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VI
Die Besorgnisse demokratischer Idealisten wegen des Seelenzustandes der Deutschen

19. »Über dem Kampfgetümmel«

Von aller ehrlich unbewußten, mit ehrlichem Idealismus verbundenen Selbstüberschätzung, die in der französischen Kriegsliteratur hervorgetreten ist, scheint mir Herrn Romain Rollands Audessus de la mêlée die abschreckendste zu sein.

Der Verfasser dokumentiert einen naiv unerschütterlichen, mit dem sanften Fanatismus eines Märtyrers nicht zu wenig durchsetzten Glauben, daß sein Geist und seine Auffassungen des deutschen und des französischen Wesens, sowie des deutschen und des französischen Anteiles am Kriege himmelhoch »über das Kampfgetümmel« erhaben seien. Nichts deutet in dem Buche an, daß der Verfasser seine eigene sehr deutliche Begrenzung auch nur ahnt. Eine typisch französische Begrenzung, die ihn in tiefer, hoffnungsloser Weise verständnislos vor der zentralen Eigenart des deutschen Wesens dastehen läßt – ein einziges Gebiet möglicherweise ausgenommen, das der Musik. Doch auf diesem Gebiet nicht etwas von deutschem Wesen tief fassen, hieße ja, von der Verbindung mit dem höchsten alles Existierenden überhaupt ausgeschlossen sein – und das geht doch wohl nicht an, wenn man als eigentliches Fach gerade die Geschichte der Musik hat.

Herrn Rollands zehnbändiger Roman Jean-Christophe ist von demokratischer und pazifistischer Seite auf das tollste überschätzt worden, weil er uns – o Wunder aller Wunder! – einen Franzosen zeigt, der ehrlich versucht, deutsches Wesen zu verstehen und rein geistig einen wirklichen Frieden (im Gegensatze zu dem »Waffenstillstand« der französischen Revanchisten!) zwischen den beiden großen Kulturnationen anzubahnen. In der Überraschung und Begeisterung hat man indessen, wie mir scheint, den bei Herrn Rolland herrschenden Unterschied zwischen Wollen und Können ganz übersehen.

Herr Rolland hat, meiner Ansicht nach, in dem Romane Jean-Christophe ebenso klar gezeigt, daß er deutsches Wesen nicht gründlich kennt und versteht, wie er gezeigt hat, daß er wenigstens etwas von dem Zentralen im Wesen der deutschen Musik und des deutschen Musikers fühlt und versteht. Schon das am allernächsten liegende Lebensgebiet, nämlich das innere Verhältnis des deutschen Volkes zur Musik, kennt und versteht der Verfasser des Jean-Christophe nicht. Überdies weist seine Schilderung deutscher Menschen und Situationen eine deutliche Tendenz zum Ausarten in Karikaturen wohlbekannten französischen Stiles auf.

Und vergleichen wir nun Herrn Romain Rollands unabsichtlich anspruchsvolles »Über dem Kampfgetümmel« mit Max Schelers ebenso ehrlich kriegerischem wie ehrlich selbstkritischem » Genius des Krieges« oder mit Karl Joëls nicht weniger selbstkritischem, aber tief friedfertigem und versöhnlichem Buche » Neue Weltkultur«, so öffnet sich vor unseren Augen ein wahrer Abgrund der Verschiedenheit zwischen französischer und deutscher Befähigung zu völkerpsychologischer Analyse und Sachlichkeit.

Der Wille ist bei dem Franzosen ebenso ehrlich wie bei dem Deutschen. Aber der Franzose bleibt sogleich in einem Dogma stecken, ohne es zu ahnen. In einem Modedogma, das ihm erlaubt, das deutsche Wesen zu hassen, ohne zu ahnen, was er tut. Er will das deutsche Volk nicht hassen; ebensowenig wie er das französische oder sonst ein Volk hassen will. Aber er haßt blind, voller Wut den »preußischen Militarismus«. Und er ahnt gar nicht, daß er ihn gründlich verkennt. Er ahnt nicht einmal, daß dieser von einem seiner Feinde verkannt werden kann.

Er ahnt also nicht, daß dieser »Militarismus« ein Stück, und wahrlich nicht das schlechteste, des Zentralen im Wesen des Deutschen ist. Also etwas, worüber ein Idealist au-dessus de la mêlée ohne gründlichste Prüfung aller wesentlichen Tatsachen absolut nicht urteilen oder aburteilen darf.

Jene ebenso naiven wie maßlosen gehässigen Ergüsse über den »preußischen Militarismus« oder den »deutschen Militarismus« sind der unbewußte Sündenfall vieler ehrlicher Idealisten. Ihr Verfallen – gegen ihren eigenen guten Willen – in einen dummen Deutschenhaß während dieses Weltkrieges. In einen Deutschenhaß, den sie natürlich ableugnen und ableugnen müssen, da sie durchaus nicht begreifen, wo der »Militarismus« endet und der »Deutsche« anfängt, aber doch ihr Herz von jedem Wunsche, ein ganzes Volk als solches zu hassen, frei wissen.

» Ma tâche est de dire ce que je crois juste et humain«, schreibt Rolland im September 1915 in der Vorrede seines Buches » Au-dessus de la mêlée«. Ja, niemand kann Besseres tun, als wenn er das tut, was, seinem » Glauben« nach, gut ist. Der Glaube ist der Mann. Und der Glaube trägt oft das Kennzeichen der Nationalität.

Es kennzeichnet Herrn Rolland und jene jetzt in allen Ländern der Welt so zahlreichen Demokraten und Idealisten, deren Typus er ist, daß er und sie lange vor dem Weltkriege einen Glauben gehegt haben, der ihnen das Recht gab, während des Weltkrieges an alle die tollen Gerüchte über die grenzenlose Brutalität und Barbarei des »deutschen Militarismus« zu glauben. Es ist seit lange ein Element des demokratischen Idealismus jener Leute gewesen, daß sie die »Preußerei« oder den »deutschen Militarismus« gründlich zu kennen glauben, daß sie zwischen ihm und »dem deutschen Volke« klar unterscheiden zu können glauben und daß sie glauben, kein schändliches Gerücht, keine wahnsinnig gemeine Schmähung könne zu schändlich oder zu wahnsinnig gemein sein, sobald der Gegenstand der besagte »Militarismus« ist.

Man denkt gar nicht daran, daß man eines schönen Tages mit Schimpf und Schande als ein Mensch dastehen kann, der leichtfertig und aus Vorurteil unglaubliche Lügen und Schmähungen geglaubt, den agitatorischen Übertreibungen, Entstellungen und lügenhaften Sensationsgeschichten eines Feindes Glauben geschenkt hat.

Kein Gedanke daran, daß man durch solche vorurteilsvolle Leichtgläubigkeit das ganze Volk kränkt, dessen »Militarismus« man also selber schmähen und verleumden hilft – auch dann, wenn dieses Volk mit seinem eigenen »Militarismus« nicht einverstanden ist.

 

Herr Rolland schreibt am 29. August 1914 einen »offenen Brief an Gerhart Hauptmann«, weil »ein Telegramm aus Berlin (Wolffs Bureau) in der » Gazette de Lausanne« vom 29. August 1914 mitgeteilt hat, daß ›die an Kunstschätzen reiche alte Stadt Löwen nicht mehr existiere‹«.

»Die an Kunstschätzen reiche!« »Nicht mehr existiere!« Herrn Rolland – der seine Deutschen kennt – ist die Sache sofort klar. »Der deutsche Militarismus« ist losgelassen und vernichtet Kunstschätze – ohne zwingende militärische Gründe, aus reiner Brutalität, aus reiner Zerstörungslust und Kulturfeindlichkeit.

Nichts wird Herrn Rolland dazu bewegen, »seine Seele mit Haß« zu beflecken. Aber Deutschlands Schuld am Ausbrechen des Krieges scheint ihm völlig klar zu sein, und er fährt nun folgendermaßen fort Op. cit., S. 12-13 der schwedischen Auflage. Ich entlehne die Zitate der schwedischen Übersetzung, Stockholm 1916, vergleiche sie aber mit dem mir vorliegenden französischen Originale.:

»Welche Gründe ich also auch habe, in dieser Stunde durch die Schuld Ihres Deutschlands zu leiden und die deutsche Politik samt den von ihr angewandten Mitteln als verbrecherisch zu bezeichnen, so mache ich doch keineswegs das Volk, das ihr unterworfen ist und sich von ihr als blindes Werkzeug gebrauchen läßt, dafür verantwortlich. Ich will damit nicht sagen, daß ich gleich Ihnen den Krieg als unvermeidliche Notwendigkeit ansehe. Ein Franzose glaubt nicht an den Fatalismus. Der Fatalismus ist die Entschuldigung schwacher Seelen. Der Krieg ist die Frucht der Schwäche und Dummheit der Völker. Man kann sie nur beklagen, nicht ihnen zürnen. Ich mache Ihnen unsere schmerzlichen Verluste nicht zum Vorwurf; die Ihrigen werden nicht geringer bleiben. Geht Frankreich unter, so tut Deutschland es auch. Ich erhob nicht einmal meine Stimme, als ich Ihre Heere die Neutralität des edlen Belgiens verletzen sah. Dieses empörende Verbrechen an Treu und Glauben, das in jedem redlichen Gemüte Verachtung erregt, ist nur zu sehr mit der politischen Tradition Ihrer preußischen Könige vereinbar. Es hat mich nicht überrascht.

Doch daß Ihr dieses hochsinnige Volk, dessen einziges Verbrechen darin besteht, daß es um seine Selbständigkeit und für das Recht kämpft, wie Ihr Deutschen 1813 selbst getan, nun mit solcher Wut behandelt – das ist zuviel! Der Groll der Welt erwacht. Verübt diese Gewalttaten gegen uns Franzosen, Euere wirklichen Feinde! Aber gegen Euere Opfer, gegen dieses kleine unglückliche und unschuldige belgische Volk zu wüten – welche Schande!

Und nicht damit zufrieden, das lebende Belgien anzufallen, führt Ihr auch Krieg mit den Toten, mit dem Ruhme der vergangenen Jahrhunderte. Ihr bombardiert Mecheln, Ihr zündet Rubens an. Löwen ist jetzt nur noch ein Haufen Asche – Löwen mit allen seinen Schätzen der Kunst und der Wissenschaft, die heilige Stadt! Aber, was seid Ihr denn für Menschen und wie soll man Euch jetzt nennen, da Ihr nicht Barbaren heißen wollt? Seid Ihr die Nachkommen Goethes oder Attilas? Führt Ihr Krieg gegen die Heere oder gegen den Menschengeist? Tötet Menschen, aber schont die Kunstwerke! Sie sind das heilige Erbe des Menschengeschlechtes. Ihr seid, wie wir alle, seine Verwalter. Dadurch, daß Ihr sie zerstört, wie Ihr es tut, erweist Ihr Euch dieses großen Erbes unwürdig, unwürdig, zu der kleinen europäischen Schar zu gehören, welche die Ehrenwache der Zivilisation ist.«

Hier ist nicht der Ort, die betreffenden politischen, rechtlichen und kriegsgeschichtlichen Tatsachen zu besprechen. Auf sie komme ich später noch zurück. Mich interessiert jetzt bloß Herrn Rollands Psyche – sein arroganter Glaube an seine eigene zureichende Tatsachenkenntnis. Er weiß, daß »der Krieg die Frucht der Schwäche und der Dummheit der Völker ist« – wahrlich ein erschöpfendes weltgeschichtliches »Wissen«! über die »Neutralität des edlen Belgiens« und ihre Verletzung weiß er auch, schon jetzt, am 29. August 1914, alles Notwendige. Und schließlich weiß er jetzt, daß die Deutschen »mit den Toten, dem Ruhme der vergangenen Jahrhunderte, Krieg führen«. Herr Rolland weiß, daß es ihm geziemt, aus Grund des Inhaltes der Kriegstelegramme des Tages den Deutschen eine Vorlesung über das nicht sehr passende »Kriegführen gegen den Menschengeist« und das passendere »Schonen der Kunstwerke« zu halten!

Aus einem im September 1914 »nach dem Bombardement der Kathedrale zu Reims« geschriebenen Artikel (mit dem bescheidenen Titel » Pro aris«) geht hervor, daß Herr Rolland auch in dieser Angelegenheit sozusagen schon »am Tage darauf« über die vollständige Tatsachenkenntnis verfügte, ohne welche sich ganz gewiß kein anderer als ein Barbar erlauben würde, anzuklagen, zu urteilen und zu verurteilen.

 

Gibt es einen Franzosen, von welchem die Welt mit Recht hätte erwarten können, daß er jetzt »über dem Kampfgetümmel« stehen werde, so ist es wohl der Philosoph Henri Bergson. Doch der tiefsinnigste Erkenntnistheoretiker hat während des Krieges gezeigt, daß er als Ethiker, Soziologe und Politiker ein ganz gewöhnlicher Franzose ist.

Man lese z. B., wie Professor Bergson ein Porträt Bismarcks und ein vergeistigtes Bild der Gründung des Deutschen Reiches zeichnet Henri Bergson, Die Bedeutung des Krieges, schwedisch von Algot Ruhe, Stockholm 1915, S. 15.. Selbst Madame Juliette Adam hätte es nicht tiefsinniger und wahrheitsgetreuer machen können. Es ist ihre Schule.

»Es gab einen Mann,« schreibt Herr Bergson, »in welchem sich die preußischen Methoden verkörperlicht hatten – ein Genie, mag sein, aber besessen vom Genius des Bösen, denn er war ohne Skrupel, ohne Glauben, ohne Mitleid, ohne Seele. Er hatte eben das einzige Hindernis, das seinen Plan stören konnte, aus dem Wege geräumt: er hatte Österreich bezwungen. Er sagt sich selbst: indem Deutschland sich unsere preußische Zentralisation und Disziplin aneignen darf, werden wir ihm zugleich unsere ehrgeizigen Ziele und unsere gierigen Pläne einimpfen. Wenn Deutschland zaudert, wenn die verbündeten Völker nicht von selbst zu diesem gemeinsamen Entschlüsse gelangen, dann weiß ich, wie sie dazu zu bringen sind: ich werde in ihnen allen denselben Haßsturm entfesseln. Ich werde sie gegen einen gemeinsamen Feind treiben, einen Feind, den wir getäuscht und ausspioniert haben und den wir schon zu überrumpeln versuchen werden, wenn er keine Waffen hat. Wenn dann die Stunde des Triumphes schlägt, werde ich auftreten. Ich werde dem berauschten Deutschland ein Abkommen ablisten, ein Abkommen gleich dem Pakte, den Faust mit Mephistopheles abschloß, das es auch mit seinem eigenen Blute unterzeichnen soll und wodurch es auch, wie Faust, um irdischer Schätze willen seine Seele verkauft haben wird«.

Diese schönen französischen Philosophenworte, die vielleicht etwas mehr französisch als philosophisch sind, finden wir in einer Betrachtung über den »Krieg zwischen Leben und Materie« wieder, die zu der Rede gehörte, welche Professor Bergson auf der Jahresversammlung der Académie des Sciences morales et politiques am 12. Dezember 1914 als Vorsitzender gehalten hat.

Deutschlands »Ehrgeiz zielte auf Herrschaft über die Welt ab«, versichert Professor Bergson Op. cit., S. 22. Und er fügt hinzu Op. cit., S. 26., es sei der Glaube der Deutschen, daß »die germanische Rasse, da sie vor allen anderen auserwählt« sei, auch die einzige sei, die unbeschränktes Recht auf Leben habe. »Die anderen sind also nur Rassen, die sie duldet, und diese Duldung ist gerade das, was man Friedenszustand nennt. Nun bricht der Krieg aus. Dies bedeutet, daß der Feind, gegen welchen Deutschland sich wendet, vernichtet werden muß. Es beschränkt sich nicht nur auf die Waffenfähigen, es massakriert Weiber, Kinder, Greise, es plündert, es äschert ein – das Ziel ist, Städte, Dörfer, die ganze Bevölkerung zu vernichten.«

Professor Bergson macht nun die tiefsinnige Entdeckung, daß der Unterschied zwischen Deutschland und seinen Feinden der Unterschied zwischen Materie und Leben, zwischen Mechanismus und Geist sei. In Frankreich, Rußland, England und Belgien habe der Krieg die ewigen, schöpferischen, verjüngenden Kräfte des Lebens, des Geistes entfesselt und befreit. Keine Spur davon in Deutschland. Deutschland sei nur eine »Maschine« und werde »plötzlich Zusammenstürzen«, sobald sein mechanischer Kräftevorrat erschöpft sei, denn es »ist selbst nicht imstande, die Beschädigungen, welche es erleidet, zu heilen« Op. cit., S. 33-34 und 36-40..

Ja, Professor Bergson, die Methode kenne ich sehr gut wieder. Denn ich habe Ihre Werke lange und eifrig studiert. Doch nie hätte ich mir träumen lassen, daß der Verfasser der Bücher Matière et mémoire und L'evolution créatrice eines Tages durch eine so flache soziologische Anwendung der genialen Grundtheorie seiner eigenen Tiefsinnigkeit Hohn sprechen würde.

 

Der durch seine vorzüglichen Bergsonübersetzungen sehr verdiente schwedische Übersetzer der hier angeführten Kriegsvorträge schreibt in seiner Vorrede folgendes:

»Bergson hat in einem Briefe gewisse Bedenken gegen den Vorschlag, diese Betrachtungen dem schwedischen Publikum schon jetzt vorzulegen, ausgesprochen. ›Die deutschfreundlichen Tendenzen, die man Schweden zuschreibt‹ – so lauten seine Worte – ›lassen sich, wie mir scheint, nur auf eine Weise erklären: annehmbarerweise kennt man in Schweden die Einzelheiten der Geschehnisse nicht. Annehmbarerweise weiß man auch nicht, (und hat auch nicht denselben Grund wie wir, es zu wissen!), wie der Krieg entstand und welchem unbeschreiblichen, gründlich vorbereiteten Überfalle wir zum Opfer gefallen sind; man weiß sicherlich nicht, was für Scheußlichkeiten Deutschland in Frankreich und Belgien angehäuft hat. Betrachtungen, wie die meinen, setzen jedoch voraus, daß diese Tatsachen genau bekannt seien, da ich mich darauf beschränke, sie zu beurteilen oder vielmehr Schlüsse aus ihnen zu ziehen. Besteht nicht als Voraussetzung eine ins Einzelne gehende Kenntnis der Tatsachen, auf welche ich mich stütze, dann werden meine Aussprüche willkürlich erscheinen. Erst dann, wenn die öffentliche Meinung Schwedens über die wirklichen Verhältnisse in allen Punkten aufgeklärt ist, kann man erwarten, daß diese Schrift nicht den entgegengesetzten Eindruck machen wird, wie sie soll.‹'«

Der Übersetzer fügt hinzu: »Es ist mir gelungen, ihm (Bergson) klarzumachen, daß wir hier bei uns (in Schweden) wohl ebenso gut mit Dokumenten versehen seien wie irgendwo anders.«

Das Unglück will, daß Professor Bergsons »Aussprüche« uns hier in Schweden sehr viel »willkürlicher erscheinen«, als er selbst zu ahnen vermag. Es dürfte eine Tatsache sein, daß hier im neutralen Lande gleich reichhaltige Sammlungen an Dokumenten aus beiden kämpfenden Lagern zugänglich sind und daß wir, so schwach unsere menschliche Natur auch sei, dennoch andere psychische Voraussetzungen zum sachlichen Beurteilen dieser Dokumente mitbringen, als sowohl Franzosen und ihre Alliierten wie Deutsche und ihre Verbündeten.

 

Wenn es mir gestattet ist, einen Augenblick von meinen eigenen Sammlungen zu reden, soweit ich sie wegen Raumersparnis nicht in meinen Kriegsbüchern habe benutzen können, so kann ich nur mitteilen, daß bei mir an offiziellen Rapports über Les atrocités allemandes oder German atrocities in Frankreich und Belgien kein Mangel ist. Ich habe auch einen ganzen Stapel Literatur, die teils von Herrn Joseph Bédier, professeur au Collège de France, verfaßt, teils über ihn geschrieben ist und durchweg les crimes allemands d'après des témoignages allemands behandelt. Ich besitze Bücher über les villes martyres Reims, Soissons, Senlis, Arras, Louvain und über la diolation de la neutralité belge et luxembourgeoise par l'Allemagne (darunter eines, das Herr André Weiß, Membre de l'Institut, professeur de Droit international à l'Université de Paris verfaßt hat). Auch deutsche offizielle und andere Berichte über die Ereignisse in Belgien und Nordfrankreich, in Löwen und Reims, sowie in Ostpreußen, Polen, Galizien usw. sind vorhanden.

Hier gibt es Sammlungen deutscher, englischer und französischer Kriegskarikaturen und gehässiger Bilder – Material zu einer Forschung, die nicht ausschließlich Frankreich ein günstiges und Deutschland nur ein ungünstiges Zeugnis ausstellen würde. Ich möchte Herrn Bergson besonders auf eine Reihe photographischer Bilder aus dem Leben in Deutschland aufmerksam machen, Bilder, die deutsche Inschriften – teilweise sogar auf dem Bilde selbst – tragen. Diese Bilder sind mit gefälschten Unterschriften (die deutschen hat man weggeätzt oder fortgeschnitten) in französischen Zeitungen oder Zeitschriften reproduziert worden, um die greuliche Barbarei und moralische Erbärmlichkeit der Deutschen zu beweisen.

 

Nur ein einziges Beispiel, Herr Professor Bergson! Das harmloseste, am wenigsten widerliche, das ich herausfinden kann, um Ihre Nerven zu schonen! Die Berliner Illustrierte Zeitung brachte ein Bild (nach einer Photographie), auf welchem man sechs deutsche, etwa fünfzehnjährige Gymnasiasten mit einem Handwagen voll Wollsachen durch die Straßen fahren sieht Ferdinand Avenarius, Das Bild als Verleumder, München 1915. Man vergleiche auch Kunstverwaltung in Frankreich und Deutschland von Dr. Otto Grauthoff, Bern 1915.. Vorne am Wagen ist ein großes weißes Plakat mit dem Zeichen des »Roten Kreuzes« befestigt und darunter steht die größtenteils deutlich leserliche Inschrift: Berliner Hausfrauen! Gebt für die Reichswollwoche!

Wohlan – Herr Professor Bergson. In der französischen Zeitung (oder Zeitschrift) Le Miroir (der Spiegel ist ja das Symbol der Wahrheit!) finden wir dieses Bild wieder. Aber das Zeichen des »Roten Kreuzes« und die Inschrift auf dem am Wagen befestigten großen weißen Plakate sind ausradiert. Die Inschrift ist jetzt ganz unleserlich. Anstatt ihrer sieht man andere Inschriften – auf französisch. Eine über, eine unter dem Bilde. Über dem Bilde steht: » Ce qu'ils font des lainages volés en France.« Unter dem Bilde liest man: » Comment ils apprennent la probité aux enfants. Ces jeunes garçons que l'on emploie à transporter des tapis volés, comprendront évidemment l'honnêteté comme leurs parents

Warum brauchte denn Le Miroir, wenn er wirklich glaubte, daß die lainages, welche (um durch freiwillige Gaben die Wollvorräte des Staats zu verstärken) während der Reichswollwoche in Berlin gesammelt wurden, volés en France und provenant du pillage seien, die Inschrift des Bildes, die Zeugnis davon ablegt, daß es sich um die Reichswollwoche und das »Rote Kreuz« handelt, wegzuätzen?

Kann Professor Bergson diese Frage beantworten? Oder muß ein germanischer Hamlet noch einmal einem romanischen Horatio sagen:

There are more Things in heaven and earth, Horatio,
Than are dreamt of in your philosophy.

 

Ferner könnte ich Herrn Professor Bergson eine gewaltige Sammlung an Dokumenten vorlegen, die auf Veranlassung der Schrift » Ein Aufruf deutscher Gelehrter und Künstler an die Kulturwelt« in verschiedenen Ländern, hauptsächlich aber in Frankreich erschienen sind. Ein Herr Louis Dimier, agrégé de l'Université, docteur ès lettres, hat jenes vielumstrittene Dokument sogar in Buchform und mit ausführlichen Kommentarien auf französisch herausgegeben. Als 158 Seiten starken Oktavband, um zu beweisen à quel point la pensée allemande est gâtée Op. cit., S. 158.!

Ich habe auch eine andere große Sammlung – eine Sammlung deutscher »Haßgesänge« und anderer, sogar wirklich religiöser Kriegslyrik, also Lyrik à la Lissauer und auch auf andere Weise.

Ich besitze noch eine Dokumentensammlung – worin die schrecklichen Annexionspläne der Deutschen behandelt werden. Aber auch eine Dokumentensammlung, die den heftigen Widerstand in Deutschland gegen solche, von einzelnen Leuten und privaten Körperschaften ausgehenden Pläne beleuchtet. Hier haben wir: Bund der Landwirte, Deutscher Bauernverband, Zentralverband deutscher Industrieller, Bund deutscher Industrieller und Reichsdeutscher Mittelstandsverband – und ihre deutschen Gegner in der Tiefe der Gesellschaft, in der Mitte der Gesellschaft und auf den Höhen der Gesellschaft.

Mein Material an Dokumenten über den »deutschen Militarismus« und die »Machtphilosophie« ist beständig im Wachsen. Dasselbe läßt sich über das große Neutralitätsproblem sagen – das mit der Frage der Neutralität Belgiens weder angefangen hat noch endet.

Schließlich kann ich Professor Bergson einen ganzen Stapel englischer Buchliteratur zeigen, deren allgemeiner Inhalt durch Titel wie What is wrong with Germany? By William Harbutt Dawson, London 1815., The German Peril By Frederic Harrison, London 1915., Prussianismus and its destruction By Norman Angell, London 1914. vortrefflich angegeben wird. Hier gibt es auch The Anglo-German Problem von Charles Sarolea, Ten years of secret diplomacy von E. D. Morel und German Culture Herausgegeben von W. P. Paterson, London und Edinburgh 1915. von neun Hochschulprofessoren, meistens Schotten. Ich empfehle, besonders die beiden letzten dieser Professoren zu lesen – ihrer Sachlichkeit wegen. Die schottische Auffassung der German culture ist der englischen ganz auffallend unähnlich – ein interessantes völkerpsychologisches Faktum.

Vielleicht aber zieht Professor Bergson vor, Rudyard Kiplings Büchlein France at War London 1915. zu lesen. Es ist zwar nicht sonderlich objektiv. Was man ja auch von dem Tommy-Atkins-Dichter nicht verlangt. Aber es ist sehr lebhaft und franzosenfreundlich.


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