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Es ist eine unbestreitbare, für die Zukunft der Arbeiterbewegung ebensosehr wie für die der Staaten in höchstem Grade bedeutungsvolle Tatsache, daß zwischen den außenpolitischen Denklinien der Sozialdemokratie vor dem Ausbrechen des Weltkrieges und ihrer Denkrichtung nach dem Kriegsausbruche ein tiefgehender Unterschied besteht. Daher ist es wichtig, festzustellen, worin dieser Unterschied liegt.
Eine freilich weder einfache noch leichte Aufgabe, denn die Masse der Dokumente ist fast unübersehbar und ihr Inhalt oft unklar; wozu noch kommt, daß der Kampf zwischen einander widerstreitenden Auffassungen das Problem noch verwickelter macht.
Die internationale gemeinsame Organisation der sozialdemokratischen Arbeiterparteien der verschiedenen Länder, die »Internationale«, war, wie wir gesehen haben, vor dem Weltkriege auf rein wehrnihilistische und radikal antimilitaristische Denkbahnen geraten. Auf dem Pariser Kongresse im Jahre 1900 wurde ja ein Beschluß gefaßt, der den Arbeiterparteien der verschiedenen Länder zwar nicht befiehlt, aber doch anempfiehlt, ihre Vertreter in allen Parlamenten zum unbedingten Stimmen gegen jede Ausgabe des Militarismus, des Marinismus oder der Kolonialexpeditionen zu verpflichten oder, wie es im französischen Texte noch deutlicher heißt, zu verlangen, »daß die sozialistischen Abgeordneten s'engagent à voter contre toute dépense militaire et toute dépense pour la flotte et les expéditions militaires coloniales.« Eduard Bernstein, op. cit., S. 6.
Hatte man sich gedacht, daß diese Verpflichtung auch bei drohendem oder ausbrechendem Kriege gelten solle? Auf diese Frage antwortet die Kriegsstreikpropaganda mit einem bedingungslosen Ja! Und die Beschlüsse der Kongresse zu Stuttgart (1907), Kopenhagen (1910) und Basel (1912) antworten mit einem in allerlei Unklarheiten eingehüllten Ja! Man droht, läßt aber darüber im Unklaren, womit man droht! Hinter einer solchen Drohung kann sich ebensowohl eine klare Absicht mit festem Willen zum Handeln, wie auch eine sehr unklare Absicht mit einem sehr schwankenden Willen – ein starker Wille zum Demonstrieren, aber kein reifer Wille zum Handeln – verstecken.
Der Weltkrieg hat bewiesen, daß das letztere der Fall war. Noch beim Kriegsausbruche fuhr das »Proletariat« fort, »seinen Abscheu vor dem Kriege und seinen Willen, ihm vorzubeugen, zu manifestieren«, wie es in dem am 29. Juli 1914 erlassenen Manifeste der »vereinigten französischen Sozialistenpartei« heißt. Was aber tat man nachher, als die Kriegserklärungen, Mobilmachungsbefehle und Truppentransporte der Kapitalistenregierungen als vollendete Tatsachen vorlagen und nichts weiter zu tun blieb als entweder allgemein zu streiken oder für, bzw. gegen den verlangten Kriegskredit zu stimmen? Die parlamentarischen Vertreter schwenkten sofort – wenn auch nicht ohne Seelenqualen und Opponenten – vollständig um. Sie beschlossen, daß die Kapitalistenregierungen jetzt als Nationalregierungen, Nationalverteidigungsregierungen anzusehen seien oder sich dadurch, daß Sozialisten in sie einträten, dazu umgestalten ließen.
Die typischste Schwenkung dieser Art fand in Frankreich statt. Für die französische Sozialdemokratie gab es jetzt keine Teufelsmaske des Kapitalismus, die das Antlitz des Nationalstaates entstellte und verdeckte, mehr. Dies Antlitz wurde nun auf einmal rein und heilig. Aber um so gräßlicher grinste der scheußliche Dämon des Kapitalismus sie jetzt in der widerlichen Gestalt des Feindes, Deutschlands, an.
Deutschland – der einzige wirklich am Ausbrechen des Weltkrieges Schuldige! Deutschland – die unheimliche Heimat des brutalen Militarismus, der Hunnenbrutalität! Deutschland – das welteroberungstolle! Deutschland – der gemeine Unterdrücker fremder Nationalitäten und der Masse des eigenen Volkes! Deutschland – das lügenhafte, das ränkeschmiedende, das schuldige, der einzige wirklich an dem großen Verbrechen der Entfesselung des Weltkrieges Schuldige! » J'accuse!«
Je länger der Krieg gewährt hat, desto mehr hat sich diese neue Form des Deutschenhasses verbreitet. Diese haßbetonte Manie, alle wirklichen und eingebildeten Abscheulichkeiten der Kapitalistengesellschaft in Deutschland, und am liebsten allein in Deutschland, vereinigt sehen zu wollen, mit bemäntelnden, mildernden Urteilen über nicht nur England, Frankreich, Belgien und Italien, sondern sogar über Rußland, obwohl dort das Elend und die Brutalität bekanntlich nicht bloß kapitalistisch sind.
Diese fixe Idee, daß Deutschland der Schuldige und die anderen mehr oder weniger unschuldige Lämmer seien, ist ein Gemeingut der Sozialdemokraten und ihrer politischen Gegner in den kriegführenden Ländern geworden. Sie hat sich auf Sozialdemokraten und andere in den neutralen Ländern erstreckt.
Sie hat vom ersten Tage des Weltkrieges an auch in Deutschland selbst eine gewisse Verbreitung gefunden – hauptsächlich in sozialdemokratischen und den ihnen nahestehenden Kreisen.
Die bis in die deutsche Sozialdemokratie hinein verbreitete allgemeine sozialdemokratische Parteinahme gegen Deutschland (und, in Verbindung damit, mehr oder weniger indirekt für Rußland!) ist die unmittelbarste Fortsetzung des heftigen Parteinehmens gegen Österreich und für Serbien sowie für dessen »Beschützer« Rußland während der kritischen Tage vor dem Kriegsausbruche.
»In der leidenschaftlichen Stellungnahme gegen den Krieg und in der Kennzeichnung Österreichs als Hauptanstifter waren die Sozialdemokraten aller Länder bis dahin einig,« schreibt Eduard Bernstein als Zusammenfassung seines Überblicks über die Lage bis zum 31. Juli Op. cit., S. 15..
Die erste Parteizeitung der deutschen sozialdemokratischen Partei, der Berliner Vorwärts – gewöhnlich als das offizielle Sprachrohr der Partei bezeichnet – war von Anfang an sehr freigebig mit den heftigsten Ausfällen gegen Österreich und schrieb am 30.Juli 1914 in bekräftigendem Tone folgendes:
»Schon ertönt es in Frankreich, wo man so heiß wie irgendwo die Erhaltung des Weltfriedens ersehnt, daß nunmehr kein Mensch mehr Rußland, sondern einzig Österreich und seinen Verbündeten Deutschland als den Anstifter zum Weltbrand, den wirklichen Störenfried betrachten müsse.« Op. cit., S. 17.
Am 1. August, als bekannt geworden war, daß Rußland seine ganze Armee gegen die Mittelmächte mobil machte, sprach sich der Vorwärts auf folgende Weise aus Op. cit., S. 18.: »Die russische Mobilmachung erscheint uns als kein Grund, die ernstesten, geduldigsten Verhandlungen nicht vom Standpunkt ehrlichster Friedenspolitik aus fortzusetzen. Niemand kann wissen, ob nicht Rußland nur deshalb seine Kriegsbereitschaft in forciertem Tempo fortzusetzen für notwendig hielt, weil der Lokalanzeiger durch sein eigentümliches Versehen die deutsche Mobilisation publizierte. Aber auch Rußlands Mobilisierung braucht Deutschland noch nicht nervös zu machen, weil ja Rußland wegen seiner Heeresorganisation und der Weitläufigkeit seines Landes unendlich viel längere Zeit zur Mobilisierung gebraucht wie Deutschland.«
Es ist kaum notwendig, daran zu erinnern, daß die Auffassung des Vorwärts, es bringe Deutschland keine Gefahr, Rußland einen Vorsprung in der Mobilmachung zu lassen, teils durch die staunenswerte Schnelligkeit der tatsächlichen russischen Mobilmachung, teils durch die entsetzliche Verwüstung Ostpreußens auf fürchterliche Weise widerlegt worden ist. Hinter diesem Irrtum des Vorwärts liegt jedoch offensichtlich etwas anderes, etwas viel Bedenklicheres als nur Mangel an militärischer Sachkenntnis – nämlich fanatische Voreingenommenheit und Feindseligkeit gegen die leitenden Staatsmänner des eigenen Landes, als mehr oder weniger bereitwillige Opfer »des beispiellosen Treibens der unverantwortlichen Kriegshetzer« betrachtet Op. cit., S. 18 (Vorwärts, 31. Juli)..
Mißtrauen und Haß führen das Wort, wenn es sich um die Machthaber des eigenen Landes, Deutschlands, handelt, aber die naivste Leichtgläubigkeit und der blindeste Eifer, alles aufs beste zu deuten, sobald es Deutschlands Feinden – Frankreich und England – gilt. Daß auch in diesen Ländern mit den »beispiellosen Intrigen unverantwortlicher Kriegshetzer« zu rechnen war, ist eine Tatsache, die der Vorwärts und seine Gesinnungsgenossen in der deutschen und nichtdeutschen Sozialdemokratie rein instinktiv übersahen oder durch ein starkes Verkleinerungsglas sahen.
Ebenso rein instinktiv übersah und eliminierte man auf dieser Stelle den ganzen gewaltigen weltgeschichtlichen Hintergrund der serbisch-russisch-österreichisch-deutschen Krisis nebst ihren tieferen gegenwartsgeschichtlichen Ursachen und Realitäten. Mit der erbärmlichsten Dilettanterei hielt man an den »Kriegshetzer«- und »Intrigen«theorien fest, die in demagogischer Weise einseitig gegen Österreich und Deutschland ausgenutzt wurden. Keine Ahnung davon, daß zwischen den Nationen, zwischen den Staaten unumgängliche weltgeschichtliche Entwicklungskonflikte bestanden – sondern lauter wohlfeile Agitationsphrasen! »Nieder mit den Kriegshetzern!«
Sogar ein wissenschaftlicher Geist wie Eduard Bernstein – der nicht vergessen hat, daß die »großen Vorkämpfer Marx und Engels wie auch ihre ersten Führer Bebel und Liebknecht« der Sozialdemokratie »die Feindschaft gegen das zarische Rußland sozusagen als Erbstück hinterlassen« haben Op. cit., S. 15. – zeigt sich in Erstaunen erregender Weise unklar und unschlüssig, als es gilt, die weltgeschichtlichen Gründe und Realitäten des Weltkrieges zu beleuchten und dazu Stellung zu nehmen. Mit dem besten Willen auf der Welt kann ich nicht finden, daß Eduard Bernsteins Verstand und Herz während des Weltkrieges der deutschen Sache auch nur annäherungsweise volle Gerechtigkeit haben wiederfahren lassen – wohl aber bedeutend mehr Gerechtigkeit der Sache Frankreichs und Englands, obgleich er einsieht, daß »Deutschlands Niederlage Rußlands Sieg heißen würde« und folglich »ebensowenig das Ende des imperialistischen Militarismus bringen kann, wie umgekehrt die Niederlage Rußlands solches verspricht« Op. cit., S. 56..
Dasselbe muß man, meiner Ansicht nach, von der Schriftleitung des Vorwärts und deutschen Sozialdemokraten in vorgeschobener Stellung wie Kautsky, dem Manne der Wissenschaft, und dem Politiker Haase sagen – von Dr. Karl Liebknecht gar nicht zu reden, dessen blinder Fanatismus mehr als irgend etwas anderes die Voreingenommenheit und Haltlosigkeit der Meinungsrichtung, in welcher er die Rolle des enfant terrible und des Sohnes seines Vaters (von 1870-71) zu spielen liebt, enthüllt hat.
Daß solche soziologische Oberflächlichkeit und antideutsche Voreingenommenheit innerhalb der deutschen Sozialdemokratie besonders der französischen Sozialdemokratie und den weniger deutschfreundlichen Elementen in den Sozialdemokratien der neutralen Länder außerordentlich willkommen gewesen ist, kann man sich ja sagen.
Alles, was der Vorwärts geschrieben und Doktor Liebknecht gesprochen, hat in der Regel in diesen Kreisen mit einstimmigem »Jubel« begrüßt werden können – und hat sie natürlich möglichst gründlich in ihren antideutschen Stimmungen und Vorstellungen bestärkt. Denn ist nicht der Vorwärts die offiziellste aller Zeitungen der deutschen Sozialdemokratie? Trägt nicht Doktor Liebknecht einen berühmten revolutionären Namen, und ist er nicht der wahre Führer der deutschen Sozialdemokraten? In den Glauben an diesen letzten Blödsinn verfällt sogar ein so kenntnisreicher, ruhig urteilender Mann wie A. W. Humphrey International Socialism and the War, S. 13.: » doktor Karl Liebknecht the present leader of the German Socialists«!
Die deutsche Sozialdemokratie hat Jahrzehnte hindurch in den Sozialdemokraten des Auslandes den Glauben großgezüchtet, daß die inneren Gesellschaftsverhältnisse in Deutschland außerordentlich und einzig dastehend, herabwürdigend und brutal seien. Dies Erziehen des Auslandes zu dem Glauben an die Sklaverei des deutschen Volkes unter einer »Militärkaste«, einer »Bureaukratenkaste« und einer »Junkerkaste« ist mit deutscher Gründlichkeit, deutschem Doktrinarismus, deutschem Mißtrauen, deutscher Unterschätzung des Eigenen und deutscher Überschätzung des Fremden betrieben worden.
Unter deutschem Gesichtspunkte hat es sich um einen demokratischen Kampf nach westeuropäischem Muster – der allerdings mehr phrasenpolitisch als realpolitisch, mehr agitatorisch als in allem ernstgemeint gewesen ist – gegen den Bureaukratismus und Militarismus, den ganzen eigenartigen Staatsgeist und die ganze eigenartige staatliche Ordnung Deutschlands gehandelt.
Nur ein Beispiel! Über das Vertrauen des Auslandes auf Deutschlands Friedensliebe schreibt Bernstein Op. cit., S. 23. Von mir gesperrt wiedergegeben.: »In dieser Hinsicht stand es nun in bezug auf das offizielle Deutschland bei den europäischen Demokratien leider nicht günstig. Hier war man von jeher gewohnt, Deutschland als das klassische Land des Militarismus und der Steigerung der Rüstungen zu betrachten und zu fürchten – letzteres mit der die Furcht begleitenden Empfindung.«
Wer hat kräftiger dazu beigetragen, den »europäischen Demokratien« diese »Gewohnheit« beizubringen, als gerade die deutsche Sozialdemokratie? Und ist dies überhaupt auf eine Weise geschehen, die den deutschen Staatsmächten gegen die anderer Länder auch nur annäherungsweise, unter nationalem deutschen Gesichtspunkte, wirklich gerecht geworden ist?
Wenn man, gleich mir, beobachtet hat, wie Herr Hjalmar Branting und seine Zeitung (Social-Demokraten) vom ersten Tage des Weltkrieges an den Vorwärts und gewisse führende Sozialdemokraten in durchaus loyaler Weise als Zeugen zugunsten der Theorie, daß Deutschland schuldig sei, haben benutzen können – dann fragt man sich, ob die radikalen Elemente innerhalb der deutschen Sozialdemokratie und in Deutschland überhaupt nicht endlich zu der Erkenntnis erwachen werden, daß ihre sinnlos übertriebenen, einseitigen Anklagen gegen die Einrichtungen des eigenen Landes dem Auslande eine falsche, Deutschlands Weltstellung in gefährlicher Weise herabsetzende Vorstellung von deutschem sozialen Leben, deutscher Kultur und deutscher Gemütsart geben müssen.
Der Franzose und der Engländer sind geneigt, ihr Eigenes zu schätzen und zu loben, und halten oft sogar eigene eingestandene Fehler für viel nobler, als die meisten Vorzüge des Ausländers. Daher mißverstehen sie die selbstkritische deutsche Art, sehen in allen den agitatorischen Übertreibungen buchstäbliche Wahrheiten und meinen, daß die brutale Willkür der Obrigkeit in Deutschland natürlich noch siebenmal schlimmer sein müsse, wie sie geschildert wird, da ja sogar die Deutschen selber solche »Enthüllungen« machen können, wie man im Vorwärts findet.
Das Dogma der »Schuld« Deutschlands war lange vor dem Ausbrechen des Weltkrieges von »radikalen« Deutschen gut vorbereitet. Daher war es auch kein Wunder, daß es sofort beim Kriegsanfange nicht nur unter Deutschlands Feinden, sondern auch in den neutralen Ländern, namentlich in ihren sozialistisch und bürgerlich radikalen Kreisen, so außerordentlich populär wurde.
Die Bekehrung der französischen Sozialdemokraten vom Internationalismus zu antideutschem Nationalismus erhielt an dem Vorurteile hervorragender deutscher Sozialdemokraten gegen ihr eigenes Land eine Stütze. Die Grundanschauung der internationalen Sozialdemokratie, daß der Kapitalismus der einzige »Schuldige« sei und daß er in allen Ländern mit reifer kapitalistischer Produktionsweise gleich schuldig sei, ertrank in einer Sturzwelle bürgerlich nationaler und nationalistischer Stimmungen und bürgerlicher Rechtsideen und Rechtsideale – Stimmungen und Ideen, worin die Legende der »Schuld« Deutschlands und der »Barbarei« Deutschlands eine Hauptrolle spielte, wie sie es sogar in gewissen Kreisen Deutschlands selbst tat.
Hierzu kommt nun ein anderes Moment, dem man in dem folgenden besondere Aufmerksamkeit schenken muß.
Wenn französische und englische Demokraten über Demokratie reden, so meinen sie natürlich demokratische Einrichtungen der französischen und englischen Typen. Und wie verschieden diese auch sind, so müssen sie doch als wesentlich gleichartig und als der demokratische Typus überhaupt gelten. Diese Anschauung teilen Demokraten aller Länder der Welt – auch deutsche.
Stößt man auf eine national deutsche Abart des Demokratismus, die stark von dem westeuropäischen abweicht, dann wird sie also nicht als Demokratismus erkannt, weil man den englisch-französischen Maßstab anlegt.
Die von den deutschen Sozialdemokraten an den Einrichtungen ihres eigenen Landes und seinem Staatsgeiste geübte Kritik scheint mir oft an gerade diesem Fehler zu leiden – an dem Anlegen eines ausländischen Maßstabes unter der Vorstellung, daß er universal sei, und an dem Vernachlässigen der Nachforschung nach dem eigenen nationalen Maßstabe des Demokratismus.
Die Schiefheit der von den deutschen Sozialdemokraten an deutschen Verhältnissen geübten Kritik dürfte hierin eine ihrer Erklärungen finden. Es ist wahrscheinlich, daß Deutschland sich vor einer mit den nationalen Verschiedenheiten des Demokratismus rechnenden Kritik als ein weit weniger undemokratisches Land erweisen wird, als man annehmen muß, wenn man, ohne es selbst zu merken, die Antwort auf die ungereimte Frage sucht: ist Deutschland ebenso demokratisch nach französisch-englischem Muster wie Frankreich und England?
Der Glaube an Deutschlands einzig dastehende »Schuld« am Weltkriege wäre sicherlich nicht so felsenfest, wie er jetzt auf verschiedenen sozialdemokratischen Seiten ist, wenn man gelernt hätte, das Solidaritätsverhältnis zwischen dem deutschen Volke und dem deutschen Staate so zu sehen, wie es wirklich ist, anstatt danach zu fragen, ob es ebenso sei wie in Frankreich und England.
Sollte nicht ein Sozialist von deutschem Staatsgeiste etwas mehr lernen können, als von englischem oder französischem?