Stendhal
Die Kartause von Parma
Stendhal

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Viertes Kapitel

Nichts vermochte ihn zu wecken, weder das Gewehrfeuer, das den kleinen Wagen umknatterte, noch das Traben des Pferdchens, das die Marketenderin mit der Peitsche antrieb. Das Regiment war unversehens von preußischen Kavallerieschwärmen angegriffen worden, nachdem es den ganzen Tag über an den Sieg geglaubt hatte. Jetzt ging es zurück, oder vielmehr: es floh in der Richtung auf die französische Grenze.

Der Oberst, ein schöner junger Dandy, der unlängst das Regiment von Macon übernommen hatte, wurde niedergesäbelt. Einer der Bataillonskommandeure, der an seine Stelle trat, ein alter Krieger mit weißem Haar, ließ das Regiment Halt machen.

»Zum Teufel!« schrie er den Soldaten zu. »Zu Zeiten der Republik wartete man mit dem Auskneifen, bis einen der Feind dazu zwang. Jeden Zollbreit Erde müßt ihr verteidigen! Und wenn ihr totgeschossen werdet!« fluchte er. »Euer Vaterland ists, das die Preußen besetzen wollen!«

Das Wägelchen hielt, und Fabrizzio wachte plötzlich auf. Die Sonne war schon lange untergegangen. Er war ganz verdutzt, als er sah, daß es beinahe Nacht geworden war. Die Soldaten hasteten zu beiden Seiten in wirrer Unordnung dahin. Unserem Helden kam das seltsam vor. Sie sahen ihm alle recht kläglich aus.

»Was ist denn los?« fragte er die Marketenderin.

»Nichts. Wir sind die Gepritschten, mein Jungchen! Die preußische Kavallerie verhaut uns, weiter nichts. Der Esel von einem General hat erst geglaubt, es sei unsere eigene. – Los, komm! Hilf mir mal den Strang von Kokotte zusammenbinden! Er ist gerissen.«

Zehn Schritt weit fielen ein paar Schüsse. Unser Held, wieder frisch und kampflustig, meinte bei sich: ›Eigentlich bin ich den ganzen Tag über gar nicht ins Gefecht gekommen; ich war nur im Gefolge eines Generals.‹

»Ich muß ins Feuer!« sagte er laut zur Marketenderin.

»Beruhige dich! Du kommst schon noch ins Feuer, und mehr, als du willst! Wir sind futsch! – Aubry, mein Junge,« rief sie einem Korporal zu, der vorbeimarschierte, »vergiß nicht, dich ab und zu nach meinem Karren umzugucken!«

»Gehen Sie ins Gefecht?« fragte Fabrizzio den Unteroffizier.

»Nee, nur auf den Tanzboden!«

»Ich komme mit!«

»Den kleinen Husaren kann ich dir empfehlen. Der Bursche hat Mut!« rief die Marketenderin.

Der Korporal Aubry schritt stumm seines Wegs. Acht bis zehn Soldaten stießen in eiligem Lauf zu ihm. Er führte sie hinter eine mächtige Eiche, die von Brombeersträuchern umgeben war. Dort angekommen, stellte er sie längs des Waldrandes auf, immer noch, ohne einen Ton zu reden, in weiten Abständen, mindestens zehn Schritt voneinander entfernt.

»Nun paßt mal auf!« sagte er dann, und das war das erste, was er sprach. »Gebt nicht eher Feuer, als bis ichs befehle. Denkt daran, daß jeder nur drei Patronen hat!«

›Was geht denn eigentlich vor?‹ fragte sich Fabrizzio. Als er schließlich allein mit dem Korporal dastand, sagte er zu ihm: »Ich hab kein Gewehr!«

»Zunächst halts Maul! Lauf ein Stück vor! Da, fünfzig Schritt vor dem Gehölz, findest du welche bei den armen Kerlen des Regiments, die vorhin niedergehauen worden sind. Nimm dir Flinte und Patronentasche, aber von keinem Verwundeten, und flink, sonst kriegst du Feuer von unseren eigenen Leuten!«

Fabrizzio lief hin und kam alsbald mit einem Gewehr und einer Patronentasche zurück.

»Lade dein Gewehr und stell dich dort hinter den Baum! Vor allem schießt du nicht eher, als ichs befehle. – Herr, du mein Gott! Er kann nicht mal laden!«

Er half Fabrizzio, indem er dabei seine Unterweisung fortsetzte: »Wenn ein feindlicher Reiter auf dich losgaloppiert kommt und dich niedersäbeln will, so krauchst du hinter deinen Baum und gibst deinen Schuß erst ab, wenn dein Reiter auf drei Schritt an dich heran ist. Dein Bajonett muß fast schon an seinen Rock stoßen. – Schmeiß doch deinen langen Säbel weg!« schrie er. »Willst du drüber stolpern? Weiß der Teufel, was für Soldaten wir jetzt haben!«

Bei diesen Worten nahm er ihm den Säbel eigenhändig ab und schleuderte ihn wütend weit fort.

»Du, wische mal den Zündstein mit dem Taschentuch ab! Hast du überhaupt in deinem Leben schon einmal ein Gewehr abgefeuert?«

»Ich bin Jäger.«

»Gott sei gelobt!« entgegnete der Korporal mit einem schweren Seufzer. »Vor allem schieße nicht, ehe ichs befehle!« Damit ging er.

Fabrizzio war außer sich vor Freude. ›Endlich komme ich richtig ins Gefecht!‹ sagte er sich. ›Werde einen Feind töten! Heute morgen haben sie uns beschossen, aber ich habe nichts getan, als mich nur den Kugeln ausgesetzt. Das kann jeder!‹ Er spähte mit gespannter Neugier nach allen Richtungen. Nach einer Weile hörte er sieben bis acht Gewehrschüsse in seiner nächsten Nähe. Aber da er keinen Befehl zum Schießen bekam, blieb er ruhig hinter seinem Baum. Es war beinahe Nacht. Er kam sich vor, als wäre er auf dem Anstand, auf der Bärenjagd, in den Bergen der Tremezzina oberhalb von Grianta. Ein Jägereinfall kam ihm. Er holte eine Patrone aus seiner Patronentasche und brach die Kugel heraus. ›Wenn ich etwas sehe, muß ich es treffen!‹ Und er ließ diese zweite Kugel in den Gewehrlauf gleiten. Wiederum fielen zwei Schüsse dicht neben seinem Baum; gleichzeitig sah er einen Reiter in blauem Rock vor sich von rechts nach links galoppieren. ›Drei Schritt sind das nicht,‹ sagte er bei sich, ›aber auf diese Entfernung bin ich meines Schusses sicher.‹ Er verfolgte den Reiter mit der Mündung seines Gewehres und drückte schließlich ab. Der Reiter fiel samt seinem Pferd. Unser Held wähnte sich auf der Jagd. Voller Freude rannte er nach dem soeben erlegten Stück Wild. Schon wollte er den Mann anfassen, der offenbar im Sterben lag, als in unglaublicher Schnelle zwei preußische Reiter anritten, um ihn niederzusäbeln. Fabrizzio rettete sich, so schnell ihn seine Beine trugen, nach dem Gehölz; um besser laufen zu können, warf er sein Gewehr weg. Die preußischen Reiter waren keine drei Schritt mehr von ihm, als er in eine junge Eichenschonung gelangte, die sich vor dem Hochwald hinzog. Von den armhohen Bäumchen wurden die Reiter einen Augenblick aufgehalten, dann brachen sie durch und verfolgten Fabrizzio über eine Lichtung. Wiederum waren sie nahe daran, ihn zu fassen, als er eine Gruppe von sieben bis acht dicken Bäumen erreichte. In diesem Augenblick streiften ihn fünf oder sechs Schüsse so nahe, daß ihm fast das Gesicht verbrannt wurde. Er duckte sich nieder; als er sich wieder aufrichtete, stand der Korporal vor ihm.

»Du hast getroffen«, meinte Aubry.

»Jawohl, aber ich habe mein Gewehr verloren.«

»An Gewehren fehlts uns nicht. Du bist ein braver Kerl und gar nicht so dumm, wie du aussiehst. Du hast deine Sache gut gemacht. Die anderen Kerle da haben die beiden Reiter verfehlt, die dir nachsetzten und gerade auf sie zukamen. Ich selber konnte sie nicht sehen. Jetzt heißt es glattweg Leine ziehen. Das Regiment kann keine tausend Schritt weit sein, und außerdem ist da ein Stück Wiese, wo man uns umstellen kann.«

Während der Korporal so sprach, setzte er sich im Laufschritt an die Spitze seiner zehn Leute. Nach zweihundert Schritten kamen sie an die kleine Wiese, wo ihnen ein verwundeter General, von seinem Adjutanten und einem Diener gestützt, begegnete.

»Geben Sie mir vier von Ihren Leuten!« befahl er dem Korporal mit ersterbender Stimme. »Ich muß auf einen Verbandplatz gebracht werden. Das Bein ist mir zerschmettert.«

»Hol dich der Teufel,« erwiderte der Korporal, »dich und alle Generale! Ihr habt heute allesamt den Kaiser verraten!«

»Was,« rief der General wütend, »Sie verweigern mir den Gehorsam? Wissen Sie, daß ich der General Graf B. bin, Ihr Divisionskommandeur?«

Er sagte noch mehr. Der Adjutant ging auf die Soldaten los. Der Korporal stieß ihm das Bajonett in den Arm. Dann lief er mit seinen Leuten doppelt schnell davon.

»Möchten alle deinesgleichen«, wiederholte der Korporal fluchend, »Arme und Beine zerschmettert kriegen! Laffenpack! Alle miteinander habt ihr euch an die Bourbonen verkauft, ihr Kaiserverräter!«

Fabrizzio war von dieser fürchterlichen Beschuldigung tief ergriffen.

Gegen zehn Uhr abends erreichte der kleine Trupp wieder das Regiment, am Eingang eines großen Dorfes mit mehreren sehr engen Gassen. Fabrizzio bemerkte, daß der Korporal Aubry die Nähe von Offizieren mied.

»Unmöglich, vorwärts zu kommen!« polterte der Korporal.

Alle Dorfstraßen wimmelten von Infanterie, Kavallerie und besonders von Munitions- und Futterwagen. Der Korporal versuchte in drei Gassen, durchzuschlüpfen.

Nirgends kam man nach zwanzig Schritt weiter. Alles fluchte und schimpfte.

»Hier kommandiert gewiß wieder so ein Verräter!« rief der Korporal. »Wenn der Feind so schlau ist, das Dorf zu umstellen, dann sitzen wir in der Falle! Kommt, folgt mir!«

Fabrizzio sah sich um. Nur noch sechs Mann waren hinter dem Korporal. Durch ein großes Tor, das offen stand, gelangten sie in einen geräumigen Wirtschaftshof, von da in einen Stall, aus dem ein Türchen in den Garten führte. Dort verloren sie ein paar Augenblicke, da sie nicht gleich einen Ausweg fanden. Aber nach einigem Umherirren übersprangen sie eine Hecke und kamen in ein Weizenfeld. Nach einer knappen halben Stunde gewannen sie, von dem Geschrei und dem verworrenen Lärm geleitet, die Landstraße am anderen Ausgang des Dorfes. Die Straßengräben waren dort voller weggeworfener Gewehre. Fabrizzio suchte sich eines heraus. Die Straße war trotz ihrer Breite so von Flüchtlingen und Fahrzeugen vollgepfropft, daß der Korporal und Fabrizzio in einer halben Stunde kaum fünfhundert Schritt weiter kamen. Es hieß, die Straße führe nach Charleroi. Als es von der Dorf kirche elf Uhr schlug, rief der Korporal: »Wir müssen von neuem querfeldein laufen!«

Der kleine Trupp bestand nur noch aus drei Soldaten, dem Korporal und Fabrizzio. Als man tausend Schritt von der Heerstraße weg war, sagte einer der Soldaten: »Ich kann nicht mehr.«

»Ich auch nicht!« ein anderer.

»Das ist ja reizend! Da sitzen wir alle miteinander da!« sagte der Korporal. »Aber folgt mir nur! Ihr werdet gut dabei fahren!«

Er bemerkte fünf, sechs Bäume, die längs eines kleinen Grabens mitten in einem riesigen Getreidefeld standen.

»Nach den Bäumen!« befahl er seinen Leuten. Als sie die Stelle erreicht hatten, sagte er: »Legt euch hier hin und verhaltet euch mäuschenstill! Aber ehe wir einschlafen: Wer hat noch ein Stück Brot?«

»Ich!« meldete einer der Soldaten.

»Her damit!« sagte der Korporal herrisch. Er teilte das Brot in fünf Teile und nahm sich den kleinsten.

Während er aß, sagte er: »Eine Viertelstunde vor Tagesanbruch werden wir die feindliche Kavallerie im Nacken haben. Wir dürfen uns nicht niederhauen lassen. Ein einzelner ist verloren in diesem offenen, ebenen Gelände, wenn Kavallerie ihn verfolgt. Fünfe aber können sich retten. Bleibt mir gut zusammen und schießt nur auf ganz nahe Ziele! Ich mache mich anheischig, euch morgen abend nach Charleroi zu bringen.«

Eine Stunde vor Tagesanbruch weckte der Korporal die anderen und ließ die Gewehre neu laden. Der Lärm auf der Heerstraße dauerte an. Er hatte die ganze Nacht hindurch nicht aufgehört. Er klang wie das Brausen eines fernen Stromes.

»Wie aufgescheuchte Hammel!« meinte Fabrizzio arglos zum Korporal.

»Willst du wohl dein Maul halten, du Grünschnabel!« sagte der Korporal empört. Und die drei Soldaten, die mit Fabrizzio sein Heer ausmachten, blickten ihn ebenfalls mit Zornesblicken an, als ob er gelästert hätte. Er hatte die Nation beleidigt.

›Das ist doch stark‹, dachte unser Held. ›Diese Beobachtung habe ich schon unter dem Vizekönig in Mailand gemacht. Sie fliehen nicht. Gott bewahre! Diesen Franzosen darf man die Wahrheit nicht sagen, wenn sie ihre Eitelkeit verletzt. Aber über ihre kläglichen Gesichter lache ich, und das muß ich sie merken lassen.‹

Sie marschierten immer fünfhundert Schritt abseits vom Strom der Flüchtlinge, der die Heerstraße füllte. Eine Stunde danach kamen sie über einen Seitenweg, der von der großen Straße abzweigte und an dem eine Menge Soldaten lagerte. Einem kaufte Fabrizzio ein leidlich gutes Pferd ab, das ihn vierzig Franken kostete, und unter den umherliegenden Säbeln suchte er sich sorgfältig einen langen Pallasch aus. ›Einen zum Stechen!‹ dachte er bei sich. ›Die sollen am besten sein!‹ So ausgerüstet, setzte er sich in Galopp und holte den Korporal, der weitermarschiert war, bald ein. Er stellte sich in die Steigbügel, erfaßte die Scheide seines Pallaschs mit der linken Hand und sagte zu den vier Soldaten: »Die da auf der Heerstraße laufen, sehen aus wie eine Hammelherde. Sie reißen aus wie aufgescheuchte Hammel!«

Auf das Wort Hammel legte Fabrizzio einen besonderen Ton. Seine Kameraden erinnerten sich nicht mehr, daß sie sich über diesen Ausdruck vor einer Stunde geärgert hatten. Darin verrät sich einer der Gegensätze zwischen dem italienischen und dem französischen Wesen. Der Franzose ist zweifellos glücklicher; er gleitet über die Ereignisse des Lebens hinweg und trägt nicht nach.

Wir wollen nicht verhehlen, daß Fabrizzio eine Genugtuung darin fand, das Wort Hammel ausgesprochen zu haben.

Der Marsch ging ohne große Unterhaltung weiter. Zwei Stunden später sagte der Korporal, höchst erstaunt, daß sich immer noch keine feindliche Kavallerie zeigte, zu Fabrizzio: »Sie sind unsere Kavallerie. Galoppieren Sie nach dem Gehöft da auf der kleinen Anhöhe und fragen Sie den Bauern, ob er uns etwas zum Frühstück verkaufen will. Sagen Sie ihm, wir seien unser fünf. Wenn er nicht gleich will, geben Sie ihm fünf Franken im voraus. Haben Sie keine Angst, den Silberling nehmen wir ihm nach dem Frühstück wieder ab!«

Fabrizzio bückte den Korporal an; der hatte eine unerschütterliche Würde und wirklich den Ausdruck geistiger Überlegenheit. Er gehorchte. Alles ging, wie es sein Vorgesetzter vorausgesehen hatte; nur bestand Fabrizzio darauf, daß man dem Bauern die fünf Franken, die er ihm bezahlt hatte, nicht mit Gewalt wieder abnahm.

»Das Geld gehört mir«, sagte er zu den Kameraden.

»Ich habe es nicht für euch bezahlt; ich zahle es für den Hafer, den er meinem Pferde gegeben hat.«

Fabrizzio sprach das Französische so schlecht aus, daß seine Kameraden glaubten, in seiner Rede läge etwas wie Überhebung. Sie fühlten sich arg verletzt, und in ihren Gemütern reifte der Gedanke, ihn am Abend zu stellen. Sie fanden ihn ganz anders als sich selber, und das ärgerte sie. Fabrizzio dagegen fing an, sich als ihr guter Freund zu fühlen.

So marschierte man zwei Stunden lang stumm weiter, als der Korporal mit einem Blick auf die Heerstraße begeistert ausrief: »Das Regiment!« Alsbald waren sie auf der Straße, aber um den Adler waren keine zweihundert Mann geschart. Fabrizzios Auge hatte bald die Marketenderin erspäht. Sie lief zu Fuß, hatte rote Augen, und zuweilen rannen ihr die Tränen herab. Vergeblich suchte Fabrizzio das Wäglein sowie Kokotte.

»Ausgeplündert, beraubt, vernichtet!« rief die Marketenderin als Antwort auf die Blicke unseres Helden. Ohne ein Wort zu verlieren, saß er vom Pferd ab, nahm es am Zügel und sagte zur Marketenderin: »Sitzen Sie auf!«

Sie ließ sich das nicht zweimal sagen.

»Mach mir die Steigbügel kürzer!« sagte sie.

Sobald sie im Sattel saß, begann sie, Fabrizzio ihr Mißgeschick während der Nacht zu berichten. Ihre Erzählung war endlos, aber unser Held horchte begierig darauf. Wenn er auch, offen gestanden, so gut wie nichts davon verstand, so hegte er doch eine zärtliche Freundschaft für die Marketenderin. Sie schloß mit den Worten: »Und es waren Franzosen, die mich ausgeplündert, geschlagen und zugrunde gerichtet haben.«

»Was, es waren keine Feinde?« fragte er treuherzig, was seinem schönen, ernsten und blassen Gesicht reizend stand.

»Bist du dumm, mein lieber Junge!« sagte die Marketenderin und lachte unter Tränen. »Aber du bist trotzdem ein gutes Kerlchen!«

»Und dieses Kerlchen hat seinen Preußen fein weggeputzt!« meinte der Korporal Aubry, der im Wirrwarr zufällig neben dem Pferde, das die Marketenderin ritt, wieder auftauchte.

»Aber er ist hochmütig!« setzte der Korporal hinzu. Fabrizzio machte eine heftige Gebärde.

»Wie heißt du eigentlich?« fragte der Korporal darauf. »Wenn ich Meldung erstatten muß, möchte ich dich doch nennen.«

»Ich heiße Vasi«, antwortete Fabrizzio und zog ein dummes Gesicht. »Das heißt Boulot«, verbesserte er sich rasch.

Boulot hieß der Inhaber des Soldbuches, das ihm die Kerkermeistersfrau eingehändigt hatte. Er hatte es am Tag vorher während des Marsches genau studiert, denn er fing an, besonnener zu werden, und war den Dingen schon besser gewachsen. Außer dem Soldbuche des Husaren Boulot bewahrte er sorglich auch den italienischen Paß, der ihn zur Führung des edlen Namens Vasi, Händlers mit Wettergläsern, berechtigte.

Als der Korporal ihm Hochmut vorwarf, war er nahe daran gewesen, zu antworten: »Ich hochmütig, ich, Fabrizzio Valserra, Marchesino del Dongo, der sich nicht schämt, den Namen eines Hausierers zu tragen?«

Während er nachdachte und sich sagte: ›Ich darf nicht vergessen, daß ich Boulot heiße und mich vor dem Kerker hüten muß, mit dem mir das Schicksal droht‹, wechselten der Korporal und die Marketenderin ein paar Worte leise über ihn.

»Glauben Sie nicht, ich sei neugierig«, sagte die Marketenderin zu ihm, indem sie ihn nicht mehr duzte. »Es ist nur zu Ihrem Wohl, wenn ich Fragen stelle. Wer sind Sie eigentlich?«

Fabrizzio antwortete nicht sofort. Er überlegte sich, daß er keine treueren Freunde und keinen besseren Rat finden könne, und Rates bedurfte er sehr. ›Wir kommen auf einen Sammelplatz‹, sagte er sich. ›Der Befehlführende wird fragen, wer ich sei, und wenn ich durch meine Antworten verrate, daß ich vom vierten Husarenregiment, dessen Uniform ich trage, keine Katze kenne, nageln sie mich fest.‹

Als österreichischer Untertan wußte Fabrizzio, wie wichtig ein Paß ist. Seine Familie hatte, obwohl sie adlig und fromm war und obwohl sie zur siegreichen Partei gehörte, mehr als zwanzigmal Scherereien in Paßangelegenheiten gehabt. Die Frage der Marketenderin verletzte ihn also keineswegs; aber ehe er eine Antwort gab, suchte er nach den klarsten französischen Worten. Die Marketenderin brannte vor Neugier, und um ihn zum Reden zu ermutigen, sagte sie: »Korporal Aubry und ich, wir werden Ihnen gut raten, wie Sie sich zu verhalten haben.«

»Daran zweifle ich nicht«, erwiderte Fabrizzio. »Ich heiße Vasi und bin aus Genua; meine Schwester, eine berühmte Schönheit, ist mit einem Rittmeister verheiratet. Da ich erst siebzehn Jahre alt bin, sollte ich sie besuchen, um Frankreich kennen zu lernen und ein bißchen Schliff zu erhalten. In Paris fand ich sie nicht, erfuhr aber, daß sie hier bei der Armee wäre. So bin ich hergekommen und habe sie überall gesucht, ohne sie zu finden. Soldaten, denen meine Aussprache auffiel, haben mich festnehmen lassen. Ich hatte Geld und gab davon dem Kerkermeister, der mir ein Soldbuch und eine Uniform gab und sagte: ›Lauf, schwöre mir aber, daß du nie meinen Namen nennst!‹«

»Wie hieß er?« fragte die Marketenderin.

»Ich habe mein Wort gegeben«, versetzte Fabrizzio.

»Er hat recht«, fiel der Korporal ein. »Der Kerkermeister ist ein Lump, aber der Kamerad darf seinen Namen nicht sagen. Und wie heißt der Rittmeister, der Mann Ihrer Schwester? Wenn wir das wissen, können wir ihn suchen.«

»Teulier, Rittmeister bei den vierten Husaren«, antwortete unser Held.

»So,« sagte der Korporal mit einiger Schärfe, »und wegen Ihrer fremdländischen Aussprache haben die Soldaten Sie für einen Spion gehalten?«

»Da haben wir dies niederträchtige Wort!« rief Fabrizzio mit flammenden Augen. »Ich, der ich den Kaiser und die Franzosen so liebe! Diese Beleidigung hat mich am meisten geärgert.«

»Darin liegt nichts Beleidigendes. Sie täuschen sich. Der Irrtum der Soldaten war sehr natürlich«, erwiderte Korporal Aubry ernst.

Darauf setzte er ihm schulmeisterlich auseinander, daß man bei der Armee einem Truppenteil angehören und eine Uniform tragen müsse. Andernfalls sei es ganz natürlich, daß man für einen Spion gehalten werde.

»Der Feind schickt uns viele. Alle Welt ist in diesem Kriege verräterisch.«

Fabrizzio fiel es wie Schuppen von den Augen. Zum ersten Male begriff er, daß er alles, was ihm seit zwei Monaten widerfahren war, falsch angesehen hatte.

»Der Kleine muß uns aber alles erzählen«, sagte die Marketenderin, deren Neugier immer mehr angestachelt wurde.

Fabrizzio willfahrte ihr. Als er zu Ende war, sagte die Marketenderin in gewichtigem Ton zu dem Korporal: »Im Grunde ist der Junge gar nicht Soldat. Wir gehen üblen Kämpfen entgegen, jetzt, da wir geschlagen und verkauft sind. Warum soll er sich um Gotteslohn die Knochen zerschlagen lassen?«

»Noch dazu,« ergänzte der Korporal, »da er sein Gewehr nicht einmal laden kann, weder mit zwölf Griffen noch überhaupt. Ich habe ihm die Knarre laden müssen, als er den Preußen niederknallte.«

»Und dann zeigt er allen Leuten sein Geld«, setzte die Marketenderin hinzu. »Sobald er nicht mehr bei uns ist, wird ihm alles abgenommen werden.«

»Der erste beste Kavallerieunteroffizier, dem er begegnet,« sagte der Korporal, »steckt es ein und jagt es durch die Gurgel. Und wer weiß, vielleicht wirbt man ihn gar für den Feind an, denn überall lauern Verräter. Irgendwer befiehlt ihm, zu folgen, und er folgt ihm. Das beste wärs, er träte bei unserm Regiment ein.«

»Nein, nein, das gefälligst nicht, Herr Korporal!« rief Fabrizzio lebhaft. »Reiten ist bequemer! Und übrigens verstehe ich das Gewehrladen wirklich nicht, aber wie Sie sehen, kann ich mit einem Gaul umgehen.«

Auf diese kleine Auseinandersetzung war Fabrizzio sehr stolz. Die lange Verhandlung über sein weiteres Schicksal, die zwischen dem Korporal und der Marketenderin stattfand, wollen wir übergehen. Fabrizzio hörte, daß die beiden sich alle Einzelheiten seiner Erlebnisse drei- oder viermal wiederholten: den Verdacht der Soldaten, die Geschichte mit dem Kerkermeister, der ihm ein Soldbuch und eine Uniform verkauft hatte, die Art und Weise, wie er sich tags zuvor dem Stabe des Marschalls angeschlossen, wie er den Kaiser hatte vorbeigaloppieren sehen, wie man ihn um sein Pferd gebracht hatte, und so weiter.

Mit weiblicher Neugier kam die Marketenderin immer wieder darauf zurück, wie man ihm das schöne Pferd abgenommen hatte, das sie ihm hatte kaufen helfen: »Du merktest, wie man dich an den Beinen packte, dich sacht über die Kruppe des Pferdes herunterzog und dich auf den Boden setzte ...«

›Wozu so oft wiederholen,‹ sagte Fabrizzio bei sich, ›was wir alle drei längst wissen ?‹

Er wußte noch nicht, daß die kleinen Leute in Frankreich sich auf diese Weise auf Gedanken bringen.

»Wieviel Geld hast du?« fragte ihn die Marketenderin plötzlich. Fabrizzio antwortete ihr ohne Verzug. Er war der anständigen Gesinnung dieser Frau sicher; das ist eine schöne Seite an den Franzosen.

»Alles in allem muß ich noch dreißig Napoleons in Gold und acht bis zehn Fünffrankenstücke haben.«

»Dann hast du gewonnenes Spiel!« rief die Marketenderin. »Mache dich fort von dieser geschlagenen Armee, drücke dich beiseite und nimm den ersten besten reitbaren Weg rechts ab. Gib deinem Gaul die Zinken und suche immer mehr vom Heer abzukommen. Bei der ersten Gelegenheit kaufst du dir Zivil. Wenn du acht bis zehn Meilen Vorsprung hast und keine Soldaten mehr siehst, setzt du dich in die Post. In irgendeiner netten Stadt erholst du dich acht Tage lang und ißt ordentlich Beefsteaks. Erzähle keinem Menschen, daß du bei der Armee gewesen bist. Die Gendarmen könnten dich als Fahnenflüchtigen festnehmen, denn so gescheit du sein magst, Kleiner, um einem Gendarmen Rede zu stehen, bist du nicht gerissen genug. Sobald du Zivilkleider auf dem Buckel hast, zerfetzt du dein Soldbuch in tausend Stücke und nimmst deinen wirklichen Namen wieder an. Hießest du nicht Vasi? Und«, fragte sie den Korporal, »was soll er sagen, woher er käme?«

»Von Cambrai an der Schelde. Das ist eine nette kleine Stadt, weißt du, von wegen der Kathedrale und FénelonFrançois de Fénelon(1651-1715), Erzbischof von Cambrai. Er liegt unter seinem Marmordenkmal in der Kathedrale begraben.

»Ganz recht!« sagte die Marketenderin. »Sage keinem Menschen, daß du in der Schlacht gewesen bist. Erwähne kein Sterbenswörtchen, weder von B. noch vom Kerkermeister, der dir das Soldbuch verkauft hat. Wenn du nach Paris willst, so gehe erst nach Versailles und bummle von dort über die Stadtgrenze; geh zu Fuß wie ein Spaziergänger. Deine Napoleons nähst du dir in die Hose ein, und wenn du irgend etwas zu bezahlen hast, so zeige nie mehr Geld, als gerade nötig ist. Ich habe eine Mordsangst, daß man dich begaunert und dir alles wegstibitzt, was du hast. Und was sollte dann ohne Geld aus dir werden, wo du dich so gar nicht zurechtzufinden verstehst?«

Die gutmütige Marketenderin redete noch lange weiter; der Korporal unterstützte ihre Ratschläge durch Kopfnicken, da er nicht zu Worte kommen konnte. Mit einem Male verdoppelte die Menschenmasse, die auf der großen Straße hinflutete, ihre Marschgeschwindigkeit. Einen Augenblick später sprang alles über den Straßengraben zur Linken und rannte in wilder Flucht davon.

»Die Kosaken! Die Kosaken!« schrie es von allen Seiten.

»Nimm dein Pferd wieder!« rief die Marketenderin. »Gottbewahre!« sagte Fabrizzio. »Fliehen Sie! Galoppieren Sie davon! Ich gebe es ihnen! Wollen Sie Geld, damit Sie sich wieder einen kleinen Wagen kaufen können? Die Hälfte von dem, was ich habe, gehört Ihnen!«

»Nimm dein Pferd wieder, sag ich dir!« rief die Marketenderin zornig und machte Miene, abzusitzen. Fabrizzio zog seinen Säbel.

»Halten Sie sich fest!« rief er ihr zu und versetzte dem Pferd zwei oder drei Hiebe mit der flachen Klinge. Es galoppierte an und setzte den Flüchtenden nach.

Unser Held sah sich um. Eben noch hatten sich drei- bis viertausend Menschen auf der Heerstraße hingedrängt, eng aneinandergepfercht wie die Bauern hinter einer Prozession. Nach dem Rufe ›Die Kosaken!‹ erblickte er tatsächlich keine Menschenseele mehr. Die Fliehenden hatten Tschakos, Gewehre, Säbel und alles hingeworfen. Verwundert stieg Fabrizzio auf den Acker rechts der Straße, der zwanzig bis dreißig Fuß höher gelegen war. Dort überblickte er die Heerstraße nach beiden Seiten hin, ebenso die Ebene. Von Kosaken keine Spur. ›Drollige Leute, diese Franzosen!‹ sagte er sich. ›Da ich ja nach rechts abbiegen soll, werde ich gleich weitermarschieren. Möglicherweise haben sie einen Grund zum Weglaufen, den ich nicht kenne.‹ Er hob ein Gewehr auf, sah nach, ob es geladen sei, schüttete das Zündpulver um, wischte den Stein ab, suchte sich eine wohlgefüllte Patronentasche und sah sich nochmals nach allen Seiten um. Er war mutterseelenallein mitten in dieser Ebene, wo es eben noch so von Menschen gewimmelt hatte. Weit in der Ferne sah er die Fliehenden, die bald hinter Bäumen verschwanden, immer noch im Laufen. ›Das ist doch sonderbar!‹ dachte er. Und in Erinnerung daran, wie es der Korporal gestern abend gemacht hatte, setzte er sich mitten in ein Kornfeld. Er ging nicht von der Stelle, weil er seine guten Freunde wiedertreffen wollte, die Marketenderin und den Korporal Aubry.

In dem Kornfeld stellte er fest, daß er nur noch achtzehn Napoleons besaß statt dreißig, wie er gedacht hatte; aber er hatte noch ein paar kleine Brillanten, die er an jenem Morgen in B. in der Stube der Kerkermeistersfrau in das Lederfutter eines seiner Husarenstiefel gesteckt hatte. Er verbarg seine Napoleons, so gut er konnte, und geriet dabei in Grübelei: ›Warum die hastige Flucht? Ist das ein schlechtes Zeichen für mich?‹ fragte er sich. Sein Hauptkummer war, daß er den Korporal Aubry nicht noch gefragt hatte: ›Habe ich wirklich eine Schlacht mitgemacht?‹ Es schien ihm ganz so, aber er wäre überglücklich gewesen, wenn er darüber Gewißheit gehabt hätte.

›Auf alle Fälle‹, sagte er sich, ›war ich dabei unter dem Namen eines Häftlings. Ich habe das Soldbuch eines solchen in meiner Tasche, und mehr noch, ich trage seinen Rock. Das ist verhängnisvoll für die Zukunft. Was würde der Abbate Blanio dazu sagen? Und dieser unselige Boulot ist im Gefängnis gestorben. Das ist ein schlimmes Vorzeichen! Das Schicksal wird mich in den Kerker führen!‹

Fabrizzio hätte alles in der Welt darum gegeben, wenn er gewußt hätte, ob der Husar Boulot wirklich schuldig war. Er versenkte sich in seine Erinnerungen, und es kam ihm vor, als hätte die Kerkermeistersfrau in B. ihm erzählt, der Husar sei nicht nur wegen des silbernen Bestecks eingelocht worden, sondern auch, weil er einem Bauern eine Kuh geraubt und den Mann über die Maßen verprügelt hatte. Fabrizzio zweifelte nicht daran, daß er eines Tages eines Vergehens wegen, das in gewissen Beziehungen zu dem des Husaren Boulot stünde, ins Gefängnis käme. Er gedachte seines Freundes, des Abbaten Blanio. Was hätte er darum gegeben, wenn er ihn hätte um Rat fragen können! Dann fiel ihm ein, daß er seiner Tante, seit er Paris verlassen, nicht geschrieben hatte. ›Arme Gina!‹ sagte er sich. Er hatte Tränen in den Augen, als er plötzlich dicht neben sich ein leises Geräusch wahrnahm. Es war ein Soldat mit drei Pferden, die an langen Zügeln im Korn grasten; sie waren sichtlich halbtot vor Hunger. Er hielt sie an den Trensen. Fabrizzio flog auf wie ein Rebhuhn. Der Soldat bekam Angst. Unser Held bemerkte das und konnte der Lust nicht widerstehen, eine Weile den Landsknecht zu spielen.

»Einer der Gäule gehört mir, du Gauner!« rief er. »Aber ich will dir gern fünf Franken geben für die Mühe, daß du mir ihn hergebracht hast.«

»Willst du mich uzen?« sagte der Soldat.

Fabrizzio legte sein Gewehr auf sechs Schritt Entfernung an:

»Laß das Pferd los, oder ich schieße!«

Der Soldat hatte sein Gewehr am Riemen über der Schulter und machte einen Ruck, um es zu fassen.

»Wenn du dich im geringsten rührst, bist du des Todes!« schrie Fabrizzio und sprang auf ihn zu.

»Meinetwegen, geben Sie mir fünf Franken und nehmen Sie sich eins der Pferde«, sagte der Soldat verwirrt, nachdem er einen sehnsüchtigen Blick nach der Heerstraße geworfen hatte, wo weit und breit kein Mensch zu sehen war. Fabrizzio hielt sein Gewehr mit der Linken schußbereit und warf ihm mit der Rechten drei Fünffrankenstücke zu.

»Runter, oder du bist des Todes! Zäume den Rappen auf und schere dich mit den beiden andern davon! Ich schieß dich nieder, wenn du dich muckst!«

Der Soldat gehorchte mürrisch. Fabrizzio ging an den Rappen heran und nahm die Zügel um seinen linken Arm, ohne den Soldaten, der sich langsam entfernte, aus den Augen zu lassen. Als er ihn ungefähr fünfzig Schritt von sich entfernt sah, schwang er sich behend in den Sattel. Er war kaum oben und suchte noch mit dem Fuß den rechten Steigbügel, als er eine Kugel dicht an sich vorbeisausen hörte. Der Soldat hatte einen Schuß auf ihn abgegeben. Der Zorn riß Fabrizzio hin. Er galoppierte auf den Soldaten los. Der jagte auf einem seiner Pferde davon, so schnell es laufen konnte, und war bald den Blicken Fabrizzios entschwunden.

›Gut,‹ sagte er bei sich, ›der ist außer Schußweite!‹ Das Pferd, das er soeben gekauft hatte, war prächtig, aber offenbar vor Hunger halbtot. Fabrizzio wandte sich wieder zur Heerstraße, wo immer noch kein Mensch zu sehen war. Er ritt quer über die Straße hinweg und trabte an, um linker Hand auf eine kleine Anhöhe zu gelangen. Er hoffte, dort die Marketenderin wiederzufinden, aber als er oben auf dem Hügel war, sah er nichts als ein paar einzelne Soldaten, mehrere tausend Meter entfernt.

›Es steht geschrieben, daß ich sie nicht wiedersehen soll,‹ sagte er mit einem Seufzer zu sich, ›die brave, gute Frau!‹ Er ritt auf ein Gehöft zu, das er in der Ferne erblickte, rechts von der Straße. Ohne abzusitzen und nachdem er im voraus bezahlt hatte, ließ er seinem armen Pferde Hafer geben. Es war so verhungert, daß es in die Krippe biß.

Eine Stunde später trabte Fabrizzio auf der Heerstraße dahin, immer in der unbestimmten Hoffnung, die Marketenderin oder wenigstens den Korporal Aubry wiederzutreffen. Fortwährend sah er sich unterwegs nach allen Seiten um. So kam er an einen sumpfigen Fluß, über den eine ziemlich schmale Holzbrücke führte. Vor der Brücke, auf der rechten Straßenseite, stand ein einsames Haus, ein Gasthof, der ein weißes Roß im Schild führte. ›Hier werde ich zu Mittag essen‹, nahm sich Fabrizzio vor.

Ein Kavallerieoffizier, den Arm in der Binde, stand am Brückenkopf. Er war zu Pferd und sah recht trübselig aus. Zehn Schritt von ihm entfernt hielten drei abgesessene Kavalleristen und klopften ihre Pfeifen aus.

›Das sind Leute,‹ sagte Fabrizzio bei sich, ›die mir ganz so aussehen, als wollten sie mir meinen Gaul billiger abkaufen, als ich ihn erstanden habe.‹

Der verwundete Offizier und die drei Reiter zu Fuß sahen ihn kommen und erwarteten ihn offenbar.

›Das Gescheiteste wäre es wohl, nicht über die Brücke zu reiten, sondern am rechten Ufer hin‹, sagte sich unser Held. ›Diese Richtung hat mir die Marketenderin empfohlen, damit ich in Sicherheit käme. Gewiß, aber wenn ich die Flucht ergreife, werde ich mich morgen darüber ärgern. Obendrein ist mein Pferd gut auf den Beinen und das des Offiziers wahrscheinlich müde. Wenn er sich unterfinge, mich absitzen zu lassen, galoppierte ich ihm davon.‹

Mit dieser Überlegung versammelte Fabrizzio sein Pferd und ritt in kurzem Schritt heran.

»Reiten Sie schneller, Husar!« rief ihm der Offizier im Befehlston entgegen.

Fabrizzio ritt noch ein paar Schritte und hielt dann.

»Wollen Sie mir mein Pferd nehmen?« rief er.

»Fällt mir gar nicht ein. Vorwärts!«

Fabrizzio sah den Offizier an; er hatte einen weißen Schnurrbart und das ehrlichste Gesicht von der Welt. Das Taschentuch, das seinen Arm trug, war voller Blut; ebenso hatte seine rechte Hand einen blutigen Verband. ›Aber die zu Fuß haben es auf mein Pferd abgesehen‹, sagte sich Fabrizzio; doch als er sie sich näher betrachtete, bemerkte er, daß auch sie verwundet waren.

»Im Namen der Ehre,« sagte der Offizier, der die Abzeichen eines Obersten trug, »stellen Sie sich hier als Posten auf und sagen Sie allen Dragonern, Jägern und Husaren, die Sie zu sehen bekommen, daß der Oberst Lebaron da im Gasthof ist und ihnen befiehlt, sich unter ihm zu sammeln!«

Der alte Oberst hatte schmerzentstellte Züge. Vom ersten Wort an hatte er unseren Helden gewonnen.

Fabrizzio antwortete ihm verständig: »Herr Oberst, ich bin zu jung, als daß man auf mich hörte. Bitte um schriftlichen Befehl.«

»Er hat recht«, sagte der Oberst und sah ihn wohlgefällig an. »Schreib den Befehl, Larose; du hast eine rechte Hand!«

Ohne etwas zu sagen, zog Larose aus seiner Tasche ein kleines Merkbuch, schrieb ein paar Zeilen, riß das Blatt heraus und händigte es Fabrizzio aus. Der Oberst wiederholte seinen Befehl, indem er hinzufügte, daß er nach zwei Stunden vorschriftsmäßig durch einen der drei verwundeten Reiter von seinem Posten abgelöst werde.

Nachdem er das gesagt hatte, ging er mit seinen Leuten in das Wirtshaus. Fabrizzio sah ihnen nach und blieb regungslos am Anfang der Holzbrücke stehen, so tief hatte ihn der düstere, wortkarge Schmerz dieser Menschen betroffen.

›Man möchte meinen, es seien verzauberte Geister‹, sagte er sich. Nach einer Weile faltete er das Blatt auseinander und las den folgendermaßen abgefaßten Befehl:

›Oberst Lebaron vom sechsten Dragonerregiment, Kommandeur der zweiten Brigade der ersten Kavalleriedivision des vierzehnten Armeekorps, befiehlt allen Reitern, Dragonern, Jägern und Husaren, nicht über die Brücke zu reiten und sich im Gasthof zum Weißen Roß an der Brücke, seinem Quartier, unter seinem Kommando zu sammeln.

Gegeben an der Sainte-Brücke am 19. Juni 1815. Auf Befehl des am rechten Arm verwundeten Obersten Lebaron Larose, Wachtmeister.‹

Kaum stand Fabrizzio eine halbe Stunde an der Brücke auf seinem Posten, als er sechs Jäger zu Pferd und drei zu Fuß kommen sah. Er teilte ihnen den Befehl des Obersten mit.

»Wir kommen sogleich wieder«, erwiderten vier von den Berittenen und ritten in starkem Trab über die Brücke. Fabrizzio unterhandelte nun mit den beiden anderen. Während des Wortwechsels, der immer lebhafter wurde, überschritten die drei Unberittenen die Brücke. Einer von den beiden Berittenen, die zurückgeblieben waren, verlangte schließlich den Befehl zu sehen, und indem er ihn nahm, sagte er: »Ich will ihn meinen Kameraden zeigen. Die werden gleich umkehren. Verlaß dich drauf!«

Damit galoppierte er von dannen. Sein Kamerad folgte ihm. Alles das geschah im Handumdrehen.

Voller Wut rief Fabrizzio einen der verwundeten Soldaten, der an einem Fenster des ›Weißen Rosses‹ erschien. Der, ein Wachtmeister, wie Fabrizzio an seinen Tressen sah, kam heraus und rief von weitem: »Zieh den Säbel! Du stehst doch Wache!«

Fabrizzio gehorchte. Dann meldete er: »Sie haben mir den Befehl weggenommen.«

»Den Kerlen steckt noch die gestrige Geschichte in den Gliedern!« sagte der Wachtmeister mit finsterer Miene. »Ich will dir eine meiner Pistolen geben. Will man wieder den Übergang erzwingen, so schieße sie in die Luft ab. Ich werde kommen, oder der Oberst wird selbst erscheinen.« Fabrizzio hatte sehr wohl bemerkt, daß der Wachtmeister bei der Meldung von der Wegnahme des Befehls eine empörte Gebärde gemacht hatte. Er begriff, daß man ihm einen persönlichen Schimpf angetan hatte, und er gelobte sich, sich nicht wieder zum besten halten zu lassen.

Mit der Sattelpistole des Wachtmeisters bewaffnet, nahm Fabrizzio seinen Posten stolz wieder ein. Da sah er sieben berittene Husaren anreiten. Er hatte sich so aufgestellt, daß er die Brücke sperrte. Er teilte ihnen den Befehl des Obersten mit. Die Reiter sind wenig erbaut darüber. Der keckste versucht durchzukommen. Fabrizzio, eingedenk einer weisen Lehre seiner Freundin, der Marketenderin, die ihm einmal gesagt hatte, man müsse stechen und nicht hauen, senkt die Spitze seines langen Pallaschs und macht Miene, dem, der den Übergang erzwingen will, einen Stich beizubringen.

»Was, er will uns zu Leibe, der grüne Junge?« schreien die Husaren. »Als ob gestern nicht gerade genug von uns gefallen wären!«

Alle miteinander ziehen ihre Säbel und stürmen auf Fabrizzio ein. Er hält sich für verloren, aber er denkt an die empörte Gebärde des Wachtmeisters und will nicht von neuem mißachtet werden.

Auf seine Brücke zu weichend, trachtet er danach, zu stechen. Es sah drollig aus, wie er seinen langen geraden Säbel, einen Pallasch der schweren Reiter und viel zu schwer für ihn, handhabte, so daß die Husaren alsbald wußten, mit wem sie es zu tun hatten. Nun suchten sie ihn nicht zu verwunden, sondern ihm nur den Rock vom Leibe zu säbeln. So erhielt Fabrizzio drei bis vier flache Hiebe über die Arme. Er seinerseits, der Vorschrift der Marketenderin weiter getreu, stach tapfer darauf los. Unglücklicherweise verletzte er einen Husaren mit seiner Säbelspitze an der Hand. Äußerst ergrimmt, von so einem Soldaten verwundet worden zu sein, stach er als Antwort fest zu und traf Fabrizzio in den Oberschenkel. Der Stich ging um so tiefer, als das Pferd unseres Helden, statt dem Geplänkel zu entfliehen, offenbar Gefallen daran fand und den Angreifern entgegendrängte. Als diese das Blut an Fabrizzios rechtem Bein herabrinnen sahen, ward ihnen bange, den Scherz zu weit getrieben zu haben. Sie drückten ihn gegen das linke Brückengeländer und machten sich im Galopp davon. Sobald Fabrizzio frei war, schoß er seine Pistole in die Luft ab, um den Obersten zu rufen.

Vier Husaren zu Pferd und zwei zu Fuß vom selben Regiment wie die früheren näherten sich der Brücke und waren noch zweihundert Schritt davon entfernt, als der Pistolenschuß fiel. Sie hatten den Vorgang auf der Brücke von weitem genauestens beobachtet, und in der Annahme, Fabrizzio hätte auf ihre Kameraden geschossen, sprengten die vier Berittenen mit ausgelegten Säbeln auf ihn los. Es war ein regelrechter Angriff.

Durch den Pistolenschuß aufgeschreckt, trat der Oberst Lebaron eilends aus der Tür des Gasthofes und war gerade in dem Augenblick auf der Brücke, als die Husaren angeritten kamen. Er befahl ihnen persönlich Halt.

»Hier gibts keinen Oberst mehr!« rief einer von den vieren und drückte sein Pferd vorwärts.

Außer sich vor Zorn, hielt der Oberst in seinen Vorhaltungen inne und ergriff mit seiner rechten verwundeten Hand den rechten Zügel dieses Reiters.

»Halt, Saukerl!« rief er dem Husaren zu. »Ich kenne dich. Du bist von der Schwadron des Rittmeisters Henriet!«

»Dann mag mir der Rittmeister selber den Befehl geben! Rittmeister Henriet ist gestern gefallen und wird dir eins pfeifen!« höhnte der Husar.

Bei diesen Worten will er den Übergang erzwingen und überreitet den alten Oberst, so daß er auf den Brückenbelag stürzt, wo er sitzen bleibt. Fabrizzio, der zwei Schritt hinter ihm auf der Brücke steht, auf der dem Gasthof entgegengesetzten Seite, treibt sein Pferd an. Während das Pferd, das der Oberst krampfhaft am Zügel festhält, diesen ganz umwirft, bringt der empörte Fabrizzio dem Husaren einen festen Säbelstich bei. Zu seinem Glück macht das Pferd, von dem stürzenden Oberst am Zügel gezerrt, eine Wendung zur Seite, so daß die lange Klinge von Fabrizzios schwerem Reitersäbel an der Husarenjacke abgleitet. In seiner Wut wendet sich der Husar gegen ihn und versetzt ihm mit aller Kraft einen Hieb, der das Ärmeltuch zerschneidet und tief in den Arm dringt. Unser Held fällt.

Einer der unberittenen Husaren sieht die beiden Brückenverteidiger am Boden liegen, benutzt die Gelegenheit, schwingt sich auf Fabrizzios Pferd und will es eben in Galopp setzen. Der Wachtmeister ist inzwischen aus dem Gasthof herbeigeeilt, weil er seinen Oberst hat fallen sehen und ihn schwer verletzt glaubt. Er rennt dem Pferde Fabrizzios nach und stößt seine Säbelspitze dem Räuber in die Lenden. Der fällt.

Als die übrigen Husaren nur noch den Wachtmeister auf der Brücke stehen sehen, reiten sie im Galopp darüber weg und verschwinden schleunigst. Der zu Fuß flieht in die Felder.

Der Wachtmeister ging zu den Verwundeten. Fabrizzio war bereits wieder auf den Beinen. Die Wunde schmerzte nicht weiter, blutete jedoch stark. Der Oberst erhob sich nur mühsam; sein Sturz hatte ihn betäubt, aber er war nicht verletzt.

»Ich habe keine Schmerzen,« sagte er zum Wachtmeister, »nur in meiner alten Wunde an der Hand.«

Der vom Wachtmeister verwundete Husar starb.

»Zum Teufel mit ihm!« rief der Oberst, und zum Wachtmeister und den anderen beiden herbeikommenden Reitern gewandt, fügte er hinzu: »Sorgt nur für den jungen Kerl da, dem es so übel ergangen ist durch meine Schuld! Ich will selber auf der Brücke bleiben und versuchen, die Tollgewordenen aufzuhalten. Führt den jungen Mann in den Gasthof und verbindet ihm den Arm! Nehmt eins von meinen Hemden!«


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