütete mich, ihr Mitteilungen zu machen, wenn ich auch ihre Pelze und ihren schönen Quadranten behielt. Jede Voraussage der Zukunft ist ein Eingriff in die Ordnung der Dinge und droht ihren Lauf zu ändern, und dann sinkt die ganze Wissenschaft zusammen wie ein Kartenhaus. Übrigens hätte ich der immer noch so hübschen Duchezza schlimme Dinge sagen müssen. Genug! Laß dich in deinem Schlummer nicht etwa durch die Glocken stören; sie vollführen einen Höllenlärm dicht neben deinen Ohren, wenn zur Frühmesse geläutet wird. Später wird ein Stockwerk tiefer die große Glocke geläutet, daß alle meine Instrumente klappern. Heute ist San Giovita, der Tag des Märtyrers und Soldaten. Du weißt, das kleine Dorf Grianta hat den nämlichen Schutzpatron wie die große Stadt Brescia, was, beiläufig bemerkt, meinen berühmten Lehrer Giacomo Marini aus Ravenna zu einem spaßigen Irrtum verleitet hat. Er hat mir des öfteren prophezeit, meiner harre eine recht reiche Pfründe. Er glaubte, ich würde Pfarrer der prächtigen Kirche San Giovita in Brescia. Ich bin Pfarrer eines kleinen Dorfes von siebenhundertundfünfzig Herdstätten geworden! Es hat auch so sein Gutes gehabt. Ich habe erkannt – es ist noch keine zehn Jahre her –, welches Schicksal meiner als Pfarrer von Brescia geharrt hätte: ich wäre ins Gefängnis auf einem Berg in Mähren gekommen, dem Spielberg. Morgen werde ich dir allerlei Leckerbissen bringen von dem Festessen, das ich sämtlichen Pfarrern der Umgegend gebe, die herkommen, um mir beim Hochamt zu ministrieren. Ich werde sie unten hinlegen, mache aber keine Versuche, mich zu sehen. Gehe erst hinunter, um dir diese guten Sachen zu holen, wenn du mich hast weggehen hören. Du darfst mich bei Tage nicht sehen, und da die Sonne morgen um 7 Uhr 27 Minuten untergeht, werde ich erst gegen acht kommen und dich begrüßen. Du mußt in der zehnten Stunde, ehe die Uhr zehn schlägt, wieder weg von hier. Gib acht, daß man dich nicht an den Turmfenstern sieht. Die Gendarmen haben deinen Steckbrief; sie stehen gewissermaßen unter dem Befehl deines Bruders, der ein berüchtigter Gewaltmensch ist. Der Marchese del Dongo ist altersschwach,« fügte Blanio traurig hinzu, »und wenn er dich wiedersähe, steckte er dir vielleicht etwas zu; aber dergleichen Vorteile, an denen ein Makel hängt, ziemen sich nicht für einen Mann wie dich, dessen Kraft eines Tages sein gutes Gewissen sein soll. Der Marchese verabscheut seinen Sohn Ascanio, und diesem Sohne fallen einst seine fünf bis sechs Millionen zu. Das ist Gerechtigkeit. Wenn er stirbt, wirst du ein Jahresgeld von viertausend Franken bekommen und fünfzig Ellen schwarzes Tuch zu Trauerkleidern für deine Leute.«


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