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20. Von zwei Übeln das kleinere

Augenscheinlich ist Herr Romain Rolland durch seinen am 10. Oktober 1914 im Journal de Genève veröffentlichten Artikel (mit der Überschrift: »Von zwei Übeln das kleinere: Pangermanismus oder Panslawismus?«) der Urheber der schönen demokratisch-idealistischen Lehre, die er selber in folgende Worte zusammengefaßt hat: »Der schlimmste Feind der Freiheit, der barbarischste Despotismus ist uns – den Bewohnern der Westländer, Franzosen und Engländern – der preußische Imperialismus, und ich wage zu sagen, daß seine Meritenliste mit großen Buchstaben auf dem verwüsteten Wege von Lüttich nach Senlis über Löwen, Mecheln und Reims geschrieben steht« Op. cit. S. 45..

Also: lieber Moskau als Potsdam! Ein Ruf, der ein tausendstimmiges Echo in demokratisch-idealistischen Herzen gefunden hat – wie wir sehen werden, nicht zum wenigsten in neutralen Ländern. Doch hören wir jetzt erst Herrn Rolland – den Vater der Theorie – an.

 

Deutschland ist, wie Herr Rolland meint, nach Richard Wagner steril geblieben. Nicht aber das heilige Rußland!

»Doch sagt mir,« ruft er Op. cit. S. 46-47. aus der Tiefe seiner unerschöpflichen Kenntnis des modernen Deutschlands aus, »was habe ich, was hat Europa eurem heutigen Deutschland zu verdanken? Welche Kunst habt ihr seit Wagners Schöpfungen, die den Schluß einer Periode bezeichnen und bereits der Vergangenheit angehören, hervorgebracht? Welcher neue, kräftige Gedanke ist seit Nietzsche, dessen geniale Verrücktheit euch leider ihr Gepräge gegeben, uns aber nicht berührt hat, bei euch aufgekeimt? Wo haben wir mehr als vierzig Jahre lang unsere geistige Nahrung und das Brot unseres Lebens gesucht, wenn unser fruchtbarer Boden nicht zur Stillung unseres Hungers genügte? Wer ist unser Wegweiser gewesen, wenn nicht die russischen Schriftsteller? Wen könnt ihr, Deutsche, gegen jene Kolosse dichterischen Genies und geistiger Größe, Tolstoi und Dostojewski, aufstellen? Sie haben meine Seele gebildet. Wenn ich die Rasse, aus welcher sie hervorgegangen sind, verteidige, so trage ich ihnen und ihr meine Schuld ab. Die Verachtung, die ich gegen den preußischen Imperialismus hege, würde ich – wenn sie mir nicht schon in das romanische Herz gelegt wäre – von ihnen übernommen haben: vor zwanzig Jahren hat ihr Tolstoi gegen euren Kaiser Ausdruck verliehen. In der Musik hat Deutschland, das so stolz auf seinen ehemaligen Ruhm ist, nur Wagnerepigonen, frenetische Orchestervirtuosen wie Richard Strauß, aber kein einziges besonnenes, männliches Werk gleichen Gehaltes wie Boris Godunow; die deutschen Meister haben keine einzige neue Bahn gebrochen. In einer einzigen Seite Moussorgskys oder Strawinskys ist mehr Zukunftshoffnung, mehr wirkliche Originalität als in allen Partituren Mahlers und Regers. An unseren Universitäten, in unseren Krankenhäusern und in unserem Pasteurinstitute arbeiten unsere Gelehrten in brüderlicher Eintracht mit denen Rußlands zusammen. Die russischen Revolutionäre, die sich nach Paris geflüchtet haben, machen mit den Sozialisten gemeinsame Sache.

Ihr redet stets von den Missetaten des Zarismus. Auch wir verabscheuen sie. Der Zarismus ist unser Feind. Aber er ist auch der Feind der intellektuellen russischen Elite selbst. Das kann man, Deutsche, von eurer Elite, die den Befehlen eurer Herren sklavisch gehorcht, nicht sagen.«

Unschätzbar – um Herrn Rollands eigenes Innere beurteilen zu können – sind die Worte über Tolstoi und Dostojewski, »sie haben meine Seele gebildet«, und das Bekenntnis, daß Herrn Rollands »Verachtung des preußischen Militarismus« ihm teils von Anfang an in sein »romanisches Herz« gelegt, teils gerade von Tolstoi und Dostojewski übernommen worden sei.

Also – das auch in der neutralen Welt so populäre Feldgeschrei »lieber Moskau als Potsdam« hat seinen geistigen Ursprung in dem » romanischen Herzen« und in der slawischen Nationalseele! Unter dem Gesichtspunkte ist es allerdings begreiflich. Und ich glaube, daß wir nun anfangen, Herrn Rolland auch zu begreifen.

Tolstoi und Dostojewski! Freilich ohne jeden Vorbehalt »dichterische Genies«. Aber ebenso gewiß keine »Kolosse geistiger Größe«. Zu der »geistigen Größe« gehört ethische Universalität, ein gesunder Kern und positive schöpferische Kraft, die ihre nebelhaften, gärend nationalslawischen Seelen durchaus nicht besessen haben. Tolstoi und Dostojewski müssen wir kennen und bewundern. Aber sie sind nicht geeignet, eine »Seele« zu »bilden« – eine männliche Seele, einen klaren, starken, abendländischen Geist! Höchstens eine sentimentale und viel zu weibliche Seele, die sich, obwohl nicht flämisch, sondern romanisch, ihnen verwandt fühlt.

 

Herr Rolland hatte jedoch »erst vor ein paar Tagen« einen Brief »von einem Litauer« erhalten, »der, obschon er unter den Erpressungen der Russen gelitten hat, dennoch lebhaft gegen euch«, d. h. die Deutschen, »Partei nimmt«.

Ich kann aus Mangel an Raum den langen, trotz der Nationalität des Schreibers von echtslawischem Nationalgeiste inspirierten Brief des Litauers hier nicht abdrucken lassen. Aber ich kann zum Schlusse noch ein paar Reihen von Herrn Rolland anführen Op. cit., S. 49-50..

»Meine deutschen Freunde!« fährt er fort, »entweder schwebt ihr über das, was man unter den Völkern, die euch umgeben, denkt, in seltsamer Unkenntnis, oder ihr seht uns als sehr naiv oder schlecht unterrichtet an. Euer Imperialismus hat zwar ein zivilisiertes Äußere, aber er scheint mir gegen alles, was seinem lüsternen Weltherrschaftstraume in den Weg tritt, ebenso grausam zu sein wie der Zarismus. Während aber das gewaltige, geheimnisvolle Rußland, das von jungen, revolutionären Kräften überquillt, uns Hoffnung auf bevorstehende Wiedergeburt einflößt, stützt euer Deutschland seine systematische Verstocktheit auf eine viel zu alte und viel zu gelehrte Kultur, als daß große Hoffnung auf das Sichändern eines solchen Greises vorhanden sein könnte. Und wenn ich doch darauf gehofft habe – ich habe es getan, meine Freunde – so habt ihr dafür gesorgt, mir diese Hoffnung zu rauben, ihr Künstler und Gelehrte, die ihr diesen Aufruf, worin ihr euch stolz mit dem preußischen Militarismus solidarisch erklärt, redigiert habt. Wisset, daß es für uns romanische Völker nichts Niederdrückenderes, Unleidlicheres gibt als eure intellektuelle Militarisation. Wenn es das Unglück wollte, daß ein solcher Geist dereinst mit euch in Europa triumphieren würde, dann würde ich diesen Weltteil auf immer verlassen. Ich würde mich davor ekeln, dort zu leben.«

Hier begegnen wir auch bei Herrn Rolland jenem fundamental unberechtigten, durch schwerwiegende Tatsachen schonungslos widerlegten demokratischen Idealistentraum von »Rußlands bevorstehender Wiedergeburt« durch »junge, revolutionäre Kräfte«. Des Kontrastes wegen verkündet Herr Rolland jetzt auch Deutschlands Senilität!

Ja, Herr Rolland kennt sein Deutschland! Und er bekräftigt dies in einem am 17. November 1914 geschriebenen »Brief an die, welche mich anklagen« – in jenem Schreiben, wozu der Umstand Veranlassung gegeben hatte, daß Herr Rolland entsetzliche Schmähungen von französischer Seite hatte über sich ergehen lassen müssen, weil er das jetzt »korrekte« Verhalten gegen Deutschland nicht im entferntesten beobachtet gehabt.

Zu seiner Verteidigung schreibt er darin unter anderem folgendes Op. cit., S. 80.:

»Ich habe vier Artikel geschrieben: einen Brief an Gerhart Hauptmann, unmittelbar nach der Zerstörung Löwens, dann Über dem Kampfgetümmel, Von zwei Übeln das kleinere und Inter arma caritas. In diesen vier Artikeln habe ich gesagt, daß unter allen Imperialismen, welche die Welt bedrücken, der preußische, militaristische Imperialismus der schlimmste sei. Ich habe gesagt, daß er der Feind der europäischen Freiheit sei, der Feind der abendländischen Kultur, der Feind Deutschlands selbst und daß er vernichtet werden müsse.«

»Hierüber sind wir uns, wie ich glaube, alle einig.«

»Was wirft man mir denn vor?«

Herr Rolland muß sich jetzt tatsächlich, im Namen der Wahrheit, die ihm heilig ist, der Gefahr aussetzen, sich bei seinen französischen Landsleuten noch unbeliebter zu machen, und zwar durch Feststellen eines deutschen Faktums, das ihm selbst augenscheinlich sehr unerwartet kommt, das aber nichtsdestoweniger ein echtdeutsches, ja ein urdeutsches Faktum ist.

»Das Erste, Auffallendste und Unerwartetste,« schreibt Herr Rolland Op. cit., S. 84., »ist, daß es in ganz Deutschland gar keinen wirklichen Haß gegen Frankreich gibt; aller Haß richtet sich gegen England. Es macht die Lage wirklich ergreifend, daß französisches Wesen nie eine solche Anziehungskraft auf Deutschland ausgeübt hat, wie in den letzten zwei, drei Jahren. Da begann man, das wirkliche Frankreich, das Frankreich der Arbeit und des Glaubens, zu entdecken. Unter den neuen Generationen Deutscher, den jungen Jahrgängen, die man bei Ypern und Dixmuiden zur Schlachtbank geführt, gab es die reinsten, idealistischsten und aufs tiefste von Weltverbrüderungsträumen beseelten Geister. Wenn ich nun sage, daß vielen unter ihnen der Krieg ein vernichtender Schlag – ›eine Abscheulichkeit, ein Fiasko, eine Verneinung aller Ideale und eine Abdankung des Geistes‹, wie einer von ihnen kurz, bevor er fiel, geschrieben hat – gewesen ist, und wenn ich sage, daß Péguys Tod viele junge Deutsche in tiefe Trauer versenkt hat, so wird man mir nicht glauben. Man wird es jedoch tun müssen, wenn ich dereinst die gesammelten Dokumente veröffentliche.«

 

Vielleicht ist es Herrn Rollands Vorbild – »von zwei Übeln das kleinere«, lieber den Panslawismus als den Pangermanismus – gewesen, wodurch Fräulein Ellen Key auf ähnliche Bahnen des Denkens hinausgelockt worden ist. »Nicht Moskau oder London, sondern gerade Potsdam ist Deutschlands gefährlichster Feind«, meint sie. Doch um diesen Ausspruch gerecht beurteilen zu können, muß er im Zusammenhang mit dem übrigen Texte gelesen werden.

Diesen finden wir in der schwedischen Zeitschrift Forum in einem am 3. April 1915 veröffentlichten Artikel, der die Überschrift »Gleiches Maß« trägt. Darin schreibt die Verfasserin unter anderem folgendes:

»Während der letzten Monate hat man, privatim sowohl wie öffentlich, in Deutschland gefragt: Warum hassen uns alle? Und von gewissen Seiten her hat man in Feindesland geantwortet: das große, bewunderungswürdige deutsche Volk haßt kein Mensch. Aber man haßt das preußische System und den preußischen Willen zur Weltbeherrschung, zu einer Germanenherrschaft im Sinne des Römerreiches.

Zugleich wird in Deutschland verkündet, daß jeder Versuch, zwischen preußischem Geiste und deutschem einen Unterschied zu machen, feindliche Gesinnung zeige. Ja, man hat erklärt, daß der, welcher Deutschland zu lieben behaupte, Preußen aber nicht, ein Schuft oder ein Dummkopf sei (H. S. Chamberlain).

Diese Bezeichnungen hätten jedoch noch vor einem Jahre auf mindestens die Hälfte des deutschen Volkes selbst gepaßt. Nicht nur die Sozialdemokraten und die übrigen linksstehenden Parteien haben die preußische Politik bekämpft; nein, die Preußen selbst haben die Sympathie des übrigen deutschen Volkes nicht besessen.«

Fräulein Key identifiziert sich also ohne Zweifel mit der innerhalb der Entente und auch in gewissen Kreisen neutraler Länder üblichen Auffassung, daß zwischen dem »deutschen Volke« und dem »preußischen Systeme«, zwischen »deutschem und preußischem Geiste« Grundverschiedenheit bestehe und daß man dieses »System« oder diesen »Geist« wegamputieren könne, ohne daß irgendein lebenswichtiges, für die Menschheit wertvolles Stück des »deutschen Volkes« oder des »deutschen Geistes« mit ihm in den Sarg gelegt zu werden brauche. Sie glaubt, daß »mindestens die Hälfte des deutschen Volkes« vor dem Weltkriege mit ihr dieser Ansicht gewesen sei. Und es ist wahrlich nicht allein ihre Schuld, wenn sie hierin in einen sehr großen Irrtum verfallen ist. Aber es ist ihre »Schuld«, daß sie nicht imstande gewesen ist, richtig zu verstehen, was in der Selbstkritik »mindestens der Hälfte des deutschen Volkes«, worauf sie anspielt, gelegen hat. Ihr eigener Gedankengang in der Auseinandersetzung, die ich jetzt wiedergebe, hätte sie eigentlich auf die richtige Spur bringen müssen.

 

Jetzt sucht man in Deutschland die großen Geister – in erster Reihe Goethe und Kant – zu Inspirationsquellen des Deutschlands der Gegenwart zu machen,« schreibt sie. »Im Forum hat schon Alf Nyman klar gezeigt, wie wenig Kant mit der Anschauung, die den kategorischen Imperativ zu dem Satze: Marschieren, nicht Räsonieren! vereinfacht, zu schaffen hat. Was Goethe anbetrifft, so ist die Ungereimtheit, ihn mit dem Preußengeiste in Verbindung zu bringen, noch größer. Der hat von germanischem Geiste keine Ahnung, wer nicht weiß, daß er ewig und immer Individualismus ist; ein ewiger Protestant, der, wie Luther, mit den Worten: ›hier stehe ich, ich kann nicht anders‹ der ganzen Welt das Recht seines Gewissens entgegenruft.

Doch gerade das Tiefe, Wunderbare, Unentbehrliche des deutschen Geistes machte ihn schlecht zur Lösung der großen politischen Aufgabe des deutschen Volkes: zur Einigung des Reiches geeignet. Mit einer gewissen Wahrheit konnte Börne sagen, daß ein Deutscher nur sich selber zu schreiben brauche, um einen Hamlet hervorzubringen! Preußen trat als Fortinbras hervor. Das Gold des deutschen Geistes wurde mit dem stärkeren, aber weniger edlen Metalle des preußischen Geistes vermischt, das notwendig war, um die deutsche Volkspersönlichkeit gestalten zu können. Die Erkenntnis des deutschen Volkes, daß Preußen für die Existenz und das Fortbestehen des Reiches alles bedeutet, hat zu dankbarer Nachsicht gegen den preußischen, von Goethe, Schiller und Kant in gleicher Weise gehaßten Grundsatz, daß Macht Recht sei, geführt.

Auch die preußischen Tugenden – Kühnheit, Manneszucht, Organisations- und Anpassungsfähigkeit, Liebe zur Arbeit – haben ja nicht nur Lichtseiten. Die Disziplin hat so tiefe Schatten, daß sie das deutsche Volk in seinem Bestreben, seinen Führern in allem zuzustimmen, blind gegen das Recht machen. Dieses hochstehende Volk muß nun den Barbarennamen hinnehmen, weil es in sich den Geist geduldet hat, der in der Kaiserrede, worin die nach China abgehenden Truppen ermahnt wurden, wie Hunnen zu hausen! Ausdruck erhalten hat. Dieser Geist ist bei der Verdeutschung Südjütlands, Polens, Elsaß-Lothringens, in der Verletzung der Neutralität Belgiens, in der Behandlung dieses Landes gleichwie in Sozialistengesetzen, in der Zabernangelegenheit und noch manchem anderen in Deutschland selbst wirksam gewesen. Alles hat preußische Prägung. Der Ausdruck ist der Titel eines sehr beachtenswerten, eines genialen Aufsatzes im letzten Hefte der Zeitschrift Die neue Rundschau. Er ist von Lucia Dora Frost – einer jungen Dame, Offizierstochter, die sich in den letzten Jahren eine hervorragende Stelle unter den vielen vorzüglichen Essayisten Deutschlands erobert hat. Mit psychologischem Scharfsinn und in klaren, knappen Sätzen spricht sie aus, was schon viele deutsche Männer vor ihr gesagt haben. Aber ehrlicher als sonst jemand – es sei nun in Deutschland selbst oder bei seinen Freunden oder bei seinen Feinden – unterscheidet sie zwischen deutschem und preußischem Geiste.

Letzterer hat, wie L. D. Frost meint, den Mut, sich hassen zu lassen, und den Willen, gefürchtet zu werden, wie es zum Ausführen einer weltgeschichtlichen Aufgabe notwendig ist. Preußen, sagt sie, sei mehr als ein Staat, es sei ein System und ein Stil. (Diesen Stil hat Shaw mit dem Worte Potsdam bezeichnet.) Preußisch handeln heiße mit einer von aller Empfindsamkeit und Nervosität befreiten, kalten Kraft offensiv sein. Preußen habe jetzt die Aufgabe, die weltgeschichtlichen und weltgeographischen Veränderungen durchzuführen, welche für die Lebensfähigen stattfinden müßten. (Was lebensfähig ist oder nicht ist, unterliegt nicht der Entscheidung – Preußens!) Veränderungen könnten nur in der Weise geschehen, die Friedrich der Zweite begonnen und Bismarck fortgesetzt habe: durch Gewalt, durch Verletzung der bestehenden Ordnung. Preußens Eigenart sei der politische Militarismus. Zu diesem gehöre scharfe Trennung zwischen Volk und Heer, d. h. kein Demokratisieren des Heeres; aber Militarisieren des Volkes. Dazu gehöre auch, selbst nicht zum Volkskriege zu greifen und den Volkskrieg in anderen Ländern mit gutem Gewissen zu unterdrücken und zu bestrafen. Ohne den Glauben an das Recht auf Offensivpolitik sei der absolute Militärgeist und der absolute Krieg nur Barbarei. Preußen aber habe diesen Glauben. Sein Charakter sei dem englischen in dessen Verachtung ›papierener Rechte‹ und dessen Achtung vor lebenskräftigen Tatsachen verwandt. Doch während England seine Macht zu englischer Interessenpolitik mißbraucht, das in Verfall Geratene beschützt habe und Feind des Zukunftsreichen gewesen sei, werde Preußen dagegen nur dem Untüchtigen zum Schrecken werden und ein Freund alles Lebenskräftigen sein.

»Die Verfasserin beklagt, daß die Mehrzahl des deutschen Volkes den gegenwärtigen Krieg nur als Befreiungskrieg betrachte; daß es noch kein offenes Auge für Preußens offensive Mission habe. Seine weltgeschichtliche Aufgabe könne das deutsche Volk erst dann erfüllen, wenn es völlig bewußt preußische Prägung angenommen habe.

»Wer, wie ich, den germanischen Geist im deutschen Volke liebt,« fährt nun Fräulein Key fort, »wird nicht in Moskau oder London Deutschlands gefährlichsten Feind sehen, sondern gerade Potsdam, wie es hier oben hervortritt. Der Bericht gibt den Grundgedanken in klarer Weise wieder; der gesperrte Druck und die Einschaltungen sind von mir. Die große Frage der nächsten Zukunft ist die, ob ein siegendes Deutschland den edelsten Zug seiner geistigen Größezeit – die Humanität in tiefstem wie in weitestem Sinne des Wortes – behalten oder ob es die – noch unbewußte – Arbeit, den Geist Goethes durch den Geist Bismarcks zu vertreiben, fortsetzen wird. Geschieht das letztere, dann kann Schwedens ›Schicksalsstunde‹ ebenso leicht auf einem Münster im Süden wie auf einer Kuppelkirche im Osten schlagen.«

»Siegt dagegen Goethes Geist – der Geist maßvoller Selbstbegrenzung, strenger Selbstzucht, unablässiger Selbstkultur – dann kommt es zu einer anderen Weltentwicklung. Ein Deutschland, das in sich das Beste Preußens aufgenommen hat, aber diese Kräfte benutzt, um den Weltfrieden auf Grundlage des Rechtes nicht aber der Rüstungen, zu organisieren und die Weltkultur vor der Barbarei zu schirmen, wird von der ganzen Welt geliebt werden. Bei einer solchen Aussicht steht auch Schwedens Zukunft in hellerem Lichte da. Ein mit Südjütland abgerundeter Norden wird mit einem freien, friedlichen Deutschland – und den dann mit diesem Deutschland willig gemeinsam wirkenden Westmächten – die weltgeschichtliche Aufgabe erfüllen können, Europa, worin Finnland, Polen und die Ukraine einbegriffen sind, innerhalb und außerhalb der Grenzen unseres Weltteils vor Asien zu schützen.«

 

Man kann, wie ich glaube, beim Lesen dieses Dokumentes unmöglich bestreiten, daß Fräulein Key eine grundehrliche Unfähigkeit bewiesen hat, das große Lebensproblem des deutschen Volkes und seine seelische Eigenart so zu erfassen, wie beide wirklich sind. Hierin gleicht sie Herrn Rolland. Und sie gleicht ihm auch in dem verknöcherten Dogmatismus, womit sie daran festhält, daß ein Deutschland mit »preußischer Prägung« schlimmer sei als Rußland.

»Dann kann Schwedens ›Schicksalsstunde‹ ebenso leicht auf einem Münster im Süden wie auf einer Kuppelkirche im Osten schlagen.«

Und ganz am Anfange des angeführten Artikels schreibt sie folgendes:

»Gleichwie jeder Blutstropfen eines Schwedenherzens den von gewissen Seiten angeregten Gedanken, über das zertretene Finnland hinweg unserem östlichen Nachbarn die Hand zu reichen, zurückweisen sollte, so müßte sich jeder Blutstropfen gegen den jetzt von anderer Seite, verkündeten Gedanken empören, über das mehr als rechtswidrig zertretene Südjütland hinweg unserem südlichen Nachbarn die Hand zur Waffenbrüderschaft zu reichen.

Im Falle Finnlands brauchte ja nur ein Kaiserwort – und dazu das eines toten Kaisers – gebrochen zu werden; im Falle Dänemarks war es ein beschworener Artikel eines Friedensschlusses.«

Dieser Dogmatismus und diese Unfähigkeit, die Realitäten zu entdecken und vorurteilslos zu bewerten, machen auch Fräulein Key zu einer Feindin Deutschlands, nicht nur zur Feindin der » Preußerei«, und zur Fürsprecherin Rußlands vor der Welt gegen Deutschland – ohne daß sie, ebensowenig wie Herr Rolland, begreifen kann, daß dem so ist.

Fräulein Key war empört über eine Karikatur im Simplicissimus, die ihre Stellungnahme zu »Potsdam« und »Moskau« in der scharfen Weise dieses Blattes ausgelegt hat. Doch ich glaube nicht, daß der Simplicissimus sich dabei grobe Mißdeutung hat zuschulden kommen lassen. Die Karikatur ist grimmig – wie es dem über die Maßen grimmigen Probleme geziemt, auf welches sich Fräulein Key hier, vielleicht mit einem gewissen Mangel an Selbstkritik, eingelassen hat. Mehr als der lebhaft von ihr bewunderte Herr Rolland hat sie jedoch in letzterer Hinsicht wohl ganz gewiß nicht gesündigt.


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