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I
Deutschland und der Weltfriede

1. Deutschland als ideeller Mittelpunkt des Weltkrieges

Je länger der Weltkrieg dauert, je schrecklichere Opfer er schon gefordert, desto dringender wird die Frage, was in dieser verwüstendsten, verbitterndsten geistigen und körperlichen Kraftmessung, welche das Menschengeschlecht je erlebt hat, Recht und Wahrheit, Vernunft und menschenwürdiges Streben sei.

Einige – wohlmeinende Idealisten – sagen, daß alles vollständiger Wahnsinn sei, und beweisen in der weiteren Auseinandersetzung ihre eigene vollständige Unzulänglichkeit.

Andere, und dies sind die meisten, sehen in dem Ganzen ein Intrigendrama, zusammengebraut von einem gewissen »Schurken« – der natürlich den wohlklingenden Namen »deutscher Militarismus« trägt, wenn das Urteil von der Ententeseite kommt, die, allgemein menschlich gesehen, bekanntlich heutzutage die Seite der Majorität ist. Unter wissenschaftlichem Gesichtspunkte haben wir hier den charakteristischen Zug, daß man die tiefsten weltgeschichtlichen Gründe der Katastrophe und ihre völkerpsychologische Notwendigkeit nicht sehen will. Gleichwie Sir Edward Grey versichert man z. B., daß sich der Weltfriede hätte bewahren lassen, wenn nur Deutschland ihm in seinem berühmten Konferenzvorschlage während der diplomatischen Krise im Juli-August 1914 größeres Entgegenkommen gezeigt hätte. Deutschland habe den Krieg gewollt – weil es nicht auf diesen oder jenen Vorschlag oder auf alles Beliebige eingegangen sei, um den Frieden zu bewahren.

Natürlich hat Deutschland den Krieg gewollt – lieber als ferneren Frieden unter gewissen Bedingungen. Ganz wie Rußland den Krieg wollte – lieber als Österreichs Strafexpedition gegen Serbien. Ganz wie Frankreich den Krieg wollte – lieber als das Aufgeben seines tragischen Bündnisses mit Rußland. Ganz wie England den Krieg wollte – lieber als deutsche Heere an die Festlandsküsten des englischen Kanales hinanzulassen. Ganz wie Österreich den Krieg wollte – lieber als widerstandslos die fortgesetzte Unterminierungsarbeit des Panslawismus und des Panserbismus gegen einen Staat, den sie nach eigenem Belieben ganz ruhig zum Tode verurteilt hatten, zu dulden. Ganz wie Belgien den Krieg wollte – lieber als sich nach allen Seiten hin passiv und friedlich neutral zu erklären (was vom englischen und französischen Interessenstandpunkt aus natürlich unerhört empörend gewesen wäre). Ganz wie Italien den Krieg wollte – lieber als die seemilitärischen und wirtschaftlichen Folgen der Unzufriedenheit Englands mit einer dieser Macht unbequemen Neutralität und Selbständigkeit zu riskieren. Ganz wie die Türkei den Krieg wollte – lieber als noch länger der Leichnam zu sein, aus welchem Rußland, England, Frankreich und Italien unter »Erhaltung des europäischen Gleichgewichtes« sich hin und wieder nach Abmachung ein Stück herausschneiden. Ganz wie Bulgarien den Krieg wollte – lieber denn eine Zukunft als Rußlands Vasall.

Den Frieden kann man stets behalten – es kommt nur auf die Bedingungen an. Man braucht nur bereit zu sein, den Frieden um jeden Preis zu erkaufen. Aber – unglücklicherweise oder glücklicherweise! – ist der Staat, der das tut, nicht länger ein Staat. Ebensowenig wie ein Mensch ohne eigenen Willen ein Mensch ist. Was einen Staat zum Staate unter anderen Staaten macht, das ist dies, daß er als Staat den eigenen Willen zum Leben hat und daß er diesen Willen in gewissen Fällen dem anderer Staaten nie und nimmer unterordnet. Staaten, wie Menschen, existieren nicht, um zu existieren, sondern um etwas zu wollen – um etwas auf Leben und Tod zu wollen.

Wäre dem nicht so – dann wären Leben und Tod gleich sinnlos, und der Weltkrieg wäre allerdings a priori ein »Wahnsinn«.

Da wir alle sterben werden, kann es unmöglich ein »Wahnsinn« sein, daß wir sterben – ausgenommen dann, wenn wir im Streite gegen den Sinn des Lebens sterben. Und dafür ist kein anderer verantwortlich als wir selber.

Es gibt also keine andere Art und Weise, dem Rechte und Unrechte, der Vernunft und der Unvernunft des Weltkrieges auf den Grund zu gehen, als ein Prüfen des Lebenswillens der verschiedenen Staaten an dem Punkte, wo er den Krieg einer Unterwerfung unter den Willen anderer Staaten vorziehen muß, und ein Untersuchen des Umstandes, wie sich im besonderen der Wille zur Beteiligung an diesem Weltkriege zu jenem kategorischen Imperative der Staatsseele verhält.

Dies ist gleichbedeutend mit einer Wertung der verschiedenen Volksseelen und Staatswillen und ihrem Abwägen gegeneinander. Die »Neutralität«, der alle Völker »gleich« und alle gerade jetzt bestehenden Staatsverhältnisse in gleichem Maße unverletzlich sind, hat an dieser Diskussion keinen Anteil. Je mehr Leben, desto radikalere Ungleichheiten und Gegensätze, desto tiefere Veränderung und desto mächtigere Neugestaltung. Dies gilt auch dem Staatsleben.

 

Deutschland hat den Weltkrieg nicht gewollt. Aber Deutschland ist die jüngste Großmacht – eine noch nicht fünfzigjährige neben ihren Nebenbuhlerinnen, die zwei, drei und vier Jahrhunderte alt sind – und mußte seine Weiterentwicklung zu dem Maße an Ausdehnung, das eine Bedingung der Lebenskraft seines Volkes ist, wollen. Kein Volk hat das Recht, ein Aufhören seines eigenen Wachstums zu wollen – am allerwenigsten im Kraftalter der ersten Jugend.

Daher war, wie ich anderwärts nachgewiesen habe Weltkrieg und Imperialismus. (Eugen Diederichs Verlag, Jena 1915.), in der weltgeschichtlich bestimmten Großmachtslage um 1900 herum die Möglichkeit gegeben, daß Deutschland eines Tages sich durch sein Verhältnis zu den anderen Großmächten gezwungen sehen könnte, lieber den Krieg zu wollen als einen Frieden unter den von jenen gemeinsam vorgeschriebenen Bedingungen – Bedingungen, die Deutschlands fernerer Volks- und Staatsentwicklung gar zu enge und gar zu willkürlich bestimmte Grenzen zogen.

Diese Möglichkeit war im Sommer 1914 vollständige Wirklichkeit geworden. Der Weltkrieg hätte einige Jahre später als gerade damals ausbrechen können. Ganz aber hätte er sich nur dadurch vermeiden lassen, daß England, Rußland und Frankreich freiwillig Deutschland den nötigen geographischen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungsraum zugestanden hätten – ein ganz undenkbares Ding für jeden, der eine Ahnung von der Psychologie der Völker und der Staatsmänner Englands, Rußlands und Frankreichs hat. Schon die nötigen Einsichten in weltpolitischen Dingen fehlten sowohl jenen Staatsmännern wie, noch mehr, den Völkern.

Der Weltkrieg war eine geschichtliche Notwendigkeit, weil Deutschlands Weltstellung als politische, wirtschaftliche und kulturelle Macht im Jahre 1914 in Petrograd, London und Paris als offene Frage und gemeinsame Interessenfrage angesehen wurde. Eine Interessenfrage, deren endgültige Lösung man in einer den Ansprüchen der russischen, englischen und französischen Machterweiterung günstigen Richtung zu erzwingen beschlossen hatte; wenn möglich mit den Mitteln der Diplomatie, der Kriegsrüstungen und der Koalitionsdrohung, nötigenfalls aber auch durch Krieg.

In zweiter Hand galt die Frage auch der Großmachtstellung Österreich-Ungarns und derjenigen der Türkei.

In Petrograd hatte man die Habsburger Monarchie zum Tode verurteilt. Aus dem Grunde, weil die unersättliche großrussische Herrschsucht – die sich vor Europa als ein nationalistisch-religiöser Panslawismus maskiert – die slawischen Länder der Habsburger verschlingen und das endgültige Protektorat über die Balkanslawen gewinnen, sowie, als Krone des »Befreiungswerkes«, Byzanz nebst den nördlichen Teilen der asiatischen Türkei erobern wollte.

In London und Paris war man der Ansicht, daß der Panslawismus von nationalen Gesichtspunkten aus gegen Österreich und dessen Balkanpolitik im Rechte sei. Bei der Eroberung Konstantinopels und der Zerstückelung der asiatischen Türkei wollte man natürlich selber auch beteiligt sein.

Da Deutschland im Osten und Westen lange Landesgrenzen gegen zwei Landmilitärmächte ersten Ranges – Rußland und Frankreich – zu verteidigen hatte und da Englands übermächtige Flotte es stets von den Weltmeeren abzusperren drohte, blieb dem deutschen Staate keine andere Wahl als die, sich sowohl landmilitärische wie seemilitärische Stärke zu bewahren und nicht nur an dem Prinzipe der Integrität Österreichs gegen panslawistische Umtriebe, sondern auch an dem Prinzipe der Stellung Österreichs als Balkanmacht und seiner eigenen Stellung als einer, wenigstens in wirtschaftlicher Hinsicht, vorzugsweise in der asiatischen Türkei expansionsberechtigten Macht festzuhalten.

Man muß in politischen Dingen ein Kind oder von ebenso tiefem Deutschenhasse wie die politisch führenden und die öffentliche Meinung bestimmenden Kreise in Rußland, England und Frankreich besessen sein, um nicht einzusehen, daß Deutschland absolut keine andere Wahl geblieben ist, als entweder an seinem »Militarismus« und seinem Bunde mit Österreich-Ungarn, sowie an seiner türkischen Interessenpolitik festzuhalten oder sein Recht auf Entwicklung schimpflich aufzugeben – also einen Selbstmord in Form freiwilligen Aufhörens im Wachstume zu begehen und die Zukunft, die geboren werden will, freiwillig zu opfern.

Freiwilliges Verzichten auf jegliches »imperialistisches« Weiterwachsen in wirtschaftlicher und kolonisatorischer Hinsicht oder die Zustimmung dazu, daß es seinen Einfluß in der asiatischen Türkei, in Afrika und anderwärts nur soweit und derartig, daß es vor Englands, Frankreichs und Rußlands Augen Gnade fände, ausdehnen dürfe, hätte Deutschland dennoch nicht vor Angriffen bewahren können, wenigstens nicht vor Angriffen von russischer und französischer Seite. Rußland hätte fortgefahren, Österreich panslawistisch zu unterminieren und die Balkanslawen zu »beschützen«, um nach Konstantinopel, den Dardanellen und der Südküste des Schwarzen Meeres hinzugelangen. Und Frankreich hätte Rußland fortfahrend wirtschaftlich unterstützt und militärisch mit ihm zusammengearbeitet, um schließlich durch Krieg Elsaß-Lothringen endgültig wiederzugewinnen und am liebsten die ganze »Rheingrenze« zu erlangen.

 

Daß Deutschlands Lage vor dem Ausbruche des Weltkrieges derartig war, konnten alle politisch vorurteilsfreien, sachkundigen Leute schon damals deutlich genug sehen. Davon haben nicht nur politische Schriftsteller in Deutschland und in neutralen Ländern, sondern sogar belgische Diplomaten und verschiedene politische Beobachter in den Ländern, die jetzt Krieg gegen Deutschland führen, Zeugnis abgelegt. Und im Grunde ist diese Wahrheit über Deutschlands wirkliche Weltlage im Verlaufe des Krieges sowohl von den führenden Staatsmännern wie von der öffentlichen Meinung in Petrograd, London und Paris aufs gründlichste bekräftigt worden.

Man hat dort mit brutalster Offenheit wohl hundertmal erklärt, daß der Krieg der Koalition gegen Deutschland ein Krieg sei, um Deutschland zu verstümmeln, seine weiteren Entwicklungsmöglichkeiten zu vernichten, Österreich zu zerstückeln, Konstantinopel zu erobern und die asiatische Türkei aufzuteilen. Und niemals ließ sich diese antideutsche Kriegs- und Eroberungsbrutalität lauter hören als bei dem Friedensfeste der Weihnachtszeit 1915. Französische Sozialdemokraten und englische Arbeitervertreter wetteiferten mit den berüchtigtsten Chauvinisten ihrer eigenen Länder und Rußlands um die Ehre, alle Friedensmöglichkeiten zurückzuweisen und das Menschenhinschlachten in und bei den Schützengräben bis zu dem Tage fortzusetzen, da Deutschlands Militärmacht so gründlich zertrümmert sein würde, daß die Regierungen in Petrograd, London und Paris ihm ihre Friedensbedingungen diktieren könnten.

Die Quintessenz dieser sozialdemokratischen, liberal-demokratischen und sonstigen nationalistischen, sowie chauvinistischen Antifriedensdemonstrationen war stets: » Kein deutscher Friede!« Kein Friede, bei dessen Bedingungen der Lebenswille des deutschen Staates und der deutschen Nation ein mächtiges mitbestimmendes Wort gesprochen hat! Der Friede nach dem Weltkriege soll ein »französischer« Friede, ein »englischer« Friede, sogar ein heiliger »russischer« Friede sein! Doch bei allem, was einem westeuropäischen (und russischen!) Demokraten heilig sein kann, kein »deutscher« Friede!

Tonangebende französische Sozialdemokraten sind fest entschlossen, Elsaß-Lothringen wiederzuerobern, und sind über den Beschluß führender deutscher Sozialdemokraten, dem Deutschen Reiche diese altdeutschen Grenzländer zu erhalten, moralisch entrüstet. Dieser letztere Standpunkt soll nämlich »kaiseristisch«, »imperialistisch«, »militaristisch«, undemokratisch und den Nationalitätsprinzipen widerstreitend sein. Dagegen sollen diese Prinzipe gestatten, daß die Friedensbedingungen ganz anders ausfallen, als das deutsche Volk in seinen breitesten Schichten sie tatsächlich als Lebensbedingung für sein Land und seinen Staat fordert. Kein deutscher Friede!

 

Der Krieg ist der gewaltigste Enthüller der politischen Wahrheiten und Wirklichkeiten. Er zerreißt jenen Schleier diplomatischer und parlamentarischer Humbugsphrasen, womit die Völker in Friedenszeit ihre innersten Absichten gegen einander verhüllen. Ich sage: die Völker – denn es ist offenbar eine konventionelle demokratische Lüge, daß nur die zunftmäßigen Diplomaten eine Sprache sprechen, welche die Gedanken verbirgt.

Doch der Krieg erzeugt auch Humbug – und zwar in märchenhaftem Umfange. Nämlich die Art Humbugphrasen, die nötig sind, um in den großen Volksmassen die »richtige Stimmung« gegen den Feind, das gute Gewissen, ihn zu vernichten, hervorzuagitieren und festzuhalten.

Diese Art Humbug blüht am stärksten in den am demokratischsten und parlamentarischsten regierten Ländern – denn dort hat die Auffassung der Volksmassen die unmittelbarste Bedeutung für die Möglichkeiten der führenden und handelnden Politiker, ihre Absichten praktisch durchzuführen. So gewahren wir denn, daß der rein volksagitatorische Humbug in England und Frankreich (und den Vereinigten Staaten!), den großen Demokratien, unvergleichlich viel herrlicher blüht als in dem »kaiseristischen«, »militaristischen« Deutschland.

Die unerläßliche Vorbedingung der Ausführbarkeit imperialistischer und militaristischer Staatskunst in England und Frankreich ist, daß sich diese Staatskunst dort unter widerhallender Reklame und mit schmachtender Sentimentalität als demokratisch, freiheitsfreundlich und humanitär ausgibt und im Notfalle rund heraus leugnet, daß sie imperialistisch, kriegerisch und militaristisch sei.

Da nun das zu lösende politische Problem darin besteht, daß Deutschlands innere Entwicklungskraft und seine äußeren Entwicklungsmöglichkeiten mit Gewalt auf das den notorisch aggressiven Imperien Rußland, England und Frankreich bequeme Maß verringert werden sollen, so muß, wenigstens was England und Frankreich anbetrifft, diese Absicht notwendigerweise mit einer demokratisch agitatorischen Lockphrase maskiert werden – sonst bringt man die Massen nicht dazu, daß sie für den Kriegskredit stimmen. Da Rußland (weil seine »Dampfwalze« es schaffen sollte!) mit in der feinen Gesellschaft ist, muß, damit die Komik nicht in der weltgeschichtlichen Tragödie fehle, auch Rußland demokratisch und liberal agitieren. Und – wirklich erbärmlich – englische und französische Staatsmänner müssen vor ihren Landsleuten und der ganzen Welt darauf schwören, daß Rußland ehrlich »humanitär« sei – ja, das heißt, es genau ebenso ehrlich meine wie England und Frankreich.

 

Die westeuropäisch-demokratisch-demagogische Schreckphrase im Weltkriege 1914-1916 ist ja: deutscher Militarismus.

Das deutsche Volk sowie auch, auslandspolitisch gesehen, Europa und die ganze Welt seufzen seit lange unter diesem scheußlichen Nachbar und sollen nun endlich durch die ebenso selbstlosen wie unmilitaristischen Ritter England, Rußland und Frankreich von ihm befreit werden.

Und nicht allein dies. Deutschland hat den Krieg begonnen. Dies ist Deutschlands Angriffskrieg gegen seine tief friedlichen Nachbarn im Osten und Westen, im Nordwesten und Süden, ja gegen die ganze Welt.

Der deutsche Militarismus ist nicht nur das Brutalste alles Menschlichen – wenn er überhaupt menschlich zu nennen ist in einer Welt, wo so edle Wesen wohnen wie die Einwohner in den Mutter- und Kolonialländern der russischen, englischen und französischen Imperien! Er ist auch das Wahnsinnigste auf der Welt – indem er sich durch einen gänzlich unmotivierten Anfallskrieg gegen fast ganz Europa, ja gegen beinahe die ganze Welt, freiwillig seinen eigenen Untergang bereitet, wobei er sich jedoch mit teuflischer List den ihm selbst günstigsten und den armen Opfern ungünstigsten Augenblick zu dem Überfall ausgesucht hat!

 

Daß dieser »demokratische« Blödsinn seit dem ersten Tage des Weltkrieges über den ganzen Erdball ausgetrommelt und ausposaunt ist – das beweisen ja seine englisch-französisch-russischen Dokumente im Übermaße. Aber diese Dokumente und die der neutralen Länder beweisen auch, daß der Humbug nicht nur von den kriegführenden west- und osteuropäischen »Demokratien« mit gierigem Appetite verschlungen worden ist, sondern auch von Europas und Amerikas neutralen Demokratien, ja in einiger Ausdehnung sogar auch innerhalb demokratischer Kreise in Deutschland selbst.

Hier liegt der Kern des speziell psychologischen Problemes des Weltkrieges.

Von diesem Ausgangspunkte muß die Frage über Krieg und Kultur und über Deutschlands Stellung in der Welt erforscht und behandelt werden.

Ist nicht Deutschland die Ursache des Krieges? Ei freilich! Denn Deutschland ist nicht so, wie die Liberalen und Demokraten der Welt nebst den Imperien England, Rußland und Frankreich es sich wünschen. Und Deutschland wächst gewaltig – nach seiner eigenen Art. Wirkt also täglich in immer höherem Grade störend in der westeuropäisch-demokratisch-liberalen und russischen Weltordnung.

Deutschland hatte seit 42 Jahren keinen Krieg entfesselt. Doch es wollte Erlaubnis haben, die ihm innewohnenden eigenartigen Kräfte ungefähr ebenso entwickeln zu können, wie England, Frankreich, Rußland, die Vereinigten Staaten und Italien bisher die ihrigen hatten entfalten dürfen – d. h. in mehr oder weniger imperialistischer und militaristischer Hinsicht in der Bedeutung, die diese Worte nach dem Zeugnisse einer universalen Wirklichkeit haben.

Dazu erhielt Deutschland jedoch grundsätzlich keine Erlaubnis. Denn Deutschlands Eigenart ist etwas Besonderes, das nicht beliebt ist. Und dieses Besondere nennen die westeuropäischen Demagogen bald »deutschen Militarismus« und deutschen »Autokratismus«, bald deutsche »Welteroberungslust«.

Um was handelt es sich hier eigentlich?

Allerdings ist Deutschland militärisch außerordentlich stark. Aber auch auf vielen anderen Lebensgebieten ist es außerordentlich stark – ja, auf den meisten.

Die Frage ist tief und schwer, denn sie betrifft die Eigenart eines großen, eines jungen und starken, mit gewaltigen äußeren und inneren Schwierigkeiten kämpfenden Volkes, seine innerste Eigenart im Guten und Bösen und die Stellung der übrigen Menschheit zu dieser Eigenart. Und man darf ja nicht vergessen, daß auch diese übrige Menschheit menschlich ist, allzu menschlich im Bösen wie im Guten. Der Richter ist kurzsichtig, voreingenommen und egoistisch an der Sache interessiert.

 

Wir haben indessen den Ausgangspunkt unserer Untersuchung des zentralen psychologischen Problemes des Weltkrieges klar festgestellt. Deutschland ist das Zentrum des Weltkrieges – nicht allein geographisch, sondern auch politisch, weltgeschichtlich und rein ideell. Durch den Weltkrieg der Jahre 1914-16 ist die Zukunft der ganzen Menschheit in eine besondere, unauflösliche Abhängigkeit von Deutschlands Eigenart und Deutschlands Schicksal gebracht worden.

Das Kriegsziel der Feinde Deutschlands ist, Deutschland in politischer, militärischer, territorialer und wirtschaftlicher Hinsicht in etwas ganz anderes zu verwandeln, als es bisher gewesen ist und zu werden Neigung gezeigt hat.

Die Koalition Rußland-England-Frankreich will ein anderes Deutschland haben. Darüber hat die Welt seit dem Ausbrechen des Weltkrieges am 1. August 1914 beinahe jeden Tag neue Proklamationen offizieller und privater Art erhalten und neue Aufklärungen und Ermahnungen anhören müssen.

Mehr oder weniger weitgehende, eigenartige Zustimmungen zu diesen weltumwälzenden frommen Wünschen hört man nicht nur von dem kriegführenden Bundesbruder der Koalition (Italien) und ihren geopferten Schützlingen (Serbien und Belgien oder was von ihnen noch übrig ist), was ja menschlich ist und daher zu erwarten war. Überraschender und bedeutungsvoller ist, daß eine lange Reihe kriegspolitisch neutraler Staaten sich durch Majoritätsströmungen und andere Aufwallungen in der öffentlichen Meinung sehr auf den ideenpolitischen Krieg der Koalition eingelassen hat. Da sei besonders an den ebenso wunderbar neutralen wie intensiv unternehmungslustigen und moralischen, für Kriegsmaterial und andere Kriegskonterbande sorgenden Lieferanten der Koalition – Nordamerikas Vereinigte Staaten – erinnert, der auf diese Weise materiell und ideell (vor allem ideell) mit dem gelben Freunde und Verbündeten der weltverbessernden Koalition, mit Japan, brüderlich gemeinsam arbeitet.

Eine »einige Welt« – worin der neutrale, sozialdemokratische, liberal-demokratische und pazifistische Einschlag außerordentlich stark ist – erklärt, daß gerade Deutschland, unter allen Ländern der Erde, nicht länger tauge oder, so wie es ist, nie getaugt habe und recht gründlich umgestaltet werden müsse. Und die Koalition soll es tun – nicht nur die unbestreitbar tugendhaften Westmächte England und Frankreich, sondern auch die verbürgt europafreundlichen Ostmächte Rußland und Japan, sowie die kürzlich aus Tripolis heimgekehrte, wegen ihrer Zuverlässigkeit bekannte Südmacht Italien.

Deutschlands allgemein menschlich unerläßliches Reformbedürfnis ist so kolossal, daß nicht einmal neutrale Sozialdemokraten und Liberaldemokraten und Pazifisten es sich leisten können, in der Wahl der Weltreformatoren gar zu gewissenhaft zu sein. »Man nimmt, was man hat.« Ein vorausgefaßter heroischer Beschluß, eventuelle Unzulänglichkeiten der Reformatoren zu übersehen und das Resultat (wenn aus der Reform etwas wird!) »sehr gut« zu finden, scheint jenen wunderlichen Wohltätern in spe deutschen Volkes und der ganzen Menschheit zu genügen.

 

Ja – seinen Wohltätern! Denn sie meinen es ja alle so gut, Engländer, Franzosen, Russen, Japaner, Italiener, neutrale Sozialdemokraten, neutrale Liberaldemokraten, neutrale Pazifisten und neutrale Kriegsmateriallieferanten.

For Brutus is an honourable man;
So are they all, honourable men. –

Die Welt hat nur den Fehler, daß es in Deutschland, gerade in Deutschland, einige nicht honourable men und eine sonderbare Einrichtung gibt, die »Militarismus« genannt wird, nicht honourable ist und natürlich in allen anderen Ländern fehlt und (wenn man mir einen Superlativ des Wortes fehlen gestattet!) ganz speziell innerhalb der Koalition, auch »Entente« geheißen, fehlt, am allerspeziellsten aber in dem wohlgeordneten, friedlich gesinnten und sittenreinen Rußland fehlt.

Jedoch läßt sich, nachdem man dies alles gebührendermaßen zugegeben hat, nicht gänzlich bestreiten, daß die Koalition um Deutschland herum es auch mit sich selber gut meine, nicht nur allein mit dem armen verpreußten deutschen Volke und der Menschheit im allgemeinen. Aus leicht begreiflicher Bescheidenheit und Moralität unterläßt man es natürlich, dieses Wohlwollen gegen sich selbst auf eine Weise zu erörtern, die selbstsüchtig klingen könnte. Nein, nur der Menschheit im allgemeinen soll durch die beabsichtigte äußere und innere Reformation Deutschlands genützt werden. Und sollten zufällig einige bescheidene Vorteile als Nebenprodukte der großen Weltreform auch Rußland, Japan, England, Italien, Frankreich, den Vereinigten Staaten usw. zufallen, dann muß man ja bedenken, daß es nicht so leicht ist, diese und die Welt als Ganzes – wenigstens großpolitisch gesehen – voneinander zu trennen. Denn es bleiben ja nur ein paar wenig mächtige neutrale kleinere Staaten, China und Südamerika übrig – außer Deutschland und seinen Verbündeten.

Die Stimme der antideutschen Koalition ist Gottes Stimme. Denn wer sollte protestieren? China? Not yet! Südamerika? Das so viel Geld von England geliehen hat! Die kleinen Neutralen? Die täglich so wertvolle Gratislektionen auf Englisch in der Lehre über »die Freiheit der kleinen Nationen« und die »Freiheiten und Rechte der Neutralen auf den Weltmeeren«, sowie auch über »die Heiligkeit des internationalen Rechtes und der Moral« unter Britannias Schutze erhalten! Not they!

Man muß doch wohl wissen, was zum eigenen Frieden gehört, wenn man auch in einem Kriege, der die Richtlinien des politischen, wirtschaftlichen und geistigen Lebens aller Völker der Erde und ihrer Weiterentwicklung bestimmt, zufällig neutral ist.

Man kann natürlich neutral sein und dabei im Schweiße seines Angesichtes Kriegsmaterial ausschließlich an Deutschlands Feinde liefern. So ist die Neutralität. Und so sind die Bewohner der Vereinigten Staaten Amerikas. Will man aber fortfahrend vor englisch-russischen Augen Gnade finden, so darf man nicht neben seiner kriegspolitischen Neutralität zu deutlich eine moralisch unneutrale Auffassung des ideellen Wertes, der in der von England-Rußland geleiteten und von Italien und Japan so hübsch abgerundeten Koalition gegen Deutschland wohnt, durchblicken lassen.

 

Doch der Mensch ist ein schwaches Gefäß und will nicht immer die großen Ideale so sehen, wie eine aus Russen, Engländern, Japanern, Franzosen, Italienern usw. bestehende antideutsche Koalition sie sieht. Aber so ist es.

Leider existiert eine Art vielleicht perversen Menschenverstandes, dem es so aussieht, als ob England, Frankreich und Rußland – mit berücksichtigungswerter unneutraler Hilfe Japans und kräftiger neutraler Hilfe der Freiheit, Frieden und Humanität liebenden Vereinigten Staaten – wichtige Veränderungen in Deutschlands (und im Zusammenhange damit in Österreich-Ungarns, den türkischen und bulgarischen) politischen, militärischen, wirtschaftlichen und geographischen Zuständen nicht durchführen könnten, ohne zugleich auch ihre eigenen politischen, militärischen, wirtschaftlichen und geographischen Verhältnisse zu verändern. Und es ist die Frage, ob nicht auch die neutralen und unneutralen Helfer sowie die, in Erwartung anderer, bisher radikal geopferten Schützlinge Belgien, Serbien und Montenegro von Rechts wegen an der allgemeinen Veränderung der Geographie, Wirtschaft usw. beteiligt sein müssen.

Der moralisch-unneutral-kriegsneutrale Beobachter muß also vielleicht davon ausgehen, daß Deutschland eigentlich gezwungen sei, sich im eigenen Interesse und im Namen der Menschheit kräftig gegen einen Reformwillen zu wehren, der sich nicht nur auf Deutschland selbst erstreckt, sondern auch, selbstverständlich in aller respectability, eine gehörige Umgestaltung aller äußeren Politik und Wirtschaft zugunsten der drei gewaltigsten Imperien der Gegenwart – Englands, Rußlands und Frankreichs – einschließt und wenigstens den neutralen und unneutralen Helfern, den Vereinigten Staaten, Japan und Italien, eine gar nicht so kleine besondere Entschädigung und Begünstigung verspricht. Es ist nun einmal so, daß man in der Geographie, im Militarismus und in der Wirtschaft nicht dem einen etwas nehmen kann, ohne dem anderen mittelbar oder unmittelbar etwas zu geben, so daß dieser absolut oder relativ mehr erhält, als er vorher besessen hat, und in Zukunft mehr im Machtkampfe bedeutet als vorher.

 

Dies, nämlich daß der schließliche Sinn des Weltkrieges ein politischer und allgemeinmenschlicher Kraft- und Machtzuwachs der russisch-englisch-französisch-japanisch-italienisch-amerikanischen Brüderschaft auf Kosten des germanischen Mitteleuropas sein würde – ist indessen eine Sache, die wohl zu bedenken ist. Es kann nämlich den Anschein haben, als ob das Machtübergewicht schon von Anfang an ganz entschieden bei besagter menschenfreundlicher Brüderschaft und am allerdeutlichsten bei ihrem russisch-englisch-französischen Kerne gelegen habe.

Der mitteleuropäische Block – das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn, die Türkei und Bulgarien – umfaßt (mit den Kolonien) 154 Millionen Menschen. Der Feind des Blockes – die Koalition Rußland-England-Frankreich-Japan-Italien, ihre Schützlinge Belgien und Serbien, sowie ihr Vasall Portugal und der streng neutrale Lieferant-Helfer Nordamerikas Vereinigte Staaten – besitzt (mit den Kolonien) eine Volkskraft, die nicht weniger als 965 Millionen Menschen beträgt. Diese bilden zu Wasser und zu Lande buchstäblich einen Ring, eine Menschenmauer, um die erstgenannte Gruppe herum.

Zusammen machen beide Gruppen 1119 Millionen der Gesamtbevölkerung der Erde aus, die 1657 Millionen Menschen beträgt. Die nicht offiziell am Kriege beteiligte und nicht amerikanisch-neutrale Menschenmenge beträgt also nicht ganz ein Drittel oder nur 538 Millionen, von denen nicht weniger als 330 Mill. China allein gehören. Als nicht amerikanisch-neutrale Nichtchinesen bleiben also nur 208 Millionen oder nicht ganz 13% der Menschheit übrig.

 

Deutschland ist jetzt ein Reich der Mitte.

Nicht nur auf der Karte Europas und damit auf der Karte der Weltgeschichte, sondern auch auf der Kriegskarte. Und dies bedeutet etwas mehr als nur eine geographische und militärpolitische Tatsache. Auch in der unsinnlichen Welt der weltpolitischen Pläne und Bestrebungen, der Ideale und der Hoffnungen, die geographisch unbestimmbar und militärisch unangreifbar ist, steht Deutschland jetzt als das Reich der Mitte da.

Überall innerhalb der Menschheit, wo sich weltpolitische Begriffe zu bilden begonnen haben, werden jetzt Ansichten über den Anteil des Deutschen Reiches an der Schuld am Vorbereiten des Weltkrieges und an seinem Ausbrechen formuliert. Und die außerhalb Deutschlands und der Landgrenzen seiner Verbündeten unvergleichlich volkstümlichste Auffassung ist die, daß im Grunde Deutschland allein den Krieg vorbereitet habe und daß Deutschland allein die eigentliche Schuld am Ausbrechen des Weltkrieges trage.

Dies ist Deutschlands Angriffskrieg zu Welteroberungszwecken, nicht nur gegen Serbien und Belgien, sondern auch gegen Rußland, Frankreich und England. Diese haben also das Schwert nur zur Selbstverteidigung gezogen, und um die Freiheit der kleinen Nationen und die ganze Menschheit gegen die absolut wahnsinnigen Welteroberer- und Weltbedrückerpläne des geradezu teuflisch brutalen deutschen Militarismus zu schützen.

Dergleichen wird gepredigt und geglaubt – auch in neutralen Ländern und dort auch von internationalistischen Sozialdemokraten.

So sieht ein Stück aus der Psychologie des Krieges aus. So ist eine Seite der intellektualen und ethischen Kultur des Krieges. Durchaus nicht die schlimmste Seite – ebensowenig wie die beste.


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