Stendhal
Die Kartause von Parma
Stendhal

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Sechzehntes Kapitel

»Gib acht,« rief der General, als er seinen Bruder Don Cesare sah, »die Duchezza wird hunderttausend Taler daran setzen, mir einen Streich zu spielen und dem Gefangenen die Freiheit zu verschaffen!«

Für einige Zeit müssen wir Fabrizzio nun in seinem Gefängnis im obersten Stock der Zitadelle sich selbst überlassen. Man bewachte ihn gut, und wir werden ihn vielleicht ein wenig verändert wiederfinden. Wir wollen uns zunächst mit der Hofgesellschaft beschäftigen, in der verwickelte Ränke und vor allem die Leidenschaft einer unglücklichen Frau sein Schicksal entscheiden werden. Während Fabrizzio die dreihundertneunzig Stufen zu seiner Zelle in der Torre Farnese hinaufstieg, hatte er keine Zeit, über sein Unglück nachzudenken.

Als die Duchezza von der Abendgesellschaft beim Grafen Zurla heimkehrte, schickte sie ihre Kammerfrauen mit einer Handbewegung weg; dann warf sie sich unausgekleidet auf ihr Bett.

»Fabrizzio«, schrie sie laut auf, »ist in der Macht seiner Feinde, und vielleicht vergiften sie ihn meinetwegen!«

Die Verzweiflung, die dieser Erkenntnis folgte, ist nicht zu schildern, zumal bei einer wenig vernünftigen Frau, die eine Sklavin ihrer augenblicklichen Stimmung und, ohne es sich einzugestehen, in den jungen Gefangenen unsinnig verliebt war: Gestammel, Wutausbrüche, krampfhafte Zuckungen, aber keine Tränen.

Sie schickte ihre Dienerschaft weg, um ihren Zustand zu verbergen. Sie hatte geglaubt, sie müsse in Schluchzen ausbrechen, sobald sie allein sei, aber die Tränen, der erste Trost in großen Schmerzen, blieben völlig aus. Wut, Entrüstung, das Gefühl ihrer Ohnmacht gegenüber dem Fürsten beherrschten ihre stolze Seele völlig.

»Bin ich nun gedemütigt genug?« rief sie wieder und wieder. »Man beschimpft mich, mehr noch, man gefährdet Fabrizzios Leben! Und ich soll mich nicht rächen? Halt, Serenissimus! Sie können ihn morden, gut, Sie haben die Macht dazu! Aber dann gehe ich Ihnen ans Leben! Ach, armer Fabrizzio, was hast du davon ? Was für ein Unterschied zwischen heute und jenem Tage, als ich Parma verlassen wollte! Und wie unglücklich wähnte ich mich damals doch! Welche Verblendung! Ich wollte auf alle Annehmlichkeiten im Leben verzichten... O, ungewollt rühre ich da an ein Ereignis, das mein Geschick auf ewig entschieden hat. Hätte der Graf in seiner abscheulichen Hofschranzengewohnheit nicht die Worte ›ungerechter Prozeß‹ unterdrückt, in dem unseligen Brief, den ich dem Dünkel des Fürsten abtrotzte, so wären wir gerettet. Mehr aus Glück als aus Geschicklichkeit hatte ich seine Eitelkeit auf seine geliebte Stadt Parma mit ins Spiel gezogen. Damals drohte ich mit meiner Abreise; damals war ich frei! Großer Gott, jetzt bin ich eine rechte Sklavin! Jetzt stecke ich tief in diesem verruchten Pfuhl; und Fabrizzio liegt in Ketten in der Zitadelle, in dieser Zitadelle, die für manchen Edlen ein Vorhof des Todes ist! Ich vermag den Tiger nicht mehr zu bändigen mit der Furcht, daß ich seine Raubtierhöhle verlasse!

Er ist viel zu schlau, nicht zu merken, daß ich mich nie und nimmer von diesem verruchten Turm, an den mein Herz gefesselt ist, entfernen werde. Jetzt kann die verletzte Selbstgefälligkeit dieses Mannes ihm die sonderlichsten Gedanken einjagen, ja, seine verrückte Grausamkeit wird seine unglaubliche Eigenliebe noch anstacheln. Wenn er seine alten, faden Liebesanträge erneuert, wenn er mir sagt: ›Erhören Sie die Huldigungen Ihres Sklaven, oder Fabrizzio ist des Todes!‹ – meinetwegen! Die alte Geschichte von der Judith! Ja, aber das wäre nicht nur Selbstmord meinerseits, das wäre Mord an Fabrizzio! Der Tropf von Nachfolger, unser Erbprinz, und der niederträchtige Henker Rassi brächten Fabrizzio als meinen Mitschuldigen an den Galgen.«

Die Duchezza schrie laut auf; dieses Entweder – oder, vor dem sie keinen Ausweg sah, marterte ihr unglückliches Herz. Ihr wirrer Kopf erblickte keine dritte Möglichkeit am Horizonte. Zehn Minuten lang tobte sie wie von Sinnen. Schließlich löste ein kurzer Schlaf diesen schrecklichen Zustand völliger Erschöpfung ab; ihre Lebenskraft war zu Ende. Nach ein paar Minuten fuhr sie jäh aus ihrem Schlummer auf und fand sich auf ihrem Bett sitzend. Ihr hatte geträumt, der Fürst wolle Fabrizzio in ihrer Gegenwart köpfen lassen. Mit verstörten Augen schaute die Duchezza um sich. Als sie sich endlich klar ward, daß weder Serenissimus noch Fabrizzio ihr vor Augen stand, sank sie auf ihr Bett zurück, einer Ohnmacht nahe. Ihre Glieder waren so schwach, daß sie nicht die Kraft hatte, sich anders hinzulegen. »Mein Gott, wenn ich sterben könnte!« rief sie. »Aber wie feig von mir! Ich sollte Fabrizzio im Unglück allein lassen? Ich bin irre. Die Augen auf! Kehren wir zur Wirklichkeit zurück! Betrachten wir kaltblütig die verwünschte Lage, in die ich wie zum Spaß hineingetaumelt bin! Was für ein unheilvoller Leichtsinn, an den Hof eines selbstherrlichen Fürsten zu gehen, eines Tyrannen, der alle seine Opfer kennt, der in jedem Blicke Trotz wider seine Macht wittert! Ach, das haben wir nicht berücksichtigt, weder ich noch der Graf, als ich Mailand verließ; ich hatte nur die Reize eines liebenswürdigen Hofes vor Augen, den ich mir wohl etwas kleiner vorstellte, aber doch so ähnlich wie den mailändischen in den schönen Tagen unter dem Fürsten Eugen.

Aus der Ferne machte ich mir keinen Begriff, was die unumschränkte Macht eines Despoten bedeutet, der alle seine Untertanen von Angesicht zu Angesicht kennt. Die äußere Form des Absolutismus ist die gleiche wie die anderer Regierungsformen. Es gibt zum Beispiel Richter; aber das sind Leute wie Rassi. Dieses Ungeheuer fände nichts Außergewöhnliches dabei, seinen eigenen Vater aufzuknüpfen, wenn Serenissimus es anbeföhle. Er würde das seine Pflicht nennen. – Rassi bestechen? Ich Unglückliche! Dazu bin ich zu arm! Was könnte ich ihm anbieten? Vielleicht hunderttausend Franken. Es geht das Gerücht, nach dem Anschlag auf sein Leben, dem der Fürst entronnen ist – so wollte es der Zorn des Himmels über diesem unglücklichen Lande! –, habe er ihm zehntausend Zechinen in Gold in einer Schatulle übersandt! Welche Geldsumme sollte ihn da bestechen? Seine schmutzige Seele, die in den Blicken der Menschen immer nur Verachtung gelesen hat, weidet sich jetzt daran, uns in Angst, ja demütig zu sehen. Er kann Polizeiminister werden, warum nicht? Dann werden drei Viertel der Untertanen vor ihm kriechen und zittern, ebenso knechtisch, wie er selber vor Serenissimus zittert.

Ich darf aus diesem abscheulichen Ort nicht fliehen; ich muß um Fabrizzios willen hierbleiben. Wenn ich fern, einsam, verzweifelt leben wollte, was erreichte ich damit für ihn? Auf, raffe dich empor, unglückliches Weib! Tu deine Pflicht! Geh unter die Leute; tu so, als ob du nicht mehr an Fahrizzio dächtest! Ach, tun, als ob ich dich vergäße, mein Liebling!«

Bei diesen Worten brach die Duchezza in Tränen aus; endlich konnte sie weinen. Nach einer Stunde, die sie dieser menschlichen Schwäche zollte, fühlte sie sich ein wenig getröstet; ihre Gedanken begannen sich aufzuhellen. ›Ich möchte einen Zaubermantel haben,‹ sagte sie sich, ›um Fabrizzio aus der Zitadelle zu entführen und mit ihm in irgendein glückliches Land zu entfliehen, wohin uns keiner verfolgen kann, zum Beispiel nach Paris. Dort lebten wir zunächst von den zwölfhundert Franken, die mir der Verwalter seines Vaters immer mit so spaßiger Pünktlichkeit zukommen läßt. Aus den Trümmern meines Vermögens könnte ich wohl hunderttausend Franken zusammenscharren...‹

Die Duchezza malte sich alle Einzelheiten des Lebens, das sie dreihundert Meilen fern von Parma führen würde, in unsagbar köstlichen Farben aus. ›Unter einem anderen Namen‹, sagte sie sich, ›könnte er dort Offizier werden. In einem der braven französischen Regimenter erlangt der junge Valserra vielleicht bald einen Ruf. Endlich wäre er glücklich!‹

Diese herrlichen Schwärmereien lockten ihr von neuem Tränen ab, aber es waren milde Tränen. Irgendwo gab es doch noch ein Glück! Dieser Zustand hielt lange an. Der armen Frau widerstand es, der abstoßenden Wirklichkeit ins Auge zu schauen. Endlich, als der Tag zu dämmern begann und die Wipfel der Bäume im Park mit einer lichten Linie umwob, kehrte ihre Willenskraft zurück. ›In ein paar Stunden‹, sagte sie sich, ›werde ich auf dem Kampfplatz sein. Es gilt zu handeln; und wenn es so kommen sollte, daß mich irgend etwas reizt, wenn Serenissimus sich unterfängt, eine Bemerkung über Fabrizzio zu machen, dann bin ich nicht sicher, ob ich meine Kaltblütigkeit wahren kann. Ich muß also auf der Stelle und ohne Verzug einen Entschluß fassen.

Wenn ich landesverräterischer Umtriebe bezichtigt werde, beschlagnahmt Rassi alles, was sich in meinem Palast vorfindet. Am Ersten des Monats haben wir, der Graf und ich, wie gewöhnlich alle Papiere verbrannt, die von der Polizei mißbraucht werden könnten. Dabei ist er Polizeiminister, wie drollig! Ich besitze drei Diamanten von einigem Wert. Morgen soll Fulgenzio, mein alter Fährmann aus Grianta, nach Genf reisen und sie dorthin in Sicherheit bringen. Wenn Fabrizsio je entkommt – großer Gott, steh mir bei! –,‹ sagte sie, sich bekreuzigend, ›so könnte der Marchese del Dongo in seiner maßlosen Feigheit es für sündhaft finden, einem Menschen, der von einem legitimen Fürsten verfolgt wird, sein Brot zu gewähren. Dann soll er wenigstens meine Diamanten haben und nicht zu hungern brauchen.

Ich nehme den Besuch des Grafen nicht an. Allein mit ihm zu sein nach dem, was sich soeben ereignet hat, das ist mir unmöglich. Der arme Mann! Er ist keineswegs bösartig; im Gegenteil, er ist nur schwach. Seine Alltagsseele reicht bei weitem nicht zur Höhe der unsrigen hinan. Armer Fabrizzio, daß du nicht einen Augenblick bei mir sein kannst, um mit mir über die Gefahren zu beraten, die uns drohen!

Die peinliche Vorsicht des Grafen würde meine Pläne nur beengen; zudem ist es nicht nötig, ihn mit in mein Verderben hineinzureißen. Denn warum sollte mich die Eitelkeit jenes Tyrannen nicht in den Kerker werfen, als eine Mitverschworene? Nichts ist leichter zu beweisen. Wenn er mich in die Zitadelle sperrte, und ich könnte Fabrizzio mit Hilfe von Gold sprechen, und wäre es nur einen Augenblick, mit welchem Mute gingen wir da gemeinsam in den Tod! – Aber weg mit diesen Albernheiten! Sein Rassi könnte ihm ebensogut raten, mich zu vergiften. Wenn ich auf einem Karren durch die Straßen gefahren würde, so könnte das seinen teuren Untertanen auf die Nerven gehen. – O nein, nicht so romanhaft! Ach, solche Torheiten sind verzeihlich bei einem armen Weibe, dessen wirkliches Schicksal so traurig ist! In Wahrheit fällt es Serenissimus gar nicht ein, mich in den Tod zu schicken; aber nichts ist für ihn einfacher, als mich in den Kerker zu werfen und dort schmachten zu lassen. Er brauchte nur in einem Winkel meines Palastes allerlei verdächtige Schriftstücke verstecken zu lassen, wie es bei jenem armen L. geschah. Dazu drei Richter, die gar nicht einmal Schurken sein müssen. Denn was sie Beweisstücke nennen, ist ja da, und ein Dutzend falscher Zeugen dazu. Ich kann also als Verschwörerin zum Tode verurteilt werden. Serenissimus wird jedoch in seiner grenzenlosen Milde und in Anbetracht dessen, daß ich einst die Ehre hatte, seinem Hofe anzugehören, meine Strafe in zehn Jahre Festung umwandeln. Ich aber werde dann meinen ungestümen Charakter nicht verleugnen, der mich verleitet hat, der Marchesa Raversi und meinen anderen Feinden so manche Bosheit zu sagen: ich werde mich tapfer vergiften. Zum mindesten wird das Publikum die Güte haben, dies zu glauben; ich wette aber, Rassi erscheint in meiner Zelle und überbringt mir ritterlicherweise, im Auftrag des Fürsten, ein Fläschchen mit Strychnin oder Opium von Perugia.

Ja, ich muß mich mit dem Grafen ganz offenkundig entzweien, denn ich will ihn nicht mit in mein Verderben ziehen; das wäre Niedertracht. Der arme Mann hat mich mit so viel Aufrichtigkeit geliebt. Es war eine Dummheit von mir, zu glauben, daß in einem echten Hofmann so viel Seele übrig bleiben könnte, um der Liebe fähig zu sein. Höchstwahrscheinlich wird Serenissimus irgendeinen Vorwand finden, mich in den Kerker zu werfen. Er wird befürchten, ich könne die öffentliche Meinung für Fabrizzio gewinnen. Der Graf hat ein sehr feines Ehrgefühl. Er bringt im Augenblick zuwege, was die Wichte hier am Hof in ihrer völligen Verblüffung eine Torheit nennen würden: er wird den Hof verlassen. Ich habe an jenem Abend mit dem Brief die Würde des Fürsten verletzt; bei seiner gekränkten Eitelkeit kann ich mich auf alles gefaßt machen. Vergißt ein geborener Fürst jemals eine Empfindung, wie ich sie an jenem Abend verursacht habe? Ist der Graf übrigens mit mir entzweit, so ist er viel mehr in der Lage, Fabrizzio zu nützen. Aber wird er nicht aus Verzweiflung über meinen Entschluß auf Rache sinnen? Halt! Da habe ich ja gleich einen Einfall, auf den er niemals geraten wäre. Die tiefe Gemeinheit des Fürsten geht ihm völlig ab. Er kann einen niederträchtigen Erlaß seufzend gegenzeichnen und bleibt doch ein Ehrenmann. Und dann, weshalb sollte er sich rächen wollen? Nur weil ich nach fünf Jahren treuester Liebe ihm sage: ›Mein lieber Graf! Ich hatte das Glück, Sie zu lieben. Nun ist diese Flamme erloschen. Ich liebe Sie nicht mehr. Aber ich kenne Ihr Herz gründlich; ich bewahre Ihnen eine tiefe Verehrung, und Sie werden stets mein bester Freund sein.‹ Was kann ein ritterlicher Mann auf eine so aufrichtige Erklärung antworten?

Ich werde einen neuen Geliebten nehmen, wenigstens wird man das in der Gesellschaft glauben. Zu diesem Liebhaber werde ich sagen: ›Im Grunde hat Serenissimus recht, daß er Fabrizzios Unbesonnenheit bestraft. Aber ich zweifle nicht daran, daß unser allergnädigster Landesherr an seinem Geburtstag ihm die Freiheit wiederschenken wird.‹ Damit gewinne ich sechs Monate. Den neuen Liebhaber schreibt die Klugheit vor. Es müßte dieser bestechliche Richter, dieser verruchte Henker, dieser Rassi sein... Er würde sich geadelt fühlen, und in der Tat, ich würde ihn in die gute Gesellschaft einführen. – Verzeih, lieber Fabrizzio! Einer solchen Kraftleistung bin ich nicht fähig! Ja, wenn sich dieses Ungeheuer, das noch so besudelt ist vom Blute des Grafen Palanza und des D., mir näherte, ich stürbe vor Ekel, oder vielmehr ich nähme einen Dolch und bohrte ihn in sein verruchtes Herz. Bitte mich nicht um Unmögliches!

Ja, vor allem Fabrizzio vergessen! Und nicht einen Schatten von Wut gegen Serenissimus! Meine gewöhnliche Heiterkeit bewahren! Sie wird diesen schmutzigen Seelen um so liebenswürdiger erscheinen, erstens, weil es so aussieht, als unterwürfe ich mich gutwillig ihrem Gebieter, und zweitens, weil ich, weit entfernt, ihrer zu spotten, bemüht sein will, ihre hübschen kleinen Verdienste anzuerkennen. Zum Beispiel werde ich dem Grafen Zurla eine Schmeichelei über seine schöne weiße Hutfeder sagen, die er sich durch einen Boten aus Lyon hat kommen lassen und die sein ganzer Stolz ist. Einen Geliebten aus der Partei der Raversi wählen! Wenn der Graf geht, wird ihre Partei ans Ruder gelangen; sie wird die Macht haben. Ein Freund der Raversi wird dann Kommandant der Zitadelle, denn Fabio Conti wird Minister. Wie wird Serenissimus, dieser Weltmann, dieser geistreiche Mensch, an die liebenswürdige Arbeitsweise des Grafen gewöhnt, mit diesem Schafskopf auskommen, mit diesem Esel aller Esel, dessen Hauptproblem es zeit seines Lebens gewesen ist, ob Allerhöchstdero Soldaten an ihren Waffenröcken sieben oder besser neun Knöpfe tragen sollen? So sind diese rohen Schranzen, die auf mich eifersüchtig sind, und das ist es, was dich so in Gefahr bringt, teurer Fabrizzio! So sind diese rohen Schranzen, die mein und dein Schicksal entscheiden sollen! Also nicht dulden, daß der Graf seine Entlassung einreicht! Er muß bleiben, und sollte er Demütigungen hinnehmen! Er bildet sich immer ein, das Entlassungsgesuch sei das größte Opfer, das ein Premierminister bringen könne. Und allemal, wenn ihm sein Spiegel sagt, daß er altert, bietet er mir dieses Opfer an. Folglich: völliger Bruch! Ja, und nur dann eine Versöhnung, wenn es kein anderes Mittel gäbe, ihn am Gehen zu hindern. Wir werden uns ganz gewiß in allergrößter Freundschaft trennen. Aber nach der schranzenhaften Weglassung der Worte ›ungerechter Prozeß‹ im Brief des Fürsten fühle ich, daß ich ihn hassen muß, wenn ich ihn nicht ein paar Monate meide. An jenem Abend bedurfte ich seines Geistes nicht; er hätte nur mein Diktat nachzuschreiben brauchen: nur diese zwei Worte, die mein Charakter ertrotzt hatte! Seine niedrigen Höflingsmanieren haben ihn irregeleitet. Am nächsten Tage sagte er zu mir, er hätte seinem Fürsten keine Geschmacklosigkeit zur Unterschrift vorlegen können; es hätte ein Gnadenschreiben sein müssen. O du mein Gott, von solchen Leuten, von solchen Ungeheuern der Eitelkeit und Ränkesucht, von einem Farnese nimmt man, was man kriegt!<&lsaquo; Bei diesem Gedanken entbrannte der ganze Zorn der Duchezza von neuem. ›Der Fürst hat mich betrogen,‹ sagte sie sich, ›und mit welcher Feigheit! Der Mann ist nicht zu entschuldigen. Er hat Geist, Scharfsinn, Verstand; an ihm ist nichts gemein als seine Leidenschaften. Der Graf und ich, wir haben ihn zwanzigmal beobachtet; sein Geist wird nur gemein, wenn er sich einbildet, man wolle ihm etwas antun. Gut! Fabrizzios Vergehen hat mit der Politik nichts zu tun. Er hat ein Mördchen begangen, wie ihrer alljährlich in diesen glücklichen Landen Hunderte vorkommen. Und der Graf hat mir geschworen, er habe die genauesten Erkundigungen einziehen lassen, und Fabrizzio sei unschuldig. Dieser Giletti war keineswegs ohne Mut; als er sich zwei Schritt vor der Grenze sah, kam er plötzlich in die Versuchung, sich eines glücklichen Nebenbuhlers zu entledigen.‹

Lange grübelte die Duchezza nach, ob es möglich sei, an Fabrizzios Schuld zu glauben. Sie fand, es sei für einen Edelmann vom Rang ihres Neffen keine große Sünde weiter, sich eines unverschämten Komödianten zu entledigen. Aber in ihrer Verzweiflung stellte sich bei ihr das undeutliche Gefühl ein, sie sei verpflichtet, für den Unschuldsbeweis Fabrizzios zu kämpfen. ›Nein,‹ sagte sie sich schließlich, ›ich habe einen unumstößlichen Beweis. Er ist wie der arme Pietranera. Immer trägt er die Taschen voller Waffen, aber gerade an dem Tage hatte er nur eine erbärmliche Flinte, die er sich obendrein von einem Arbeiter geborgt hatte.

Ich hasse Serenissimus, weil er mich betrogen hat, betrogen in der allerfeigsten Art und Weise. Nach seinem Begnadigungsbrief hat er den armen Jungen in Bologna aufgreifen lassen. Aber diese Rechnung wird ausgeglichen!‹

Vernichtet durch diesen langen Verzweiflungsanfall, klingelte die Duchezza gegen fünf Uhr morgens ihren Kammerzofen. Die schrieen laut auf, als sie ihre Herrin auf dem Bett liegen sahen, völlig angekleidet, in ihrem Diamantenschmuck, bleich wie die Kissen, die Augen geschlossen. Sie kam ihnen vor wie eine prunkvolle Leiche. Sie hätten geglaubt, sie sei wirklich tot, wenn sie sich nicht erinnert hätten, daß sie soeben nach ihnen geklingelt hatte. Hin und wieder rannen ihr einzelne Tränen über die farblosen Wangen. Die Frauen begriffen ihren Wink, daß sie zu Bett gebracht sein wolle.

Nach der Abendgesellschaft beim Minister Zurla hatte sich Graf Mosca zweimal im Hause der Duchezza eingestellt. Da er beide Male nicht empfangen wurde, so schrieb er ihr, er bedürfe ihres Rates für seine eigene Person. Solle er seinen Posten behalten nach dem Schimpf, den man ihm anzutun gewagt? Weiterhin schrieb er: ›Der junge Mann ist unschuldig. Durfte man ihn verhaften, ohne mich vorher davon in Kenntnis zu setzen, mich, seinen erklärten Beschützer?‹ Die Duchezza bekam den Brief erst am anderen Tage.

Der Graf war Amoralist, ja man könnte hinzufügen, daß er das, was die Liberalen unter Tugend verstehen, nämlich die Fürsorge für das Allgemeinwohl, für eitel Spiegelfechterei hielt. Er glaubte sich verpflichtet, vor allem für das Heil des Grafen Mosca della Rovere zu sorgen. Aber er war von feinem Ehrgefühl und durchaus aufrichtig, wenn er von seinem Abschiedsgesuch sprach. Noch nie im Leben hatte er der Duchezza eine Lüge gesagt. Übrigens schenkte sie seinem Brief nicht die geringste Aufmerksamkeit. Ihr Entschluß, ein recht schmerzlicher Entschluß, war gefaßt: sich stellen, als ob sie Fabrizzio vergäße. Nach dieser Kraftprobe war ihr alles andere gleichgültig.

Anderntags wurde der Graf, der zehnmal vergeblich im Palazzo Sanseverina vorgesprochen hatte, endlich gegen Mittag vorgelassen. Er war beim Anblick der Duchezza wie vom Donner gerührt. ›Sie ist vierzig Jahre alt,‹ sagte er sich, ›und gestern sah sie so glänzend, so blühend aus! Alle Welt hat mir gesagt, während ihres langen Gesprächs mit Clelia Conti habe sie jung wie diese und geradezu verführerisch ausgesehen.‹

Der Klang ihrer Stimme war ebenso befremdend wie ihr Gesichtsausdruck. Dieser Klang, bar jeder Leidenschaft, jedes Anteils am Leben, jedes Trotzes, ließ den Grafen erbleichen. Er erinnerte ihn an einen seiner Freunde, der ihn vor wenigen Monaten nach Empfang der Sterbesakramente noch einmal hatte rufen lassen.

Es dauerte einige Minuten, bis die Duchezza zu sprechen vermochte. Sie schaute ihn an, aber ihre Augen blieben erloschen: »Trennen wir uns, mein lieber Graf!« sagte sie zu ihm mit schwacher, aber fester Stimme, indem sie sich alle Mühe gab, einen liebenswürdigen Ton anzuschlagen. »Trennen wir uns! Es ist nötig. Der Himmel ist mein Zeuge, daß ich mir in diesen fünf Jahren nichts gegen Sie vorzuwerfen habe. Sie haben mir ein glänzendes Dasein verschafft, mich aus der Langenweile befreit, die in Grianta mein trübseliges Los war. Ohne Sie hätte mich das Alter ein paar Jahre früher heimgesucht. Anderseits ist es mein einziges Streben gewesen, Ihnen zu helfen, glücklich zu sein. Und weil ich Sie liebe, sage ich Ihnen: Wir wollen gütlich auseinandergehen, à l'amiable, wie man in Frankreich zu sagen pflegt.«

Der Graf verstand sie nicht. Sie mußte es ihm mehrere Male wiederholen. Er wurde totenfahl, fiel vor ihrem Bett auf die Kniee und sagte alles, was tiefe Verblüfftheit und höchste Verzweiflung einem klugen, leidenschaftlich verliebten Mann eingeben können. Immer wieder bot er ihr an, seine Entlassung einzureichen und seiner Freundin nach irgendeiner Zufluchtsstätte tausend Meilen von Parma zu folgen.

»Sie wagen mir vom Weggehen zu reden, wo Fabrizzio hierbleibt?« rief sie aus und richtete sich endlich halb auf. Aber da sie bemerkte, daß der Name Fabrizzio ihn schmerzlich berührte, fügte sie nach kurzem Schweigen hinzu, indem sie des Grafen Hand leicht drückte: »Nein, teurer Freund, ich will nicht behaupten, daß ich Sie mit jener Glut geliebt habe, die man vermutlich nicht einmal mit dreißig Jahren mehr hat, und ich bin über dieses Alter schon recht weit hinaus. Man wird Ihnen zugeflüstert haben, ich liebte Fabrizzio... Ich kenne ja den Klatsch, der an diesem boshaften Hof in Blüte steht.« Ihre Augen glänzten zum ersten Male während dieses Zwiegesprächs wieder auf, als sie das Wort ›boshaft‹ aussprach. »Ich schwöre Ihnen bei Gott und bei Fabrizzios Leben, daß zwischen ihm und mir nie auch nur das geringste geschehen ist, was das Auge eines Dritten hätte scheuen müssen. Ich will Ihnen nicht gerade sagen, daß ich ihn in schwesterlicher Zuneigung liebe; ich liebe ihn sozusagen – aus Instinkt. Ich liebe an ihm seinen schlichten und vollendeten Heldenmut, von dem man behaupten kann, daß er selber ihn nicht kennt. Ich erinnere mich, daß diese Art von Bewunderung begonnen hat, als er von Waterloo zurückkam. Er war noch ein Kind trotz seinen siebzehn Jahren. Seine größte Sorge war die, zu wissen, ob er wirklich an der Schlacht teilgenommen hatte, und wenn das der Fall war, ob er sagen dürfe, er sei Mitkämpfer gewesen, da er doch weder eine Batterie noch irgendeine feindliche Kolonne angegriffen hätte. Damals, bei den gewichtigen Erörterungen, die wir zusammen über diese bedeutsame Frage anstellten, habe ich an ihm zum ersten Male vollendeten Liebreiz entdeckt. Seine Seelengröße enthüllte sich mir. Mit was für klugen Lügen hätte jeder andere wohlerzogene junge Mann vor mir geprahlt! Kurz und gut, wenn er nicht glücklich ist, kann ich nicht glücklich sein. Das ist es! In diesen Worten haben Sie meinen Herzenszustand. Wenn es nicht die Wahrheit ist, so ist es zum mindesten alles, was ich von ihr weiß!«

Ermutigt durch diesen freimütigen, vertraulichen Ton, wollte der Graf ihr die Hand küssen. Sie entzog sie ihm mit einer Art von Grauen. »Das ist vorbei«, sagte sie zu ihm. »Ich bin eine Frau von siebenunddreißig Jahren, ich stehe an der Schwelle des Alters, ich merke bereits seine ganze Verzagtheit, und vielleicht bin ich sogar nicht mehr weit vom Grabe. Das ist ein schrecklicher Zeitpunkt, wie man sagt, und doch scheint er mir erwünscht. Ich verspüre das schlimme Vorzeichen des Alters. Mein Herz ist durch dieses furchtbare Unglück erstorben; ich kann nicht mehr lieben. Ich erblicke in Ihnen, lieber Graf, nur noch den Schatten von etwas, das mir teuer war. Mehr noch, es ist einzig Dankbarkeit, die mich veranlaßt, so zu Ihnen zu sprechen.«

»Was soll aus mir werden?« entgegnete ihr der Graf. »Ich fühle es doch: ich hänge an Ihnen leidenschaftlicher als in jenen Tagen, da ich Sie zum ersten Male in der Scala sah!«

»Darf ich Ihnen etwas gestehen, lieber Freund? Von Liebe zu reden, langweilt mich und scheint mir anstößig. Auf!« fuhr sie fort, indem sie zu lächeln versuchte, wenn auch vergeblich. »Mut! Seien Sie ein Mann von Geist, seien Sie verständig, seien Sie Herr der Lage! Zeigen Sie mir, daß Sie wirklich der Mann sind, für den Sie in den Augen der Unbeteiligten gelten, der gewandteste und größte Diplomat, den Italien seit Jahrhunderten erlebt!«

Der Graf stand auf und wandelte eine Weile stumm im Gemach hin und her.

»Unmöglich, meine Teure!« sagte er endlich. »Ich bin den Qualen der wildesten Empfindungen preisgegeben, und Sie verlangen von mir, ich solle die Vernunft sprechen lassen. Für mich gibt es keine Vernunft mehr!«

»Reden wir nicht von unseren Gefühlen, ich bitte Sie!« sagte sie in herbem Ton, und das war das erste Mal nach zweistündigem Gespräch, daß ihre Stimme einen bestimmten Klang annahm. Trotz seiner eigenen Verzweiflung suchte der Graf seine Freundin zu trösten.

»Er hat mich betrogen!« rief sie, ohne irgendwie auf die Hoffnungen einzugehen, die ihr der Graf begründete. »Er hat mich in der feigsten Weise betrogen!«

Ihre Totenblässe wich auf einen Augenblick; aber selbst während dieser äußerst heftigen Aufwallung sah der Graf, daß sie nicht die Kraft hatte, den Arm zu heben.

›Großer Gott,‹ dachte er, ›möglicherweise ist sie nur krank! Dann freilich wäre das der Anfang einer sehr schweren Krankheit!‹

Besorgt schlug er vor, den berühmten Rasoriden berühmten Rasori: G. Rasori, einer der Mitarbeiter am ›Conciliatore‹, der Zeitschrift der Mailänder Romantiker und Carbonari (1818-1819), war mit Beyle befreundet. In einem Briefe jener Zeit schreibt Stendhal: ›Er ist arm wie eine Kirchenmaus, lustig wie ein Vogel, witzig wie Voltaire und charakterfest wie Eisen. Ich stelle ihn neben die genialsten Männer, die ich kenne. Nach Napoleon, Canova und Byron kommen Rossini und Rasori. Er ist Arzt, Erfinder, Dichter und Schriftsteller. Ein wundervoller Plauderer. Sein Gesicht sieht verlebt aus, aber es ist geschnitten wie eine köstliche Kamee.‹ holen zu lassen, den ersten Arzt des Landes und Italiens.

»Wollen Sie denn einem Fremden das Vergnügen machen, die ganze Größe meiner Verzweiflung zu ermessen? Ist das der Rat eines Verräters oder eines Freundes?« Dabei schaute sie ihn mit seltsamen Augen an.

›So ist es denn Tatsache‹, sagte er sich verzweifelt. ›Sie liebt mich nicht mehr, ja sie rechnet mich nicht einmal mehr unter die gewöhnlichen Ehrenmänner.‹

»Was ich sagen wollte,« fuhr er laut und mit Eifer fort, »ich habe vor allem Einzelheiten über die Verhaftung feststellen wollen, die uns so in Verzweiflung bringt, aber merkwürdigerweise habe ich noch nichts Bestimmtes erfahren. Ich habe die Gendarmen der nächsten Wache verhören lassen; sie haben gesehen, wie der Gefangene auf der Straße von Castelnuovo ankam, und Befehl erhalten, seinem Wagen zu folgen. Ich habe Bruno, dessen Eifer Ihnen ebenso bekannt ist wie seine Ergebenheit, noch einmal zurückgeschickt; er hat die Anweisung, von Ort zu Ort zu gehen, um zu erkunden, wo und wie Fabrizzio festgenommen worden ist.«

Als Fabrizzios Name fiel, ward die Duchezza von einem leichten Krampf geschüttelt.

»Verzeihen Sie mir, lieber Freund!« sagte sie zum Grafen, als sie wieder zu sprechen vermochte. »Diese Einzelheiten sind mir sehr wertvoll. Erzählen Sie mir alles! Lassen Sie mich die geringsten Umstände wissen!«

»So hören Sie, gnädige Frau!« fuhr der Graf fort, indem er einen leichten Plauderton anzuschlagen versuchte, um sie ein wenig abzulenken. »Ich habe Lust, Bruno einen zuverlässigen Schreiber nachzusenden und ihm aufzutragen, seine Erkundigungen bis Bologna fortzusetzen. Vielleicht hat man unsren jungen Freund dort ausgehoben. Von wann ist sein letzter Brief?«

»Vom Dienstag, also vor fünf Tagen.«

»War er auf der Post erbrochen?«

»Davon war keine Spur zu merken. Ich muß Ihnen sagen, er war auf abscheuliches Papier geschrieben, die Aufschrift stammte von weiblicher Hand und trug den Namen einer alten Wäscherin, einer Verwandten meiner Kammerzofe. Die Wäscherin glaubt, es handle sich um eine Liebesgeschichte, und Cechina erstattet ihr das Briefporto ohne Aufschlag zurück.«

Der Graf hatte einen ganz geschäftlichen Ton angenommen und versuchte in Gemeinschaft mit der Duchezza auszurechnen, an welchem Tage Fabrizzios Verhaftung in Bologna stattgefunden haben könne. Sonst so feinfühlig, ward er erst jetzt inne, daß er von vornherein nicht anders hätte sprechen sollen. Diese Einzelheiten fesselten die unglückliche Frau und zerstreuten sie sichtlich. Wäre der Graf nicht so verliebt gewesen, dann wäre ihm dieser doch recht nahe liegende Gedanke sogleich beim Betreten des Zimmers gekommen. Die Duchezza veranlaßte ihn, zu gehen, um dem treuen Bruno unverzüglich neue Befehle zu senden. Als die Frage gestreift wurde, ob Serenissimus den Haftbefehl vor oder nach der Unterzeichnung jenes Briefes an die Duchezza erlassen habe, ergriff sie eifrig die Gelegenheit, dem Grafen zu sagen: »Wegen Auslassung der Worte ›ungerechter Prozeß‹ in dem Brief, den Sie geschrieben haben und den Serenissimus unterzeichnet hat, mache ich Ihnen keinen Vorwurf. Es war der Höflingstrieb, der Sie am Schopfe hatte. Unbewußt setzten Sie das Wohl Ihres Landesherrn über das Ihrer Freundin. Sie haben Ihr Tun meinen Befehlen untergeordnet, lieber Graf, und das seit langer Zeit; aber es steht nicht in ihrer Macht, Ihre Natur zu ändern. Sie besitzen große Fähigkeiten zum Minister, aber Sie haben auch den inneren Drang zu diesem Beruf. Das Weglassen des Wörtchens ›ungerecht‹ war mein Verderben. Aber ich bin weit entfernt, Sie deswegen irgendwie zu tadeln. Es war eine Verfehlung des Instinkts und nicht des Willens.

Merken Sie auf!« fuhr sie mit verändertem Ton und der Miene einer hohen Gebieterin fort. »Ich bin keinesfalls allzu betrübt über Fabrizzios Verhaftung; ich habe nicht im geringsten die Neigung, dieses Land zu verlassen; ich ehre Serenissimus. So sollen Sie sagen! Und nun, was ich Ihnen mitzuteilen habe: Da ich mein Tun und Lassen fortan allein zu bestimmen gedenke, will ich mich von Ihnen in aller Freundschaft trennen, das heißt, ich will Ihnen eine gute alte Freundin sein. Bilden Sie sich ein, ich wäre sechzig. Das junge Weib ist in mir erstorben, ich kann über nichts in der Welt mehr in Entzücken geraten, ich kann nicht mehr lieben. Aber ich wäre noch unglücklicher, als ich es bin, wenn ich Ihr Geschick gefährden sollte. Meine Pläne können es erheischen, daß ich mir vor den Leuten einen neuen Liebhaber zulege; aber ich möchte Ihnen damit nicht weh tun. Ich kann Ihnen schwören bei dem Glück Fabrizzios –,« nach diesen Worten machte sie eine kleine Pause, »daß ich Ihnen niemals untreu geworden bin, und das im Laufe von fünf Jahren. Das ist eine lange Zeit«, meinte sie und versuchte zu lächeln; ihre so bleichen Wangen belebten sich, aber ihre Lippen versagten. »Ich schwöre Ihnen sogar, daß ich weder Absicht noch Lust habe, Ihnen je untreu zu werden. Haben Sie mich recht verstanden? Dann lassen Sie mich allein!«

Der Graf verließ den Palazzo Sanseverina in heller Verzweiflung. Er war sich klar, daß die Duchezza den wohlerwogenen Vorsatz hatte, mit ihm zu brechen, aber nie war er so rasend verliebt gewesen. Das ist etwas, was ich immer besonders hervorheben muß, weil es außerhalb Italiens unwahrscheinlich ist. Als er in seine Wohnung kam, sandte er nicht weniger als sechs verschiedene Boten auf die Straße nach Castelnuovo und Bologna und gab ihnen Briefe mit. ›Aber das genügt nicht!‹ sagte sich der unglückliche Graf. ›Serenissimus kann den verstiegenen Einfall haben, den Unglücksjungen köpfen zu lassen, und zwar aus Rache für den Ton, den sich die Duchezza am Tage jenes unglückseligen Briefes vor ihm herausgenommen hat. Ich hatte sofort das Gefühl, daß die Duchezza eine Grenze überschreite, über die man nie hinausgehen darf. Und gerade um die Sache wieder einzurenken, habe ich die unglaubliche Dummheit begangen, die Worte ›ungerechter Prozeß‹ zu unterdrücken, das einzige, was den Fürsten gebunden hätte... Ach was, diese Art Menschen ist durch nichts gebunden! Zweifellos ist das der Hauptfehler meines Lebens: Ich habe an den Entscheidungspunkten immer alles dem Zufall anvertraut. Jetzt heißt es, jene Torheit mit Tatkraft und Geschicklichkeit wettzumachen. Aber wenn ich nichts erreichen kann, selbst unter Preisgabe eines Teiles meiner Würde, dann lasse ich den Mann im Stich. Bei seinen großen politischen Träumen, seinen Ideen, sich zum König der Lombardei aufzuschwingen, wollen wir doch sehen, durch wen er mich ersetzen will. Fabio Conti ist nichts als ein Trottel, und Rassis Talent beschränkt sich darauf, jemanden, der den Machthabern mißfällt, gesetzmäßig an den Galgen zu bringen.‹

Nachdem der Entschluß einmal feststand, von seinem Ministerposten zurückzutreten, sobald die Maßregeln gegen Fabrizzio über die einfache Haft hinausgehen sollten, sagte sich der Graf: ›Wenn eine eitle Laune des so unklug gereizten Mannes mich mein Glück kostet, dann soll mir wenigstens die Ehre bleiben. Übrigens, da ich meines Amtes spotte, kann ich mir hundert Taten erlauben, die mich noch heute morgen unmöglich dünkten. Zum Beispiel werde ich das Menschenmögliche versuchen, Fabrizzio zur Flucht zu verhelfen...‹ »Großer Gott!« rief der Graf aus, sich selbst unterbrechend und die Augen weit aufreißend, als sähe er ein unverhofftes Glück: »Die Duchezza hat von einem Fluchtversuch gar nichts erwähnt. Sollte sie zum ersten Mal in ihrem Leben nicht aufrichtig sein? Sollte der Bruch nichts weiter sein als der Wunsch, mich zum Verräter am Fürsten zu machen? Meiner Treu, so ists!«

Der Blick des Grafen gewann all seine satirische Feinheit wieder. ›Dieser liebenswürdige Fiskal Rassi wird von Serenissimus für alle die Urteilssprüche bezahlt, die uns vor Europa entehren, aber er ist kein Mann, der sich nicht auch von mir bestechen und sich die Geheimnisse seines Gebieters abkaufen ließe. Die Bestie hat eine Mätresse und einen Beichtvater. Doch diese Liebste sieht mir zu schäbig aus, als daß ich mit ihr reden könnte. Anderntags klatscht sie unsere Zusammenkunft allen Obstweibern der Nachbarschaft.‹

Durch diesen Hoffnungsschimmer neu belebt, machte sich der Graf flugs auf den Weg zur Kathedrale. Erstaunt über die Gewagtheit seines Schrittes, lächelte er trotz seinem Kummer. ›Das ist so, als wäre ich schon nicht mehr Minister‹, sagte er sich.

Die Kathedrale dient, wie viele Kirchen in Italien, als Durchgang von einer Straße zur anderen. Der Graf erblickte von weitem einen der Großvikare des Erzbischofs, der quer durch das Schiff kam.

»Da ich Sie gerade treffe,« sagte er zu ihm, »wäre es sehr gütig von Ihnen, wenn Sie mir bei meiner Gicht die Anstrengung ersparten, zu Seiner Hochwürden dem Erzbischof hinaufzusteigen. Ich wäre ihm über alles dankbar, wenn er in die Sakristei herunterkommen wollte.«

Der Erzbischof war über diese Botschaft entzückt; er hatte dem Minister wegen Fabrizzio so vieles zu sagen. Der Minister erriet jedoch, daß es nur Redensarten waren, und ging nicht darauf ein.

»Was für ein Mensch ist Dugnani, der Vikar von San Paolo?«

»Ein beschränkter Kopf, aber sehr ehrgeizig«, antwortete der Erzbischof. »Er macht sich wenig Gedanken und ist außerordentlich arm. Wir haben deshalb manchen Verdruß.«

»Ausgezeichnet, Monsignore!« rief der Minister. »Sie sind der reine Tacitus!«

Damit verabschiedete er sich lachend von ihm. Kaum war er wieder im Ministerium, als er den Abbate Dugnani zu sich bitten ließ.

»Sie sind der Seelsorger meines trefflichen Freundes, des Großfiskals Rassi. Sollte er mir nichts zu sagen haben?«

Und ohne weitere Worte und Förmlichkeiten entließ er Dugnani wieder.


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