Stendhal
Die Kartause von Parma
Stendhal

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Fünftes Kapitel

Das ganze Abenteuer hatte keine Minute gedauert. Fabrizzios Wunden waren unbedeutend. Man verband ihm den Arm mit Leinwandstreifen, die aus dem Hemd des Obersts geschnitten wurden, und wollte ihm ein Lager im Obergeschoß des Gasthofs bereiten.

»Aber während ich hier in der Oberstube aufgepäppelt werde,« sagte Fabrizzio zum Wachtmeister, »wird sich mein Pferd unten im Stall allein langweilen und mit einem anderen Herrn auf und davon gehen.«

»Gar nicht übel für einen Rekruten!« meinte der Wachtmeister.

Man bettete Fabrizzio auf frisches Stroh in demselben Stand, wo sein Pferd angebunden war. Da er sich sehr schwach fühlte, brachte ihm der Wachtmeister einen Becher Glühwein und unterhielt sich ein wenig mit ihm. Ein paar in die Unterhaltung eingeflochtene Lobsprüche versetzten unseren Helden in den siebenten Himmel.

Der Morgen graute schon, als Fabrizzio erwachte. Die Pferde wieherten unablässig und machten schrecklichen Lärm. Der Stall war voller Rauch. Zunächst begriff Fabrizzio die Unruhe nicht. Er besann sich kaum, wo er sei. Schließlich, halb erstickt vom Qualm, kam er auf den Gedanken, das Haus müsse brennen. Im Nu war er aus dem Stall und aufgesessen. Er hielt Umschau. Mächtiger Rauch quoll aus den beiden Fenstern über dem Stall, und das ganze Dach stak in wirbelndem, schwarzem Qualm. Etwa hundert Flüchtlinge waren nachts im Weißen Roß angelangt. Alles schrie und fluchte. Die fünf oder sechs, die Fabrizzio am nächsten standen, waren offenbar sinnlos betrunken. Einer von ihnen wollte ihn festnehmen und brüllte ihn an: »Wohin willst du mit meinem Gaul?«

Als Fabrizzio eine Viertelstunde geritten war, wandte er sich um. Kein Mensch war ihm gefolgt. Der Gasthof stand in Flammen. In der Ferne sah Fabrizzio die Brücke. Er begann seine Wunde zu fühlen. Der Verband drückte, und der Arm war ganz heiß. ›Was mag aus dem alten Oberst geworden sein?‹ dachte er. ›Er hat sein Hemd hergegeben, damit mein Arm verbunden würde.‹

Unser Held war an diesem Morgen wundervoll kaltblütig. Der starke Blutverlust hatte ihm die ganze Romantik seines Wesens genommen.

›Nach rechts,‹ sagte er sich, ›und weg von hier!‹ Gemächlich begann er den Fluß entlang zu reiten, der unterhalb der Brücke nach rechts von der Straße fortfloß. Die Ratschläge der guten Marketenderin fielen ihm wieder ein. ›Das war Freundschaft!‹ sagte er sich. ›Was für ein ehrlicher Charakter!‹

Nach einer Stunde Wegs fühlte er sich sehr matt. ›Ach, ob ich ohnmächtig werde?‹ sagte er sich. ›Wenn ich ohnmächtig werde, wird man mir mein Pferd rauben und vielleicht meine Kleider und damit mein Hab und Gut.‹ Er hatte nicht mehr die Kraft, die Zügel zu halten, und saß nur noch mühsam aufrecht. Da kam ein Bauer, der auf einem Felde dicht an der Straße gearbeitet und seine Blässe bemerkt hatte, und bot ihm ein Glas Bier und ein Stück Brot an.

»Als ich Sie so bleich sah, habe ich mir gleich gedacht, daß Sie einer der Verwundeten aus der großen Schlacht sind«, sagte der Landmann zu ihm. Nie kam Hilfe gelegener. Im Augenblick, da Fabrizzio in das Stück Schwarzbrot biß, begann es ihm vor den Augen zu flimmern.

Als er sich ein wenig erholt hatte, bedankte er sich.

»Und wo bin ich?« fragte er.

Der Bauer sagte ihm, daß er noch drei Viertelstunden vom Marktflecken Zoonders entfernt sei, wo er gute Pflege finden werde.

Fabrizzio erreichte den Ort, ohne zu wissen, wie; bei jedem Schritt fürchtete er, vom Pferde zu fallen. Er erblickte ein weites, offenes Tor und ritt hinein. Es war der ›Gasthof zur Prelle‹. Alsbald kam die gutmütige Wirtin, ein Riesenweib, herbei. Voller Mitleid rief sie nach ihren Leuten. Zwei junge Mädchen halfen Fabrizzio aus dem Sattel. Kaum war er vom Pferd herunter, als er die Besinnung gänzlich verlor. Ein Arzt wurde gerufen; man ließ ihn zur Ader. Diesen und die folgenden Tage wußte Fabrizzio nicht, was ihm geschah; er schlief fast ununterbrochen.

Die Stichwunde im Schenkel drohte bedenklich zu eitern. Als er wieder bei Besinnung war, legte er den Leuten die Pflege seines Pferdes ans Herz und wiederholte öfters, daß er gut zahlen werde. Das kränkte die gute Wirtin und ihre Töchter.

Vierzehn Tage lang wurde er bewundernswürdig gepflegt. Er begann wieder klarere Gedanken zu haben. Da bemerkte er eines Abends, daß seine Wirtsleute sehr verstört aussahen. Bald darauf trat ein deutscher Offizier in die Stube. Um ihm zu antworten, bediente man sich einer Sprache, die Fabrizzio nicht verstand, aber er merkte sehr wohl, daß die Rede von ihm war. Er tat, als ob er schliefe. Eine Weile darauf, als er dachte, der Offizier könne fort sein, rief er seine Wirtsleute.

»Hat mich der Offizier nicht eben in eine Liste eingetragen und mich für kriegsgefangen erklärt?«

Die Wirtin gab es mit Tränen in den Augen zu.

»Gut! In meiner Attila steckt Geld!« rief er und richtete sich in seinem Bett auf. »Kaufen Sie mir Zivilkleider! Ich will heute nacht auf meinem Pferde davonreiten. Sie haben mir bereits einmal das Leben gerettet, als Sie mich in einem Augenblick aufnahmen, da ich nahe daran war, auf der Straße umzufallen. Retten Sie es mir ein zweites Mal, indem Sie mir behilflich sind, zu meiner Mutter zurückzukehren.«

Da wollten die Töchter der Wirtin in Tränen zerfließen; sie zitterten für Fabrizzio, und da sie einige Brocken Französisch konnten, setzten sie sich an sein Bett und richteten allerlei Fragen an ihn. Mit ihrer Mutter besprachen sie sich auf flämisch, wobei sie sich fortwährend mit zärtlichen Blicken nach unserem Helden umwandten. Er glaubte zu verstehen, daß ihnen seine Flucht große Unannehmlichkeiten bereiten könne, sie es jedoch gern darauf ankommen lassen wollten. Er dankte ihnen in überschwenglichen Worten und faltete dabei die Hände. Ein Jude im Ort besorgte einen vollständigen Anzug. Aber als er ihn gegen zehn Uhr abends brachte und die jungen Mädchen den Zivilrock mit seiner Uniform verglichen, stellte es sich heraus, daß er viel zu weit war. Sogleich gingen sie an die Arbeit des Engernähens. Es gab keine Zeit zu verlieren. Fabrizzio bezeichnete die Stellen seiner Attila, wo Napoleons verborgen staken, und bat seine Wirtsleute, sie in die neuen Kleidungsstücke einzunähen. Zugleich mit dem Anzug war ein schönes Paar neuer Stiefel gebracht worden. Fabrizzio trug kein Bedenken, die Mädchen zu bitten, die Schäfte der Husarenstiefel an der Stelle aufzuschneiden, die er ihnen angab, und seine kleinen Brillanten im Futter der neuen Stiefel zu verbergen.

Durch eine seltsame Wirkung des Blutverlustes und des daraus folgenden Schwächezustandes hatte Fabrizzio sein ganzes Französisch vergessen. Er redete mit seinen Wirtsleuten italienisch, und diese antworteten in ihrer flämischen Mundart. So vermochten sie sich fast nur durch Zeichen zu verständigen. Als die jungen Mädchen, die übrigens nicht im geringsten an Eigennutz dachten, die Edelsteine erblickten, kannte ihre Schwärmerei für Fabrizzio keine Grenzen mehr. Sie hielten ihn für einen verkappten Prinzen. Ännchen, die Jüngere, umarmte ihn schlankweg.

Fabrizzio seinerseits fand die Mädchen reizend, und um Mitternacht, als er nach der Vorschrift des Arztes einen Schluck Wein als Stärkung für die bevorstehende Reise nahm, hatte er geradezu Lust, nicht abzureisen. ›Wo wäre ich besser aufgehoben als hier?› fragte er sich. Gleichwohl kleidete er sich gegen zwei Uhr morgens an. Im Augenblick, da er aus seiner Stube trat, sagte ihm die Wirtin, daß sein Pferd von dem Offizier, der vor ein paar Stunden das Haus durchsucht hatte, mit weggeführt worden sei.

»O der Hundsfott!« fluchte Fabrizzio. »Einem Verwundeten sein Pferd zu stehlen!« Der junge Italiener war nicht Philosoph genug, daran zu denken, zu welchem Preis er selber dieses Pferd erstanden hatte.

Ännchen berichtete ihm weinend, man habe ihm ein anderes Pferd gemietet. Am liebsten hätte sie es gehabt, daß er dabliebe. Der Abschied war zärtlich. Zwei kräftige Burschen, Verwandte der guten Wirtin, halfen Fabrizzio in den Sattel. Unterwegs stützten sie ihn auf seinem Pferd, während ein dritter der kleinen Karawane einige hundert Schritt vorausritt und ausspähte, ob sich keine verdächtige Streife nahe.

Nach einem zweistündigen Ritt machte man bei einer Base der Wirtin ›zur Prelle‹ Halt. Was auch Fabrizzio einwenden mochte, die jungen Männer, die ihn begleiteten, wollten ihn um keinen Preis verlassen; sie behaupteten, kein Mensch kenne die Waldwege so gut wie sie.

»Aber wenn man in der Frühe meine Flucht entdeckt und euch vermißt, so wird euch euere Abwesenheit Ungelegenheiten bereiten«, meinte Fabrizzio.

Man setzte den Marsch fort. Zum Glück war die Ebene, als der Tag graute, mit dichtem Nebel bedeckt. Gegen acht Uhr morgens erreichte man eine kleine Stadt. Einer der jungen Männer ritt voraus, um zu erkunden, ob die Postpferde geraubt seien. Der Posthalter hatte Zeit gehabt, sie verschwinden zu lassen und elende Schinder aufzutreiben, die nun seine Ställe zierten. Man holte zwei Pferde zurück aus dem Sumpf, wo sie versteckt waren, und drei Stunden später stieg Fabrizzio in einen zwar morschen, aber mit zwei guten Postpferden bespannten leichten Wagen. Er fühlte sich wieder bei Kräften. Die Trennung von den beiden jungen Männern war ungemein rührend. Welchen liebenswürdigen Vorwand Fabrizzio auch ersinnen mochte, um keinen Preis nahmen sie Geld an.

»In Ihrer Lage, mein Herr, haben Sie es nötiger als wir«, erwiderten die biederen jungen Leute immer wieder. Schließlich schieden sie von Fabrizzio. Er gab ihnen Briefe mit, in denen er, durch die Aufregung der Reise begeistert, den Versuch machte, seinen Wirtsleuten zu sagen, wie sehr er sich in ihrer Schuld fühle. Fabrizzio hatte mit tränenden Augen geschrieben, und aus dem an Ännchen gerichteten Brief sprach wirklich etwas Liebe.

Die weitere Reise brachte nichts Besonderes. Als er in Amiens anlangte, begann die Stichwunde im Oberschenkel von neuem tüchtig zu schmerzen. Der Landarzt hatte es unterlassen, die Wunde ordentlich zu reinigen, und so hatte sich trotz dem Aderlasse ein Eiterherd gebildet. Während der vierzehn Tage, die Fabrizzio in Amiens in einem Gasthof bei liebedienerischen und habsüchtigen Leuten zubrachte, drangen die Verbündeten in Frankreich ein. Fabrizzio ward geradezu ein anderer Mensch, so tief grübelte er über die Dinge nach, die er in der letzten Zeit erlebt hatte. Nur in einem Punkte war er ein Kind geblieben: War das, was er gesehen hatte, eine Schlacht? Und war diese Schlacht die von Waterloo?

Zum ersten Male in seinem Leben empfand er Vergnügen beim Lesen; immer hoffte er, in den Zeitungen oder in den Schlachtberichten irgendeine Schilderung zu finden, in der er die Gegend wiedererkannte, die er im Gefolge des Marschalls Ney und später mit dem anderen General durchritten hatte.

Während seiner Rast in Amiens schrieb er fast alle Tage an seine lieben Freunde in der ›Prelle‹. Sobald er hergestellt war, ging er nach Paris, wo er in seinem früheren Hotel zwanzig Briefe von seiner Mutter und seiner Tante vorfand, die ihn inständig baten, so schnell wie möglich heimzukehren. Der letzte Brief der Gräfin Pietranera enthielt eine gewisse rätselhafte Stelle, die ihn stark beunruhigte. Sie vernichtete alle seine zärtlichen Träumereien. Bei Menschen seines Schlages ist ein einziges Wort imstande, sie zum größten Schwarzseher zu machen. Seine rege Phantasie malte sich alsbald ein Unglück mit den gräßlichsten Einzelheiten aus. ›Hüte Dich wohl,‹ schrieb die Gräfin, ›die Briefe, in denen Du uns Nachrichten von Dir gibst, mit Deinem Namen zu zeichnen. Auf der Heimreise darfst Du nicht gleich über den Comer See kommen; bleibe zunächst in Lugano auf Schweizer Boden ...‹ Er sollte in dieser kleinen Stadt unter dem Namen Cavi rasten; dort würde er im besten Gasthof den Kammerdiener der Gräfin vorfinden, von dem er weitere Verhaltungsmaßregeln erhalte. Seine Tante schloß mit folgenden Worten: ›Mit allen nur möglichen Mitteln verbirg die Torheit, die Du begangen hast. Und trage vor allen Dingen keinerlei bedruckte oder beschriebene Papiere bei Dir. In der Schweiz wirst Du von Freunden der Santa MargheritaSanta Margherita: Silvio Pellico hat diesem Namen europäischen Ruf verliehen; es ist der jener Straße in Mailand, wo sich der Polizeipalast und das Gefängnis befinden. (Stendhal.) umringt sein. Sobald ich genug Geld habe, werde ich jemanden nach Genf in das ,Hôtel des Balances' schicken, durch den Du Einzelheiten erfahren wirst. Ich kann sie Dir jetzt nicht mitteilen. Du mußt sie aber wissen, ehe Du ankommst. Aber um Gottes willen, verweile keinen Tag länger in Paris! Du würdest dort von unseren Spionen erkannt.‹

Die seltsamsten Bilder spukten in Fabrizzios Kopf, und er war zu jedem anderen Zeitvertreib unfähig, außer zu dem, darüber nachzugrübeln, was seine Tante ihm so Wichtiges mitzuteilen habe.

Auf seiner Fahrt durch Frankreich wurde er zweimal angehalten, aber er wußte sich durchzuschwindeln. Diese Unannehmlichkeiten verdankte er seinem italienischen Paß und seiner sonderbaren Eigenschaft als Barometerhändler, zu der sein jugendliches Gesicht und sein verbundener Arm nicht gerade paßten.

Endlich fand er in Genf einen Mann aus der Dienerschaft der Gräfin, der ihm erzählte, daß er, Fabrizzio, bei der Mailänder Polizei angezeigt sei, und zwar, weil er Napoleon Vorschläge zu einer großen, sich über das ganze ehemalige Königreich Italien erstreckenden Verschwörung überbracht habe. Wozu, hieß es in der Anzeige weiter, habe er sonst auf seiner Reise einen falschen Namen angenommen? Seine Mutter wolle versuchen, den wahren Sachverhalt zu beweisen, das heißt, erstens, daß er niemals die Schweiz verlassen, zweitens, daß er das Schloß urplötzlich nach einem Zwist mit seinem älteren Bruder verlassen habe.

Bei dieser Nachricht überkam Fabrizzio ein stolzes Gefühl. »Ich soll eine Art Gesandter bei Napoleon gewesen sein!« sagte er sich. »Ich soll die Ehre gehabt haben, mit diesem großen Mann zu sprechen! Hätte es Gott so gefallen!« Er erinnerte sich, daß sein Vorfahr in der siebenten Generation, der Enkel jenes Dongo, der im Gefolge Sforzas nach Mailand gekommen war, die Ehre gehabt hatte, von den Feinden des Herzogs erwischt und geköpft zu werden, als er nach der Schweiz ging, um den löblichen Kantonen Vorschläge zu machen und Truppen zu werben. Vor seinem geistigen Auge erschien jener Stich aus der Chronik seiner Familie, der sich auf dieses Geschehnis bezog. Als er den Kammerdiener ausfragte, merkte er, daß dieser über eine Einzelheit besonders aufgebracht war, die ihm schließlich trotz dem ausdrücklichen und mehrfach eingeschärften Verbote der Gräfin entschlüpfte, nämlich, daß es Ascanio, sein älterer Bruder, gewesen sei, der ihn bei der Mailänder Polizei verleumdet habe. Diese grausame Kunde verursachte bei unserem Helden eine Art Tobsuchtsanfall.

Um von Genf nach Italien zu kommen, muß man über Lausanne. Fabrizzio wäre am liebsten auf der Stelle zu Fuß aufgebrochen und wäre zehn bis zwölf Meilen marschiert, obwohl die Post von Genf nach Lausanne schon in zwei Stunden abfahren mußte. Zu guter Letzt geriet er in einem der traurigen Genfer Kaffeehäuser noch mit einem jungen Menschen in Streit, der ihn, wie er sagte, sonderbar angesehen habe. Und das stimmte durchaus. Der phlegmatische und vernünftige Genfer, der an nichts dachte als an Geld, hielt ihn für verrückt. Beim Eintritt in das Kaffeehaus hatte Fabrizzio wilde Blicke nach allen Seiten geworfen und dann die Tasse Kaffee, die man ihm brachte, über seine Beinkleider verschüttet. Bei dem Wortwechsel entsprach Fabrizzios erste Bewegung ganz dem Cinquecento. Statt den jungen Genfer einfach zu fordern, zog er seinen Dolch und warf sich auf ihn, um ihn zu erstechen. In diesem Augenblick der Leidenschaft vergaß er alles, was er vom Ehrenkodex gelernt hatte, und folgte nur dem Instinkt oder, besser gesagt, den Erinnerungen seiner Kindertage.

Der Vertrauensmann, den er in Lugano traf, schürte seine Wut durch neue Einzelheiten noch mehr. Beliebt, wie Fabrizzio in Grianta war, hätte ohne das liebenswürdige Vorgehen seines Bruders kein Mensch seinen Namen erwähnt. Jedermann hätte getan, als wisse er ihn in Mailand, und nie wäre die Mailänder Polizei auf seine Abwesenheit aufmerksam geworden.

»Zweifellos haben die Zollbeamten Ihren Steckbrief,« sagte der Bote seiner Tante zu ihm, »und wenn Sie auf der Hauptstraße reisen, werden Sie an der Grenze des lombardo-venezianischen Königreichs festgenommen.«

Fabrizzio und seine Leute kannten in den Bergen zwischen Lugano und dem Comer See jeden Weg und Steg.

Sie verkleideten sich als Jäger, das heißt als Schmuggler, und da sie ihrer drei waren und recht energische Mienen zur Schau trugen, begnügten sich die Grenzwächter, die ihnen begegneten, mit einem Gruß. Fabrizzio richtete es so ein, daß er das Schloß erst gegen Mitternacht erreichte. Um diese Stunde waren sein Vater und die gepuderten Bedienten schon lange schlafen gegangen. Mühelos kletterte er in den tiefen Graben und stieg durch ein kleines Kellerfenster in das Schloß, wo er von seiner Mutter und seiner Tante erwartet wurde. Bald kamen seine Schwestern herbeigeeilt. Die Zärtlichkeitsergüsse und Tränen wollten nicht aufhören, und kaum begann man sich vernünftig zu unterhalten, als die ersten Strahlen der Morgensonne diese Menschen, die sich nun nicht mehr für unglücklich hielten, an die Flüchtigkeit der Zeit mahnten.

»Vermutlich hat dein Bruder keine Ahnung von deiner Heimkehr«, sagte die Pietranera zu ihm. »Ich habe seit seiner schönen Tat kein Wort mehr mit ihm gesprochen, wofür mir seine Eigenliebe die Ehre erwiesen hat, beleidigt zu sein. Heute beim Abendessen habe ich geruht, das Wort an ihn zu richten. Ich mußte einen Vorwand finden, um meine tolle Freude zu bemänteln, die ihn hätte argwöhnisch machen können. Als ich dann bemerkte, daß er auf diese scheinbare Aussöhnung ganz stolz war, habe ich mir sein Behagen zunutze gemacht und ihn über die Maßen zum Trinken verleitet. Sicherlich hat er heute nicht daran gedacht, sich auf die Lauer zu legen, um sein Spionieren fortzusetzen.«

»Wir müssen unseren Husaren in deinen Gemächern verbergen«, rief die Marchesa. »Er kann nicht sogleich wieder abreisen. Für den ersten Augenblick sind wir nicht genügend Herr unseres Denkens, und doch handelt es sich darum, die schreckliche Mailänder Polizei auf die beste Art zu beschwichtigen.«

Man befolgte ihren Vorschlag, aber es fiel dem Marchese und seinem ältesten Sohne tags darauf doch auf, daß die Marchesa ununterbrochen im Zimmer ihrer Schwägerin weilte.

Wir wollen uns nicht dabei aufhalten, den zärtlichen Freudenrausch zu schildern, der an diesem Tage jene glücklichen Wesen beseelte. Die italienischen Herzen werden viel mehr als unsere von Argwohn und törichten Gedanken gequält, die ihnen eine feurige Einbildungsgabe heraufbeschwört, dafür aber sind ihre Freuden inniger und währen länger. Jenen ganzen Tag über waren die Gräfin und die Marchesa vollkommen bar aller Vernunft. Sie nötigten Fabrizzio, seinen ganzen Bericht noch einmal zum besten zu geben. Schließlich kam man überein, die allgemeine Freude in Mailand weiter zu genießen, da es allzu schwierig dünkte, sie vor den Späheraugen des Marchese und seines Sohnes Ascanio länger zu verbergen.

Man nahm die gewöhnliche Barke des Hauses und fuhr nach Como. Anders zu handeln, hätte tausendfachen Verdacht erweckt. Als sie in Como anlegten, tat die Marchesa so, als ob sie in Grianta Papiere von größter Wichtigkeit vergessen hätte. Schnell schickte sie die Ruderknechte dahin zurück, so daß diese Leute keinerlei Beobachtungen darüber anstellen konnten, auf welche Weise die beiden Damen ihre Zeit in Como verbrachten. Kaum angekommen, mieteten sie auf gut Glück einen Wagen, wie sie an dem bekannten hohen mittelalterlichen Turm über dem Mailänder Tor auf Fahrgäste zu warten pflegen. Unverzüglich fuhr man ab, ohne daß der Kutscher Zeit hatte, mit irgendwem ein Wort zu wechseln. Eine Viertelstunde vor der Stadt begegnete den Damen ein Jäger, den sie kannten und der ihnen, da die Damen keinen männlichen Begleiter hatten, seine Ritterdienste bis an die Tore von Mailand anbot, wohin er einen Jagdausflug machte. Alles ging gut, und die Damen plauderten mit dem jungen Mann auf das vergnügteste, als an einer Biegung der Landstraße um den entzückenden Hügel und das Wäldchen von San Giovanni drei verkleidete Gendarmen den Pferden in die Zügel fielen.

»Ach, mein Mann hat uns verraten!« rief die Marchesa und ward ohnmächtig. Ein Wachtmeister, der ein wenig zurückgeblieben war, trat stolpernd an den Wagenschlag und sagte mit einer Stimme, als ob er aus dem Wirtshaus käme:

»Ich bedauere den Auftrag, den ich zu erfüllen habe, aber ich verhafte Sie, Herr General Fabio Conti!«

Fabrizzio glaubte, der Wachtmeister mache einen schlechten Witz, indem er ihn mit General anredete.

›Das soll dir teuer zu stehen kommen!‹ sagte er sich. Er beobachtete die verkleideten Gendarmen und spähte nach einem günstigen Augenblick, um aus dem Wagen herauszuspringen und sich in die Felder zu retten.

Die Gräfin lächelte keck darauflos und sagte dann zu dem Wachtmeister:

»Bester Herr Wachtmeister, halten Sie diesen sechzehnjährigen Jungen für den General Conti?«

»Sind Sie nicht die Tochter des Generals?« fragte der Wachtmeister.

»Sehen Sie sich meinen Vater an!« scherzte die Gräfin und wies auf Fabrizzio. Die Gendarmen brachen in ein tolles Gelächter aus.

»Zeigen Sie Ihre Pässe vor und reden Sie nicht!« befahl der Wachtmeister, den die allgemeine Heiterkeit ärgerte.

»Die Damen nehmen nie Pässe mit, wenn sie nach Mailand fahren«, sagte der Kutscher mit kalter Philosophenmiene. »Sie kommen von ihrem Schloß Grianta. Das hier ist die Frau Gräfin Pietranera und das die Frau Marchesa del Dongo.«

Gänzlich außer Fassung gebracht, lief der Wachtmeister vor die Pferde des Wagens und beriet sich dort mit seinen Leuten. Diese Beratung dauerte schon reichlich fünf Minuten, als die Gräfin Pietranera die Herren um Erlaubnis bat, daß der Wagen ein paar Schritte weiter in den Schatten fahre. Die Hitze war drückend, obgleich es erst elf Uhr war. Fabrizzio blickte sich sehr aufmerksam um, ob sich nicht ein Weg zur Flucht böte, da sah er auf einem Seitenpfad, der durch die Felder führte, ein junges Mädchen der staubigen Landstraße zuschreiten. Es mochte vierzehn bis fünfzehn Jahre alt sein und weinte ängstlich in das vorgehaltene Taschentuch. Zwei Gendarmen in Uniform begleiteten es; hinterher schritt, ebenfalls zwischen zwei Gendarmen, ein großer, magerer Herr, gravitätisch wie ein hoher Staatsbeamter, der einer Prozession folgt.

»Wo habt ihr denn die erwischt?« rief der in diesem Augenblick gänzlich verwirrte Wachtmeister.

»Sie liefen querfeldein und ohne Paß.«

Der Wachtmeister war sichtlich nahe daran, seinen Verstand zu verlieren; statt der zwei Gefangenen, die er haben sollte, standen fünf vor ihm. Er ging ein paar Schritte seitwärts und ließ nur einen seiner Leute zurück, den Verhafteten mit dem würdevollen Gebaren zu bewachen, dazu einen, um die Pferde am Weiterfahren zu hindern.

»Bleib!« flüsterte die Gräfin Fabrizzio zu, der schon aus dem Wagen gesprungen war. »Es wird sich alles machen.«

Sie hörte einen der Gendarmen rufen: »Ach was! Wenn sie keine Pässe haben, sind sie allemal ein guter Fang!«

Der Wachtmeister schien nicht ganz so entschlossen. Der Name der Gräfin Pietranera verursachte ihm Bedenken. Er kannte den General, wußte aber nicht, daß er gestorben war. ›Der General ist nicht der Mann, der mit sich spaßen läßt, wenn ich seine Frau ohne Grund festnehme‹, sagte er sich.

Während diese Beratung fortdauerte, spann die Gräfin ein Gespräch mit dem jungen Mädchen an, das neben dem Wagen im Straßenstaub stand; seine Schönheit fiel ihr außerordentlich auf.

»Sie werden einen Sonnenstich bekommen, Signorina«, sagte sie, und halb zu dem Gendarmen gewandt, der die Pferde bewachte: »Der brave Soldat wird wohl nichts dagegen haben, wenn Sie in den Wagen steigen.«

Fabrizzio, der um den Wagen herumschlich, sprang schnell herbei, um der jungen Dame beim Einsteigen behilflich zu sein. Sie hatte schon einen Fuß auf den Wagentritt gesetzt, und Fabrizzio stützte ihr den Arm beim Einsteigen, als der große Mann, der sechs Schritt hinter dem Wagen stand, sie mit einer Stimme, die gebieterisch klingen sollte, anbrüllte: »Bleib auf der Straße! Der Wagen gehört uns nicht. Wie kannst du einsteigen?« Fabrizzio hatte diesen Befehl überhört; das junge Mädchen wollte, statt in den Wagen zu steigen, zurücktreten. Als Fabrizzio es weiterhin stützte, fiel es in seine Arme. Er lächelte, und das Mädchen errötete tief. Es löste sich aus seinen Armen, und einen Augenblick sahen sie sich gegenseitig an.

›Das wäre eine reizende Gefängnisgenossin‹, sagte sich Fabrizzio. ›Welche Versonnenheit hinter dieser Stirn! Sie muß zu lieben verstehen!‹

Der Wachtmeister kam gewichtig heran und fragte: »Welche von den Damen heißt Clelia Conti?«

»Ich«, sagte das junge Mädchen.

»Und ich«, setzte der alte Herr hinzu, »bin der General Fabio Conti, Kammerherr Seiner Hoheit des Fürsten von Parma. Ich finde es im höchsten Grade unziemlich, daß ein Mann meines Standes wie ein Dieb behandelt wird.«

»Als Sie sich vorgestern im Hafen von Como einschifften, haben Sie da nicht den Polizeiinspektor, der nach Ihrem Paß fragte, grob abgewiesen ? Nun, heute vergilt ers.«

»Mein Boot war schon abgestoßen. Ich hatte Eile. Ein Unwetter war im Anzug. Ein Mann ohne Uniform rief mir vom Staden zu, ich sollte in den Hafen zurückkehren. Ich habe ihm meinen Namen zugerufen und meine Fahrt fortgesetzt.«

»Und diesen Morgen haben Sie sich aus Como gedrückt?«

»Ein Mann wie ich braucht keinen Paß, um von Mailand aus den Comer See zu besuchen. Heute morgen sagte man mir in Como, ich werde am Tor angehalten werden. Ich bin mit meiner Tochter zu Fuß weggegangen, in der Hoffnung, auf der Straße irgendeinen Wagen zu treffen, der uns nach Mailand brächte, wo ich sicherlich meinen ersten Besuch dem Kommandierenden General mache, um mich zu beschweren.«

Der Wachtmeister war zweifellos eine große Sorge los.

»Sehr wohl, Herr General! Sie sind verhaftet und folgen mir nach Mailand! – Und Sie, wer sind Sie?« fragte er Fabrizzio.

»Mein Sohn,« warf die Gräfin rasch ein, »Ascanio, Sohn des Generalleutnants Pietranera.«

»Ohne Paß, Frau Gräfin?« fragte der Wachtmeister sehr höflich.

»In seinem Alter hat er noch nie einen gehabt; er reist niemals allein, sondern stets mit mir.«

Während dieses Gesprächs zeigte sich der General Conti den Gendarmen gegenüber mehr und mehr in seiner Würde gekränkt.

»Kein Wort weiter!« rief einer von ihnen. »Sie sind verhaftet, und damit basta!«

»Danken Sie noch Ihrem Schöpfer,« sagte der Wachtmeister, »daß wir Ihnen erlauben, sich irgendein Bauernpferd zu mieten; andernfalls marschieren Sie trotz Staub und Hitze und trotz Ihrem Range als Kammerherr von Parma ganz einfach zu Fuß zwischen unseren Pferden!« Der General begann zu fluchen.

»Wollt Ihr wohl ruhig sein?« wiederholte der Gendarm. »Ich sehe keine Generalsuniform. Da könnte jeder kommen und sagen, er sei General.«

Der General erboste sich noch mehr. Unterdessen hatten sich die Umstände im Wagen bedeutend gebessert. Die Gräfin behandelte die Gendarmen, als ob sie ihre Dienstboten wären. Sie gab einem einen Taler, er solle aus einem Bauerngut, das man in einer Entfernung von zweihundert Schritt liegen sah, eine Flasche Wein und vor allen Dingen frisches Wasser holen. Es war ihr auch gelungen, Fabrizzio zu beruhigen, der darauf bestanden hatte, sich in das Gehölz auf dem Hügel zu retten. »Ich habe gute Pistolen!« hatte er gesagt. Dann setzte sie bei dem wütenden General durch, daß seine Tochter im Wagen Platz nehmen durfte. Bei dieser Gelegenheit erzählte der General, der gern von sich und seiner Familie sprach, den Damen, daß seine Tochter erst zwölf Jahre alt sei; sie sei am 27. Oktober 1803 geboren, aber alle Welt halte sie für vierzehn oder fünfzehn, so gescheit sei sie.

›Ein ganz gewöhnlicher Mensch!‹ sagten die Augen der Gräfin zur Marchesa. Der Gräfin war es zu danken, daß die Angelegenheit nach einstündiger Verhandlung ins reine kam. Ein Gendarm, der in einem Nachbardorfe zu tun hatte, lieh dem General Conti sein Pferd, nachdem ihm die Gräfin gesagt hatte: »Sie bekommen zehn Franken dafür!«

Der Wachtmeister ritt mit dem General weg; die anderen blieben unter einem Baum in Gemeinschaft mit vier großen Flaschen Wein, die der nach dem Gehöft entsandte Gendarm mit Hilfe eines Bauern herbeigebracht hatte. Keiner dachte mehr daran, den Sohn des braven Generals Grafen Pietranera festzunehmen.

Nach den ersten Augenblicken, die der Höflichkeit und der Erörterung des kleinen Zwischenfalls galten, bemerkte Clelia Conti, mit welchem Anflug von Begeisterung die schöne Gräfin mit Fabrizzio sprach; sicherlich war sie nicht seine Mutter. Ihre Aufmerksamkeit wurde besonders erregt durch wiederholte Anspielungen auf etwas Heldenhaftes, Tollkühnes, im höchsten Grade Gefahrvolles, das vor kurzem stattgefunden haben mußte; aber trotz ihrer Klugheit konnte die junge Clelia nicht erraten, worum es sich handelte.

Mit Verwunderung beobachtete sie den jungen Helden, dessen Augen noch das ganze Feuer der Tat zu sprühen schienen. Er seinerseits war ein wenig betroffen über die seltsame Schönheit des jungen zwölfjährigen Mädchens, das unter seinam Blick errötete.

Eine Wegstunde vor Mailand sagte Fabrizzio, er wolle seinen Onkel besuchen, und verabschiedete sich von den Damen.

»Wenn meine Sache günstig ausläuft,« sagte er zu Clelia, »so werde ich mir die schönen Gemälde in Parma ansehen, und vielleicht haben Sie dann die Gnade, sich meines Namens zu erinnern: Fabrizzio del Dongo.«

»Ausgezeichnet!« sagte die Gräfin. »Du verstehst dein Inkognito zu wahren! Signorina, erinnern Sie sich gütigst, daß dieser Schlingel mein Sohn ist und Pietranera, nicht del Dongo heißt!«

Abends, sehr spät, schlich sich Fabrizzio in Mailand durch die Porta Rense ein, die nach einer beliebten Promenade führt. Die Reise der beiden Diener nach der Schweiz hatte die sehr geringen Ersparnisse der Marchesa und ihrer Schwägerin erschöpft. Zum Glück besaß Fabrizzio noch ein paar Goldstücke und einen Diamanten, den man zu verkaufen beschloß.

Die Damen waren in der ganzen Stadt beliebt und bekannt. Die angesehensten Persönlichkeiten von der österreichischen regierungstreuen Partei verwandten sich zugunsten Fabrizzios beim Baron Binder, dem Polizeidirektor. Sie sagten, sie begriffen nicht, wie man den Streich eines sechzehnjährigen Jungen ernst nehmen könne, der sich mit seinem älteren Bruder zankt und ausreißt.

»Es ist mein Beruf, alles ernst zu nehmen«, antwortete mild der Baron Binder, ein kluger und griesgrämiger Mann. Er richtete damals die berüchtigte Mailänder Polizei ein und hatte sich verpflichtet, einer Revolution vorzubeugen wie der von 1746, die die Österreicher aus Genua verjagt hatte. Die Mailänder Polizei, die seitdem durch die Erlebnisse von Silvio PellicoSilvio Pellico (1789-1854), der Dichter der ›Francesca da Rimini‹, einer der Märtyrer des Risorgimentos. Von 1820 bis 1830 war er in Mailand, Venedig und schließlich auf dem berüchtigten Spielberg eingekerkert. Sein berühmtes Buch ›Le mie prigioni‹ (Meine Gefängnisse) ist 1833 erschienen. und Andryane so berühmt geworden ist, war nicht eigentlich grausam. Sie waltete verstandesgemäß und mitleidslos nach strengem Gesetz. Kaiser Franz II. wollte die kühne italienische Phantasie durch Schrecken lähmen.

»Geben Sie mir«, wiederholte der Baron Binder Fabrizzios Gönnern, »einen nachweisbaren Bericht, was der junge Marchesino del Dongo Tag für Tag getan hat. Verfolgen wir ihn vom Augenblick seiner Abreise aus Grianta, vom 8. März, bis zu seiner Ankunft gestern abend hier in der Stadt, wo er sich in der Wohnung seiner Mutter verborgen hält, und ich bin bereit, ihn als den liebenswürdigsten, wenn auch übermütigsten jungen Mann in Mailand zu behandeln. Wenn Sie mir aber den Reiseweg des jungen Mannes seit seiner Abreise aus Grianta nicht Tag für Tag angeben können, ist es dann nicht meine Pflicht, ihn trotz seiner vornehmen Geburt und trotz aller Hochachtung vor den Freunden seiner Familie verhaften zu lassen? Muß ich ihn nicht in Haft behalten, bis er mir den Beweis liefert, daß er Napoleon keine Vorschläge überbracht hat von einigen Unzufriedenen, die in der Lombardei unter den Untertanen Seiner Kaiserlichen und Königlichen Majestät sein können? Beachten Sie fernerhin, meine Herren, wenn es dem jungen del Dongo gelänge, sich in diesem Punkte zu rechtfertigen, so bliebe er immerhin schuldig, ohne vorschriftsmäßig ausgestellten Paß ins Ausland gegangen zu sein, mehr noch, unter falschem Namen und indem er sich wissentlich eines Passes bediente, der einem einfachen Handwerker ausgestellt war, also einer Person, die tief unter der Klasse steht, der er angehört.«

Diese erbarmungslos logische Erklärung wurde mit allen Zeichen der Ergebenheit und Hochachtung gegeben, die das Polizeioberhaupt der hohen Stellung der Marchesa del Dongo und den angesehenen Persönlichkeiten schuldete, die gekommen waren, sich für sie ins Mittel zu legen.

Die Marchesa war in Verzweiflung, als sie die Antwort des Barons Binder erfuhr.

»Fabrizzio wird verhaftet werden,« rief sie weinend, »und wenn er einmal im Gefängnis ist, weiß Gott, wann er wieder herauskommt. Sein Vater wird ihn verleugnen.«

Die Pietranera und ihre Schwägerin hielten mit zwei oder drei vertrauten Freunden Rat, und was sie auch sagen mochten, die Marchesa wollte ihren Sohn durchaus sofort abreisen lassen.

»Aber du siehst doch,« sagte die Gräfin zu ihr, »daß der Baron Binder weiß, daß dein Sohn hier ist. Dieser Mann ist keineswegs bösartig.«

»Nein, aber er will sich beim Kaiser Franz beliebt machen.«

»Aber wenn er es für seine Laufbahn nützlich hielte, Fabrizzio ins Gefängnis zu werfen, so wäre er längst drin. Es hieße ihm ein beleidigendes Mißtrauen bezeigen, wenn man ihn flüchten ließe.«

»Aber uns eingestehen, daß er weiß, wo Fabrizzio ist, heißt uns sagen: ›Laßt ihn fliehen!‹ Nein, ich kann nicht aufatmen, solange ich mir wiederholen muß: In einer Viertelstunde kann mein Sohn zwischen vier Kerkermauern sitzen! Wie es auch mit Baron Binders Ehrgeiz stehen mag,« fuhr die Marchesa fort, »es dünkt ihn vorteilhaft für seine persönliche Stellung hierzulande, einem Mann vom Range meines Gatten gegenüber Zurückhaltung zur Schau zu tragen, und ich sehe den Beweis dafür in dieser sonderbaren Offenherzigkeit, mit der er bekennt, er wisse, wo mein Sohn zu fassen sei. Noch mehr: der Baron erläutert freundlichst die beiden Übertretungen, deren Fabrizzio durch die Anzeige seines würdelosen Bruders beschuldigt ist. Er weist darauf hin, daß beide Übertretungen Gefängnisstrafen nach sich ziehen. Heißt das alles nicht: Wenn wir die Verbannung vorziehen, so steht die Wahl bei uns?«

»Wenn du die Verbannung wählst,« wiederholte die Gräfin immer wieder, »werden wir ihn im Leben nicht wiedersehen.«

Fabrizzio war bei der ganzen Unterhaltung zugegen, ebenso ein alter Freund der Marchesa, jetzt Rat an dem von den Österreichern eingesetzten Gerichtshof. Fabrizzio war durchaus dafür, sich aus dem Staube zu machen; und in der Tat verließ er am Abend den Palast, in dem Wagen versteckt, mit dem seine Mutter und seine Tante zur Scala fuhren. Der Kutscher, dem man mißtraute, kehrte wie gewöhnlich in einem Wirtshaus ein, und während der Diener, ein zuverlässiger Mann, die Pferde bewachte, schlüpfte Fabrizzio, als Bauer verkleidet, aus dem Wagen und verließ die Stadt. Am nächsten Morgen kam er mit gleichem Glück über die Grenze, und einige Stunden später war er auf einem Landgut, das seine Mutter in Piemont besaß. Es lag nahe bei Novara, genauer bei Romagnano, wo Bayard gefallen ist.

Man kann sich denken, mit welcher Aufmerksamkeit die Damen in ihrer Loge in der Scala der Oper zuhörten. Sie waren nur hingegangen, um einige Freunde befragen zu können, die zur liberalen Partei gehörten und deren Erscheinen im Palazzo del Dongo von der Polizei übel gedeutet werden konnte. In der Loge wurde beschlossen, einen neuen Schritt beim Baron Binder zu unternehmen. Jenem hohen Beamten, einem durchaus ehrenhaften Manne, Geld zu bieten, war ausgeschlossen, zumal die Damen äußerst arm waren; sie hatten Fabrizzio genötigt, alles mitzunehmen, was aus dem Erlös des Diamanten übrig geblieben war.

Es war jedenfalls sehr wichtig, das letzte Wort des Barons zu wissen. Die Freunde der Gräfin erinnerten sie an einen gewissen Kanonikus Borda, einen äußerst liebenswürdigen jungen Mann, der ihr früher den Hof hatte machen wollen, und zwar auf ziemlich häßliche Weise. Da er nichts erreichen konnte, hatte er dem General Pietranera ihre Freundschaft mit Limercati hinterbracht, worauf er als Schurke zum Teufel gejagt wurde. Nun spielte dieser Kanonikus allabendlich eine Partie Tarock mit der Baronin Binder und war natürlich der vertraute Freund des Gatten. Die Gräfin entschloß sich zu dem fürchterlich peinlichen Schritt, dem Kanonikus einen Besuch zu machen; und am folgenden Morgen ließ sie sich bei ihm zu früher Stunde, bevor er ausging, melden.

Als der einzige Diener dem Kanonikus den Namen der Gräfin Pietranera meldete, wurde er so erregt, daß er fast nicht sprechen konnte; er vergaß sogar, seinen sehr einfachen Morgenanzug etwas zu ordnen.

»Führen Sie die Dame herein und gehen Sie!« sagte er mit erstickter Stimme.

Die Gräfin trat ein. Borda warf sich auf die Kniee.

»Nur in dieser Stellung darf ein unglücklicher Tor Ihre Befehle entgegennehmen!« sagte er zur Gräfin, die an jenem Morgen in ihrem leichten Kleid, ein wenig vermummt, von unwiderstehlichem Reiz war. Ihr tiefer Schmerz über Fabrizzios Verbannung, der starke Wille, mit dem sie sich überwand, einen Mann aufzusuchen, der sich ihr gegenüber heimtückisch benommen hatte, – alles wirkte zusammen, ihrem Blick einen unbeschreiblichen Glanz zu geben.

»Nur in dieser Stellung will ich Ihre Befehle entgegennehmen,« rief der Kanonikus, »denn offenbar wollen Sie mich um einen Dienst bitten, sonst hätten Sie das armselige Haus eines unglücklichen Narren nie mit Ihrer Gegenwart beehrt. Ich habe damals, verleitet von Liebe und Eifersucht, gemein gegen Sie gehandelt, als ich sah, daß ich Ihnen nicht zu gefallen vermochte.«

Diese Worte waren aufrichtig und um so edler, als der Kanonikus sich jetzt großer Macht erfreute. Die Gräfin war darüber bis zu Tränen gerührt. Demütigung und Angst hatten ihre Seele erstarrt; im Nu vertrieben Rührung und leise Hoffnung diese Empfindungen. Aus einem tief unglücklichen Zustand geriet sie blitzschnell beinahe ins Glück.

»Küsse mir die Hand«, sagte sie zum Kanonikus, indem sie ihm die Rechte reichte, »und steh auf!« (Man muß wissen, daß das Duzen in Italien ebenso offene und ehrliche Freundschaft wie ein zärtlicheres Gefühl bedeutet.) »Ich wollte dich bitten, dich für meinen Neffen Fabrizzio einzusetzen. Was du hörst, ist die reine Wahrheit, wie man sie einem alten Freunde sagt. Er ist sechzehn und ein halbes Jahr alt und hat soeben eine großartige Tat begangen. Wir waren im Schlosse Grianta am Comer See. Eines Abends um sieben Uhr erfahren wir durch eine Barke von Como die Landung des Kaisers im Golf von Juan. Am anderen Morgen schmuggelt sich Fabrizzio nach Frankreich hinüber, mit dem Paß eines seiner Freunde aus dem Volke, eines Barometerhändlers, namens Vasi. Da er nicht gerade wie ein Hausierer aussieht, ist er keine zehn Meilen drinnen in Frankreich, als man ihn bereits einsperrt; seine überschwenglichen Schwärmereien in schlechtem Französisch hatten Verdacht erweckt. Nach geraumer Zeit ist er wieder entwischt und nach Genf geflohen. Wir haben ihn in Lugano abholen lassen ...«

»Das heißt in Genf«, unterbrach sie der Kanonikus lächelnd.

Die Gräfin führte ihre Erzählung zu Ende.

»Ich werde das Menschenmögliche für Sie tun«, erwiderte der Kanonikus herzlich. »Ich stehe Ihnen ganz zu Diensten. Ich will sogar Unvorsichtigkeiten begehen«, fügte er hinzu. »Sagen Sie mir, was ich zu tun habe in dem Augenblick, da dieses ärmliche Zimmer wieder leer ist von der himmlischen Erscheinung, die in der Geschichte meines Daseins ein großes Erlebnis bedeutet!«

»Sie müssen zum Baron Binder gehen und ihm sagen, daß Sie Fabrizzio von der Wiege an liebten, daß Sie zur Zeit seiner Geburt in unserem Hause verkehrt hätten. Bitten Sie ihn, er möge aus Freundschaft für Sie alle seine Spione in Bewegung setzen, um klarzustellen, ob Fabrizzio vor seiner Abreise nach der Schweiz irgendwie in Verbindung mit einem jener Liberalen gestanden hat, die er überwachen läßt. Wenn der Baron nur im geringsten gut bedient wird, so muß er sehen, daß es sich hier lediglich um eine echte Jugendeselei handelt. Wie Sie wissen, hatte ich in meiner schönen Wohnung im Palazzo Dugnani Stiche von den siegreichen Schlachten Napoleons. An den Unterschriften dieser Stiche hat mein Neffe das Lesen gelernt. Von seinem fünften Jahre an wurden ihm von meinem armen Mann jene Siege erklärt. Wir setzten ihm den Helm meines Mannes auf, und der Junge schlepte seinen langen Säbel. Dann, eines schönen Tages, erfährt er, daß der Abgott meines Mannes, daß der Kaiser nach Frankreich zurückgekehrt ist. Er will zu ihm in seiner jugendlichen Unbesonnenheit, aber es gelingt ihm nicht. Fragen Sie Ihren Baron, mit welcher Strafe diese Torheit gesühnt werden soll!«

»Ich habe etwas vergessen«, rief der Kanonikus. »Sie werden sehen, daß ich der Verzeihung, die Sie mir gewähren, nicht unwürdig bin. Hier,« sagte er, unter seinen Akten auf dem Schreibtisch suchend, »sehen Sie, ist die Denunziation jenes niederträchtigen Heuchlers, unterzeichnet mit Ascanio Valserra del Dongo. Damit hat die ganze Geschichte angefangen. Ich habe das Aktenstück gestern abend im Polizeiamt an mich genommen und bin in die Scala gegangen, in der Hoffnung, irgendeinem Freund Ihrer Loge zu begegnen, durch den ich es Ihnen hätte zustellen können. Eine Abschrift dieses Schreibens befindet sich schon längst in Wien. Da haben Sie den Feind, den wir bekämpfen müssen!«

Der Kanonikus las die Anzeige zusammen mit der Gräfin durch, und man kam überein, daß ihr im Laufe des Tages durch eine sichere Person eine Abschrift davon zugehen sollte. Voller Freude kehrte die Gräfin in den Palazzo del Dongo zurück.

»Unmöglich kann man mehr galantuomo sein als dieser ehemalige Bösewicht«, berichtete sie der Marchesa. »Wir werden heute abend in der Scala, wenn die Theateruhr drei Viertel elf zeigt, jedermann aus unserer Loge hinausschicken, die Lichter auslöschen und die Tür schließen. Um elf Uhr will der Kanonikus persönlich kommen und uns mitteilen, was er hat tun können. Auf diese Weise ist die Geschichte am wenigsten gefährlich für ihn.«

Der Kanonikus war kein Dummkopf. Er hütete sich, das Stelldichein zu versäumen, und benahm sich dabei so vollendet liebenswürdig und wirklich offenherzig, wie man das nur in einem Lande findet, wo die Eitelkeit nicht der Gefühle höchstes ist. Daß er die Gräfin ihrem Manne, dem General Piettanera, verraten, hatte ihn beständig gepeinigt, und hier bot sich ein Mittel, es wieder gut zu machen.

Er war von seiner Leidenschaft noch keineswegs geheilt; am Vormittag, als die Gräfin ihn verlassen, hatte er sich voll Bitternis gesagt: ›Sie hat mit ihrem Neffen ein Liebesverhältnis. Wie käme diese stolze Frau sonst in mein Haus? Beim Tode des armen Pietranera hat sie voller Abscheu meine Dienste zurückgewiesen, so höflich ich sie ihr durch den damaligen Oberst Scotti, einen früheren Verehrer von ihr, anbieten ließ. Die schöne Pietranera und mit fünfzehnhundert Franken auskommen!‹ sagte der Kanonikus, erregt auf und ab gehend. ›Und dann im Schloß Grianta mit einem abscheulichen Griesgram, diesem Marchese del Dongo, zusammen hausen! Jetzt wird mir alles klar! Warum auch nicht? Dieser junge Fabrizzio ist voll Geist und Anmut, groß, wohlgebaut, immer heiter, und mehr noch,‹ fuhr er bitter fort, ›in seinen Augen liegt süße Wollust. Er hat ein Correggio- Gesicht. Und der Unterschied im Alter ist nicht zu groß. Fabrizzio ist nach dem Einmarsch der Franzosen geboren, um 1798, wenn ich mich nicht irre. Die Gräfin mag sieben- oder achtundzwanzig sein. Hübscher, anbetungswürdiger zu sein, ist unmöglich. In diesem schönheitsreichen Lande kommt ihr keine gleich; die Marini, die Gherardi, die Ruga, die Arese, die Pietragrua, keine; sie überragt alle diese Frauen. Sie lebten in glücklicher Verborgenheit am schönen Comer See, als der junge Mann zu Napoleon wollte. Es gibt doch noch große Seelen in Italien, man mag sie noch so unterdrücken! Teures Vaterland!‹

›Nein,‹ fuhr dieses vor Eifersucht flammende Herz fort, ›anders läßt sich ihr entsagungsvolles Stilleben auf dem Lande unmöglich erklären. Tag für Tag, Mahlzeit für Mahlzeit das scheußliche Gesicht des Marchese del Dongo und dazu die niederträchtige Heuchlerfratze des Marchesino Ascanio, die noch schlimmer ist als die des Alten! Trotz alledem, ich will ihr offen und ehrlich dienen! Zum mindesten habe ich das Vergnügen, sie nicht mehr nur durch mein Opernglas zu sehen.‹

In der Scala legte der Kanonikus den Damen die Sachlage klar und deutlich auseinander. Im Grunde war Binder gar nicht ungünstig gesinnt. Es war ihm recht lieb, daß sich Fabrizzio aus dem Staube gemacht hatte, ehe der Haftbefehl aus Wien eingegangen war. Aber er konnte nichts Entscheidendes in der Sache tun; wie in allen anderen Angelegenheiten wartete er auf Befehle von oben. Täglich schickte er genaue Abschriften aller Ermittlungen nach Wien; im übrigen wartete er ab.

Er verlangte aber: erstens, daß Fabrizzio in seiner Verbannung in Romagnano alle Tage in die Messe gehe, daß er einen geistvollen, monarchisch gesinnten Beichtvater nähme und ihm nur ganz harmlose Dinge beichte; zweitens, daß er mit niemandem verkehre, der als aufgeklärter Mensch galt, und immer nur mit Abscheu von revolutionären Dingen wie von etwas streng Verpöntem spräche; drittens, daß er sich in keinem Kaffeehaus blicken ließe und nie andere Zeitungen als die Amtsblätter von Turin und Mailand läse, im allgemeinen eine Abneigung gegen jede Lektüre zur Schau trüge, insbesondere nichts läse, was nach 1720 gedruckt sei, die Romane von Walter Scott allenfalls ausgenommen.

Diesen Bedingungen fügte der Kanonikus ein wenig boshaft als vierte hinzu, er müsse vor allen Dingen irgendeiner hübschen Dame des Landes, selbstverständlich aus der vornehmen Gesellschaft, offenkundig den Hof machen. Damit werde er beweisen, daß er nicht den finsteren, unzufriedenen Geist eines angehenden Verschwörers habe.

Vor dem Zubettgehen schrieben die Gräfin und die Marchesa zwei endlose Briefe an Fabrizzio, in denen sie ihm in reizendster Besorgnis die Ratschläge, die Borda gegeben hatte, darlegten.

Fabrizzio hatte ganz und gar keine Neigung zu Verschwörungen. Er liebte Napoleon, hielt sich in seiner Eigenschaft als Edelmann für ein bevorzugtes Wesen und fand das Bürgertum lächerlich. Seit seiner Schulzeit hatte er nie ein Buch in die Hand genommen, und auch da hatte er keine anderen Bücher gelesen als solche, die von Jesuiten zurechtgestutzt waren. Er nahm seinen Wohnsitz in einem prächtigen Landschloß unweit Romagnanos, einem Meisterwerk des berühmten Baukünstlers San MicheliSan Micheli: Michele San Micheli (1484-1559), dessen Hauptwerke man in Venedig sieht. Beyle hat hier vermutlich die berühmte Villa Soranza bei Castelfranco (in der Lombardei) im Sinne, die Vasari geschildert hat. Bei Romagnano findet sich kein Bau San Michelis.. Da es seit dreißig Jahren unbewohnt war, regnete es in alle Zimmer hinein, und kein Fenster schloß ordentlich. Er beschlagnahmte die Pferde des Verwalters und ritt sie früh wie abends. Er war wortkarg und nachdenklich. Der Rat, sich eine Geliebte aus der staatsgetreuen Gesellschaft zu wählen, erschien ihm spaßig, aber er befolgte ihn buchstäblich. Zum Beichtvater nahm er einen ränkesüchtigen jungen Priester, der Bischof werden wollte (wie der Beichtvater vom SpielbergSpielberg: Die merkwürdigen Memoiren von Andryane, die spannend sind wie ein Roman und von bleibendem Wert wie Tacitus. (Stendhal.) Alexandre Andryanes ›Denkwürdigkeiten‹ sind 1837 erschienen. Der Spielberg ist das berüchtigte österreichische Gefängnis, wo die Vorkämpfer der Freiheit Italiens jahrzehntelang eingekerkert waren. S. 114: Für den General (1812 Marschall) Gouvion-Saint-Cyr (1764-1830) hat Stendhal eine Vorliebe. Er nennt ihn öfters in seinen Büchern. Vergleiche auch seine Erwähnung im Briefe an Balzac.). Mitunter legte er drei Meilen zu Fuß zurück und hüllte sich in ein Geheimnis, das er undurchdringbar wähnte, um den ›Constitutionnel‹ zu lesen, den er erhaben fand. ›Das ist ebenso schön wie Alfieri und Dante!‹ rief er oftmals aus. Darin hatte Fabrizzio eine Ähnlichkeit mit den jungen Franzosen, die sich viel angelegentlicher mit ihren Pferden und ihren Zeitungen beschäftigen als mit einer ihnen treuen Geliebten. Jedoch war in seiner unverdorbenen und starken Seele noch kein Raum zur Nachäfferei der anderen, und er gewann keine Freunde in der Gesellschaft des Städtchens Romagnano. Seine Schlichtheit galt für Hochmut; man wußte mit diesem Sonderling nichts anzufangen. »Er ist mißvergnügt, weil er nicht der Erstgeborene seines Hauses ist«, meinte der Pfarrer.


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