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6. Rußlands Kampf »für das Ideal der Menschenliebe und des Rechtes« und »der französische Friede«

Auf dem Gebiete der Kultur hat der Weltkrieg nicht nur die Wirkung gehabt, daß die Welt mit englisch-französischen und anderen ententehaften Schilderungen der grenzenlosen Barbarei und teuflischen Menschenfeindlichkeit des deutschen Militarismus – wobei auch das ganze deutsche Volk oft seinen reichlich bemessenen Anteil abbekommen hat – überschwemmt worden ist. So schrieb der mehr als üblich idealistische und menschenliebende belgische Dichter Emile Verhaeren in einer Septembernummer der französischen Zeitschrift » Je sais tout« (nach einer Wiedergabe in »Stockholms Dagblad« vom 15. September 1915), daß »der deutsche Geist in Europa der einzige ist, der sich nicht entwickeln läßt«, daß die Deutschen » la nation incivilisable« seien und daß die Schlösser, Exerzierplätze und Kasernen Deutschlands »das unerschöpfte, vielleicht unerschöpfliche Reservoir der menschlichen Wildheit« seien.

Der Weltkrieg hat auch eine andere kulturelle Wirkung gehabt, die nämlich, daß den durch Waffenbrüderschaft verbundenen Völkern in weit höherem Grade als gewöhnlich die Augen sowohl für ihre eigenen wie ihre gegenseitigen edlen Züge im allgemeinen und edlen Friedensideale im besonderen geöffnet worden sind.

Der Petrograder Korrespondent der Morning Post gab am 26. April 1915 über die ideale Veranlagung der Russen im Gegensatze zu dem tierischen Charakter der Deutschen folgendes Zeugnis ab, das wohl schwerlich in irgendeinem moskowitischen Patriotenblatte übertroffen worden ist.

»Die Russen«, schrieb er, »stehen jetzt in den Karpathen, hinter sich sichere Festungen und vor sich die fruchtbaren Ebenen Ungarns. Seitdem Hannibal auf den Südabhängen der Alpen seinen Soldaten gebot, nach Rom zu blicken, ist ein solches Bild nicht wieder über die Welt hinausgestrahlt. Und diesmal sind es die Feinde der Zivilisation, welche die Ebenen halten, während diejenigen, welche gewissermaßen die Erben Roms sind, von den Höhen auf sie hinabblicken. Dieser Krieg ist von seiten Rußlands ein Kampf der Ideale gegen die rohe Kraft, ein Krieg der Nationen, die glauben, daß die Inspiration die einzige Quelle des wahren Lebens sei, gegen die Nationen, welche die Wissenschaft als ihren Gott und Leitstern anbeten. Also auch von geistigen Höhen blickt Rußland jetzt auf die allwissenden Tiere der tieferen Ebenen hinab Referat in »Göteborgs Handelstidning« vom 8. Mai 1915.

Welch ein schwerer Schlag muß es für die englischen Kulturidealisten und Russenfreunde gewesen sein, als bald darauf die Nachricht eintraf, daß deutsche und österreichische Brutalität die russischen Idealisten gezwungen habe, ihren inspirierten Befreiungszug in die »fruchtbaren Ebenen Ungarns« hinunter aufzugeben!

Lauschen wir den Stimmen der eigenen Auserwählten Rußlands, so ist es ebenso klar, daß keineswegs einzig und allein ein Gemisch von Idealismus und Materialismus, wie z. B. das Trachten nach Konstantinopel und den Dardanellen, sondern auch, und vor allem, reine Begeisterung »für das Ideal der Menschenliebe und des Rechtes« Rußland in den Krieg getrieben hat und seine Friedensziele bestimmt. Als die Duma am 9. Februar 1915 Sasonows Bericht über die außenpolitische Lage angehört und »nachdem die darauffolgenden Ovationen verstummt waren, gaben eine ganze Reihe Redner, Bauern, Geistliche, Polen, Armenier, Esthen, Israeliten, Letten, Mohammedaner und Eingeborene aus der Provinz Kasan, Erklärungen ab, die alle darin übereinstimmten, daß im gegenwärtigen Augenblicke der einzige Gedanke aller sei, sich angestrengt zu bemühen, um die Macht Deutschlands, die Rußland bedrohe, zu vernichten und diesem Ziele alles zum Opfer zu bringen. – Der Führer der Kadettenpartei, Professor Miljukow, erklärte, daß die Armee jetzt die Nation geworden sei, denn alle seien einig in der Überzeugung, daß der Krieg die Sache der Nation sei. Alle Nationalitäten des Reiches seien mit derselben patriotischen Begeisterung zur Duma gekommen. Die Duma habe mit Befriedigung die Mitteilungen des Ministers des Auswärtigen zur Kenntnis genommen und daraus ersehen, daß die Verwirklichung der nationalen Aufgaben auf dem besten Wege sei. Wir sind überzeugt, sagte der Redner, daß das Erreichen unseres Hauptzieles, der Erwerbung der Meerengen und Konstantinopels, seinerzeit die nötigen Garantien sowohl diplomatisch wie militärisch erlangt hat. (Anhaltender Beifall.) Rußland habe volles Vertrauen zu seinen Verbündeten. Der Redner erinnerte hier an Englands und Frankreichs Dienste sowie an Belgiens heldenhaften Kampf und sprach zum Schlusse die Hoffnung aus, daß Rußland das armenische Volk unter seine Obhut nehmen und es von dem Drucke eines hundertjährigen Joches befreien werde.

»Nach der Rede Miljukows lösten sich auf der Tribüne Redner der Parteien der Progressisten, Oktobristen und Nationalisten ab, die alle auseinandersetzten, daß Rußland, wenn es gegen den germanischen Militarismus streite, das Ideal der Menschenliebe und des Rechtes verteidige. Ein vorzeitiger Friedensschluß würde ein Verbrechen gegen das Vaterland und die Menschheit sein. Folglich sei Rußland bereit, alle Opfer zu bringen, damit Deutschland endgültig zu Boden geschlagen werde.

Am Ende der Sitzung nahm die Duma einstimmig folgenden Antrag an. ›Die Duma, die den ehrenvollen Leistungen unserer Krieger ihre Huldigung darbringt, sendet der russischen Armee und Flotte einen warmen Gruß und unseren Verbündeten den Ausdruck aufrichtiger Achtung und Sympathie. Sie spricht die feste Hoffnung aus, daß die großen nationalen und befreienden Ziele des gegenwärtigen Krieges erreicht werden können, und gibt Zeugnis von dem unerschütterlichen Entschlusse der russischen Nation, den Krieg zu führen, bis sich die Bedingungen, die den europäischen Frieden nebst der Wiederherstellung des Rechtes und der Gerechtigkeit sichern, vorlegen lassen‹ Wiedergegeben im »Stockholms Dagblad« vom 11. Februar 1915.

 

Wenn wir nun den Blick auf Frankreich richten, um nach dem Inhalte des »französischen Friedens« zu forschen, so kann es ja, nachdem wir schon im heiligen Rußland solche Erfahrungen gemacht, kaum anders möglich sein, als daß wir folgende denkwürdige, von dem neutralen Herrn Branting verfaßte Zeilen, die am 7. Dezember 1915 in der Zeitung »Social-Demokraten« zu lesen standen, als unser Motto annehmen müssen. »Gerade in Frankreich, wo man felsenfeste Gewißheit hat, der eifrige Friedensfreund zu sein, den brutaler Überfall in den Krieg gestürzt hat, ist ›das Recht‹ ein Wort, das sich sowohl hinsichtlich der Ursache des Krieges wie auch seiner Ziele immer wieder vordrängt.«

Beim Niederschreiben dieses Zeugnisses hatte Herr Branting unzweifelhaft den ausführlichen Bericht im Gedächtnisse, den der »Social-Demokraten« am 17. November 1915 über die Debatte Renaudel-Briand beim ersten Erscheinen der neugebildeten französischen Regierung in der Kammer gebracht hat. Der Ministerpräsident Briand erklärte: »ein überlegter Angriff, den kein Sophismus je wird rechtfertigen können, hat uns den Krieg gebracht« und »Frankreich wird die Waffen nicht eher niederlegen, als bis das Recht durch den Sieg wiederhergestellt worden ist und wir alle Garantien für einen dauerhaften Frieden erhalten«. »Garantien!« Genau dasselbe Wort, dessen sich der »barbarische« »Sophist« Bethmann-Hollweg bedient hat! Jedoch hatte die sozialistische Gruppe eine Interpellation eingereicht, deren Gedankengang der Deputierte Renaudel genauer entwickelte, der, als er auf die Frage des Kriegszieles kam, sich folgendermaßen aussprach.

»Sie haben gesagt, Herr Ministerpräsident, daß Frankreichs Streben auf die ›Vertreibung des Feindes aus allen Gebieten, in welche er eingedrungen ist, sowohl aus denen, die seit Monaten unter der Invasion leiden, wie auch aus denen, welche seit so vielen Jahren darunter leiden‹, ausgehen müsse. Wir stimmen hierin mit Ihnen überein. Meine Freunde und ich nehmen diese Erklärung als förmliches, erneuertes Gelübde an, daß Frankreich in diesem Kriege, außer der Wiederherstellung des Rechtes hinsichtlich seiner selbst, außer der Wiederherstellung Belgiens in seiner politischen und wirtschaftlichen Selbständigkeit – und jetzt muß man dies auch von Serbien sagen – außer allem diesem weder auf Annexionen noch auf Eroberungen ausgeht.« (Beifall bei den Sozialisten, Ausrufe und Lärm auf einer Menge anderer Bänke.)

Nun folgte eine lange dauernde Lärmszene in der Kammer, wobei sich herausstellte, daß Renaudel mit seinem Keine-Annexionen-oder Eroberungenstandpunkte wenig Anklang fand. So erwiderte z. B. der radikale Deputierte Henri Galli folgendes:

»In diesem Augenblicke haben wir alle nur ein Interesse: das des Sieges. Wir sind alle auch darin einig, daß Frankreich der Kämpfer des Rechtes bleiben muß. Doch als der Konvent die Fahnen Frankreichs über den Rhein trug, war er immer noch der Kämpfer des Rechtes.« (Beifall vom Zentrum und der Rechten.)

Ein großer Teil der Kammer gab also seine Anschauung kund, daß Frankreich natürlich stets für » das Recht« kämpfe – auch dann, wenn es z. B. bis an die Ufer des Rheines, nicht nur drunten im Elsaß, sondern auch höher hinauf bei Mannheim, Mainz und Koblenz, ja bis an die holländische Grenze Annexionen vornehme oder Eroberungen mache.

Als der Ministerpräsident Briand endlich wieder zu Wort kommen konnte, beendete er seine Rede mit der Erklärung, erst dann, wenn man die Deutschen aus Frankreich, Belgien und Serbien vertrieben habe, »erst dann werden wir an Frieden denken können«. Warum nicht eher? Die Hauptsache wäre doch wohl, sich nach den Friedensbedingungen der Deutschen zu erkundigen und sie unter den Gesichtspunkten des »Rechtes« zu prüfen. Oder ist es für den »Kämpfer des Rechtes« wirklich wichtiger, zu siegen als mit einem Minimum an Blutvergießen einen gerechten Frieden zu erlangen?

»Welcher Friede wird dies dann sein?« fragte der Ministerpräsident. »Ein beliebiger Friede, der ein egoistisches Frankreich, das auf die Verwirklichung seiner persönlichen Wünsche bedacht ist, befriedigen könnte? Nein, ich weigere mich zu glauben, daß mein Land, das in den Prüfungen, die wir durchgemacht, so schön dastand, zu einer so kleinen und so niedrigen Auffassung seiner Rolle hinabsteigen könnte. Frankreich ist in diesem Kriege – das gereicht ihm zur Ehre und wird sein Ruhm sein – der Kämpfer der Welt. (Die Kammer erhebt sich. Anhaltender, einmütiger Beifall.)

Frankreich steht mit gezogenem Degen im Kampfe für die Zivilisation und die Unabhängigkeit der Völker. Wenn es den Degen senkt, dann geschieht dies, weil es Garantien eines dauernden festen Friedens erlangt hat; weil in diesem Frieden, den Frankreich und seine Verbündeten der Welt geschenkt, alle Hintergedanken an tyrannische Oberherrschaft vor der Idee des Fortschrittes der Zivilisation durch die Freiheit der im Besitze ihrer völligen Autonomie befindlichen Völker zurückgetreten sein werden. (Anhaltender Beifall.)

Das, meine Herren, ist der Friede, für welchen Frankreichs Heere vorrücken (lebhafter Beifall), der einzige, der unser würdig ist, der einzige, von dem die Rede sein kann. – Doch da wir in diesem Punkte einig sein können und wir leider noch einen langen Weg zusammen wandern müssen, ehe das Ziel erreicht ist, werden wir doch nicht noch diskutieren und uns auf dem Marsche trennen wollen?

Niemals wird jemand unser Land beschuldigen können, daß es als aggressive Räubernation auftrete. (Beifall.) Mehr als vierzig Jahre lang hat unsere Nation mit einer Wunde in der Seite gezeigt, wie sehr sie in allen Lagen am Frieden hing, den sie trotz aller Herausforderungen zu bewahren suchte, weil sie die Sühne für das uns zugefügte Unrecht nur vom Triumphe des Rechtes erwartete. Plötzlich stürzt man sich auf unser Volk, will es zerschmettern, seine Freiheit vernichten und in ihm eine der Haupttriebfedern der Zivilisation der Welt töten. (Gut.)

Man will uns, gleichwie den anderen zivilisierten Nationen, eine Art Hegemonie auferlegen, eine Art Oberherrschaft, die keine Nation, welche dieses Namens würdig ist, ertragen könnte. (Beifall.) Unser Volk hat sich erhoben, den Angreifer zurückgetrieben und kämpft jetzt mit ihm. Wer könnte wagen, zu behaupten, daß unter diesen Verhältnissen Frankreich als Räubernation aufgetreten sei? Eine solche muß man anderwärts suchen. Solange sie ihre Krallen, ihren Schnabel, ihre Mordpläne hat, kann von Frieden mit ihr keine Rede sein. (Lebhafter Beifall.) Erst dann, wenn man sich dort darauf beschränkt, seinen Platz unter den Nationen wieder einzunehmen in der Absicht, sich nach seinem eigenen Geiste zu entwickeln, aber den anderer zu achten (Bravorufe und Beifallklatschen), erst dann, wenn wir sie also unfähig gemacht haben, die Unabhängigkeit der anderen Völker zu verletzen, erst dann können wir von Frieden sprechen. (Beifall.)

Dieser Friede wird der französische Friede sein, der Friede, wovon wir träumen. (Lebhafter Beifall.) Der ruhmreiche Sieg, der nicht nur Frankreichs Recht, sondern auch das der ganzen zivilisierten Welt wiederhergestellt haben wird. – So denkt die Regierung in diesem Punkte. Ich habe den Gedanken klar aussprechen wollen, um zu verhüten, daß im Schutze irgendeines mehrdeutigen Ausdruckes zwischen uns ein Mißverständnis entstehen könnte. (Beifall.)

Frankreich ist der Kämpfer der Welt!« Zusammen mit dem panmoskowitischen Nikolai Nikolajewitsch und dem Rußland der Pogrome!

Zur Aufklärung für den »Kämpfer der Zivilisation«, der mit fremden Sprachen nicht immer sonderlich vertraut sein soll, füge ich hier, nach dem neuesten englischen Konversationslexikon, hinzu, daß »das Wort Pogrom ein russisches Wort ist, das Verwüstung bedeutet und angewandt wird, um jede organisierte Verfolgung jeder beliebigen Personengruppe, die das Mißfallen der russischen Regierung erregt hat, zu bezeichnen; gewöhnlich aber bedeutet das Wort Judenmassaker«.

»Frankreich steht mit gezogenem Degen im Kampfe für die Zivilisation und für die Unabhängigkeit der Völker!« Also wohl auch im Kampfe gegen die russische ›Zivilisation‹ in der Ukraine, Finnland und Polen und für die Freiheit Finnlands, Polens und der Ukraine? Und wohl auch für Irlands Unabhängigkeit? Und für Marokkos, Ägyptens, Tripolitaniens, Persiens, Madagaskars und Indiens Unabhängigkeit? »Alle Hintergedanken an tyrannische Oberherrschaft werden vor der Idee des Fortschrittes der Zivilisation durch die Freiheit der Völker zurückgetreten sein« – hat der Ministerpräsident Herr Briand gesagt, und er hat auch davon gesprochen »nicht nur das Recht Frankreichs, sondern auch das der ganzen zivilisierten Welt wiederherzustellen.«

Dies ist liebenswürdige französische parlamentarische Rhetorik, wird man nun vielleicht einwenden können. Ganz gewiß – aber man darf wohl hoffen, daß auch etwas Ernst dahinter stecke! Wo endet die Rhetorik, und wo beginnt der Ernst? Davon erhalten wir vielleicht einen Begriff, wenn wir als Fortsetzung hören, daß das » friedliche« Frankreich »plötzlich« »überfallen worden« sei, um »zerschmettert« oder einer »Art Hegemonie« unterworfen zu werden. Dies unerwartete Unglück hat, seltsamerweise, das stolze, rechtlich denkende, friedliche Frankreich getroffen, obgleich es doch nicht ganz allein auf der Welt steht, sondern seit Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ein militärisches Bündnis mit der berühmten »russischen Dampfwalze« selbst haben soll und seit der Jahrhundertwende in kolonialem und maritimem Einverständnisse mit der Beherrscherin der Weltmeere, Südafrikas, Ägyptens, Indiens, Australiens und Kanadas vorgeht, die ihrerseits sowohl mit dem Russen wie mit dem Japaner auf freundschaftlichem Fuße steht und gezeigt hat, daß sie, wenn es gilt, sogar Uncle Sams dollarverhärtetes Herz im Sturme erobern kann.

Es gibt vielleicht Leute, die von dem »Kämpfer der Welt« und dem auserkorenen Ritter des »Rechtes« einen etwas männlicheren Ton erwartet hätten, als die Frage der Mitschuld an der Weltkatastrophe zur Sprache kam. Eine Nation, die vier Jahrzehnte hindurch den Gedanken an die Wiedereroberung Elsaß-Lothringens nicht hat aufgeben können oder ein solches Verzichten nicht für recht gehalten hat, die zu diesem Zwecke ein Kriegsbündnis mit dem Selbstherrscher aller Russenländer eingegangen ist und am 1. August 1914 Deutschlands Anfrage wegen Neutralität dahin beantwortete, daß »Frankreich tun werde, was ihm seine Interessen geböten« – die Nation müßte doch jetzt den Stolz haben, einzugestehen: nun ist das Weltunglück über uns gekommen, aber nicht ganz ohne meine Schuld – wenn es eine Schuld ist, zur »Wiederherstellung des Rechtes«, »der Freiheit der Völker« und der »Zivilisation« einen Krieg gewollt und gewagt zu haben.

Doch als der damalige Ministerpräsident Viviani Ende Dezember 1914 der Kammer Auskunft über die Ursachen und den Ausbruch des Krieges gab, sprach er die ganze Entente völlig von jeder Verantwortung frei und schob diese ganz und gar Deutschland zu, »dessen Absichten seit vierzig Jahren darauf ausgegangen sind, Frankreich zu unterdrücken, um sich zum Herrn der Welt machen zu können« (denn dann bliebe ja nur noch die Kleinigkeit zu erledigen, auch England, Rußland, Japan, die Vereinigten Staaten, China, Südamerika und noch einige Staaten zu »unterdrücken«).

Und als Präsident Poincaré Ende Dezember 1915 ein Manifest an die französische Armee erließ, enthielt es unter anderem folgende Worte. »Das furchtbare Problem, das sich der französischen Nation aufstellt, bedeutet kurz und gut die Frage resignierten Vasallentums oder wirtschaftlicher und nationaler Unabhängigkeit. Das Problem gestattet keine Kompromißlösung. Jeder Friede, der an uns mit verdächtigem Antlitz und ungeeigneten Vorschlägen herantreten würde, der zweideutige Transaktionen und unechte Kombinationen erböte, würde unter trügerischem Scheine nur Schande, Ruin und Sklaverei bringen. Wer wollte nun Frankreichs Vergangenheit und Zukunft aus Ungeduld oder Ermattung auf solche Weise verkaufen? – Kein Franzose hat das Verbrechen begangen, diesen Krieg zu wünschen. Alle Regierungen nach 1871 haben sich bemüht ihn zu vermeiden. Jetzt müssen wir ihn zusammen mit unseren treuen Verbündeten weiterführen, bis der deutsche Militarismus vernichtet und Frankreich in seinem vollständigen Umfange wiederhergestellt ist. Gelegentliche Schwäche wäre Undankbarkeit gegen unsere Toten und Verrat an der Nachwelt.«

Abgesehen von der, milde gesagt, eigentümlichen Erklärung, daß »kein Franzose das Verbrechen begangen habe, diesen Krieg zu wünschen« (aber doch einen militärisch erfolgreicheren Krieg gegen Deutschland?), konstatiert man gleichwohl in dieser Rede mit Vergnügen ein wenig mehr von dem bekannten gallischen Kriegergeiste Gambettas, Boulangers, Deroulèdes, Delcassés, Barrès' und Hervés als in Vivianis und Briands phantastischen Unschuldserklärungen, bei denen manchem stolzen französischen Patrioten recht schlecht zumute geworden sein mag.

Ich ziehe diesen Schluß, wenn ich die große Masse der vielen Äußerungen über den Inhalt des »französischen Friedens« durchsehe, die mir auf verschiedenen Wegen – in Zeitungen und Zeitschriften (trotz der lange so strengen französischen Zensur), in Broschüren und Büchern – zuhanden gekommen sind. Und dennoch kann ich nicht umhin, in der ganzen bunten Sammlung – von Briand und Viviani bis zu Maurice Barrès und Léon Daudet, von den vorsichtigsten parlamentarischen, diplomatischen und ententehaften Unschulds- und Kompromißphilosophen bis zu den am rücksichtslosesten aufrichtigen Bekennern der alten Suprematie – Gloire – und Kriegerreligion Frankreichs – eine wunderbar starke innerste Einheitlichkeit festzustellen, ein sich bis zur Eintönigkeit wiederholendes Grundthema in der Mannigfaltigkeit der lyrisch, episch, religiös, philosophisch, geschichtlich, volkswirtschaftlich, psychologisch oder nur politisch-agitatorisch und journalistisch ausgestalteten Bekenntnisse und Beschwörungen.

Dieser gemeinsame Zug ist die naive Selbstvergötterung des »französischen Geistes«, welche die heilige Überzeugung gebiert, daß der »französische Friede« die »Befreiung der Menschheit« und den »Sieg der Zivilisation« in dem absoluten Sinne dieser Worte, den vielleicht nur ein Franzose völlig begreift, bedeuten müsse.

Ja, es gibt noch etwas, das ebenso allgemein wiederkehrt und die Aktenstücke über den »französischen Frieden« ebenso einförmig kennzeichnet – und das ist eine Wertung des deutschen Volkes, welche die genaue Umkehrung der französischen Selbstapotheose ist. Mein Feind ist ebenso gemein und tierisch, wie ich selber edel und gotterzeugt bin – sagt der »Kämpfer des Rechtes«.

Hier nur ein Beispiel. Herr André Beaunier schreibt in einem innerhalb der neutralen Staaten umsonst verteilten Hefte, das auch Beiträge der Herren Maurice Donnay und Gaston Deschamps enthält, folgendes:

»Es ist schon durch den Krieg und die vor ihm gemachten Studien bewiesen, daß Germanismus und Barbarei zusammengehören und zwei verschiedene Namen ein und derselben Sache sind und daß Deutschland die ganze Weltgeschichte hindurch zwischen Barbarei und Zivilisation abgewechselt hat, daß es zivilisiert gewesen, wenn es sich der Führung der französischen Bildung hingegeben, und barbarisch, wenn es sie abgeschüttelt hat. Ein Deutscher hat, wie Fustel de Coulanges anführt, das Bekenntnis abgelegt, daß ›das deutsche Volk niemals aus eigener Kraft und ohne äußeren Antrieb einen Schritt in der Richtung der Zivilisation getan‹ habe. Der Frankfurter Friede hatte das Resultat, ein Räuber- und Barbarenvolk an die Spitze des Kaiserreiches zu stellen. Dieses paradoxe Umkehren dessen, was hätte sein müssen, war darauf und daran, ganz Europa und in erster Reihe Frankreich aus den Angeln zu heben. Verblüfft darüber, daß es besiegt worden, begann Frankreich, das doch die Schule des Menschengeschlechtes ist, in gewissen Dingen bei Deutschland in die Schule zu gehen. Aber – ich wiederhole es – das ist jetzt vorbei. Eine wohltuende Reinigung soll selbst die Erinnerung an jene gelegentliche Besudelung beseitigen.«

 

Aus der bereits angeführten Rundfrage im Septemberhefte der Zeitschrift Je sais tout (1915) erfährt man, daß der Philosoph und Akademiker Emile Boutroux vom Frieden erwartet, daß »Frankreich, befreit von der Verringerung seines politischen Einflusses, die der Krieg des Jahres 1870 verursacht hat, seine Großmachtstellung wieder einnehmen wird«. Der Empfänger des Nobelpreises, Professor Charles Richet, ist der Ansicht, daß es jetzt gelte, »auszuhalten, um nicht Deutschland die Führung eines wenn auch ruinierten, verbluteten Europas zu überlassen. Es kommt Frankreich zu, der Führer des erschöpften Europas auf dem Wege zur Wiedergeburt zu sein«. Der spezielle Wortführer des nach französischer Auffassung ein Wiedervereinigtwerden mit Frankreich herbeisehnenden Elsaß-Lothringens, Abbé Wetterlé, erklärt, daß »Krieg bis zur vollständigen Vernichtung der Deutschen eine absolute Notwendigkeit« sei.

Der fromme Abbé scheint einen Gesinnungsgenossen an dem bekannten Pazifisten d'Estournelles de Constant zu haben, der einem Zeitungsschreiber erklärt haben soll, »daß die französischen, englischen, belgischen und russischen Friedensfreunde, die vergeblich versucht, den Krieg zu verhindern, jetzt auf dem Standpunkt stehen, daß man nie mit dem preußischen Militarismus Frieden schließen darf, weil Deutschlands Hegemonie vernichtet werden muß. Sonst kann wieder Krieg ausbrechen«. Daß »wieder Krieg ausbrechen kann« und zwar gerade als Folge eines allzu energischen französischen Ausnutzens eines eventuellen Sieges über Deutschland, das ist eine Lehre, welche die mit Elsaß-Lothringen gemachte Erfahrung gibt, die aber, wenn die Unterredung richtig wiedergegeben ist, dem friedliebenden Baron gerade so fern zu liegen scheint wie manch anderem französischen Patrioten in diesen Tagen.

Alles dies zeugt jedoch von einer ruhigen, milden Auffassung »des französischen Friedens« nach dem Evangelium des »Rechtes«, wenn man es z. B. mit den Lehren vergleicht, die das Mitglied der Französischen Akademie, Herr Maurice Barrès, in seinen Artikeln im Echo de Paris, Herr Onésime Reclus in dem Buche L'Allemagne en Morceaux und der anonyme Verfasser der Broschüre La paix que nous devons faire verkünden.

Herr Barrès will das Deutsche Reich in selbständige Kleinstaaten aufteilen und Deutschland vollständig entwaffnen, nicht aber dessen gegenwärtige Gegner. Er will, daß Frankreich allein oder mit Belgien zusammen alles Land auf der Westseite des Rheins annektiere. Er schreibt über diese großen Dinge kurz, ruhig und sachlich: » pas d'armée du tout; pas un officier, pas un soldat; une police intérieure civile; rien d'autre; pas de canons, pas de mitrailleuses, à peine des fusils.« Deutschland dürfe nicht einmal Waffenfabrikation zur Ausfuhr gestattet werden – denn eine so »tiefstehende Rasse« könnte ja betrügen und einen Teil der Waffen im Lande behalten. Die Kriegsentschädigung soll so ungeheuer groß sein, daß Deutschland »mehrere Generationen hindurch« damit zu tun habe und sich schon deswegen nach dem Kriege kein Wehrbudget leisten könne. Außerdem müsse Frankreich Deutschland aller seiner Kunstwerke berauben – vermutlich nach dem Grundsatze, daß die Deutschen viel zu barbarisch sind, um solche Dinge nützlich zu verwenden.

Diese außerordentlich gemäßigte Ankündigung eines großen, beliebten französischen Nationalistenpropheten über den humanen Inhalt »des französischen Friedens« stand am 24. Februar 1915 im Echo de Paris und wurde in der Nummer vom 26. Februar noch durch allerlei Vorschläge dahin ergänzt, daß die Deutschen in den rein deutschen Gebieten, die Deutschland genommen und Frankreich einverleibt werden sollen, gewisser wirtschaftlicher Rechte beraubt werden müßten.

 

Der nichts weniger als deutschfreundliche oder franzosenfeindliche Pariser Korrespondent der Zeitung The New Statesman, der sich R. E. D. unterzeichnet, schildert in der Nummer vom 6. März 1915, wie Herr René Bazin voller Begeisterung Herrn Barrès dadurch unterstützte, daß er an Ludwigs des Vierzehnten ruhmreiche Eroberung und Verwüstung der Pfalz erinnerte und als Leitstern des »französischen Friedens« den schönen Grundsatz aufstellte: » la conquête est légitime, lorsqu'elle est si clairement désignée à notre ambition.« Ein Pronunciamento des allerinnersten »Ich« der alten kriegs- und herrschsüchtigen, dünkelhaften und »barbaren«verachtenden gallischen Rassenseele, über welches alle Entente- und Friedensfreunde, die in ihrer Naivität glauben, ihre Stellungnahme zu den Streitenden auf das Dogma der »Friedlichkeit« und »Humanität« Frankreichs und der »Eroberungslust« und des »Militarismus« Deutschlands zu gründen, gar nicht ernsthaft genug nachdenken können.

»Es ist unmöglich zu sagen, eine wie große Anhängerschar diese Barrès-Bazin-Propaganda hat«, schreibt R. E. D. weiter, nachdem er uns ein düsteres Bild der Verheerungen der französischen Zensur in der französischen freien Meinungsäußerung gegeben hat. »Aber«, fährt er fort, »der Gedanke, den Rhein zur Grenze Frankreichs zu machen, wird von den unerwartetsten Seiten unterstützt. Herr Charles Dupuis, der im vorigen Jahrhundert während kurzer Perioden viermal Ministerpräsident war, hat einem Vertreter der Zeitung Petite Gironde gesagt, daß die französische Grenze bis an den Rhein und die Mosel vorgeschoben werden müsse, und er hat hinzugefügt: ›wir müssen einen französischen Präfekten in Koblenz haben‹. Herr Ernest Denis, Professor an der Sorbonne und Präsident der Ligue du Droit des Peuples, hat in einem kürzlich veröffentlichten Buche über den Krieg nur deshalb gezaudert, sich Barrès anzuschließen, weil durch Hineinziehung einer rein deutschen Bevölkerung in den französischen Staat innere politische Schwierigkeiten entstehen könnten. Und von keinem Geringeren als Herrn Lavisse wurde vor einiger Zeit erzählt, daß er das Bilden eines Vereines fördere, der aus unbekannter Veranlassung die Ehre haben sollte ›Michelet‹ zu heißen, und der zugunsten des Barrèsprogrammes tätig sein werde. Da indessen nichts weiter von der Sache verlautet ist, steht zu hoffen, daß Herr Lavisse sich anders besonnen hat – – – .«

Doch Barrès steht ja als Programmschmied (in altgallischem Stile) des »französischen Friedens« durchaus nicht allein da. Herr Onésime Reclus und der anonyme Verfasser der Broschüre » La Paix que nous devons faire« reden in demselben geschichtlich berühmten Tone und in demselben aus der Geschichte so gut bekannten Stile – aber nicht ohne originelle, beachtenswerte eigene Erfindungen und Zusätze. Man sehe einige Hauptzüge.

Überhaupt keine Friedensverhandlungen mit dem Deutschen Reich – sondern nur mit jedem der deutschen Teilstaaten. Dies nicht zum wenigsten, um zu markieren, daß man »das deutsche Volk« vom »preußischen Joche« befreie. Die Hohenzollern werden auf ewig abgesetzt. Wollen die Deutschen dennoch durchaus einen Kaiser haben, so wird es ein Wahlkaiser, sodaß Deutschlands politische Ohnmacht vor 1870 in aller Zukunft verbürgt bleibt. Die deutschen Kolonien werden restlos unter den Siegern geteilt. Frankreich erhält die Rheingrenze bis Köln, sowie auch Luxemburg. Belgien erhält Köln, Aachen und einen Teil des westfälischen Industriegebietes. Die Königreiche Hannover und Westfalen werden wiederhergestellt. Die deutsche Nordseeküste bis Bremen wird holländisch. Bremen, Hamburg und Helgoland werden englisch. Schleswig-Holstein mit Kiel fällt an Dänemark, »dem heiligen Nationalitätsprinzip gemäß«. Unter russischem Protektorat wird ein Königreich Polen gebildet, das aus einem Teile Russisch-Polens, Ost- und Westpreußen, Posen, Teilen Schlesiens und der Provinz Galizien bestehen wird. Die vielen Deutschen, die sich auf diese Weise auf der verkehrten Seite der deutschen Reichsgrenze befinden werden, haben sich in ihr Schicksal zu finden, da das Nationalitätsprinzip es diesmal aus höheren Gesichtspunkten so verlangt. Italien und Serbien erhalten ihre Irredenta reichlich bemessen, und die Schweiz heimst Vorarlberg ein. Die Kriegsentschädigung wird auf mindestens fünfzig und höchstens hundert Milliarden festgesetzt und ist von Deutschland in mindestens fünfzig und höchstens hundert Jahren zu bezahlen.

Dies ist » la paix que nous devons faire«, – und ihn werden die Sieger, das humane Frankreich an der Spitze, dem Besiegten diktieren. »Mit solchem Volke unterhandelt man nicht!«

Oder, wie die allgemeine Parole jetzt (zu Anfang des Jahres 1916) in Frankreich und in allen nationalen und politischen Lagern der Entente formuliert wird: » erst der Sieg, dann der Friede

Oder, wie die auch von ententefreundlich-neutralen Sozialdemokraten angenommene Formel lautet: »kein Friede, der nicht ein dauerhafter Friede werden kann« – und es kommt den Feinden des »preußischen Militarismus« allein zu, darüber zu entscheiden, welche als »Dauerhaftigkeit« verbürgende Bedingungen gelten sollen. Der Friede wird auf der Zertrümmerung des deutschen Staates aufgebaut werden, und zwar gerade so, wie man es während des Siegesrausches in Frankreich, England, Rußland usw. zufällig als recht ansieht!

Das wird sicherlich ein dauerhafter Friede und ein Triumph des Rechtes! Wer daran zweifeln kann, der kennt eben seine Franzosen nicht, und ebensowenig seine Russen und seine Engländer!


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