Stendhal
Die Kartause von Parma
Stendhal

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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Den Tag über wurde Fabrizzio von verschiedenen ernsten und unangenehmen Überlegungen heimgesucht; aber in dem Maße, wie er die Stunden schlagen hörte, die ihn dem Augenblick der Tat näher brachten, fühlte er sich froher und munterer. Die Duchezza hatte ihm geschrieben, die frische Luft werde ihn sehr angreifen, und er werde draußen kaum noch gehen können. Sollte das der Fall sein, so solle er sich doch lieber wieder ergreifen lassen, statt von einer hundertachtzig Fuß hohen Mauer abzustürzen. ›Wenn mich dieses Unglück packt,‹ sagte sich Fabrizzio, ›so will ich mich auf der Mauerkrone hinlegen und eine Stunde schlafen; dann fange ich von neuem an. Da ich es Clelia geschworen habe, falle ich lieber von der Höhe einer Mauer hinunter, mag sie noch so hoch sein, als daß ich mir Tag für Tag Gedanken über den Geschmack des Brotes mache, das ich zu essen bekomme. Was für gräßliche Qualen mag man auszuhalten haben, bis man bei einer Vergiftung endlich stirbt! Fabio Conti wird dabei nicht besonders wählerisch sein; er läßt mir Arsenik beibringen, womit man die Ratten in der Zitadelle vertilgt.‹

Gegen Mitternacht legte sich dichter weißer Nebel, wie ihn die Po-Niederung zuweilen ausdünstet, erst über die Stadt und stieg dann zu dem Wall und den Basteien auf, in deren Mitte der mächtige Unterturm der Zitadelle liegt. Fabrizzio glaubte wahrzunehmen, daß man von der Brustwehr der Plattform aus nicht bis zu den Akazienbüschen hinuntersehen konnte, die die Soldatengärten zu Füßen der hundertachtzig Fuß hohen Mauer einfaßten. ›Das ist prächtig!‹ dachte er bei sich. Kurz nachdem es halb ein Uhr geschlagen hatte, leuchtete das Zeichen der kleinen Lampe am Vogelstubenfenster auf. Fabrizzio war zur Tat bereit. Er schlug ein Kreuz; dann befestigte er an seiner Bettstelle das kleine Seil, das zum Hinabklettern der fünfunddreißig Fuß bestimmt war, die ihn von der Plattform trennten. Ohne Unfall gelangte er auf das Dach des alten Wachtraumes, wo seit einem Tage die zweihundert Mann Verstärkung hausten. Unglücklicherweise waren die Soldaten um drei Viertel ein Uhr – so spät war es nun – noch nicht eingeschlafen. Während Fabrizzio wie eine Katze über die runden Ziegel schlich, hörte er sagen, der Teufel sitze auf dem Dach; man solle versuchen, ihn mit einer Flintenkugel herunterzuschießen. Etliche Stimmen behaupteten, ein solches Verlangen sei gottlos; andere meinten, wenn man schösse, ohne etwas zu erlegen, würde der Kommandant sie alle miteinander in Arrest stecken, weil sie die Besatzung unnützerweise alarmiert hätten. Diese schöne Unterhaltung bewirkte, daß Fabrizzio so schnell wie möglich über das Dach hinwegzukommen suchte und dabei noch mehr Lärm verursachte. Tatsächlich starrten die Fenster von Bajonetten gerade in dem Augenblick, als er, an seinem Seil hängend, daran vorbeiglitt, zum Glück vier oder fünf Fuß davon entfernt, weil das Dach so weit vorstand. Einige haben behauptet, Fabrizzio, närrisch wie immer, habe die Rolle des Teufels gespielt und eine Handvoll Zechinen unter die Soldaten geworfen. So viel ist sicher, daß er Zechinen über den Fußboden seiner Zelle gestreut hatte und dasselbe auf der Plattform auf seinem Wege von der Torre Farnese bis zur Brustwehr tat, um durch diese Ablenkung seiner etwaigen Verfolger einen Vorsprung zu gewinnen.

Als er die Plattform erreicht hatte, lenkte er – nun in nächster Nähe der Wachtposten, die alle Viertelstunden einen ganzen Satz: ›Auf Wache und Posten nichts Neues!‹ rufen mußten – seine Schritte nach der westlichen Brustwehr und suchte nach dem hellen Stein.

Etwas erscheint unglaublich und könnte in Zweifel gezogen werden, wenn die vollendete Tatsache nicht eine ganze Stadt zu Zeugen gehabt hätte, nämlich der Umstand, daß die Posten, die längs der Brustwehr standen, Fabrizzio nicht bemerkt und angehalten haben. Allerdings war der Nebel, von dem bereits gesprochen wurde, höher gestiegen, und Fabrizzio erzählte, auf der Plattform habe es ihm geschienen, als ob er die Torre Farnese bereits bis zur halben Höhe einhülle. Dieser Nebel war jedoch durchaus nicht dicht, und Fabrizzio erkannte deutlich die Schildwachen, von denen einige auf und ab schritten. Er erzählte weiterhin, er sei, wie von einer übernatürlichen Macht getrieben, dreist zwischen zwei Posten hindurchgegangen, die ziemlich dicht nebeneinander standen. Gelassen nahm er das lange Seil ab, das er um den Leib trug und das sich zweimal verwickelte. Er brauchte lange Zeit, um es zu entwirren und über die Brustwehr hinabzulassen. Er hörte, wie die Soldaten auf allen Seiten sprachen, und war fest entschlossen, den ersten, der sich ihm nähern würde, niederzustechen. »Ich war keineswegs unruhig«, erzählte er später. »Mir war, als vollzöge ich eine feierliche Handlung.«

Sein endlich entwirrtes Seil befestigte er in einer Öffnung der Brustwehr, durch die das Wasser abfließen sollte, erstieg die Brustwehr und rief inbrünstig Gott an. Wie ein Held aus der Ritterzeit dachte er einen Augenblick an Clelia. »Wie verschieden bin ich doch«, sagte er sich, »von jenem leichtsinnigen und liederlichen Fabrizzio, der vor neun Monaten hier einzog.« Dann begann er die erstaunliche Höhe hinabzuklettern. Er habe mechanisch gehandelt, erzählte er später, und es sei ihm gewesen, als sei hell-lichter Tag und er klettere vor Freunden hinunter, um eine Wette zu gewinnen. Etwa auf halber Höhe merkte er mit einem Male, daß seine Arme erlahmten; er glaubte sogar, er habe das Seil einen Augenblick fahren lassen, es aber alsbald wieder festgehalten. Vielleicht, sagte er, habe er sich auf Gestrüpp gestützt, an dem er vorbeirutschte und das ihm die Haut aufschürfte. Hin und wieder hatte er zwischen den Schultern heftige Schmerzen, die sich bis zu Atembeklemmungen steigerten. Er geriet in ein höchst unbequemes Hinundherpendeln; unaufhörlich schnellte ihn das Seil an das Gestrüpp und wieder hinweg. Mehrmals streiften ihn ziemlich große Vögel, die er aufgescheucht hatte und die im Fortfliegen gegen ihn stießen. Anfangs wähnte er sich von Leuten eingeholt, die ihm von der Zitadelle auf demselben Wege folgten. Er hielt sich zur Verteidigung bereit. Endlich erreichte er den Fuß des mächtigen Turmes ohne andere Unannehmlichkeiten als die, blutige Hände bekommen zu haben. Er erzählte später, die in halber Höhe beginnende Böschung sei ihm sehr nützlich gewesen. Er rutschte an der Mauer hinunter, und das zwischen den Mauerritzen wachsende Buschwerk gewährte ihm guten Halt.

Als er unten in den Soldatengärten ankam, fiel er in eine Akazie, die ihm, von oben gesehen, eine Höhe von vier bis fünf Fuß zu haben schien, in Wirklichkeit aber fünfzehn bis zwanzig Fuß hoch war. Ein Bezechter, der dort schlummernd lag, hielt ihn für einen Einbrecher. Als Fabrizzio von dem Baume hinabfiel, verrenkte er sich fast den linken Arm. Er wollte auf den Wall fliehen, aber seine Beine waren wie aus Watte; er hatte keine Kraft mehr. Trotz der Gefahr setzte er sich hin und trank einen Schluck Branntwein, den er noch hatte. Ein paar Minuten lang schlief er, ohne zu wissen, wo er war. Als er wieder erwachte, glaubte er sich in seiner Zelle und begriff nicht, wieso er Bäume sehen konnte. Schließlich kehrte die grausige Wahrheit wieder in sein Gedächtnis zurück. Sofort lief er nach dem Wall, den er auf einer breiten Treppe erstieg. Der Posten, der ganz in der Nähe stand, schnarchte in seinem Schilderhaus. Fabrizzio sah im Grase ein Kanonenrohr liegen; daran band er sein drittes Seil. Es war ein wenig zu kurz, und so fiel er in den schlammigen Graben, wo das Wasser etwa einen Fuß tief sein mochte. Während er wieder aufstand und sich zurechtzufinden suchte, fühlte er sich von zwei Männern gefaßt. Im Augenblick erschrak er, aber alsbald hörte er dicht an seinem Ohre ganz leise flüstern: »Monsignore! Monsignore!« Jetzt begriff er, daß die Männer zur Duchezza gehörten. Unmittelbar darauf fiel er in tiefe Ohnmacht. Nach einer Weile merkte er, daß er von Leuten, die stumm und sehr rasch ausschritten, fortgetragen wurde. Dann machte man Halt, was ihn sehr beunruhigte; aber er hatte weder die Kraft zum Sprechen noch dazu, die Augen aufzuschlagen. Er fühlte, daß man ihn drückte; mit einem Male verspürte er den Duft der Kleider der Duchezza. Dieser Duft belebte ihn. Er öffnete die Augen und vermochte die Worte herauszubringen: »O teure Freundin!« Dann umfing ihn von neuem tiefe Ohnmacht.

Der treue Bruno lag mit einer Handvoll dem Grafen Mosca ergebener Polizisten im Hinterhalt, zweihundert Schritt entfernt. Der Graf selbst hielt sich in einem Häuschen verborgen, unweit des Platzes, wo die Duchezza harrte. Wenn es nötig gewesen wäre, so hätte er ohne Zögern mit ein paar vertrauten Freunden, verabschiedeten Offizieren, den Degen gezogen. Er hielt sich gewissermaßen für verpflichtet, Fabrizzio das Leben zu retten, das ihn außerordentlich bedroht dünkte und dem die Begnadigung des Fürsten verbrieft gewesen wäre, wenn er, Mosca, damals nicht die Dummheit begangen hätte, Serenissimus eine Dummheit zu ersparen.

Seit Mitternacht irrte die Duchezza, umgeben von Leuten, die bis an die Zähne bewaffnet waren, in dumpfem Schweigen um die Wälle der Zitadelle. Sie vermochte nicht ruhig auf einem Platze zu bleiben; sie dachte, es werde einen Kampf geben, um Fabrizzio seinen Verfolgern zu entreißen. Ihre erregte Phantasie hatte tausend Vorsichtsmaßregeln getroffen, die hier einzeln aufzuführen zu weitschweifig wäre und die unglaublich unvorsichtig waren. Man hat ausgerechnet, daß in jener Nacht mehr als achtzig Helfershelfer auf den Beinen waren und darauf warteten, für irgendeine außergewöhnliche Sache zu fechten. Glücklicherweise führten Ferrante und Ludovico den Oberbefehl über alles, und der Polizeiminister stand ja nicht auf der gegnerischen Seite. Graf Mosca gab acht, daß die Duchezza von niemandem verraten ward; als Minister wußte er von der ganzen Geschichte nichts.

Die Duchezza verlor vollständig den Kopf, als sie Fabrizzio wiedersah. Krampfhaft schloß sie ihn in ihre Arme. Als sie sich von Blut besudelt sah, war sie außer sich. Es rührte von Fabrizzios Händen her; sie glaubte, er sei ernstlich verletzt. Mit Hilfe eines der Männer zog sie Fabrizzio den Rock aus und wollte ihn verbinden. Zum Glück war Ludovico zur Stelle. Energisch steckte er die Duchezza samt Fabrizzio in einen Wagen, der, in einem Garten dicht vor dem Stadttor verborgen, in Bereitschaft stand. Im Galopp ging es fort, um bei Sacca das jenseitige Ufer des Po zu erreichen. Ferrante bildete mit zwanzig wohlbewaffneten Leuten die Nachhut; er hatte sich bei seinem Haupte geschworen, Verfolger aufzuhalten. Der Graf, allein und zu Fuß, verließ die Umgebung der Zitadelle erst zwei Stunden später, als er sah, daß sich nichts rührte. ›Nun bin ich ein Hochverräter!‹ sagte er sich, berauscht vor Freude.

Ludovico hatte den ausgezeichneten Einfall, einen jungen, dem Hause der Duchezza ergebenen Arzt, der viel Ähnlichkeit mit Fabrizzio hatte, in einen zweiten Wagen zu setzen.

»Täuschen Sie eine Flucht vor in der Richtung auf Bologna!« sagte er zu ihm. »Benehmen Sie sich recht auffällig! Sehen Sie zu, daß Sie festgenommen werden! Dann widersprechen Sie sich in Ihren Aussagen, und schließlich gestehen Sie, Sie seien Fabrizzio del Dongo! Vor allem: gewinnen Sie Zeit! Seien Sie geschickt im Ungeschick! Sie kommen mit einem Monat Gefängnis davon, und die gnädige Frau wird Sie mit fünfzig Zechinen entschädigen.«

»Wer wird an Geld denken, wenn man der gnädigen Frau einen Dienst leistet!«

Er fuhr ab und wurde ein paar Stunden später aufgegriffen, worüber der General Fabio Conti und Rassi hoch erfreut waren. Mit Fabrizzios Befreiung aus seiner gefährlichen Lage schien dem Oberfiskal auch sein Baronstitel entschwunden zu sein.

Die Flucht wurde in der Zitadelle gegen sechs Uhr morgens ruchbar; erst um zehn Uhr wagte man sie Serenissimus zu melden. Obwohl die Duchezza dreimal den Wagen halten ließ, weil sie den tiefen Schlaf Fabrizzios für eine tödliche Ohnmacht hielt, wurde sie so gut bedient, daß sie in einer Barke über den Po fuhr, als es vier Uhr morgens schlug. Auf dem linken Ufer standen Wechselpferde bereit. Mit Windeseile kam man noch zwei Meilen weiter; dann gab es einen Aufenthalt von mehr als einer Stunde durch die Prüfung der Pässe. Die Duchezza hatte deren für sich und Fabrizzio von allen möglichen Arten, aber an diesem Tage war sie nicht ganz bei Sinnen; sie ließ es sich einfallen, dem österreichischen Polizeibeamten zehn Napoleons zu geben und ihm unter Tränen die Hand zu schütteln. Der arg erschrockene Polizist begann neue Fragen zu stellen.

Man nahm die Post; die Duchezza bezahlte in so auffallender Weise, daß sie in jenem Lande, wo alles Auswärtige verdächtig ist, allenthalben Verdacht erregte. Wieder kam ihr Ludovico zu Hilfe; er sagte, die Duchezza sei vor Schmerz nicht recht bei Sinnen, weil der junge Graf Mosca, der Sohn des Premierministers von Parma, unaufhörlich Fieber habe; sie geleite ihn nach Pavia, um dort die Ärzte zu befragen.

Erst zehn Meilen jenseits des Po wurde der Flüchtling richtig wach. Er hatte eine geschwollene Schulter und starke Schrammen. Die Duchezza benahm sich immer noch derart auffällig, daß der Wirt einer Dorfschenke, wo man zu Mittag aß, es mit einer Fürstin aus dem kaiserlichen Hause zu tun zu haben vermeinte und ihr die Ehren erwies, die er ihr zu schulden glaubte, bis Ludovico dem Manne sagte, die Fürstin würde ihn unfehlbar einsperren lassen, wenn er sich unterstünde, die Glocken läuten zu lassen.

Endlich erreichte man gegen sechs Uhr abends das Piemonter Gebiet. Erst dort war Fabrizzio in voller Sicherheit. Man brachte ihn in ein kleines Dorf abseits der großen Straße; seine Hände wurden verbunden, und er schlief noch ein paar Stunden.

In diesem Dorfe vollbrachte die Duchezza eine Tat, die nicht allein vom moralischen Standpunkt abscheulich ist, sondern auch auf den Frieden ihres ferneren Lebens einen trüben Schatten warf. Etliche Wochen vor Fabrizzios Entkommen, an einem Tage, an dem ganz Parma ans Tor der Zitadelle gelaufen war, um das ihm zu Ehren errichtete Schafott zu sehen, hatte die Duchezza dem Ludovico, der ihr Vertrauensmann geworden war, das Geheimnis gezeigt, wie man aus einem gut verborgenen schmalen Eisenrahmen einen Stein aus dem Boden des schon genannten berühmten Wasserbehälters aus dem dreizehnten Jahrhundert entfernen konnte. Während Fabrizzio in der Trattoria des kleinen Dorfes schlief, ließ die Duchezza Ludovico rufen. Er glaubte, sie sei verrückt geworden, so seltsam kamen ihm die Blicke vor, mit denen sie ihn anschaute.

»Sie erwarten gewiß,« sagte sie zu ihm, »daß ich Ihnen ein paar tausend Franken geben werde. Aber nein, das tue ich nicht. Ich kenne Sie; Sie sind ein Poet. Sie würden das Geld alsbald durchbringen. Ich schenke Ihnen das kleine Gut La Ricciarda, eine Meile von Casalmaggiore.«

Toll vor Freude warf sich Ludovico ihr zu Füßen. Mit Worten, die ihm von Herzen kamen, verwahrte er sich dagegen, daß er zur Rettung des Monsignore Fabrizzio beigetragen habe, um Geld zu verdienen. Er hätte ihn immer mit ganz besonderer Zuneigung geliebt, seit er einmal die Ehre gehabt habe, ihn in seiner Eigenschaft als dritter Kutscher der gnädigen Frau zu fahren. Als der Mann, der wirklich Gemüt besaß, glaubte, er habe eine so vornehme Dame genugsam mit sich beschäftigt, empfahl er sich, aber sie sagte mit funkelnden Augen: »Bleiben Sie!«

Ohne ein Wort zu sprechen, ging sie in der Wirtshausstube hin und her und sah von Zeit zu Zeit mit seltsamen Augen auf Ludovico. Als diese unheimliche Wanderung gar kein Ende nahm, hielt sich der Mann schließlich für verpflichtet, das Wort an seine Herrin zu richten.

»Gnädige Frau haben mich so überreich beschenkt, so über alles das hinaus, was sich ein armer Kerl wie ich zu erträumen vermocht hat, so übermäßig hoch im Vergleich zu den geringen Diensten, die ich zu leisten die Ehre gehabt habe, daß ich La Ricciarda nicht mit gutem Gewissen behalten kann. Ich erlaube mir, der gnädigen Frau das Gut zurückzuerstatten, und ich bitte, mir ein Jahresgeld von vierhundert Franken zu bewilligen.«

»Wievielmal in Ihrem Leben,« fragte ihn die Duchezza voll finsterer Hoheit, »wievielmal haben Sie es erlebt, daß ich von dem, was ich einmal gesagt, wieder Abstand genommen habe?«

Nach dieser Frage lief sie noch etliche Minuten lang hin und her; dann blieb sie plötzlich stehen und rief aus:

»Nur aus Zufall und weil Fabrizzio jener Kleinen zu gefallen gewußt hat, ist sein Leben gerettet worden. Wäre er nicht liebenswert, so wäre er gestorben. Können Sie das vor mir leugnen?« sagte sie, indem sie auf Ludovico zuging und Augen machte, in denen die düsterste Raserei loderte.

Ludovico wich einige Schritte zurück und dachte, sie wäre wahnsinnig, was ihn als angehenden Besitzer des Gutes La Ricciarda recht besorgt machte.

»Passen Sie auf!« begann die Duchezza in sanftestem und heiterstem Tone und völlig verwandelt. »Ich will, daß meine lieben Leute von Sacca einen fröhlichen Tag haben, an den sie lange zurückdenken. Sie sollen nach Sacca zurück! Haben Sie etwas dagegen einzuwenden? Denken Sie, daß Sie sich dabei in Gefahr bringen?«

»Kaum, gnädige Frau. In Sacca weiß kein Mensch, daß ich im Gefolge des Monsignore Fabrizzio gewesen bin. Überdies erlaube ich mir, der gnädigen Frau zu bekennen, daß ich großes Verlangen habe, mir mein Gut La Ricciarda anzusehen. Es kommt mir so drollig vor, daß ich Grundbesitzer bin!«

»Dein Frohsinn gefällt mir. Der Pächter von La Ricciarda schuldet mir, wie mir einfällt, die Pacht von drei oder vier Jahren. Die Hälfte dieser Schuld will ich ihm schenken, und die andere Hälfte aller Rückstände trete ich dir ab, unter einer Bedingung: Du gehst nach Sacca, sagst, daß übermorgen der Namenstag einer meiner Schutzheiligen sei, und sorgst dafür, daß am Abend nach deiner Rückkehr das Schloß aufs glänzendste beleuchtet wird. Spare weder Geld noch Mühe! Bedenke, es handelt sich um das größte Glück meines Lebens! Ich habe diese Festbeleuchtung von langer Hand vorbereitet, seit mehr als drei Monaten habe ich in den Schloßkellern alles aufgehäuft, was zu diesem hohen Feste gebraucht wird. Dem Gärtner habe ich das Nötige für ein prächtiges Feuerwerk zum Aufbewahren gegeben. Du läßt es auf der Terrasse nach dem Po zu abbrennen. In meinen Kellereien habe ich neunzig Fuder Wein. Laß neunzig Weinfontänen in meinem Park springen! Wenn anderntags noch eine volle Flasche Wein da ist, dann liebst du Fabrizzio nicht! Sind die Weinfontänen, die Schloßbeleuchtung und das Feuerwerk im besten Gange, dann machst du dich vorsichtig aus dem Staube, denn möglicherweise – und das hoffe ich gerade – werden alle diese schönen Dinge in Parma als Unverschämtheit aufgefaßt.«

»Nicht nur möglicherweise, sondern sicher. Ebenso sicher wird der Großfiskal Rassi, der das Urteil über Fabrizzio unterzeichnet hat, vor Wut platzen. Und«, fügte Ludovico zaghaft hinzu, »wenn die gnädige Frau ihrem armen Diener noch mehr Freude bereiten wollte als mit der Schenkung der halben Rückstände von La Ricciarda, dann gestatten Sie mir, daß ich dem Rassi einen kleinen Schabernack spiele.«

»Du bist ein braver Kerl!« rief die Duchezza begeistert aus. »Aber ich verbiete dir auf das strengste, Rassi irgend etwas anzuhaben. Ich habe die Absicht, ihn später öffentlich hängen zu lassen. Was dich anlangt: laß dich in Sacca ja nicht erwischen; wenn ich dich verlöre, wäre alles verdorben.«

»Ich, gnädige Frau! Habe ich bekannt gegeben, daß ich ein Fest zu Ehren einer Schutzheiligen der gnädigen Frau veranstalten soll, so seien Sie gewiß: wenn die Polizei dreißig Gendarmen schickte, um es irgendwie zu stören, – ehe sie bis an das rote Kreuz in der Mitte des Dorfes kommen, sitzt nicht einer von ihnen mehr auf seinem Gaul! Die Leute von Sacca wissen, was sie zu tun haben, jawohl! Das sind alles alte Schmuggler, und sie beten die gnädige Frau an.«

»Schön«, begann die Duchezza in einem seltsamen, freimütigen Ton von neuem. »Ich stifte meinen braven Saccanern Wein; die Parmaer will ich unter Wasser setzen! Am selben Abend, da mein Schloß festlich beleuchtet wird, schwingst du dich auf das schnellste Roß meines Stalles, sprengst nach meinem Palazzo in Parma und läßt den Wasserbehälter auslaufen.«

»Ah! Der Einfall der gnädigen Frau ist vortrefflich!« rief Ludovico und lachte wie besessen. »Wein den braven Saccanern und Wasser den Spießern von Parma, diesen Schuften, die so sicher waren, daß Monsignore Fabrizzio vergiftet werden würde!«

Ludovicos Freude fand gar kein Ende. Wohlgefällig betrachtete die Duchezza sein närrisches Lachen. Unaufhörlich wiederholte er: »Wein den braven Saccanern und Wasser den Parmaern! Die gnädige Frau weiß zweifellos besser als ich, daß man den Wasserbehälter vor zwanzig Jahren einmal aus Unvorsichtigkeit hat auslaufen lassen. Da hat das Wasser in mehreren Straßen fußhoch gestanden.«

»Und Wasser für die Parmaer!« wiederholte die Duchezza lachend. »Die Promenade vor der Zitadelle wäre voller Menschen gewesen, wenn man Fabrizzio enthauptet hätte. Alle Welt nennt ihn den großen Verbrecher... Vor allen Dingen mache die Sache schlau, damit nie ein menschliches Wesen erfährt, daß du die Überschwemmung angerichtet hast, oder gar, daß ich sie angeordnet habe! Fabrizzio und selbst Graf Mosca dürfen den tollen Spaß nie erfahren. – Aber ich vergesse die braven Saccaner. Schreibe schnell einen Brief an meinen Verwalter; ich werde ihn unterzeichnen. Schreibe, er solle am Namenstage meiner Schutzpatronin unter die Armen von Sacca hundert Zechinen verteilen und in allem, was die Festbeleuchtung, das Feuerwerk und den Wein betrifft, dir Folge leisten. Am Tage darauf soll sich in meinen Kellern nicht eine volle Flasche finden!«

»Der Verwalter wird nur in einem Punkte in Verlegenheit sein. Solange die gnädige Frau das Schloß besitzt, also seit fünf Jahren, gibt es keine zehn Arme in Sacca mehr.«

»Und Wasser für die Parmaer!« trällerte die Duchezza immer wieder. »Wie willst du diesen Ulk in Szene setzen?«

»Mein Plan ist fix und fertig. Ich reite von Sacca gegen neun Uhr weg; halb zehn bin ich mit meinem Pferd im Gasthof ›Zu den drei Kinnladen‹ an der Straße von Casalmaggiore, an der auch mein Gut La Ricciarda liegt. Um elf bin ich in meiner Stube im Palazzo, und ein Viertel zwölf gibt es Wasser für die Parmaer, und mehr, als sie brauchen, um auf das Wohl des ›großen Verbrechers‹ zu trinken. Zehn Minuten später reite ich auf der Straße nach Bologna wieder zur Stadt hinaus. Beim Vorbeikommen werde ich vor der Zitadelle feierlichst meinen Hut abnehmen. Der Mut Monsignores und die Klugheit der gnädigen Frau haben ihr das Ansehen genommen. Ich werde einen mir wohlbekannten Fußweg durch die Campagna reiten und meinen Einzug in La Ricciarda halten.«

Ludovico sah die Duchezza an und war erschrocken. Sie starrte auf die kahle Mauer sechs Schritt vor sich, und unleugbar mit wilden Blicken. »Ach, mein armes Gütchen!« dachte Ludovico. »Sie ist wirklich verrückt!«

Die Duchezza sah ihn an und ahnte seine Gedanken.

»Aha, Herr Ludovico, der große Poet, wünscht die Schenkung schwarz auf weiß! Hol Er rasch einen Bogen Papier!«

Ludovico ließ sich diesen Befehl nicht zweimal sagen, und die Duchezza schrieb eigenhändig eine umständliche Anerkennung, die sie ein Jahr zurückdatierte, in der sie bescheinigte, von Ludovico San Micheli die Summe von achtzigtausend Franken erhalten und ihm dafür das Gut La Ricciarda verpfändet zu haben. »Wenn die Duchezza binnen einem Jahre besagte achtzigtausend Franken Herrn Ludovico nicht zurückgezahlt hat, so soll La Ricciarda sein Eigentum sein.«

»Es ist etwas Schönes,« sagte sich die Duchezza, »einem treuen Diener etwa ein Drittel von allem, was ich besitze, zu schenken.«

»Ach so,« sagte sie laut zu Ludovico, »nach dem Spaß mit dem Wasserbehälter bewillige ich dir nur zwei Tage zur Erholung in Casalmaggiore. Dann folgst du mir nach Belgirate, und zwar ohne den geringsten Verzug. Fabrizzio reist vielleicht nach England, wohin du ihn begleiten würdest.«

Am folgenden Tage waren die Duchezza und Fabrizzio frühzeitig in Belgirate. Man machte sichs an diesem entzückenden Orte bequem. Aber an dem schönen See harrte der Duchezza ein schmerzlicher Kummer. Fabrizzio war durch und durch anders geworden. Schon in den ersten Augenblicken nach dem Erwachen aus seinem dumpfen Schlaf nach der Flucht nahm die Duchezza wahr, daß in ihm ungewöhnliche Dinge vorgingen. Dieses ihr mit vieler Mühe verheimlichte tiefe Gefühl war seltsam genug; es war nichts anderes als die Betrübnis, nicht mehr im Gefängnis zu sein. Er hütete sich, den Grund seiner Traurigkeit einzugestehen; das hätte zu Fragen geführt, auf die er nicht antworten wollte.

»Aber sag einmal,« sagte die Duchezza erstaunt zu ihm, »als der Hunger dich zwang, von den abscheulichen Gerichten aus der Gefängnisküche zu essen, um nicht umzufallen, hast du da nicht den Verdacht gehabt: »Es schmeckt darin etwas sonderbar; vergiftet man mich etwa in diesem Augenblick?« Hast du da nicht geschaudert?«

»Ich habe an den Tod gedacht,« antwortete Fabrizzio, »wie wohl die Soldaten an ihn denken: er war eine Möglichkeit, der ich durch meine Geschicklichkeit aus dem Wege zu gehen hoffte.«

Wie beunruhigend, wie schmerzlich für die Duchezza! Dieser angebetete Mensch, so eigenartig, lebhaft und seltsam, verfiel nun vor ihren Augen in grenzenlosen Tiefsinn. Er setzte die Einsamkeit über den Genuß der offenherzigen Plauderei mit der besten Freundin, die er auf der Welt hatte. Er war wie immer gut, artig, dankbar gegen die Duchezza; wie sonst hätte er sein Leben hundertmal für sie dahingegeben, aber seine Seele weilte anderswo. Zuweilen wurden vier- bis fünfstündige Ausfahrten über den herrlichen See unternommen, ohne daß ein Wort dabei fiel. Die Unterhaltung, ein Austausch kühler Gedanken, wie er fortan zwischen ihnen stattfand, wäre anderen vielleicht angenehm vorgekommen; die beiden aber, zumal die Duchezza, erinnerten sich daran, was ihre Unterhaltung war, ehe der verhängnisvolle Kampf mit Giletti sie getrennt hatte. Fabrizzio blieb der Duchezza den Bericht von den neun Monaten schuldig, die er in einem grauenhaften Gefängnis verbracht hatte, und es fand sich, daß er über diesen Aufenthalt nur kurze und zusammenhanglose Worte zu sagen wußte.

»Früher oder später mußte es ja so kommen«, sagte sich die Duchezza in düsterer Traurigkeit. »Der Kummer hat mich alt gemacht, oder er liebt wirklich, und ich habe in seinem Herzen nur noch den zweiten Platz.« Gedemütigt, niedergeschlagen durch dieses größtmögliche Leid, sagte sie sich zuweilen: ›Wenn es der Himmel fügte, daß Ferrante ganz verrückt geworden wäre oder keinen Mut mehr hätte, würde ich wahrscheinlich weniger unglücklich sein.‹ Von diesem Augenblick halber Reue an war die Achtung der Duchezza vor ihrem eigenen Charakter vergiftet. ›Schau, schau!‹ sagte sie sich voller Bitternis. ›Ich bereue einen einmal gefaßten Entschluß! So bin ich also keine del Dongo mehr!‹

›Der Himmel hat es gewollt!‹ fuhr sie fort. ›Fabrizzio ist verliebt. Welches Recht hätte ich, ihm zu verwehren, daß er verliebt ist? Ist je zwischen uns nur ein einziges Liebeswort gewechselt worden?‹

Dieser so vernünftige Gedanke raubte ihr den Schlaf, und eine Tatsache bewies schließlich, daß ihr Alter und ihre Seelenschwäche mit der Aussicht auf eine großartige Rache zugenommen hatten: sie war in Belgirate hundertmal unglücklicher als in Parma. Was das Wesen betraf, das Fabrizzio zu einem so seltsamen Träumer gemacht haben mochte, so waren begründete Zweifel nicht weiter möglich: Clelia Conti, dieses so fromme Mädchen, hatte ihren eigenen Vater verraten, weil sie eingewilligt hatte, die Besatzung der Zitadelle betrunken zu machen, und doch erwähnte Fabrizzio sie mit keiner Silbe. ›Aber‹, fügte die Duchezza hinzu, indem sie sich vor Verzweiflung gegen die Brust schlug, ›wenn die Besatzung nicht betrunken gemacht worden wäre, dann hätten alle meine Pläne, alle meine Bemühungen nichts genützt. Also ist sie es, die ihn gerettet hat!‹

Nur unter außerordentlichen Schwierigkeiten brachte die Duchezza Einzelheiten über die Ereignisse jener Nacht aus Fabrizzio heraus. ›Ehedem‹, sagte sie sich, ›hätte das zwischen uns einen sich unaufhörlich erneuernden Gesprächsstoff abgegeben! In jenen glückseligen Zeiten hätte er einen vollen Tag mit Feuer und nie versiegender Heiterkeit über die geringste Kleinigkeit gesprochen.‹

Da man auf alles gefaßt sein mußte, brachte die Duchezza Fabrizzio in Locarno unter, einem Schweizer Städtchen am nördlichsten Zipfel des Lago Maggiore. Täglich unternahmen sie in einem Boot weite Spazierfahrten über den See. Als die Duchezza es sich einmal einfallen ließ, in Fabrizzios Wohnung zu kommen, fand sie sein Zimmer mit einer Menge Ansichten der Stadt Parma behängt, die er sich aus Mailand oder gar aus Parma hatte schicken lassen, obwohl ihm jenes Land doch hätte im häßlichsten Andenken sein müssen. Sein kleines Empfangszimmer war in ein Atelier umgewandelt und voll von allen möglichen Gerätschaften eines Aquarellmalers. Sie sah, daß er zum dritten Male die Torre Farnese mit der Kommandantur vollendete.

»Es fehlte nur noch,« sagte sie verletzt, »daß du das Porträt des liebenswürdigen Kommandanten, der dich nur vergiften wollte, aus dem Gedächtnis malst. Aber da fällt mir ein, du mußt ihm einen Entschuldigungsbrief schreiben, daß du dir die Freiheit genommen hast, dich zu retten und seine Zitadelle zum Gespött zu machen.«

Die arme Frau ahnte nicht, wie wahr sie gesprochen hatte. Fabrizzio war kaum in Sicherheit, als er es sich angelegen sein ließ, an den General Fabio Conti einen äußerst höflichen und in gewisser Hinsicht recht lächerlichen Brief zu schreiben; er bat ihn um Verzeihung, daß er sich gerettet habe, und führte als Entschuldigung an, er habe fürchten müssen, daß ein gewisser Unterbeamter des Gefängnisses den Auftrag gehabt habe, ihm Gift beizubringen. Was er schrieb, war ihm gleichgültig; er hoffte, Clelia werde seinen Brief zu sehen bekommen, und sein Antlitz war beim Schreiben voller Tränen. Er schloß den Brief mit einem sehr spaßigen Satz; er wagte zu sagen: seit er sich in Freiheit befinde, wandle ihn oft Sehnsucht nach seiner kleinen Zelle in der Torre Farnese an. Das war der Leitgedanke seines Briefes; er hoffte, Clelia werde es verstehen. In seiner Schreiblust und immer in der Hoffnung, von einem gewissen Jemand gelesen zu werden, richtete Fabrizzio auch ein Dankschreiben an Don Cesare, den gutmütigen Almosenier, der ihm theologische Bücher geliehen hatte. Ein paar Tage später veranlaßte Fabrizzio den kleinen Buchhändler in Locarno, nach Mailand zu reisen, um bei dem berühmten Bibliophilen Reinader Bibliophile Reina: Francesco Reina (1772-1826), in der Gegend von Como geboren, Advokat, Bonapartist, von den Österreichern zeitweise eingesperrt, lebte zumeist in Mailand, wo ihn Beyle persönlich kennen gelernt hat. Er entsagte um 1810 der Politik und seinen Ämtern und widmete sich nur noch seinen wissenschaftlichen Studien. Herausgeber gut kommentierter Bücher. die prächtigsten Ausgaben von den Büchern zu kaufen, die ihm Don Cesare geliehen hatte. Der treffliche Almosenier erhielt diese Bücher nebst einem schönen Brief, worin Fabrizzio ihm schrieb, er habe in ungeduldigen Stunden, die bei einem armen Gefangenen wohl verzeihlich wären, die Ränder seiner Bücher mit lächerlichen Vermerken vollgekritzelt. Dafür bäte er gehorsamst, sie in seiner Bibliothek durch die Bände zu ersetzen, die er ihm in aufrichtigster Dankbarkeit zu überreichen sich erlaube.

Fabrizzio tat wohl daran, die endlosen Kritzeleien, mit denen er besonders einen Folioband der Werke des heiligen Hieronymus vollgeschrieben hatte, mit dem schlichten Wort ›Notizen‹ zu benennen. In der Hoffnung, er könne dem guten Almosenier das Buch durch ein anderes Exemplar ersetzen, hatte er Tag um Tag auf den Rändern ein genaues Tagebuch über alles geführt, was ihm im Gefängnis begegnet war. Die Hauptereignisse waren nichts anders als Verzückungen himmlischer Liebe, wobei das Wort himmlisch ein anderes Wort bedeutete, das er nicht hinzuschreiben wagte. Bald hatte diese himmlische Liebe den Gefangenen in die tiefste Verzweiflung versetzt; bald hatte ihm eine Stimme aus der Höhe Hoffnung zugesprochen und ihm überschwengliche Wonne bereitet. Zum Glück war das alles mit einer blassen, aus Wein, Schokolade und Ruß hergestellten Gefängnistinte geschrieben, und Don Cesare hatte kaum einen flüchtigen Blick hineingeworfen, als er den Band des heiligen Hieronymus wieder in seinen Bücherschrank stellte. Wenn er sich die Ränder genauer angesehen hätte, so hätte er gelesen, daß der Gefangene einmal, als er sich vergiftet glaubte, sich beglückwünschte, keine vierzig Schritte weit von dem sterben zu dürfen, was er am meisten auf der Welt liebte. Allerdings hatten nach der Flucht andere Augen als die des guten Almoseniers diese Seite gelesen. Neben jenem schönen Gedanken: ›Sterben dem nah, was man liebt!‹, der in hundert Abwandlungen immer wiederkehrte, stand folgendes Sonett:

Was war mein Leben – dreiundzwanzig Jahr?
Ein Traum, ein Spiel, ein Jagen nach Schimären.
Da sank mein Stern: ich mußte in mich kehren;
Mich rettete ein süßes Augenpaar.

Ich starb. Ein armer Sünder, dem in Gnaden
Eröffnet ward des Paradieses Tor,
Geführt vom Cherub, walle ich empor
Zu den ersehnten göttlichen Gestaden.

Schon sind wir nah. Mir schwand die irdsche Welt;
Nur eines weiß ich noch von meinem Leben,
Und dieses eine meine Schritte hält.

Gib deine Flügel mir! Ich muß zurück,
Als stummer Geist die Einzige umschweben,
Die mir auf Erden gab des Himmels Glück!

Obwohl man in der Zitadelle von Parma von Fabrizzio nur wie von einem nichtswürdigen Verräter sprach, der die heiligsten Pflichten verletzt habe, war der gute Padre Don Cesare doch entzückt beim Anblick der schönen Bücher, die ihm von unbekannter Seite zugingen. Fabrizzio wandte nämlich die Vorsicht an, ihm erst etliche Tage nach der Büchersendung zu schreiben, aus Sorge, die Angabe des Absenders könne Veranlassung geben, daß das ganze Paket mit Entrüstung zurückgesandt werde. Don Cesare verschwieg diese Aufmerksamkeit seinem Bruder, den der bloße Name Fabrizzio in Wut versetzte, aber nach der Flucht hatte er mit seiner liebenswürdigen Nichte die ehemalige vertraute Freundschaft wieder hergestellt, und da er ihr früher ein paar Brocken Latein beigebracht hatte, so zeigte er ihr die schönen Bände, die er erhalten hatte. Das war die Hoffnung des Absenders gewesen. Plötzlich wurde Clelia über und über rot; sie erkannte Fabrizzios Handschrift. Lange, sehr schmale Streifen aus gelbem Papier staken in Ermangelung von Buchzeichen an verschiedenen Stellen des Bandes. Da nun inmitten der faden Geldangelegenheiten und der kalten Öde der Alltagsdinge, die unser Dasein erfüllen, Taten, die in wahrer Leidenschaft wurzeln, selten ihre Wirkung verfehlen, gleichsam als ob eine gütige Fee sie mit sorglicher Hand leite, so bat Clelia, von diesem Instinkt und von der Sehnsucht nach dem einen beseelt, ihren Onkel darum, das alte Exemplar des heiligen Hieronymus mit dem neuen vergleichen zu dürfen. Wie soll ich Clelias Entzücken schildern, als sie in all ihrer düsteren Schwermut, die Fabrizzios Fernsein über sie gebracht hatte, als Randbemerkung zum alten Sankt Hieronymus das besagte Sonett fand und das Tagebuch seiner Liebe zu ihr?

Gleich am ersten Tage konnte sie die Verse auswendig; sie sang sie an ihrem Fenster, gegenüber dem nun vereinsamten Fenster der Torre Farnese, wo sie so oft das Guckloch sich hatte öffnen sehen. Der Schirm war abgenommen worden, um vor Gericht als Beweisstück in dem lächerlichen Prozeß benutzt zu werden, den Rassi gegen Fabrizzio anstrengte. Er war angeklagt, verbrecherisch geflüchtet zu sein, oder, wie der Fiskal selber lachend sagte, weil er sich der Gnade eines hochherzigen Fürsten entzogen habe.

Alles, was Clelia unternommen hatte, ward ihr zum Gegenstand von Selbstvorwürfen, und seitdem sie unglücklich war, nahmen ihre Gewissensbisse an Heftigkeit zu. Sie versuchte diese Selbstanklagen zu beschwichtigen, indem sie sich an ihr Gelübde erinnerte, Fabrizzio nie wieder zu sehen, das sie der Madonna gegeben hatte, als ihr Vater halb vergiftet worden war, und das sie tagtäglich erneuerte.

Den General hatte Fabrizzios Entweichen krank gemacht; mehr noch, er hätte fast seinen Posten verloren, als Serenissimus in seiner Wut alle Gefängnisaufseher der Torre Farnese ihres Dienstes enthob und im Stadtgefängnis einkerkerte. Der General war davor bewahrt geblieben, zum Teil durch die Fürsprache des Grafen Mosca, der ihn lieber droben in seiner Zitadelle als sonstwo wissen wollte.

Vierzehn Tage schwebte nun schon die Ungnade über dem General Fabio Conti, der tatsächlich krank war, als Clelia Mut bekam, das Opfer, das sie Fabrizzio angekündigt hatte, zu verwirklichen. Sie hatte sich am Tage des allgemeinen Ergötzens, der zugleich der Tag von Fabrizzios Flucht war, klugerweise krank gestellt, desgleichen am folgenden Tage, mit einem Wort, sie hatte sich so zu benehmen verstanden, daß kein Mensch, mit Ausnahme des Aufsehers Grillo, der besonders mit der Bewachung Fabrizzios betraut gewesen war, ihre Mitschuld argwöhnen konnte. Und Grillo schwieg.

Aber sobald Clelia nach dieser Seite keine Sorgen mehr hatte, wurde sie von ihrer gerechten Reue um so grausamer heimgesucht. ›Was in aller Welt‹, sagte sie sich, ›kann das Verbrechen einer Tochter entschuldigen oder mildern, die ihren Vater betrogen hat?‹

Eines Abends, nachdem sie fast den ganzen Tag in der Kapelle verweint hatte, bat sie ihren Onkel Don Cesare, sie zum General zu begleiten, dessen Wutausbrüche sie um so mehr erschreckten, als er Verwünschungen gegen Fabrizzio, diesen abscheulichen Verräter, hineinflocht.

Als sie vor ihrem Vater stand, hatte sie das Herz, ihm zu sagen, sie habe sich deshalb immer geweigert, dem Marchese Crescenzi ihre Hand zu reichen, weil sie nicht die geringste Neigung zu ihm fühle und weil sie sicher sei, in dieser Ehe nicht ein bißchen Glück zu finden.

Bei diesen Worten geriet der General in Zorn, und Clelia vermochte nur mit vieler Mühe wieder zu Worte zu kommen. Gäbe ihr Vater, verlockt durch den großen Reichtum des Marchese, ihr wirklich den Befehl zu dieser Heirat, fuhr sie fort, so sei sie bereit, ihm zu gehorchen.

Der General war über diese Logik erstaunt, die er sich nicht im entferntesten hätte träumen lassen, aber er freute sich doch am Ende darüber. »So brauche ich also nicht in einem Oberstübchen zu wohnen,« sagte er zu seinem Bruder, »wenn mich dieser Schlingel, der Fabrizzio, mit seinem bösen Streich um meine Stellung bringt.«

Graf Mosca verfehlte nicht, sich wegen der Flucht dieses schlechten Subjektes höchst ergrimmt zu zeigen, und wiederholte bei passender Gelegenheit den von Rassi erfundenen Ausspruch über das taktlose Verhalten dieses übrigens recht mittelmäßigen jungen Mannes, der sich der Allerhöchsten Gnade entzogen habe. Diese geistreiche Redensart, die von der guten Gesellschaft beifällig weitergegeben wurde, fand im Volke durchaus keinen Anklang. Mochte Fabrizzio noch so schuldig sein, der gesunde Menschenverstand bewunderte den Entschluß, der dazu gehört, von einer so hohen Mauer hinabzuklettern. Nur am Hofe bewunderte diesen Mut niemand.

Was schließlich die bei Fabrizzios Entweichen arg hineingefallene Polizei anlangte, so hatte sie offiziell entdeckt, daß ein Trupp von zwanzig Soldaten durch Geld von der Duchezza bestochen worden sei. So schrecklich undankbar sei dieses Weib, dessen Namen man fürderhin nur noch mit einem Seufzer aussprechen könne. Jene Soldaten hätten Fabrizzio vier aneinandergebundene Leitern gereicht, jede fünfundvierzig Fuß lang. Fabrizzio habe einen Strick herabgelassen, den man an die Leitern angeknüpft habe, und weiter nichts getan, als diese Leitern zu sich hinaufzuziehen. Etliche wegen ihres Unverstandes bekannte Liberale, unter ihnen der Arzt C., ein vom Fürsten selbst bezahlter Spitzel, erzählten ferner, allerdings nicht ohne sich etwas zu vergeben, die schreckliche Polizei habe die Roheit gehabt, acht von den unglücklichen Soldaten, die die Flucht des undankbaren Fabrizzio begünstigt hätten, erschießen zu lassen. Nun ward er auch von echten Liberalen getadelt, daß er den Tod von acht armen Soldaten verschuldet habe. So bringen es kleine Despotismen zuwege, daß die Macht der öffentlichen Meinung in nichts zerrinnt.


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