Stendhal
Die Kartause von Parma
Stendhal

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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Die Rückkehr unseres Helden brachte Clelia in Verzweiflung. Das arme Mädchen hatte sich, fromm und aufrichtig gegen sich selbst, wie sie war, der Einsicht nicht verschließen können, daß es für sie fern von Fabrizzio kein Glück gäbe, aber sie hatte der Madonna gelobt, damals, als ihr Vater halb vergiftet worden war, zur Sühne den Marchese Crescenzi zu heiraten. Sie hatte gelobt, Fabrizzio nie wiederzusehen. Längst war sie die Beute gräßlicher Gewissensqualen wegen jenes Geständnisses, zu dem sie sich in dem Brief an Fabrizzio am Tage vor seiner Flucht hatte hinreißen lassen. Wie soll man die Vorgänge in ihrem traurigen Herzen schildern, als sie voller Schwermut dem Treiben ihrer Vögel zuschaute und gewohnheitsmäßig einen zärtlichen Blick nach dem Fenster hinaufsandte, von wo ehedem Fabrizzio zu ihr heruntergesehen hatte, – und plötzlich dort ihn wiedersah, wie er sie mit liebevoller Scheu grüßte?

Sie glaubte eine Erscheinung zu sehen, mit der sie der Himmel strafen wollte. Bald wurde ihr die grausige Wirklichkeit klar. ›Sie haben ihn wieder ergriffen!‹ sagte sie sich. ›Er ist verloren!‹ Die Äußerungen kamen ihr wieder ins Gedächtnis, die nach seinem Entweichen in der Zitadelle gefallen waren. Die niedrigsten Wärter hielten sich für tödlich beleidigt. Clelia blickte Fabrizzio an, und unwillkürlich spiegelte dieser Blick die ganze Leidenschaft wider, die sie in Verzweiflung setzte.

›Glauben Sie,‹ schien sie Fabrizzio zu sagen, ›daß ich in jenem prächtigen Palast, den man für mich herrichtet, das Glück finden werde? Mein Vater hat mir bis zum Überdruß wiederholt, daß Sie so arm seien wie wir. Aber, mein Gott, mit welcher Seligkeit hätte ich Ihre Armut geteilt! Und nun, ach, dürfen wir nie wieder zusammenkommen!‹

Clelia hatte nicht die Kraft, das Alphabet zu gebrauchen. Während sie zu Fabrizzio hinsah, wurde sie ohnmächtig und sank auf einen Stuhl am Fenster. Ihr Kopf lag auf dem Fensterbrett, und da sie Fabrizzio bis zum letzten Augenblick hatte sehen wollen, blieb ihr Antlitz ihm zugewandt, so daß er es genau betrachten konnte. Als sie nach einer Weile die Augen wieder aufschlug, galt ihr erster Blick ihm: er weinte, aber seine Tränen waren Zeichen höchsten Glückes. Erkannte er doch, daß sein Fernsein ihn nicht in Vergessenheit gebracht hatte. Die beiden Ärmsten blieben eine Zeit lang wie verzaubert, eines in den Anblick des anderen versunken. Fabrizzio wagte, gleichsam als ob er sich zur Gitarre begleite, ein paar Worte aus dem Stegreif zu singen. Sie besagten: ›Nur deinetwegen bin ich zurückgekehrt in den Kerker. Man wird mich vor Gericht stellen.‹

Diese Worte gaben Clelia ihren ganzen Weibesstolz zurück. Sie stand hastig auf, hielt sich mit lebhaftester Gebärde die Augen zu und suchte ihm verständlich zu machen, daß sie ihn niemals wiedersehen dürfe. Das hatte sie der Madonna gelobt und ihn doch eben in Selbstvergessenheit angeblickt! Als Fabrizzio fortfuhr, seine Liebe in Zeichen anzudeuten, floh sie empört und schwur sich, ihn kein einziges Mal mehr anzuschauen, denn ihr Gelübde an die Madonna lautete wörtlich: ›Meine Augen sollen ihn nie wiedersehen!‹ Das hatte sie auf ein Zettelchen geschrieben und es mit Erlaubnis ihres Onkels am Altar im Augenblick des Meßopfers verbrannt, während er die Messe las.

Aber trotz allen Schwüren hatte Fabrizzios Anwesenheit in der Torre Farnese Clelia ganz zu ihrer alten Lebensweise zurückgeführt. Sie pflegte alle ihre Tage einsam in ihrem Zimmer zu verbringen. Kaum hatte sie sich von ihrem Schwächeanfall erholt, der sie bei dem unvermuteten Anblick Fabrizzios heimgesucht hatte, so begann sie die Kommandantur zu durcheilen, um sozusagen ihre Beziehungen zu allen ihr freundlich gesinnten Unterbeamten zu erneuern. Ein altes Klatschweib, das in der Küche zu tun hatte, sagte geheimnisvoll zu ihr: »Diesmal kommt Monsignore Fabrizzio nicht wieder aus der Zitadelle!«

»Er wird den Fehler, die Mauern hinabzuklettern, nicht wieder begehn;« meinte Clelia, »aber er wird zum Tor hinausschreiten, wenn er freigesprochen ist.«

»Ich sage und kann sagen, Signorina, er wird nur mit den Füßen voran aus der Zitadelle hinauskommen.«

Clelia wurde totenbleich; die Alte bemerkte es und stockte mitten in ihrem Geschwätz. Sie sagte sich, daß sie eine Unvorsichtigkeit begangen hatte, indem sie dergleichen Reden vor der Tochter des Kommandanten führte, der doch später verpflichtet sei, aller Welt zu sagen, Fabrizzio sei an einer Krankheit gestorben.

Als Clelia wieder nach ihrer Wohnung hinaufstieg, begegnete ihr der Gefängnisarzt, ein biederes, ängstliches Männchen, das ihr mit verstörter Miene mitteilte, Fabrizzio sei sehr krank. Clelia wäre beinahe umgesunken. Sie suchte überall nach ihrem Onkel, dem guten Abbate Don Cesare; endlich fand sie ihn in der Kapelle, wo er inbrünstig betete. Auch er hatte ein verstörtes Gesicht.

Es läutete zu Tisch. Während der Mahlzeit wurde zwischen den beiden Brüdern kein Wort gewechselt. Nur gegen Ende des Essens richtete der General ein paar spitzige Worte an seinen Bruder. Der warf den Dienern einen Blick zu, worauf sie hinausgingen.

»Herr General,« sagte Don Cesare zum Kommandanten, »ich habe die Ehre, Ihnen zu melden, daß ich die Zitadelle verlassen werde. Ich reiche meine Entlassung ein.«

»Bravo, bravissimo! Um mich in Verdacht zu bringen! Und die Veranlassung, wenn ich bitten darf?«

»Mein Gewissen.«

»Gehen Sie! Sie sind ja nur ein Pfaffe! Von Ehrbegriffen keinen Schimmer!«

›Fabrizzio ist tot!‹ sagte sich Clelia. ›Man hat ihn beim Mittagessen vergiftet, oder es geschieht morgen.‹ Sie eilte in ihre Vogelstube, fest entschlossen, zu singen und sich dabei auf dem Klavier zu begleiten. ›Ich werde beichten,‹ sagte sie sich, ›und der Bruch meines Gelübdes wird mir vergeben werden, denn es gilt, ein Menschenleben zu retten.‹

Wie groß war ihre Bestürzung, als sie von ihrer Vogelstube aus sah, daß die Fensterschirme durch Bretter mit eisernen Querstangen ersetzt worden waren. Ganz außer sich, versuchte sie dem Gefangenen durch einige mehr gerufene als gesungene Worte ein Zeichen zu geben. Sie bekam keinerlei Antwort. Totenstille herrschte um die Torre Farnese. ›Es ist geschehen!‹ sagte sie sich.

Fassungslos eilte sie hinunter, dann ging sie wieder hinauf, um das bißchen Geld, das sie besaß, und ihre kleinen Brillantohrringe zu sich zu stecken. Im Vorbeigehen nahm sie das mittags übriggebliebene Brot mit, das vom Diener wieder in den Brotschrank getan worden war. ›Wenn er noch lebt, ist es meine Pflicht, ihn zu retten!‹

In stolzer Haltung schritt sie nach der kleinen Pforte der Torre Farnese. Sie stand offen; man hatte nur acht Soldaten in die Säulenhalle des Erdgeschosses gelegt. Keck blickte Clelia die Soldaten an. Sie hatte sich vorgenommen, mit dem wachthabenden Sergeanten zu sprechen, aber er war abwesend. Sie sprang die Eisentreppe hinauf, die sich schraubenförmig um eine der Säulen aufwärts wand. Die Soldaten sahen ihr ganz verdutzt zu, aber sie wagten ihr nichts zu sagen, augenscheinlich wegen ihres Spitzenschals und ihres Hutes. Im ersten Stockwerk war kein Mensch, aber als sie in das zweite kam, stieß sie am Eingang des Vorraumes, der, wie sich der Leser erinnert, durch drei eisenbeschlagene Türen abgetrennt war und zur Zelle Fabrizzios führte, auf einen ihr wohlbekannten Schließer, der ihr mit bestürzter Miene meldete: »Er hat noch nicht gegessen.«

»Ich weiß wohl«, erwiderte Clelia hochmütig. Der Mann wagte sie nicht aufzuhalten. Zwanzig Schritte weiter fand Clelia einen anderen Aufseher, der auf der untersten der sechs Holzstufen saß, die zu Fabrizzios Zelle hinaufführten, einen alten Mann mit stark gerötetem Gesicht. Er sagte bärbeißig zu ihr: »Signorina, haben Sie einen Befehl des Herrn Kommandanten?«

»Kennen Sie mich denn nicht?«

In diesem Augenblick war Clelia von übernatürlicher Kraft beseelt; sie wußte nicht, was sie tat. ›Ich muß meinen Gatten retten‹, sagte sie sich.

Während der alte Aufseher rief: »Meine Pflicht verbietet mir...«, schnellte Clelia die Stufen hinauf und stürzte auf die Tür zu. Ein Riesenschlüssel stak im Schloß. Mit Aufbietung aller Kräfte drehte sie ihn herum. Da hielt sie der alte halb betrunkene Aufseher am Saum ihres Rockes fest. Rasch trat sie in die Zelle. Ihr Kleid zerriß, als sie die Tür zuwarf, und da der Alte an der Klinke rüttelte, um ihr nachzukommen, schob sie den Riegel vor.

Clelia blickte sich in der Zelle um und sah Fabrizzio vor einem winzigen Tischchen sitzen, auf dem sein Mittagsmahl stand. Sie flog an den Tisch, warf ihn um, packte Fabrizzio am Arm und fragte: »Hast du gegessen?«

Dieses Du entzückte Fabrizzio. In ihrer Verwirrung vergaß Clelia zum ersten Male die weibliche Zurückhaltung und verhehlte ihre Liebe nicht.

Fabrizzio hatte die verhängnisvolle Mahlzeit soeben beginnen wollen. Er nahm Clelia in seine Arme und bedeckte sie mit Küssen. ›Dies Essen war vergiftet.‹ dachte er, ›wenn ich ihr sage, daß ich es nicht angerührt habe, tritt die Religion wieder in ihre Rechte, und Clelia entflieht mir. Wenn sie dagegen in mir gleichsam einen Sterbenden sieht, dann setze ich es bei ihr durch, mich nicht zu verlassen. Sie sehnt sich nach einem Mittel, ihre abscheuliche Verlobung aufzuheben; der Zufall gibt es uns in die Hand. Die Aufseher werden sich zusammenrotten, werden die Tür stürmen, und wir geben ein derartiges Ärgernis, daß sich der Marchese Crescenzi darüber entsetzt, und aus ists mit der Heirat!‹

Im Augenblick des Stillschweigens, der mit dieser Überlegung verging, fühlte Fabrizzio, daß sich Clelia seiner Umarmung bereits zu entziehen suchte.

»Ich fühle noch gar keine Schmerzen,« sagte er zu ihr, »aber bald werde ich mich zu deinen Füßen winden. Steh mir bei im Sterben!«

»O mein einziger Freund!« schrie sie auf. »Ich will mit dir sterben!« Wie im Krampf drückte sie ihn an sich.

Sie war so schön, nur halb bekleidet und im Zustande so grenzenloser Leidenschaft, daß Fabrizzio einer fast unwillkürlichen Bewegung nicht widerstehen konnte. Willenlos gab sie sich ihm hin.

In der glühenden und hochherzigen Begeisterung, die einer grenzenlosen Wonne folgt, sagte er unbesonnen: »Keine unwürdige Lüge soll die ersten Augenblicke unseres Glückes entweihen. Ohne deinen Mut wäre ich ein toter Mann, oder ich hätte mit den gräßlichsten Qualen zu kämpfen. Aber als du eintratest, wollte ich gerade zu essen beginnen. Ich hatte noch keine von diesen Schüsseln angerührt.«

Fabrizzio beschwor so grauenhafte Bilder herauf, um Clelias Entrüstung zu bannen, die er bereits aus ihren Augen las. Sie sah ihn eine Weile an. Zwei mächtige, einander feindliche Empfindungen kämpften in ihr; dann warf sie sich in seine Arme. Da erhob sich draußen auf dem Gang starker Lärm; die drei Eisentüren wurden gewaltsam geöffnet und geschlossen, und laute Stimmen ertönten.

»Ach, wenn ich Waffen hätte!« knirschte Fabrizzio. »Man hat sie mir abgenommen. Zweifellos kommt man, um mich umzubringen! Lebe wohl, meine Clelia! Ich segne meinen Tod, da er mir mein Glück gebracht hat!«

Clelia umarmte ihn und gab ihm einen kleinen Dolch mit elfenbeinernem Griff, dessen Klinge nicht viel länger war als die eines Federmessers.

»Laß dich nicht töten!« rief sie ihm zu. »Verteidige dich bis zum letzten Atemzug! Wenn mein Onkel, der Abbate, den Lärm hört, kommt er aus Mut und Tugend und rettet dich! Ich will mit den Leuten reden.«

Mit diesen Worten stürzte sie auf die Tür zu.

»Wenn du nicht getötet wirst,« sagte sie schwärmerisch, den Türriegel fassend und den Kopf nach Fabrizzio umwendend, »so verhungere lieber, als daß du das geringste anrührst! Stecke dieses Brot ein und trage es stets bei dir!«

Der Lärm kam näher. Fabrizzio zog Clelia von der Tür hinweg, öffnete sie ungestüm und stürzte die Stufen der Holztreppe hinab. In der Hand hatte er den kleinen Dolch mit dem Elfenbeingriff, und es fehlte nicht viel, so hätte er damit den General Fontana, den Flügeladjutanten des Fürsten, erstochen, der rasch zurückwich und arg erschrocken ausrief: »Aber Monsignore del Dongo, ich komme, Sie zu retten!«

Fabrizzio sprang die sechs Stufen wieder hinauf und rief in die Zelle hinein: »Fontana kommt, mich zu retten!« Dann eilte er die Holzstufen wieder hinunter zum General und sprach sich ruhig mit ihm aus. Er bat ihn lang und breit, ihm seine Zorneswallung zu verzeihen.

»Man wollte mich vergiften«, sagte er. »Das Essen da ist vergiftet. Ich war so schlau, es nicht anzurühren, aber ich muß Ihnen gestehen, dieses Verfahren hat mir einen Stoß versetzt. Als ich Sie heraufkommen hörte, glaubte ich, man wolle mir zu guter Letzt mit dem Dolch den Garaus machen. – Herr General, ich ersuche Sie, niemanden in meine Zelle hinein zu lassen. Man könnte das Gift beiseite schaffen, und unser guter Fürst soll alles erfahren.«

Der General Fontana war ganz blaß und sprachlos. Er erteilte den Oberaufsehern Befehle in dem von Fabrizzio gewünschten Sinne. Sie wurden sehr verlegen, als sie die Giftmischerei entdeckt sahen, und eilten vor dem General hinunter. Sie taten so, als wollten sie ihm die enge Wendeltreppe frei machen. In Wirklichkeit retteten sie sich und verschwanden. Zum großen Erstaunen des Generals Fontana blieb Fabrizzio eine reichliche Viertelstunde mitten auf der schmalen Eisentreppe, die um die Mittelsäule des Erdgeschosses herumführte, stehen. Er wollte Clelia Zeit verschaffen, sich im ersten Stock zu verbergen.

Es war die Duchezza, die es nach etlichen tollen Versuchen durchgesetzt hatte, daß der General Fontana in die Zitadelle geschickt wurde. Durch Zufall war es ihr gelungen.

Als sie den Grafen Mosca verlassen hatte, der ebenso erregt war wie sie, war sie ins Schloß geeilt. Die Fürstin, die eine ausgesprochene Abneigung gegen Entschlossenheit hegte und sie für etwas Unvornehmes hielt, glaubte, die Duchezza wäre verrückt geworden, und zeigte nicht die geringste Lust, zu ihren Gunsten irgendeinen ungewöhnlichen Schritt zu versuchen. Die Duchezza, ganz außer sich, weinte heiße Tränen. Ratlos wiederholte sie immer wieder:

»Hoheit, in einer Viertelstunde ist er am Gift gestorben!«

Als die Duchezza die völlige Kaltherzigkeit der Fürstin erkannte, wurde sie wahnwitzig vor Schmerz. Eine moralische Erkenntnis, auf die ein in nordischem Glauben erzogenes und an Selbstprüfung gewöhntes Weib unbedingt gekommen wäre, lag ihr völlig fern. Sie hätte sich sagen müssen: ›Ich habe zuerst Gift verwendet: jetzt droht mir Gift!‹ In Italien wären solche Betrachtungen in leidenschaftlichen Augenblicken das Zeichen eines platten Geistes ebenso wie in Paris ein Kalauer unter denselben Verhältnissen.

In ihrer Qual ging die Duchezza auf gut Glück in das Zimmer, wo sich der Marchese Crescenzi befand, der an diesem Tage Dienst tat. Bei der Rückkehr der Duchezza nach Parma hatte er ihr überschwenglich für die Ernennung zum Kammerherrn gedankt, die er ohne ihre Verwendung nie hätte beanspruchen können. Er verfehlte nicht, sich von neuem in endlosen Beteuerungen seiner Ergebenheit zu verlieren. Die Duchezza unterbrach ihn mit folgenden Worten: »Rassi will Fabrizzio vergiften. Er ist wieder in der Zitadelle. Stecken Sie sich etwas Schokolade und eine Flasche Wasser in die Tasche. Ich gebe Ihnen beides. Eilen Sie in die Zitadelle und retten Sie mir sein Leben! Sagen Sie zu General Fabio Conti, Sie brächen mit seiner Tochter, wenn er Ihnen nicht gestatte, Fabrizzio dieses Wasser und diese Schokolade persönlich zu überbringen!«

Der Marchese erbleichte. Weit entfernt, von ihren Worten belebt zu werden, verriet sein Gesicht die geistloseste Verlegenheit. Er könne an ein so fürchterliches Verbrechen in einer so sittenstrengen Stadt wie Parma, wo ein so vortrefflicher Fürst herrsche, nicht glauben, und so weiter. Obendrein sagte er diese Albernheiten im langsamsten Ton. Mit einem Wort, die Duchezza hatte es zwar mit einem Ehrenmann zu tun, aber mit einem übergroßen Schwächling, der sich zu einer Tat nicht aufzuschwingen vermochte. Nach zwanzig ähnlichen Redensarten, die von ungeduldigen Ausrufen der Duchezza unterbrochen wurden, fiel ihm ein ausgezeichneter Gedanke ein: sein Diensteid als Kammerherr verbiete ihm, sich in Umtriebe gegen die Regierung einzulassen.

Die Herzensangst und die Trostlosigkeit der Duchezza spotteten jeder Beschreibung. Sie fühlte, wie die Zeit verflog.

»So suchen Sie doch wenigstens den Kommandanten auf! Sagen Sie ihm, ich würde Fabrizzios Mörder bis an das Ende der Welt verfolgen!«

Die furchtbare Pein erhöhte die natürliche Beredsamkeit der Duchezza, aber all ihr Feuer schreckte den Marchese noch mehr ab und verdoppelte nur seine Unschlüssigkeit. Nach Verlauf einer Stunde war er weniger geneigt zu handeln als im ersten Augenblick.

Auf dem Gipfel ihrer unsäglichen Verzweiflung und in der festen Überzeugung, daß der Kommandant einem so reichen Schwiegersohne nichts abschlagen werde, warf sich die Duchezza schließlich dem Marchese zu Füßen. Aber das schien seine Zaghaftigkeit nur zu vermehren. Angesichts dieses seltsamen Schauspiels bekam er Angst, er habe sich unwissentlich bloßgestellt. Aber etwas Merkwürdiges geschah. Der Marchese, im Grunde ein gutmütiger Mensch, ward gerührt von den Tränen und dem Kniefall eines ebenso schönen wie vor allem mächtigen Weibes.

›Wer weiß,‹ sagte er sich, ›ob ich nicht selber, ich, der ich so vornehm und so reich bin, eines Tages ebenso auf den Knieen vor irgendeinem Republikaner liege!‹ Der Marchese begann zu weinen, und schließlich kam man überein, daß die Duchezza in ihrer Eigenschaft als Oberhofmeisterin ihn zur Fürstin geleiten solle, damit er sich von ihr die Erlaubnis ausbitte, Fabrizzio einen kleinen Korb überbringen zu dürfen. Von seinem Inhalt wollte er aber nichts wissen.

Am Abend vorher, als die Duchezza von Fabrizzios Torheit, in die Zitadelle zu gehen, noch nichts wußte, hatte man im Schloß wiederum eine Commedia dell'arte aufgeführt. Der Fürst, der sich ein für allemal ausbedungen hatte, die Liebhaberrollen mit der Duchezza zu spielen, hatte an den zärtlichen Stellen derartige Leidenschaft verraten, daß er sich lächerlich gemacht hätte, wenn in Italien ein leidenschaftlicher Mann oder ein Fürst überhaupt lächerlich sein könnte.

Der Fürst war sehr schüchtern, aber Dinge der Liebe nahm er tiefernst. Er begegnete auf einem der Gänge des Schlosses der Duchezza, die den Marchese Crescenzi nach den Gemächern der Fürstin schleppte. Er war so betroffen und geblendet von der leidenschaftdurchglühten Schönheit der Oberhofmeisterin, daß er zum ersten Male in seinem Leben Entschlußkraft bekam. Mit einer mehr als gebieterischen Handbewegung entließ er den Marchese und begann der Duchezza eine regelrechte Liebeserklärung zu machen. Der Fürst hatte sie zweifellos lange zuvor zurechtgelegt, denn sie lautete leidlich verständig: »Da mir die Standesrücksichten das höchste Glück verbieten, Sie zu heiraten, so will ich Ihnen vor einer geweihten Hostie schwören, mich niemals ohne Ihre schriftliche Zustimmung zu vermählen. Ich weiß wohl,« fuhr er fort, »daß ich Sie um die Hand eines Premierministers bringe, eines geistvollen und sehr liebenswerten Mannes, aber schließlich ist er sechsundfünfzig Jahre alt, und ich, ich bin noch nicht zweiundzwanzig. Ich müßte befürchten, Sie zu verletzen und Ihre Abweisung zu verdienen, wenn ich noch mehr von Dingen spräche, die mit der Liebe nichts gemein haben. Aber alles, was an meinem Hofe am Gelde hängt, bewundert laut den Liebesbeweis, den der Graf Ihnen gegeben hat, indem er sein ganzes Vermögen unter Ihrem Namen hinterlegt hatte. Ich wäre glücklich, ihm in diesem Punkte nacheifern zu können. Sie würden einen besseren Gebrauch von meinem Reichtum machen als ich selbst. Sie sollen über meine sämtlichen Einnahmen verfügen, die meine Minister dem Generalintendanten der Krone jährlich auszahlen, so daß Sie, Duchezza, zu bestimmen haben, was ich jeden Monat ausgeben kann.«

Die Duchezza fand diese Einzelheiten recht zeitraubend. Die Gefahr für Fabrizzio zerschnitt ihr das Herz.

»Aber wissen Sie denn nicht, mein Fürst,« rief sie aus, »daß man in diesem Augenblick Fabrizzio in Ihrer Zitadelle vergiftet? Retten Sie ihn! Ich glaube alles!«

Die Art, wie sie das sagte, war die allergrößte Ungeschicklichkeit. Bei der bloßen Erwähnung von Gift war die ganze Ungezwungenheit, die ganze Offenherzigkeit, die der arme, sittenstrenge Fürst in seiner Rede gezeigt hatte, mit einem Schlage weg. Die Duchezza ward sich ihrer Ungeschicklichkeit erst bewußt, als es zu spät war, sie wieder gut zu machen. Ihre Verzweiflung nahm noch zu, was sie nicht für möglich gehalten hatte. ›Wenn ich das Gift nicht erwähnt hätte,‹ sagte sie sich, ›hätte er mir Fabrizzios Freilassung bewilligt. O mein heißgeliebter Fabrizzio! Es steht also geschrieben, daß ich dir mit meinen Dummheiten den Tod bereiten soll!‹

Es kostete die Duchezza viel Zeit und Koketterie, um den Fürsten auf seine Worte von leidenschaftlicher Liebe zurückzubringen. Er blieb im Grunde verstört. Der Verstand hatte die Oberhand bekommen; sein Herz war zu Eis erstarrt, zunächst bei dem Gedanken an Gift und dann bei dem Gedanken, der ebenso häßlich wie der erste gefährlich war: ›Man verabreicht in meinem Lande Gift, und ohne mir etwas davon zu sagen! Rassi will mich also in den Augen Europas entehren! Gott weiß, was ich im nächsten Monat in den Pariser Zeitungen zu lesen bekomme!‹

Plötzlich kam der Geist des zaghaften jungen Mannes auf einen Einfall, während seine Seele stumm blieb: »Verehrte Duchezza, Sie wissen, daß ich Ihnen gehöre. Ihre gräßlichen Gedanken an das Gift sind nicht begründet; davon bin ich überzeugt. Aber Sie haben mir doch zu denken gegeben; ich habe darüber für den Augenblick fast meine Leidenschaft für Sie vergessen, die einzige, die ich je in meinem Leben erfahren habe. Ich merke, daß ich nicht liebenswert bin; ich bin nur ein recht verliebtes Kind. Aber stellen Sie mich auf die Probe!«

Während dieser Rede wurde der Fürst ziemlich feurig.

»Retten Sie Fabrizzio, so glaube ich alles! Zweifellos verleiten törichte Befürchtungen meine mütterliche Seele. Aber lassen Sie Fabrizzio auf der Stelle aus der Zitadelle holen, damit ich ihn sehe! Wenn er noch lebt, schicken Sie ihn vom Schloß aus in das Stadtgefängnis, wo er monatelang bleiben mag; wenn Eure Hoheit es fordert, bis zum Urteil.«

Voller Entsetzen sah die Duchezza, daß der Fürst, statt eine so einfache Sache mit einem Worte zu gewähren, finster geworden war. Er war feuerrot und betrachtete die Duchezza; dann senkte er die Blicke, und seine Wangen entfärbten sich. Der Gedanke an Gift, zur ungelegenen Stunde erweckt, hatte ihn auf einen Einfall gebracht, der seines Vaters oder Philipps II. würdig gewesen wäre; aber er wagte nicht, ihn in Worte zu fassen.

»Hören Sie, gnädige Frau!« sagte er endlich zu ihr, als ob er sich Gewalt antäte, in höchst ungnädigem Tone. »Sie verachten mich wie ein Kind, mehr noch, wie ein unliebenswürdiges Geschöpf. Nun, ich will Ihnen etwas Gräßliches sagen, was mir soeben meine innige und wahre Leidenschaft zu Ihnen eingegeben hat: Wenn ich auch nur im geringsten an die Giftgeschichte glaubte, hätte ich längst gehandelt; meine Herrscherpflicht erforderte es. Aber ich sehe in Ihrer Bitte nichts als eine leidenschaftliche Schwärmerei, deren ganze Tragweite – verzeihen Sie mir, daß ich das sage – ich vielleicht nicht erkenne. Sie wollen, daß ich etwas tue, ohne meine Minister um Rat zu fragen, wo ich doch noch keine drei Monate regiere! Sie fordern von mir, daß ich eine Ausnahme mache und gegen meine Gewohnheit handle, die ich für sehr vernünftig halte, wie ich Ihnen gestehen will. Sie, gnädige Frau, Sie sind in diesem Augenblick der unumschränkte Herrscher; Sie machen mir Hoffnungen in einer Sache, die mein ein und alles ist; aber in einer Stunde, wenn diese Giftphantasie, wenn dieser Alp wieder weg ist, wird Ihnen meine Gegenwart unbequem sein, gnädige Frau, dann werden Sie mich abdanken. Aber gut! Ich will einen Eid! Schwören Sie mir, Duchezza: Falls Fabrizzio gesund und wohlbehalten geblieben ist, dann gewähren Sie mir binnen drei Monaten alles, was sich meine Liebe an Glück ersehnen kann. Sie machen mein ganzes Leben glücklich, wenn Sie mir eine Stunde des Ihrigen schenken und ganz die Meine werden.«

In diesem Augenblick schlug die Schloßuhr zwei.

›Ach, vielleicht ist es zu spät!‹ sagte sich die Duchezza. »Ich schwöre es Ihnen!« fügte sie laut mit irren Augen hinzu.

Sogleich war der Fürst ein anderer Mann; er lief zur letzten Tür der Galerie, wo das Zimmer des Flügeladjutanten war.

»General Fontana, galoppieren Sie zur Zitadelle, eilen Sie, so schnell Sie können, in die Zelle, in der Monsignore del Dongo gefangen sitzt, und bringen Sie ihn hierher! Ich muß ihn in zwanzig Minuten sprechen, in fünfzehn, wenn es geht!«

»Ach, Herr General!« rief die Duchezza, die dem Fürsten gefolgt war. »Eine Minute kann über Leben und Tod entscheiden. Eine zweifellos falsche Nachricht läßt mich Fabrizzios Vergiftung befürchten. Rufen Sie ihm zu, sobald Sie in Hörweite sind, er solle nicht essen! Wenn er seine Mahlzeit angerührt hat, geben Sie ihm ein Brechmittel; sagen Sie ihm, ich wolle es; wenden Sie Gewalt an, wenn es sein muß; sagen Sie ihm, daß ich nachkomme, und glauben Sie mir, daß ich Ihnen zeitlebens Dank schulde!«

»Frau Duchezza, mein Pferd ist gesattelt! Reiten kann ich bekanntlich. Ich fliege zur Zitadelle und bin acht Minuten vor Ihnen dort.«

»Und ich, Duchezza,« sagte der Fürst, »ich bitte mir vier von diesen acht Minuten aus.«

Der Flügeladjutant war verschwunden. Seine einzige Fähigkeit war die, daß er reiten konnte. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, als der junge Fürst, der sichtlich energisch geworden war, die Hand der Duchezza ergriff.

»Gnädige Frau,« sagte er leidenschaftlich zu ihr, »wollen Sie gütigst mit mir in die Kapelle kommen!«

Die Duchezza war zum ersten Male in ihrem Leben sprachlos. Sie folgte ihm, ohne ein Wort zu sagen. Sie durcheilten die ganze große Schloßgalerie, an deren äußerstem Ende die Kapelle lag. Kaum hatte der Fürst die Kapelle betreten, so sank er in die Kniee, fast zugleich vor dem Hochaltar wie vor der Duchezza.

»Wiederholen Sie den Schwur!« sagte er feurig. »Wenn Sie gerecht gewesen wären, wenn mir meine unglückselige Fürstenkrone nicht im Wege gewesen wäre, hätten Sie mir aus Mitleid mit meiner Liebe das gewährt, was Sie mir jetzt schulden, weil Sie es geschworen haben.«

»Wenn ich Fabrizzio nicht vergiftet wiedersehe, wenn er in acht Tagen noch lebt, wenn Eure Hoheit ihn zum Koadjutor und künftigen Nachfolger des Erzbischofs Landriani ernennen, so will ich meine Frauenehre, meine Würde, alles, mit Füßen treten und Eurer Hoheit gehören!«

»Aber, geliebte Freundin,« sagte der Fürst in einer drolligen Mischung von Zaghaftigkeit, Angst und Zärtlichkeit, »ich fürchte, daß irgendeine Hinterlist, die ich nicht merke, mein Glück vereiteln könnte. Es wäre mein Tod. Wenn der Erzbischof irgendeinen kirchlichen Grund einwendet, der die Sache jahrelang hinzieht, was wird dann aus mir? Sie sehen, daß ich offen und ehrlich verfahre; wollen Sie mir gegenüber eine Jesuitin sein?«

»Meiner Treu, nein! Wenn Fabrizzio gerettet wird, wenn Sie Ihre ganze Macht daran setzen, ihn zum Koadjutor und künftigen Erzbischof zu machen, dann gebe ich meine Ehre hin und bin die Ihre. Eure Hoheit verpflichten sich, an den Rand eines Gesuches, das der Erzbischof Ihnen binnen acht Tagen unterbreiten wird, ein ›Genehmigt‹ zu setzen.«

»Ich gebe Ihnen ein Blankett mit meiner Unterschrift. Regieren Sie über mich und meine Lande!« rief der Fürst, vor Glück errötend und wirklich außer sich. Er forderte einen zweiten Eid. Er war so aufgeregt, daß er seine angeborene Schüchternheit vergaß. In der einsamen Kapelle, wo die beiden waren, flüsterte er der Duchezza Dinge zu, die, hätte er sie drei Tage vorher ausgesprochen, ihre Meinung über ihn geändert hätten. Aber die Verzweiflung über die Gefahr, in der Fabrizzio schwebte, schwand vor dem Schauder über das Versprechen, das ihr abgerungen worden war.

Die Duchezza war ganz außer Fassung über das, was sie eben getan hatte. Wenn sie sich der bitteren Schande ihres Schwures noch nicht voll bewußt war, so lag das daran, daß sie nur den einen Gedanken hatte, ob der General Fontana wohl noch rechtzeitig in der Zitadelle anlangen werde.

Um sich dem tollen Liebesgeschwätz dieses Knaben zu entziehen und das Gespräch auf etwas anderes zu lenken, lobte sie ein berühmtes Bild des Parmigianino über dem Hauptaltar der Schloßkapelle.

»Wollen Sie so gut sein, mir zu erlauben, daß ich es Ihnen schicke?« sagte der Fürst.

»Ich nehme es an«, entgegnete die Duchezza. »Aber gestatten Sie, daß ich Fabrizzio entgegeneile?«

Mit verstörter Miene befahl sie ihrem Kutscher, Galopp zu fahren. Auf der Wallbrücke der Zitadelle kamen ihr der General Fontana und Fabrizzio zu Fuß entgegen.

»Hast du gegessen?«

»Wunderbarerweise nicht.«

Die Duchezza sank Fabrizzio um den Hals und fiel in eine Ohnmacht, die eine Stunde währte und das Schlimmste für ihr Leben und dann für ihren Verstand befürchten ließ.

Der Kommandant Fabio Conti war vor Wut bleich, als er des Generals Fontana ansichtig ward. Er benahm sich in der Ausführung des fürstlichen Befehles so saumselig, daß der Flügeladjutant in der Voraussetzung, daß die Duchezza im Begriffe sei, die Stellung der regierenden Mätresse einzunehmen, schließlich aufbrauste. Der Kommandant rechnete damit, Fabrizzios Krankheit werde zwei bis drei Tage dauern. ›Und nun‹, sagte er sich, ›kommt der General, eine Hofschranze, und sieht den Unverschämten sich vor Schmerzen krümmen, – meine Rache für seine Flucht!‹

Höchst nachdenklich blieb er in der Wache im Erdgeschoß der Torre Farnese stehen, aus der er schleunigst die Soldaten hinausschickte. Er wollte keine Zeugen bei der bevorstehenden Szene haben. Fünf Minuten später war er vor Erstaunen ganz starr, als er Fabrizzio reden hörte und sah, wie er froh und munter General Fontana das Gefängnis beschrieb. Da drückte er sich.

Fabrizzio benahm sich bei seiner Zusammenkunft mit dem Fürsten als vollendeter Kavalier. Vor allem wollte er nicht wie ein kleiner Junge dastehen, der vor jeder Kleinigkeit erschrickt. Der Fürst fragte ihn huldvoll, wie er sich befände.

»Wie jemand, Hoheit, der vor Hunger stirbt, da er glücklicherweise weder gefrühstückt noch zu Mittag gegessen hat.«

Nachdem er dem Fürsten seinen alleruntertänigsten Dank ausgesprochen hatte, bat er um die Erlaubnis, dem Erzbischof einen Besuch machen zu dürfen, ehe er sich in das Stadtgefängnis begebe.

Der Fürst wurde leichenfahl, als in seinem Kindskopf die Einsicht Raum gewann, daß die Vergiftungsgeschichte durchaus keine Einbildung der Duchezza war. Verloren in diesen gräßlichen Gedanken, gab er zunächst auf die Bitte Fabrizzios, den Erzbischof besuchen zu dürfen, keine Antwort; dann hielt er sich für verpflichtet, seine Unaufmerksamkeit durch desto größere Huld wieder gutzumachen:

»Gehen Sie allein, Monsignore, gehen Sie ohne jede Bewachung durch die Straßen meiner Residenz! Gegen zehn oder elf Uhr begeben Sie sich in die Haft, in der Sie hoffentlich nicht lange bleiben werden.«

Am Morgen nach diesem großen Tage, dem bedeutungsvollsten seines Lebens, hielt sich der Fürst für einen kleinen Napoleon. Er hatte gelesen, daß dieser große Mann öfters die Gunst schöner Frauen seines Hofes genossen hatte. Einmal Napoleon im Liebesglüek, entsann er sich auch, daß er im Kugelregen gewesen war. Sein Herz frohlockte über sein mannhaftes Verhalten gegen die Duchezza. Das Bewußtsein, ein schwieriges Werk vollbracht zu haben, wandelte ihn binnen vierzehn Tagen von Grund aus um. Er wurde empfänglich für erhabene Anschauungen; er bekam gewissermaßen Charakter.

Den ersten Beweis davon gab er am selben Tage, indem er Rassis Grafenbrief, der seit vier Wochen auf seinem Schreibtisch lag, verbrannte. Er setzte den General Fabio Conti ab und beauftragte seinen Nachfolger, den Oberst Lagienka, die Vergiftungsgeschichte genau zu untersuchen. Lagienka, ein tapferer polnischer Offizier, schüchterte das Gefängnispersonal ein und berichtete dem Fürsten, daß das Frühstück des Monsignore del Dongo Gift enthalten sollte, aber da man allzuviel Leute ins Vertrauen gezogen hatte, sei die Sache erst beim Mittagessen ins Werk gesetzt worden. Ohne die Dazwischenkunft des Generals Fontana wäre Monsignore del Dongo verloren gewesen. Der Fürst war starr; da er aber wirklich stark verliebt war, fand er darin einen Trost, sich sagen zu können: ›So habe ich dem Monsignore tatsächlich das Leben gerettet, und die Duchezza kann nicht wagen, mir ihr gegebenes Wort zu brechen.‹ Er kam noch auf einen anderen Gedanken: ›Mein Metier ist viel schwieriger, als ich es mir gedacht hatte. Alle Welt behauptet, die Duchezza sei außerordentlich geistvoll. Hier stimmen Politik und Herz überein. Es wäre herrlich für mich, wenn sie mein Premierminister sein wollte.‹

Am Abend war der Fürst durch die gräßliche Entdeckung dermaßen aufgeregt, daß er nicht mit Komödie spielen wollte.

»Ich wäre überglücklich,« sagte er zur Duchezza, »wenn Sie über mein Land herrschen wollten wie über mein Herz. Für den Anfang will ich Ihnen berichten, wie ich meinen Tag angewandt habe.« Nun erzählte er ihr alles ganz ausführlich: das Verbrennen von Rassis Grafenbrief, die Ernennung Lagienkas, dessen Bericht über den Vergiftungsversuch und so weiter.

»Ich habe recht wenig Erfahrung im Regieren. Der Graf demütigt mich mit seiner Ironie. Sogar im Staatsrat reißt er seine Witze; auch macht er allerhand Bemerkungen in der Gesellschaft, was Sie wahrscheinlich abstreiten werden. Er hat gesagt, ich sei ein Kind, das er hinführen könne, wohin er wolle. Wenn man Fürst ist, gnädige Frau, so ist man doch auch Mensch, und solche Sachen ärgern einen. Um Moscas Scherzen Trotz zu bieten, habe ich diesen gefährlichen Schurken, den Rassi, ins Ministerium nehmen müssen. Und da haben wir den General Conti, der noch immer an Rassis Macht glaubt und nicht einzugestehen wagt, daß er oder die Raversi es sind, die ihn verleitet haben, Ihren Neffen umzubringen! Ich hätte große Lust, den General Fabio Conti einfach vor Gericht zu stellen. Die Richter werden seine Schuld an dem Vergiftungsversuch schon herausbekommen.«

»Aber, Fürst, haben Sie Richter?«

»Wie?« fragte Ernst V. betroffen.

»Sie haben hochweise Rechtsgelehrte, die gravitätisch durch die Straßen stolzieren; im übrigen werden sie das Recht immer so handhaben, wie es der herrschenden Partei an Ihrem Hofe gefällt.«

Während der entrüstete junge Fürst allerlei redete, was mehr Harmlosigkeit als Klugheit verriet, dachte die Duchezza: ›Darf ich Conti in Verruf bringen? Nein, durchaus nicht; sonst wird die Heirat seiner Tochter mit diesem faden Ehrenmann, dem Marchese Crescenzi, unmöglich.‹

Darüber entspann sich eine endlose Unterhaltung zwischen der Duchezza und dem Fürsten. Er verging vor Bewunderung. In Rücksicht auf die Verheiratung von Clelia Conti mit dem Marchese Crescenzi wurde dem General Conti wegen seines Vergiftungsversuches Gnade für Recht zuteil, jedoch nur ausdrücklich deshalb, wie der Fürst voller Zorn gegen den Exkommandanten betonte. Auf den Vorschlag der Duchezza wurde er bis zur Hochzeit seiner Tochter des Landes verwiesen. Die Duchezza glaubte in Fabrizzio nicht mehr verliebt zu sein, aber die Heirat Clelia Contis mit dem Marchese sehnte sie leidenschaftlich herbei; dabei hegte sie die unbestimmte Hoffnung, allmählich werde Fabrizzios Neigung schwinden.

Im Überschwang des Glückes wollte der Fürst am nämlichen Abend den Minister Rassi mit Eklat seines Amtes entsetzen. Die Duchezza lachte und sagte: »Erinnern Sie sich eines Ausspruchs Napoleons? ›Ein Mann in hoher Stellung, auf den alle Welt blickt, darf sich niemals hitzige Handlungen erlauben.‹ Heute abend ist es auch zu spät. Verschieben Hoheit die Regierungsgeschäfte auf morgen!«

Sie wollte Zeit gewinnen, um mit dem Grafen zu beratschlagen, dem sie ihre Zwiesprache während der Abendgesellschaft haarklein berichtete, allerdings unter Weglassung der häufigen Anspielungen des Fürsten auf ein Versprechen, das ihr Dasein vergiftete. Die Duchezza schmeichelte sich, sich derartig unentbehrlich gemacht zu haben, daß sie eine Vertagung auf unbestimmte Zeit durchsetzen könnte, wenn sie zum Fürsten sagte: ›Wenn Sie so barbarisch sind, zu wollen, daß ich meine Ehre hingebe, so werde ich Ihnen das nie verzeihen und tags darauf Ihr Land verlassen.‹

Als die Duchezza den Grafen Mosca über Rassis Schicksal befragte, benahm er sich höchst weltweise. Der General Fabio Conti und Rassi sollten auf Reisen nach Piemont geschickt werden.

Eine sonderbare Schwierigkeit entstand bei Fabrizzios Prozeß. Die Richter wollten ihn bereits am ersten Verhandlungstage einstimmig freisprechen. Mosca mußte alles aufbieten, damit der Prozeß wenigstens acht Tage dauerte und die Richter sich die Mühe nahmen, alle Entlastungszeugen zu vernehmen. ›Diese Leute bleiben sich immer gleich‹, sagte er sich.

Am Tage nach seiner Freisprechung trat Fabrizzio del Dongo endlich die Stelle als Großvikar bei dem guten Erzbischof Landriani an. Am selben Tage unterzeichnete der Fürst die nötigen Depeschen nach Rom, um die Bestätigung Fabrizzios als Koadjutor mit der einstigen Nachfolge zu erlangen. Nicht ganz acht Wochen später traf sie ein.

Alle Welt pries vor der Duchezza die würdevolle Haltung ihres Neffen. Und doch war er in Verzweiflung. Bereits am Tage nach seiner Freilassung, der die Dienstentlassung und Verbannung des Generals Fabio Conti und die Herrschaft der Duchezza folgten, hatte Clelia eine Zuflucht im Hause der Contessa Contarini, ihrer Tante, gefunden, einer steinreichen ältlichen Dame, die nur der Sorge um ihre Gesundheit lebte. Clelia hätte mit Fabrizzio zusammentreffen können; wer aber ihre frühere Freundschaft gekannt hatte und ihr jetziges Verhalten beobachtete, hätte denken können, daß mit den Gefahren für den Geliebten ihre Liebe erloschen wäre. Fabrizzio machte nicht nur, so häufig er es schicklicherweise tun konnte, Fensterpromenaden vor dem Palazzo Contarini, sondern es gelang ihm nach langen Bemühungen auch, gegenüber den Fenstern des ersten Stockes ein Stübchen zu mieten. Als Clelia eines Tages arglos ans Fenster lief, um eine Prozession vorüberziehen zu sehen, fuhr sie sofort zurück, wie vom Donner gerührt. Sie hatte Fabrizzio erkannt, der schwarz, aber wie ein armer Arbeitet gekleidet aus einem Fenster seiner Spelunke zu ihr herübersah; dieses Fenster hatte, wie seine Zelle in der Torre Farnese, Scheiben aus Ölpapier. Fabrizzio hätte sich wohl einreden mögen, daß Clelia ihn floh, weil ihr Vater in Ungnade gefallen war, woran nach der öffentlichen Meinung die Duchezza die Schuld trug. Aber er kannte eine andere Ursache dieser Entfremdung allzu gut, und nichts vermochte ihn aus seiner Schwermut aufzurütteln.

Weder seine Freisprechung noch seine Erhebung zu so hohen Würden, den ersten, die er in seinem Leben einnahm, noch seine glänzende Stellung in der Gesellschaft, auch nicht die unaufhörlichen Huldigungen, die ihm die ganze Geistlichkeit und alle Frommen der Diözese darbrachten, nichts machte Eindruck auf ihn. Die entzückende Wohnung, die er im Palazzo Sanseverina inne hatte, genügte nicht mehr. Zu ihrem größten Vergnügen sah sich die Duchezza gezwungen, ihm den ganzen zweiten Stock ihres Palastes und zwei schöne Empfangszimmer im ersten einzuräumen. Diese Empfangsräume waren dauernd voller Leute, die auf den Augenblick warteten, dem jungen Koadjutor ihre Aufwartung zu machen. Die Aussicht seiner einstigen Nachfolge hatte im Lande Wunder bewirkt. Man legte nun alle Züge von Charakterfestigkeit, die ehedem die armseligen und einfältigen Höflinge so sehr entrüstet hatten, als Tugenden aus.

Es war für Fabrizzio eine eindringliche philosophische Lehre, daß er so ganz und gar unempfänglich war für alle die Ehrungen, in seiner großartigen neuen Wohnung mit zehn Dienern in eigener Tracht, und daß er um so vieles unglücklicher war als einst in seinem Holzkäfig in der Torre Farnese, wo ihn widerliche Aufseher umgaben und er stündlich für sein Leben fürchten mußte. Seine Mutter und seine Schwester, die Principessa Dotti, die ihn in Parma besuchten, um ihn in seinem Glanze zu sehen, waren über seinen tiefen Trübsinn erschrocken. Die Marchesa del Dongo, jetzt eine nichts weniger als romantische Dame, beunruhigte sich deswegen so sehr, daß sie glaubte, man habe ihm in der Torre Farnese ein schleichendes Gift eingegeben. Obwohl sie höchst ungern in Geheimnisse drang, fühlte sie sich verpflichtet, mit ihm über diese seltsame Schwermut zu sprechen, und Fabrizzio hatte nur Tränen als Antwort.

Eine Menge von Vorteilen, Folgen seiner glänzenden Stellung, brachten keine andere Wirkung auf ihn hervor, als daß sie ihn mißlaunig machten. Sein Bruder, diese eitle und von gemeinster Selbstsucht verdorbene Seele, schrieb ihm einen fast offiziellen Glückwunschbrief, dem eine Anweisung auf fünfzigtausend Franken beigefügt war, damit er sich Pferde und einen seines Namens würdigen Wagen anschaffen könne, wie sich der neue Marchese ausdrückte. Fabrizzio schenkte diese Summe seiner jüngsten Schwester, die arm verheiratet war.

Graf Mosca hatte eine schöne italienische Übersetzung der Chronik der Familie Valserra del Dongo nach dem lateinischen Original Fabrizzios, weiland Erzbischofs von Parma anfertigen lassen. Er ließ sie in einer Prachtausgabe drucken, mit dem lateinischen Text gegenüber. Die Stiche waren durch ausgezeichnete, in Paris hergestellte Steinzeichnungen ersetzt. Einem Wunsch der Duchezza gemäß war als Gegenstück zu dem Bildnis des alten Erzbischofs ein schönes Porträt ihres Neffen beigefügt. Diese Übersetzung wurde als Arbeit Fabrizzios während seiner ersten Gefangenschaft veröffentlicht. Aber alles das prallte spurlos an unserem Helden ab; sogar die dem Menschen angeborene Eitelkeit war in ihm erstorben. Es fiel ihm nicht ein, auch nur eine einzige Zeile des ihm zugeschriebenen Werkes zu lesen. Seine gesellschaftliche Stellung verpflichtete ihn, ein prächtig eingebundenes Exemplar dem Fürsten zu überreichen. Ernst V. glaubte ihm eine Entschädigung für die ausgestandene Todesgefahr zu schulden und erteilte ihm die Zutrittsbefugnis zu seinen inneren Gemächern, eine Gunst, die mit dem Titel Eccellenza verknüpft ist.


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