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2. Die Friedensstimmung der Entente um die Weihnachtszeit 1915

Um die Weihnachtszeit 1915 wurde die Friedensfrage, besonders bei Deutschlands Feinden, mit außerordentlichem Eifer besprochen – obwohl auf eine Weise, die von einer Stimmung zeugte, welche der sonst bei dem großen Feste des Friedens und des guten Willens herkömmlichen möglichst entgegengesetzt war. Um den Geist jener Aussprüche zu charakterisieren, dürfte es wohl angebracht sein, zuerst zwei aus Paris anzuführen.

Der eine ist aus einer Rede, die der französische Kriegsminister Gallieni am 28. Dezember 1915 bei Vorlage des Antrages auf die Einberufung der Jahresklasse 1917, der die Deputiertenkammer schon zugestimmt hatte, im Senate gehalten hat. Nach dem »Schwedischen Telegrammbureau« schloß der Minister folgendermaßen: »Frankreich, das vor 18 Monaten den Frieden wollte, will nun mit seiner ganzen Energie den Krieg, und es wird alle seine Hilfsmittel dafür einsetzen. Wer das Wort Friede ausspricht, der wird als schlechter Staatsbürger angesehen. Der Jahrgang 1917 wird ausrücken, und die Nation begleitet mit ihren besten Wünschen die jungen Männer, die sich zu dem großen Streite vorbereiten, der nicht eher enden wird, als bis Frankreich zusammen mit seinen Verbündeten sagen kann: ›Ich halte auf, ich habe gewonnen, was ich haben wollte, und ich kehre wieder zu meiner friedlichen Arbeit zurück‹.«

Ein Privattelegramm an »Stockholms Dagblad« schildert die charakteristische Episode so: »Als Gallieni in seiner Rede die Worte sprach: ›Der Franzose, der öffentlich das Wort Friede ausspricht, muß als schlechter Staatsbürger angesehen werden, und Frankreichs Mütter beweinen ihre toten Söhne nicht, sondern wollen sie rächen‹, da erhob sich der gesamte Senat und spendete dem Redner eine ganze Weile Beifall, worauf Gallieni nach dem Verlassen der Tribüne von neuem Gegenstand starker Ovationen wurde. Es machte einen unvergeßlichen Eindruck, zu sehen, wie diesem kalten, nüchternen und militärisch strengen General von den alten Senatoren, die wie Jünglinge begeistert waren, gehuldigt wurde.«

Das andere Dokument ist eine Resolution, die am 29. Dezember von dem an diesem Tage beendeten Sozialistenkongresse angenommen wurde. Nach einem in der Zeitung »Social-Demokraten« (Stockholm) am 31. Dezember veröffentlichten Telegramm ließen sich die wichtigsten Punkte der Resolution folgendermaßen zusammenfassen: »Die sozialistische Partei wird fortfahren, sich solange am Kriege zu beteiligen, wie der französische Boden noch nicht befreit ist und die Vorbedingungen eines dauernden Friedens noch nicht gesichert sind. Ein dauernder Friede kann nicht eher zustandekommen, als bis die unterdrückten Nationen Europas ihr freies Selbstbestimmungsrecht wiedererhalten haben und zwischen Frankreich und Elsaß-Lothringen das Band, das nur durch brutale Gewalt im Jahre 1870 trotz der aus dem Herzen der deutschen Nation selbst hervorgegangenen Proteste Bebels und Liebknechts zerschnitten wurde, im Namen der Gerechtigkeit wieder neugeknüpft worden ist.«

Wie diese Resolution außerhalb der sozialistischen Kreise in Frankreich aufgefaßt wurde, kann man sich nach einem Privattelegramme des Pariser Korrespondenten der Zeitung »Stockholms Dagblad« vorstellen, das am 31.Dezember veröffentlicht ist und worin es zum Schlusse heißt: »Die Resolution übt scharfe Kritik an der deutschen Politik, die, wie sie erklärt, Verträge gebrochen und Konventionen verletzt habe, und sie verkündet die Notwendigkeit, bis zur Zertrümmerung des preußischen Militarismus zu kämpfen – denn dieser bilde die beständige Gefahr für die Menschheit –, aber sie wünscht weder die politische noch die wirtschaftliche Vernichtung Deutschlands.«

»Zertrümmerung des preußischen Militarismus, aber weder die politische noch die wirtschaftliche Vernichtung Deutschlands!« Wann haben Franzosen auf einmal so gründliche Kenntnis und Verständnis der innersten politischen Lebensgeheimnisse eines fremden Landes erlangt, daß sie jetzt, mit Rußland als Oberchirurgen, eine Operation, deren Lebensgefährlichkeit, besonders unter den gegebenen mühseligen Verhältnissen, sie doch zu ahnen scheinen, übernehmen können?

Ein Gruß, den der ehemalige Sozialdemokrat Aristide Briand ein wenig später, zum russischen Neujahrsfeste 1916, nach Petrograd sandte, beseitigt in wohltuender Weise die im Operationsprogramme des Sozialistenkongresses herrschende Unklarheit. Der französische Ministerpräsident erinnerte seinen den Frieden, die Sozialisten und die Demokratie liebenden Adressaten daran, »wie das russisch-französische Bündnis bald zwanzig Jahre hindurch die beiden Nationen in derselben Arbeit für den Frieden und die Zivilisation vereinigt habe«. Und er fügte hinzu: »unzertrennlich mit ihren Alliierten verbunden, können Frankreich und Rußland auf der Schwelle dieses Jahres ohne Furcht der Zukunft entgegengehen, denn wir sind an dem Zeitpunkte angekommen, wo unsere Feinde sich ermattet aufreiben und vergeblich ihre Heere in die Breite ziehen, während unsere Armeen sich in ausdauerndster Arbeit zu den entscheidenden Anstrengungen vorbereiten, welche die Zivilisation retten und dem befreiten Europa den friedlichen Wohlstand der freien Länder sichern werden.«

In »unzertrennlicher« Vereinigung mit Rußland wird Frankreich Europa »befreien«. Wovon? Vom »preußischen Militarismus?« Oder nicht vielmehr schlechtweg von einem starken, lebenskräftig wachsenden Deutschland überhaupt? Sonst wäre es ja merkwürdig, daß von dem »Befreiungs«bedürfnisse Europas von allerlei anderem »Militarismus« – z. B. dem russischen – kein Wort gesagt wird.

Über diesen »unzertrennlichen« Freund und Bundesgenossen Frankreichs ging dem »Social-Demokraten« (Stockholm) am 27. Dezember 1915 folgende Mitteilung zu: »Bei der Budgetkommissionssitzung der Reichsduma am Donnerstag gab Sasonow auf eine Anfrage Miljukows ein förmliches Dementi aller Gerüchte über Friedensverhandlungen ab. Auf Vorschlag Schingaroffs wurde dann eine Resolution angenommen, die feierlich erklärt, daß Rußland erst dann an Frieden denken könne, wenn Deutschlands Kraft gebrochen sei.«

Die »bedrohte Menschheit« der französischen Sozialisten und Briands »befreites Europa« spuken auch in einer Rede des Präsidenten Poincaré, die wirklich außerordentlich interessant ist, weil sie die politische Auffassung des Staatsoberhauptes einer Großmacht zeigt. Die Rede wurde am 1. Februar 1916 in Paris gehalten und endete mit folgenden Worten Nach einem Pariser Telegramme im »Stockholms Dagblad« vom 3. Februar 1916., die ich mir, auf ganz eigene Verantwortung, teilweise gesperrt gedruckt wiederzugeben erlaube.

»Frankreich«, sagte der Präsident, »will von einem Lande, das, durch den Glauben an seine militärische Kraft berauscht, sich als berufen ansieht, alles zu beherrschen, weder betrogen werden, noch ihm zum Opfer fallen. Frankreich will seine Zivilisation, seinen Geist und seine Sitten unangetastet behalten. Wenn der Einsatz unsererseits in diesem Kriege fürchterlich groß ist, so ist der unserer Verbündeten es nicht weniger. Auch die Neutralen könnten sich, wenn sie eine klare Auffassung ihrer künftigen Interessen hätten, gegen diesen Konflikt, in welchen so viele Nationen hineingezogen sind, nicht uninteressiert verhalten. Diejenigen unter ihnen, welche uns vorsichtige oder offene Sympathie zeigen, wie auch die, welche unsicher oder unbestimmt zu sein scheinen, haben alle vitale Interessen an unserem Siege. Dagegen haben sie von den usurpierenden, treulosen Nationen, die in den von ihnen selbst unterzeichneten Verträgen nichts anderes als Papierfetzen sehen und einen wilden Genuß darin finden, die kleinen Völker zu vernichten, alles zu fürchten. Ihr werdet den Nationen, die jetzt unter der Bedrohung der Gewalt Deutschlands leben, wieder Sicherheit geben. Ihr arbeitet an einer neuen Welt und seid die Vorläufer der befreiten Menschheit. Es ist notwendig, daß der Friede, dessen Bedingungen dem besiegten Feinde diktiert werden, uns die Provinzen, die man uns mit Gewalt geraubt, wiedergebe, das verstümmelte Frankreich vollständig wiederherstelle und uns sichere Garantien gegen die Kriegstollheit des kaiserlichen Deutschlands biete. An dem Tage, da Ihr uns diesen Frieden bringt, wird das starke, ruhige Frankreich seine Söhne, die es gerettet haben, an sein Herz drücken.«

Merkwürdigerweise scheint Präsident Poincaré ganz übersehen zu haben, daß bei den Neutralen ebensogut »offene Sympathie« für Deutschland und seine Bundesgenossen zu finden sein kann wie für Frankreich und dessen Verbündete – daß es Neutrale geben kann, die radikal und ehrlich außerstande sind, sich die Anschauungen des Präsidenten und anderer französischer Patrioten über den Krieg und die Weltlage im allgemeinen und über das Verhältnis, worin Deutschland und Frankreich zur »Menschheit« stehen, im besonderen zu eigen machen.

 

Über die in England herrschende Friedensstimmung um die Jahreswende 1915 ist wohl in dieser Verbindung genug gesagt, wenn man daran erinnert, daß gerade damals die Regierung dieses Landes den revolutionär unenglischen, nach englischen Begriffen unzweifelhaft »militaristischen« Entschluß faßte, den ersten Schritt zur allgemeinen Wehrpflicht zu tun.

Indessen hatte ja die Rede des deutschen Reichskanzlers im Reichstage am 9. Dezember 1915 über die Lage und die Friedensaussichten der englischen Presse kurz vorher noch eine ungesuchte Veranlassung gegeben, ihrer Herzensmeinung Ausdruck zu verleihen, und daß sie die Gelegenheit nicht unbenutzt hatte vorübergehen lassen, davon mögen folgende Berichte (der »Göteborgs Handelstidning« vom 18. Dezember 1915 entnommen) Zeugnis ablegen.

»Die › Times‹ bringen einen Artikel (über die Rede des Reichskanzlers) mit der Überschrift ›Die Komödie im Reichstage‹ und behaupten, daß alle die vielen früheren Gerüchte über bevorstehende Friedensunterhandlungen von Berlin aus verbreitet worden seien, um Bethmann-Hollwegs Rede einen ansprechenden Hintergrund zu geben. Der Reichskanzler habe darin ganz recht, daß ein Friedensvorschlag von deutscher Seite jetzt reine Torheit sein werde; es werde alles so bleiben, bis Deutschland sich dazu verstehe, die Friedensbedingungen der Alliierten anzunehmen. Seine Aussprüche zeugten von Besorgnis vor der Zukunft. England kämpfe jetzt für dasselbe Ideal wie einst gegen Napoleon, der, wie jetzt Kaiser Wilhelm, eine militärische Oberherrschaft über ganz Europa an sich zu reißen versucht habe, und Deutschland werde bald Napoleons Schicksal teilen.«

» Daily Chronicle erklärt, daß der Auftritt im deutschen Reichstage geschickt in Szene gesetzt sei, aber dennoch keinen Menschen irreführen könne, und daß die Entente sich keineswegs als geschlagen anzusehen gedenke, weil es einem Reichskanzler beliebe, dies zu behaupten. Die Aussprüche des Reichskanzlers hätten meistens aus reinem Unsinn bestanden, und die Völker der Entente beabsichtigten fortfahrend die Welt von dem Alpdrucke des preußischen Militarismus zu befreien. Es könne einmal der Tag kommen, da die Entente den Reichskanzler anhöre, aber dann müsse er ganz anders reden, auf leere Drohungen verzichten und sich den Bedingungen der Entente unterwerfen. Nur Deutschlands vollständige Unterwerfung lasse sich als Bürgschaft für die Zukunft der Zivilisation annehmen.«

»Die Daily News geben zu, daß das Prahlen des Reichskanzlers mit den deutschen Erfolgen im Felde eine gewisse Berechtigung besitze und daß die deutsche Kriegsmaschine, wenigstens oberflächlich betrachtet, niemals stärkere Kraft entwickelt habe als gerade jetzt. Aber die Friedensbedingungen Englands und der Entente blieben dieselben wie zu Anfang des Krieges: Gerechtigkeit für Belgien, Gerechtigkeit für Serbien, Gerechtigkeit für Frankreich, Gerechtigkeit für Europa und für die Menschheit, die durch das Verbrechen des deutschen Militarismus verletzt worden sei. Das einzige wirkliche Hindernis eines baldigen Friedens liege in Deutschlands offenkundigen Eroberungsplänen; ehe die Deutschen solchen Träumen nicht entsagt hätten, sei kein Friede denkbar.«

Die alte angesehene politische Wochenzeitung Spectator war in ihrer letzten Nummer noch nicht dazu gekommen, die Rede des Reichskanzlers durchzunehmen, glaubte aber trotzdem, die englische Auffassung in Ausdrücken wie den folgenden feststellen zu können. »Die einzig mögliche Grundlage eines dauerhaften Friedens ist vollständiges Vernichten der militärischen Macht Deutschlands; keine andere taugt.« »Die Blockade Deutschlands muß mit einer Intensität betrieben werden, die gar keine Ausnahmen zuläßt, und ohne Berücksichtigung irgendwelcher falscher und paradoxaler Humanitätsgründe« – wie solcher, daß man an die hungernden Frauen und Kinder im blockierten Deutschland denken solle. »Lieber noch zwei Jahre Krieg und alle die Leiden, die er uns bringen muß, als die blutbespritzte Unsicherheit eines schlechten Friedens.«

 

Damit auch eine in ihrem gründlich verschrobenen Blicke auf Deutschlands Verhältnis zum Kriege und zur Friedensfrage typisch neutrale und demokratische Auffassung in dieser einleitenden Übersicht nicht fehle, führe ich schließlich noch eine als Leitartikel gedruckte Weihnachtsbetrachtung aus der Zeitung »Social-Demokraten« (Stockholm) vom 24. Dezember 1915 an, worin unter anderem folgendes geschrieben steht:

»Wir erleben die zweiten Kriegsweihnachten, ohne daß sich – ebenso wenig wie vor einem Jahre – ein Ende des Weltstreites absehen läßt. Unaufhörlich werden neue Milliardenopfer in den Schlund des Krieges geworfen, und überall lautet die offizielle Parole – jetzt wie vor einem Jahre – Kampf bis zum letzten Blutstropfen und bis zum letzten Heller. Es könnte unter diesem Gesichtspunkte den Anschein haben, als ob die europäischen Kulturnationen alle von einer Art Selbstvernichtungswut ergriffen wären, die sie unerbittlich einer allgemeinen Katastrophe entgegentriebe.

Natürlich ist dies bei keiner der kämpfenden Nationen der offiziell an den Krieg angelegte Gesichtspunkt. Jetzt, wie vor einem Jahre, kämpft man überall für seine nationale Existenz, sein Recht aufs Dasein.

Aber dieses Sich-zum-legitimen-Verteidigungskriege-Bekennen nimmt sich wesentlich verschieden aus, je nachdem es im Lichte der militärischen Lage auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen betrachtet wird. Bei Belgiern, Franzosen, Serben und Russen, die größere oder kleinere Teile ihres Landes allen Schrecken des Krieges preisgegeben gesehen haben, ist der Verteidigungskrieg eine unabweisbare Tatsache. Friede ›um jeden Preis‹ bedeutet für diese Völker Wunden, die in absehbarer Zukunft nicht heilen würden. Die Kraft der Verzweiflung, die sie bei der Verteidigung einsetzen, ist also der höchste Ausdruck ihrer Existenzberechtigung.

»Die Sache liegt ja unbestreitbar anders, wenn man zu der Machtgruppe, die bisher das überwiegende Waffenglück auf ihrer Seite gehabt hat, übergeht. Die Legende des legitimen Verteidigungskrieges, den die Truppen der Mittelmächte in den Schützengräben Flanderns, auf den Rebenhügeln der Champagne, in den Sümpfen Rußlands und auf Serbiens Bergen führen, nimmt man wohl weder in Deutschland noch in Österreich mehr ernst. Im deutschen Reichstage haben die bürgerlichen Parteien und so ziemlich auch die Regierung die Maske abgeworfen und eingestanden, daß der Preis des Friedens Eroberungen nicht genauer spezifizierter Nachbargebiete seien, deren Besitz, wie man erklärt, zur künftigen Sicherheit Deutschlands erforderlich sei.

Soweit ist die Stellung klar. Auf der einen Seite schlägt man sich, um den Feind aus dem Lande zu vertreiben, auf der anderen, um das, was man sich genommen hat, oder jedenfalls das Wichtigste davon zu behalten. Zwischen diesen Gegensätzen eine Brücke zu schlagen, scheint einstweilen hoffnungslos. Die Staatsmänner der neutralen Länder haben, erst kürzlich in Holland und in der Schweiz, erklärt, daß – jetzt wie vor einem Jahre – gegenwärtig jede direkte Friedensinitiative verlorene Liebesmühe sei und nur zu Mißverständnissen führen werde.

Ist denn nicht der kleinste Lichtblick in dieser Finsternis des Kriegswahnsinns zu entdecken? Doch wohl, glücklicherweise – auch wenn ihm sowohl Deutschlands ›Oberannexionisten‹ wie Deutschlands Gegner vorläufig praktische Bedeutung absprechen werden. Das klare Verzichten der zwanzig deutschen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten auf den Eroberungskrieg, das sie durch Verweigerung neuen Kriegskredites bewiesen haben, ist sicherlich ein bedeutungsvolleres Symptom, als man mancherorten zugeben will. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die überwältigende Masse unserer deutschen Parteigenossen im Herzen und in der Seele gegen den Eroberungskrieg sind – auch die Majorität der Reichstagsgruppe hat ihn ja stets zurückgewiesen – und seitdem die Machthabenden sich nicht länger bemühen, die Art ihrer Kriegsziele zu verheimlichen, dürfte vielleicht die Zeit nicht mehr fern sein, da – wie verschiedene prophezeien – die jetzige Minorität sich in eine Majorität verwandeln wird.«

Die Entente war also um Weihnachten 1915 außerordentlich friedensfreundlich – aber ausschließlich unter ihren eigenen Bedingungen: »Deutschlands vollständige Unterwerfung«, Deutschlands »Annehmen der Friedensbedingungen der Entente« und »vollständige Vernichtung der militärischen Macht Deutschlands«. Und der neutrale schwedische »Social-Demokraten« sieht in Deutschlands »Eroberungslust« ein unübersteigliches Hindernis einer Verständigung zwischen Deutschland und der Entente und entdeckt keinen anderen »Lichtblick in der Finsternis des Kriegswahnsinnes« als das »klare Verzichten der zwanzig deutschen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten auf den Eroberungskrieg, das sie durch Verweigerung neuen Kriegskredites bewiesen haben«.

Der neutrale »Social-Demokraten« spricht den französischen Sozialisten seine warme Billigung wegen ihres Stimmens für den Kriegskredit aus, den deutschen Sozialdemokraten aber seine scharfe Mißbilligung wegen ihrer gleichartigen Stimmabgabe. Warum? Weil der Krieg der Entente ein Verteidigungskrieg ist und der Krieg der Mittelmächte ein Angriffs- und Eroberungskrieg.

Als in der ersten Augustwoche des Jahres 1914 der Krieg begann, konnten der »Social-Demokraten« und sein Schriftleiter, der Führer der schwedischen sozialistischen Arbeiterpartei, durchaus nicht begreifen, daß Deutschlands Kriegserklärungen an Rußland und Frankreich sich mit einem Verteidigungskriege Deutschlands vereinigen ließen. Dagegen begriff Herr Branting damals mit größter Leichtigkeit, daß Englands Kriegserklärung an Deutschland die Tatsache, daß auf Englands Seite ein reiner, klarer Verteidigungskrieg vorlag, nicht im geringsten erschütterte.

Später, Weihnachten 1915, war es Herrn Branting unmöglich, zu begreifen, wie Deutschland »in den Schützengräben Flanderns, auf den Rebenhügeln der Champagne, in den Sümpfen Rußlands und auf Serbiens Bergen« einen Verteidigungskrieg führen könnte. Daß eine schnelle, erfolgreich strategische Offensive unter gewissen Umständen ein durchaus notwendiger Bestandteil eines politischen Verteidigungskrieges sein kann, wenn dieser glücklich verlaufen soll, das kann also Herr Branting unmöglich begreifen – wenigstens dann nicht, wenn deutsche Offensivkraft den Verteidigungskrieg gegen ungeheuer übermächtige Feinde in deren eigene Länder hineinträgt. Ebensowenig scheint er verstehen zu können, daß Besetzung fremder Gebiete als Pfänder günstiger Friedensbedingungen etwas anderes ist als die endgültige Eroberung dieser Gebiete.

Natürlich glaube ich nicht im Ernste, daß Herrn Brantings Intelligenz ganz so schwach ist – aber ich glaube, daß er ein Beispiel des alten Erfahrungssatzes »Wess' das Herz voll ist, dess' geht der Mund über« liefert, und ich glaube, daß jenes alte Sprichwort nicht zum wenigsten dann die Wahrheit trifft, wenn »der Mund« Unsinn redet.

Der neutrale Herr Branting und seine zahlreichen sozial- und liberaldemokratischen Gesinnungsgenossen in verschiedenen neutralen Ländern haben Deutschlands militärische Erfolge augenscheinlich ebenso schmerzlich empfunden wie Deutschlands kriegführende Feinde – d. h. schmerzlich in prinzipiell politischem und moralischem Sinne. Dies Neutralitätsmysterium werde ich im folgenden gründlicher zu beleuchten versuchen.

 

Wenn also Herrn Brantings und seiner neutralen Genossen tiefer Kummer über die großen militärischen Erfolge Deutschlands und seiner Verbündeten ein Geheimnis ist, das gründlicherer Erforschung bedarf, so ist es dagegen ja selbstverständlich, daß eine Koalition, der es nach vieljährigen diplomatischen Vorbereitungen endlich geglückt ist, Deutschland und Österreich zum Erklären des Krieges zu zwingen, und die dies in der Hoffnung auf Erlangung großer politischer und wirtschaftlicher Beute jederlei Art (in Elsaß-Lothringen, in Österreich, auf dem Balkan, in der asiatischen Türkei, auf den Weltmeeren usw.) getan hat, unmöglich damit zufrieden sein konnte, daß der Verteidigungskrieg der Mittelmächte deren in noch höherem Maße qualitativ überlegene als quantitativ geringere Heere bis an die Linie Riga-Dünaburg-Czernowitz im Osten, die serbisch-griechische Grenze im Süden und die Linie Nieuport-Arras-Soissons-Reims-St. Mihiel im Westen geführt und daß Deutschlands türkische Bundesgenossen die englischen Eroberer bei den Dardanellen, auf Gallipoli und vor Bagdad geschlagen und sie gezwungen hatten, ihre farbigen Truppen aus Frankreich zurückzuziehen, um das (ganz kürzlich vollständig annektierte) Ägypten und den Suezkanal, der, nach englisch-imperialistischer Auffassung, die »große Schlagader der englischen Weltherrschaft« ist, zu schützen.

Da ein berechtigter, erzwungener Verteidigungskrieg unmöglich einen anderen vernünftigen Sinn haben kann als den, den Kriegsschauplatz so weit wie möglich über die eigenen Landesgrenzen hinauszuverlegen und dadurch den Gegner zu einem Frieden zu zwingen, worin er in bindender Form auf seine Angriffs- und Eroberungspläne verzichtet, ist es leicht zu verstehen, daß Deutschlands Zufriedenheit mit der Sachlage etwas ganz anderes ist als die eines Eroberers. Und es ist nicht weniger leicht zu begreifen, daß die auf Deutschlands »Zerschmetterung« so erpichte Entente die angegebene militärgeographische Lage als vollständige Niederlage empfinden muß – ganz abgesehen von jeder wirklichen Besorgnis, daß Deutschland, ohne förmlich dazu gezwungen zu sein, eines oder das andere der militärisch besetzten Gebiete in Zukunft könne behalten wollen.

Wer in einer solchen Lage noch auf Fortsetzung des Krieges bestehen will und darin von der Zustimmung der großen Volksmassen abhängig ist, der muß zu den stärksten demagogischen Mitteln greifen. Nun hilft es nichts mehr, daß man sich den Anschein gibt, sich mit etwas so Lauem wie der Defensive begnügen zu wollen. Die Maske muß abgeworfen werden, und man hat sich offen zu den kräftig anfeuernden aggressiven Zwecken des Krieges zu bekennen. Ein ehrenhafter, schneller Friede, der Deutschland die gebührende Anerkennung seines vollen Entwicklungsrechtes als Großmacht zugesteht und ihm die nötigen geographischen Garantien gegen den diesmal mißglückten Versuch von französisch-englisch-russischer Seite, die kosakische »Dampfwalze« schnell und unwiderstehlich nach Berlin rollen zu lassen, gibt – das wäre in solcher Lage keine zureichend aufreizende Parole. Nein – man muß unter Fanfaren offen eingestehen, daß man sich wirklich auf dem Kriegspfade befinde, um »Deutschland vollständig« zu »zerschmettern« und daß Frankreich geistig totkrank sein werde, wenn es die im 17. Jahrhundert auf so wenig anständige Weise annektierten und jetzt jedenfalls mehr deutschen als französischen Reichslande Elsaß-Lothringen nicht wiedererobern dürfe.

Diese geistige Krankheit Frankreichs ist ohne Zweifel Wirklichkeit. Gleichwie Rußlands blinder Eroberertrieb Wirklichkeit ist und Englands Verlangen, auch fortfahrend die Rolle des Oberimperiums der Erde, besonders zur See, zu spielen, ebenfalls Wirklichkeit ist. Und hier haben wir die Wirklichkeit, die hinter der Friedensstimmung der Entente um die Weihnachtszeit 1915 liegt – eine Friedensstimmung, die sich in der Mitteilung an Deutschland und die Menschheit äußert, daß von Frieden nicht eher die Rede sein dürfe, als bis die Entente das bisher siegreiche Deutschland so gründlich besiegt habe, daß sie einen Friedensvertrag diktieren könne, worin Deutschlands eigener Wille, eigene Interessen und eigene Forderungen überhaupt keine Rolle spielen würden.

Ist etwas wirklichem Friedenswillen Entgegengesetzteres denkbar als solche Worte an einen militärisch erfolgreichen Gegner und eine solche Agitation gegen ihn? Welche andere Wahl bleibt ihm dann, als danach zu streben, daß er die schon erlangte militärische Oberhand noch mehr und auf möglichst entscheidende Weise gewinne? Wer ist nun dafür verantwortlich, daß der Krieg in ein entsetzliches Ringen auf Tod und Leben ausartet, wobei vielleicht einem oder dem anderen Staate das Rückgrat unheilbar gebrochen wird – ohne daß es notwendig gewesen wäre, wenn es um die Jahreswende 1915–16 weniger zügellosen Chauvinismus, weniger Deutschenabneigung und mehr echte allgemeine Menschenliebe auf seiten der Entente und ihrer »neutralen« Freunde gegeben hätte?


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